Urlaub. Tag 9.
Wir lesen, wir schreiben. Wir schwitzen, wir schnauben uns Heuschnupfen aus dem Kopf.
Ich lese gerade „Kinder wollen, über Autonomie und Verantwortung“ von Barbara Bleisch und Andrea Büchler. Ein Buch, das Ansichten, Haltungen, Fragen rund um die Verantwortung des Kinderwollens und -habens aufgreift und dazu einlädt, über die eigene Autonomie in der Sache nachzudenken. Ein tolles Buch. Es ist hilfreicher als das sorgenvoll abtastende Hin- und Her zwischen dem Freund und uns, dem merkwürdig distanzierten Irgendwienichtsorichtigdrüberreden mit der Therapeutin und Gesprächen mit den Freund_innen, die selber keinen Kinderwunsch haben.
Ich hatte das Buch gekauft, weil ich dem Freund etwas für seinen Prozess an die Hand geben wollte. Und, weil es die Kapitel „Ein eigenes Kind“ und „Kinder wollen – Eltern werden“ darin gibt. Sie beschäftigen sich nämlich mit den Bereichen, die uns umtreiben.
Erstens die unfassbar irrationale Dringlichkeit des Kinderwunsches und zweitens der Umstand, dass man sich mit der Entscheidung fürs Kindermachen auch für die Verantwortung der Elternschaft entscheidet, obwohl man erst mit der Geburt des Kindes überhaupt anfangen kann, diese Verantwortung tragen zu üben und so zu lernen.
Im Eltern-Kapitel bin ich noch nicht. Aber im Kinderwunsch-Kapitel war etwas, das mich berührt hat. Zitiert wird die kanadische Schriftstellerin Margaret Laurence: „Ich glaube nicht, dass ich meine Motive, Kinder haben zu wollen analysieren sollte. Zur Selbstbestätigung? Zum Spaß? Um dem eigenen Ego zu schmeicheln? Es spielt keine Rolle. Es ist, als würde man mich fragen, warum willst du schreiben. Wen kümmert’s? Ich muss, und das ist es schon.“
Für mich fühlt es sich genau so an. So innig. So alleinig. So intim vielleicht auch.
Ich dachte an der Stelle daran, wie oft uns das Blog zu schreiben schon pathologisiert wurde, während unsere sexuelle Aktivität, unsere Potenz zur Elternschaft irgendwie nie berührt wird. Wir werden einfach immer erst krank und zerstört, dann behindert und bedürftig gedacht, statt als lebendig und entwicklungsfähig, obwohl dies die Grundlage für Kaputtheit, Behinderung und Bedürftigkeit ist.
Und wir haben das internalisiert. Der einzige Grund weshalb wir unter dem Kinderwunsch „leiden“ ist der, dass wir ihn nicht erklären, nicht kontrollieren, nicht aufgeben können wie den Wunsch nach einem Eis in der Hitze der letzten Tage. Der Gedanke, dass wir vielleicht kein Elternleben führen können, verursacht Schmerz in einer Tiefe, wie ihn bisher nur Traumaerleben verursachen konnte und das ist verwirrend. Hier berührt etwas unser Integritätserleben, das nicht aus Zerstörungs- oder Verletzungswillen einer Person kommt, sondern aus der Möglichkeit einen Prozess nicht durchlaufen zu können. Eine Entwicklung nicht machen zu können. – Obendrauf noch eine, zu der wir von außen auch gar nicht als fähig eingeschätzt werden, während wir wissen, dass man sich Fähigkeiten wie diese immer dem Leben und der eigenen Lebendigkeit abzwingen muss. Immer. Alle. Nicht nur wir, weil wir autistisch und Viele sind.
Früh am morgen und in der Nacht ist es noch oder nicht mehr so warm in unserer Wohnung. Dann schreiben wir an unserem Buch.
Im Moment an dem Kapitel, das sich mit Autismus und unserem Weg zur Diagnostik und der folgenden Auseinandersetzung beschäftigt.
Parallel dazu bewege ich meinen Therapieurlaubsauftrag, der da lautet, die Entwicklung der letzten Jahre zu reflektieren und aufzuschreiben. Dabei merke ich, dass wir in kurzer Zeit sehr viele Prozesse durchlaufen haben und wir immer wieder dieses Moment erlebten, in dem wir uns und unserem Leben abzwingen mussten, weiterzumachen. Trotz dem und dem und dem und diesem und jenem – und mit diesem und jenem und diesem und diesem.
Nicht immer ging es dabei um konkrete Fähig- und Fertigkeiten – aber immer ging es dabei um genau die gleichen Fragen, wie denen, die mit dem Kinderwunsch kommen: Willst du leben? Wie willst du leben? Wie willst du dein Leben gestalten? Soll das, was du jetzt lebst, immer so bleiben? Bist du, wer du sein möchtest? Bist du, wie du sein möchtest?
Nie hat uns jemand den Wunsch am Leben sein zu wollen pathologisiert und alles, aber auch wirklich alles umzukrempeln und neu (kennen) zu lernen, neu zu bewerten und einer kritischen Prüfung zu unterziehen, als die Autismusdiagnose kam. Als die DIS-Diagnose kam. Als wir uns mit Ausstiegsgedanken trugen. Als wir unsere Berufsausbildung begannen.
Es waren die gleichen Fragen. Es waren die gleichen Mechanismen von Leben und Lebendigsein, die uns nicht nur ermöglichten Antworten auf diese Fragen zu finden, sondern daraus auch Haltungen, Fähig- und Fertigkeiten zu entwickeln, um diese Antworten auch zu leben.
Der Kinderwunsch ist etwas, das aus uns heraus kommt und nicht über uns hereinbricht wie ein Schicksalsschlag oder eine umfassend bitter traurige Erkenntnis um 15 Lebensjahre, die ganz anders hätten sein können.
Das macht ihn auch ein bisschen gruselig, denn mit Trauma und Gewalt, Bitterkeit und Trauer umzugehen, haben wir zweifelsfrei drauf.
Es ist etwas vollkommen Neues. Etwas, das viele weitere Prozesse und Entwicklungen verheißt.
Zum Teil frei wählbare Prozesse und Entwicklungen.