Grenzen, Limits, Möglichkeiten

Was ich vergessen hatte, war, dass unser Zug in unserer Herkunftsstadt halten würde.
Und dass sich mit dem Öffnen der Waggontüren die Zeit zurückdrehen würde. Dass alles sein würde wie vorher, als wäre das wie Normalität nun einmal funktioniert. You never know anything. Alles ist immer möglich.

Zum Glück.
Es war möglich, stützenden Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Veränderungen zu suchen und zu finden. Angst zu fühlen. Traurigkeit zu fühlen. Fremdheit zu fühlen. Vermissen zu fühlen. Verrat wahrzunehmen. Und weiterhin einen festen Stand in mir selbst zu haben. Zu sein und zu bleiben und zu werden, wie ich sein will. Belastbar. Konfrontierbar. Berührbar. Kontaktierbar.

20 Jahre später ergibt diese komische Therapie-Übung mit den Seilen, die man vor sich auf den Boden legen sollte, Sinn. Endlich kapiere ich: Das ist gemeint – Die Möglichkeit, dass da nicht nur die Dinge möglich sind, die ich so gut kenne, dass ich sie in aller Gründlichkeit fürchten und vermeiden kann, sondern auch Dinge, die ich noch gar nicht oder nur vage kenne. Und dass es etwas gibt, das ziemlich genau und deutlich aufzeigt, wo das eine anfängt und das andere aufhört: Grenzen.
Und nicht: Limits.

Ich weiß, dass viele Menschen diese Worte synonym verwenden, doch please hold the line – Ich habe einen Punkt. Einen wichtigen.
Denn für viele komplex traumatisierte Menschen gibt es so etwas wie Grenzen des Möglichen nicht – es gibt viel mehr points of no return. Eskalationsstufen, die mit Bewusstlosigkeit enden. Mit Dissoziation, mit Betäubung, mit Meltdown, Shutdown, Überdosis, Suizidversuch, reale Todesnähe.
Die Grenze, die Menschen in chronisch toxischem Stress permanent (zu) managen (glauben) ist die zwischen Leben und Tod. Und das ist ein Limit. Da geht es um ein Kontingent, das irgendwann einfach aufgebraucht ist. Nicht um Möglichkeiten.

Dieser Umstand ist es, der Helfenden, Begleitenden und manchmal auch Behandelnden schwer einsichtig ist. Vor allem, wenn die Gewalt, die Traumatisierung, das traumatisierende Umfeld nicht mehr besteht. Und wenn da doch Anteile sind, die den blauen Himmel und die bunten Schmetterlinge so toll finden können. Und eh viel tolle Alltagsstabilität da ist und tralla la.

Gerade Alltagsstabilität ist für viele Viele so lange ein Thema von Limits, weil sie nicht mit Grenzen aufgewachsen sind. Man kann nur sehen, was man kennt und auch Vorstellungen nur von dem entwickeln, was man schon einmal erfahren hat.
Deshalb war diese Übung damals vor 20 Jahren für mich auch ziemlicher Käse. Wie um alles in der Welt hätte ich diesen doppelten Geistes-Rittberger hinkriegen sollen? Erstmal die Abstraktion vom Seil auf dem Boden vor meinen Füßen hin zu dem, was berührt wird, wenn mir was im Leben passiert und von mir eingeordnet werden muss. Was ich damals ja kaum mitgekriegt habe. Und als ich es mitgekriegt habe, nicht einordnen konnte, weil meine Affektverarbeitung gestört ist und ich außer den Grundemotionen keins meiner Gefühle ohne aktives Nachdenken einordnen kann.

Und – nichts, kein einziger Aspekt in meinem damaligen Leben hatte nichts mit Limits zu tun. Ich hatte menschlichen Kontakt nach Stundenlimit – Therapie, Betreuung, Lehrplanzeiten. Meine Unterkunft, meine allgemeine Versorgung, meine körperliche Integrität – alles hing davon ab, wie weit ich meine Limits ausstreichen konnte. Es musste immer genug sein, um allen, die (ihre Arbeitskraft und -zeit) in mich investiert haben, mit Erfolgen bei der Stange zu halten, weil es so schwer, so herausfordernd war, mit mir klarzukommen. Und gleichzeitig genug, um jenen, die mir diese Räume zu nutzen gewährt haben, den grenzenlosen Zugriff auf meinen Körper und meinen Geist zu überlassen.

Also. Ja.
Wie hätte ich das früher verstehen können. Gar nicht.
Vielleicht war selbst dieser Moment im Zug ein Glückstreffer?
Oder ein erster Treffer? Wie Babys erster Schritt nach viel Hochziehen und Umfallen, komisch Weitermurksen und Wackeln und plötzlich, endlich, haben sich die neuronalen Netzwerke passend gekabelt und es klappt immer wieder?
Oder hab ichs schon ganz lange und es ist mir jetzt endlich auch selbst mal aufgefallen?

Alles ist immer möglich.

Feierabende sind echt

Der Tag beginnt still. Ich halte mein Gesicht ganz weich vom Schlaf in das cremige Beige der Morgensonne und bilde mir ein, dass ich ihre Wärme fühlen könnte. Die Schritte der Hunde knirschen über das gefrorene Gras. Mein Atem schwebt weiß in der Luft.

Ein weiterer Tag allein zu Hause.
Ich schüttle NakNak*s Morgentablette aus der Tüte und stecke mir die Frückstücksäpfel für die Hunde in den Pulli. Ich trage sie rauf in mein Büro. Sie fressen, ich stelle mich ins Rauschen des Wasserkochers. Kaffee, Computer und los. Klick, klick, klick, tipp tipp tipp, klick. Die Geräusche meiner Arbeit sind wie kleine Wellen um mich herum in einem Meer von Stille in einem unendlich freundlichen Ist. Draußen ein Wintertraum in Pastell.

Irgendwann muss ich sprechen und die Schönheit des Seins ist zerstört. Alles, was bis eben einfach nur da war, ist plötzlich belebt und unvorhersehbar. Jetzt erfordert es Adjektive. Wachsamkeit. Schein.
Als wäre ein Schalter umgelegt, bin ich ein Fremdkörper.
Ich versuche, eine Form zu finden. Wandle und handle mich in die neue Situation hinein, versuche mich anzupassen. Anzugleichen. Alles im Fluss unter einer festen Schicht Freundlichkeit. Aufmerksamkeit. Wachsamkeit.

Die ersten Trigger mischen sich in mich hinein. Meine Muskeln verhärten sich und reißen an den Gelenken. Ich atme sie raus, schüttle sie weg. Schaue in den weichblauen Himmel und finde Trost in den Erinnerungen an die Realität ohne Andere.
Die Zeit vergeht, irgendwann ist es okay. Ich bin okay. Bin drin. Kann gut mitgehen. Schaffe alles, will noch mehr. Dann ist die Arbeit zu Ende. Nichts mehr zu wollen. Der Arm tut weh, die Luft ist verbraucht, Bubi schiebt seinen Kopf an mich. Zeit für eine Hunderunde.

Als ich einfach loswill, schießt mir etwas Schmerzliches durch den Kopf. Ich schaue nicht hin. Als ich NakNak* runtertrage, denke ich daran, wie ich vielleicht bald irgendwann ein Kind hier runtertrage, das genauso schwer und warm ist wie sie. Ich ziehe sie an und hoffe, dass mein Auto fährt, als wir in den schneeeisweißharten Garten gehen.
Es klappt, wir fahren. Im Rauschen der Heizung sitzend überlege ich, ob ich mir das vielleicht doch mal angucke. Wie schmerzhaft kanns sein. So in echt. Ich mach ja alles, was ich will. Obwohl das immer wieder hochkommt. Es wird mir zu dicht in mir. Ich fange an, irgendwas zu fühlen, das nicht zum Autofahren passt und breche die Überlegung ab. Ich habe nächste Woche einen Therapietermin. Klappe zu. Thema erstmal wieder erledigt.

NakNak* stakst aus dem Auto, Bubi verfolgt sofort eine unsichtbare Linie auf dem Waldboden. Ich höre einen Podcast und beobachte die Hunde bei ihrer Wanderung von Marke zu Marke. Langsam komme ich wieder da an, wo der Tag begonnen hatte. Präsenz inmitten aller Dinge. Die eigenen Veräußerlichkeiten als Zone zwischen Gegenwart und Zukunft. Irgendwann bin ich so zufrieden, dass ich damit spiele.
Dann fahren wir nach Hause. Vorbei an flauschigen Kühen und dampfenden Häusern.

Wieder zu Hause könnte ich so viel machen, aber mache gar nichts davon. Ich sitze auf der Couch und streichle Bubis großen Kopf auf meinem Schoß. Ich will es ganz in mich einsinken lassen, wie ich gerade nichts mache und niemand von denen, die darauf warten, etwas dagegen tun kann. Denn ich bin hier und sie nicht. Selbst wenn sie mich sehen würden – selbst wenn sie wüssten, dass ich hier gerade gar nichts tue – sie müssten sich etwas überlegen. Ich nicht.
Ich segle auf einer kruden Überheblichkeitswelle, fühle mich mächtig und stark – obwohl ich genau weiß, dass ich hier gerade Traumarealitäten mit Realitätswahrheiten mische. Ich werde nicht beobachtet. Feierabende sind echt.

Sein kommt vor Werden

Für die Transformation von Konflikt braucht es mehr als den Willen zur Transformation. Mehr als die Einsicht, dass zu transformieren fruchtbaren Boden für weitere transformative Prozesse bereitet und deshalb erstrebenswerter ist als die Wiederholung im neuen Gewand.

Ich denke das so vor mich hin und streife R.. In ihrer Unnachgiebigkeit, ihrem Beharren finde ich keinen Raum zur Transformation. Vielleicht kann sie mich irgendwann als sich selbst einordnen und dann aufhören, mich als Erwachsene_n abzulehnen. Kann das reichen, um den Konflikt zu transformieren? Oder wäre das bereits etwas Transformiertes?

Vor mir liegt ein Haufen dichter Humus. Ich greife hinein und krümle die Brocken auseinander. Seit der Verabschiedung am Anfang der Woche tut mir alles weh. R.s nähere Anwesenheit lässt meine Muskeln erstarren. Bis es mir auffällt, ist es zu spät, Muskelkater incoming. So haben wir die letzten Tage verbracht. Steifness und Streching, Sadness und Rage of the doom. Nachrichtenvermeidung, Gartenarbeit, Verlagsarbeit. Dazwischen Kontakt mit einer der jungen Personen, die uns letzte Woche im Zug angesprochen haben.
Wenn ich einen Moment für mich hatte, dann dachte ich ans Schwangerwerden und ob ich meinen Kinderwunsch von mir wegtransformieren muss, weil es zu spät ist. Nicht nur Kein-Bock.auf-durchmedikalisierte-Risikoschwangerschaft-Blabla-zu spät, sondern Zeitfenster-der-Transformationsoptionen-des-Partners-und-der-Welt-zu spät.
Es gibt keine Antworten. Nur Bewegung.
Vielleicht bin ich, die_r mit Zukunftsplänen ihre_seine Ängste transformiert, mutig. Und vielleicht braucht es mich so mutig, um woanders Transformationsprozesse zu schaffen.

Ich greife in das wilde Beet und ziehe eine Erdbeer-Mutterpflanze hervor. Wie kleine braune Sonnenstrahlen stehen ihre Triebe vom letzten Jahr von ihr ab. An ihren Enden haben sich ihre Kinder unabhängig von ihr gemacht und Wurzeln geschlagen. Die Sperlingsgang hockt in der Hecke und wartet darauf, dass ich ihr Revier verlasse, um in Ruhe fressen zu können.
Im Hochbeet ist mehr Platz, im wilden Beet noch immer kein Humus entstanden. Ich gieße die frischen Anlagen und verliere mich eine Weile im Funkenregen des Wassers vor dem blauen Himmel, der Unendlichkeit des Seins.

Dann steht NakNak* auf ein Mal vor mir. Mein altes kleines Ömchen, das betulich einen Kontakt einfordert, um dann ihr Revier abzulaufen.
Sein kommt vor Werden, denke ich und spüre dem ersten Sonnenbrand in meinem Gesicht nach.

Pläne

„Je stressiger es im Alltag wird, desto mehr Struktur brauchen wir, um zu funktionieren.“ Das klingt für die meisten Leute total logisch und nachvollziehbar. Klar, wer viel vorhat, ist immer gut beraten sich einen Plan zu machen, um gut zu arbeiten oder Abläufe zu gewährleisten.
Für mich beginnt der Stress in „stressiger Alltag“ schon in dem Moment, in dem ich weiß, dass Dinge passieren werden, die üblicherweise nicht passieren. Und zwar nicht, weil sie passieren, sondern weil das Passieren dieser Dinge alles verändert und damit auch sämtliche Ressourcen und Stützen des Alltags beeinflusst. Was bedeutet, dass ich mich nicht nur um die passierenden Dinge, sondern auch ihre Wirkung auf mich kümmern muss.

Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagespläne sind mir noch nie ein Korsett gewesen, nie ein Angriff auf meine persönliche Freiheit – viel eher sind sie der Grund dafür überhaupt in die Situation zu kommen, mich frei entscheiden zu können. Denn ich kann weder entspannen, noch ruhen, noch Kraft tanken, wenn ich nicht weiß, was in den folgenden Stunden und Tagen noch auf mich zukommt und wie ich was wann wie genau kompensieren kann und darf.
Im günstigsten Fall mag ich die Art der Störungen des üblichen Ablaufs einfach nicht oder bin nur irritiert. Dann finde ich Stabilität und Ruhe in Stimming oder meinen Projekten. Problematisch wird es, wenn ich mit den Ressourcen schon so weit runter bin, dass ich weder von Stimming noch von irgendetwas anderem profitiere. Am schlimmsten ist es, wenn der Ablauf über so lange Zeit gestört oder beeinflusst wird, dass ich überhaupt keinen üblichen Ablauf mehr ausmachen kann.
Das gesamte letzte halbe Jahr war so ein Zeitraum. Wir haben viel gearbeitet, viele emotionale Tiefschläge kompensiert, die unsere Freund_innnenschaften bzw. das, was wir dafür hielten, betrafen. Wir haben Physiotherapie und Fahrschulunterricht in Theorie und Praxis durchgezogen, sind alle zwei Wochen nach Bielefeld zur Therapie und alle zwei Wochen zur Autismustherapie woanders gefahren. Wir haben uns an eine Selbsthilfegruppe für Viele herangewagt, haben einige erste Interviews für unsere Podcast-Reihe aufgenommen und alles das immer mit dem Partner und den Beziehungsalltag im Hinterkopf, die Bedürfnisse der Hunde, die Pflicht, die Kür, die Versprechen bezüglich des Gartens, des Podcasts, unserer Projekte.
In den letzten drei Wochen hatte ich jeden Tag einen anstrengenden Termin, seit Ende Oktober habe ich wieder mit Weglaufimpulsen aus  Flashbacks/Alpträumen/Intrusionen aus dem Schlaf heraus zu kämpfen, was bedeutet, dass nicht einmal die Nachtstunden zuverlässig für Erholung da waren.
Dass ich noch nicht „ausgerastet bin“ (den Meltdown nach außen sichtbar hatte) liegt daran, dass ich eine Verzögerung in der Verarbeitung habe und in der Regel nach innen explodiere, also dissoziiere. Und weil die Dissoziation praktisch mein Betriebssystem ist – mich bisher niemand anders erlebt hat – fällt das nicht als Problem auf.
Manchmal finde ich das auch gut so. Denn mit der Ratlosigkeit, der Frage: „Ja und jetzt?“ umzugehen tut mir nur weh und oft ist es den Streit aus der Enttäuschung heraus, dass dieser Schmerz nicht bemerkt wird, einfach nicht wert.

Viele Menschen denken und planen nicht so weit im Voraus wie wir, weil sie es nicht müssen. Ihr Jetzt ist ein anderes als meins – ist nicht so leicht zu zerstören von morgen, bald oder nachher. Und viele Menschen schieben einfach gern auf, weil sie die Kraft für alles auf einmal aus einem viel tieferen, größeren Fass schöpfen als ich. Um in dem Bild zu bleiben, habe ich genau eine Tasse, aus der ich schöpfen kann und ich bin maximal geizig mit jedem noch so kleinen Tropfen, weil ich es muss. Nicht, weil es so schlimm ist, erschöpft zu sein, sondern weil „eine volle Tasse“ zu haben für mich a) nicht bedeutet, nicht erschöpft zu sein und b) weil auch das Management dieses Budgets, die Erfassung, die Planung, die Kommunikation des Budgets bereits daraus geschöpft wird.
Ich habe nie einen fixen Stand von 100 % und daraus kann ich dann hippy happy Leben gestalten – ich muss bereits 40 % weggeben, um in der Lage zu sein, mein hippy happy Leben erfassen, mich selbst darin fühlen und verstehen zu können. Und das ist, was die meisten Menschen – auch „meine Menschen“ – manchmal einfach vergessen: Die meisten Menschen müssen aus ihrem größeren Kraftfass vielleicht 10 oder 15 % dafür weggeben und das oft nicht einmal bewusst. Und am Ende eines Tages haben sie immer noch 20 bis 30 %, um zu verarbeiten, was sie erlebt haben. [1]

Ich habe nicht die Wahl irgendetwas von meinen Therapien (und dem, was wir darin machen) oder Projekten einfach zu lassen, denn ich benutze vieles davon zum Prozessieren und Verarbeiten sowohl dessen, was mir in der letzten Woche, aber auch vor 30 Jahren passiert ist. Jede Therapie, aber auch das Bloggen und Podcasten sind damit Hilfsmittel, die mir – bei aller Anstrengung, die sie bedeuten – ermöglichen, mich im Bezug zur Welt zu halten und damit ein fundamental wichtiger Teil eines mehr oder weniger festen Plans, der mich in diesem selbstbestimmten, autonomen Leben hält.

So einen Plan zu haben – ja, mir überhaupt erstmal einen zu überlegen, mich zu trauen an die Zukunft zu denken, mir eine auszudenken, zu wünschen, mich auf so viel hätte würde wäre wenn einzulassen, habe ich erst mit der Berufsausbildung geschafft. Das war 2016. Da waren wir gerade 9 Jahre aus organisierten Gewaltkontexten ausgestiegen, die uns sehr genau vorgegeben haben, was wann wie zu denken, zu wollen, zu machen war.
So frei wie heute verliert mein Leben und das, was ich darin tue, sofort an Bezug und damit Sinn und Bedeutung, wenn ich meinen Plan loslassen soll. Und das wird bewusst oder unbewusst öfter mal von mir verlangt oder „vorsichtig vorgeschlagen“, wenn der Eindruck entsteht, ich hätte mich verrannt oder überfordert. Oder – was eigentlich am meisten schmerzt – : Wenn ich selber sage, dass etwas zu schwierig für mich ist.
Der erste Reflex ist dann oft die Idee der Entlastung durch Vermeidung. Das Angebot mir irgendeine Aufgabe abzunehmen, irgendein Wagnis nicht zu begehen und zu erwarten, dass ich das okay finde – vielleicht sogar noch krass dankbar bin und mich einfach super fühle. Das tue ich in der Regel aber nicht, denn die Alternative zur Überforderung ist in meinem Fall immer der Ausschluss. Das nicht mitmachen, nicht dabei sein, ohne Bezug sein. Ein Zustand, den so, in dem Umfang wie ich es erlebe, kaum jemand wirklich innig er_leben möchte, weil Bezug für soziale Wesen wie uns Menschen ein existenzielles Grundbedürfnis ist. [2]

Wie viele andere autistische Menschen bin ich sehr hartnäckig. Was ich mir vornehme, das mache ich früher oder später auch. Ich nehme mir nichts vor, das unrealistisch ist und verfolge meinen Lebensplan jeden Tag, weil ich einen brauche, um mein Amlebensein in Existenz und Sinn auszuhalten und zu gestalten.
Das ist nicht banal. Nicht wegzulachen oder zum Quirk zu erklären.
Es ist bedingungslos zu respektieren und mitzudenken.

Immer.

 

[1] In diesem Text verwende ich das Bild von einem Fass bzw. einer Tasse voll Kraft als Flüssigkeit. Viele andere chronisch kranke, neurodiverse, behinderte Menschen verwenden das Bild von einem bestimmten Budget von Werkzeugen/Besteck, das sie zur Verfügung haben. In der Podcastepisode „Was helfen könnte – die Besteck-Theorien, eine Kommunikationshilfe“ habe ich sie genauer beschrieben.

[2] Angebote wie diese führen viele behinderte Menschen in die sogenannte „Schonraumfalle“, was dazu führt, dass Abhängigkeiten entstehen und also die Freiheit der Menschen eingeschränkt wird. Sowohl die der behinderten Menschen als auch die der Menschen, die ihnen die Schonräume ermöglichen und aufrechterhalten müssen.
Mir ist bei Überforderung am besten zu helfen, wenn man mich dabei unterstützt, den Punkt der Überforderung zu verstehen und mit dem auszustatten (oder mir zu ermöglichen, dass ich lerne), was ich brauche, um sie zu überwinden.
Jede Hilfe, die Helfende überflüssig macht, ist besser als der beste Schonraum.

Abläufe

Ich hätte es lieber geübt. Den Ablauf geplant, im Kopf weitergeübt, mich so sehr in den Plan reingesteigert, dass er unumstößlich von Störungen und Ablenkungen klar und deutlich in mir drin bleibt.
Aber es ist eine Pandemie. Alle sind müde. Alle sind knapp. Ich kann auch anders und für „wie sonst“ fehlen die Kapazitäten von allen.

Und so flattere ich also in die Teststation der Apotheke. Bin zu spät, mit drei von vier Beinen noch in der Therapie und fühle mich so schutzlos, dumm und nutzlos für die in dieser Zeit nötige Effizienz des allgemeinen Krisenmanagements wie lange nicht mehr.
Aber es klappt.
Statt eines Würgereflexes unterdrücke ich einen Beißreflex, statt alles falsch mache ich alles awkward. Ist aber nicht schlimm, vorher war eine Omi da, die war auch nicht Erika Mustermann.

Okay, so geht das also. Diese Testerei, die wir bei uns mit wenig Wartezeit im Dorf 12 Kilometer weiter oder viel Wartezeit neben der Schwimmhalle haben können, während in Bielefeld praktisch überall kleine Rüsselhütten für einen Abstrich stehen.
Ich fühle mich wie in einer Realitätsspalte. Weiß, dass ich mich jetzt auf keinen Fall fragen darf, was echt ist und was nicht, denn sobald diese Frage Gewicht bekommt, ist der Weg zurück in die bedingungslose Akzeptanz des Moments tausend Tränen weit. In einer Stunde fährt mein Zug zurück, ich sollte etwas essen, mich aufwärmen, den größtmöglichen Umweg zum Bahnhof nehmen.

Die abgestrichene Stelle ist wie ein Punkt im Kopf, der versucht ein Zentrum zu werden. Ich schütte Kaffee drauf und drücke ein Brötchen hinterher. Stehe am Gleis, im Wind, denke über die Therapiestunde nach und finde das Beste, das ich machen konnte, ziemlich gut.
Irgendwann bald werde ich aufschreiben, wie das Autismuscoaching die Traumatherapie unterstützt – wie anders das jetzt alles ist, seit dem neuen Anfang im März. Das will ich unbedingt teilen, niemand soll so viele Jahre so leiden wie ich und denken, so geht Traumatherapie nun mal.

Im Zug gehe ich wieder Straßenverläufe durch. Übe Autofahren, überlege mir Strategien, um präsent und konzentriert zu bleiben. Weiß, dass ich mehr nicht tun kann, weiß, dass mein Bestes für 50 Minuten innerstädtische Reizüberflutung vermutlich einfach (noch) nicht reicht. Will aber doch am Montag die Prüfung versuchen. Will bestehen, will keine drei, vier Wochen bei zwei Grad über null und Gegenwind die fünf Kilometer zum Einkaufen radeln müssen.

Ich gehe schwimmen, bis ich nicht mehr kann, dann lasse ich meine Muskeln weichsprudeln und meine Gedanken vom Dröhnen der Düsen übertönen. Der Partner holt mich ab, wir schauen eine Serie, essen Abendbrot, ich gehe ins Bett und merke um Viertel nach drei, dass ich gar nicht wirklich sterbe, sondern nur jemandes Erfahrung erinnere.
Gut, dass ich schon weiß wie der Ablauf da heraus ist.

Vergebung

Früh am Morgen packe ich meine Sachen zusammen, um zum Lungenfacharzt und dann nach Hause zu fahren. Mein Blick fällt auf eine Liste der Freundin. „Vergebung hilft zu heilen“ steht da, mit vielen Punkten, was Vergebung ist und was nicht.
Ich schaue den Häuserschacht hinauf in den diesigen Morgenhimmel, auf die Uhr, in meine Kaffeetasse. Mir hängt der Gestank von Blut und Schweiß in der Nase, ich fühle mich klebrig verschleimt an, obwohl meine Haut warm und trocken ist. Ja, Vergebung, Heilung, whatever, das ist ein Modus, in dem ich gerade nicht bin.

„Und vielleicht auch nie komme“, denke ich als ich eine Anhöhe raufradle. Ich weiß nicht mal, wer mir das angetan hat. Wem soll ich vergeben. Und was überhaupt. Kaputtgehen passiert. Es ist eigentlich kein Ausnahmezustand, unheil und an irgendeiner Stelle irgendwie in irgendeinem Heilungsprozess zu sein. Ich steige vom Rad und befühle die Nagelbettentzündung an meinem kleinen Finger.
Der Flashback ist vorbei. Mein Alltag liegt vor mir wie ein ungepflegter Radweg.

Beim Lungenarzt sitzen außer mir nur Leute nach einer Covid-19-Infektion im Wartezimmer. Zwei haben einen Sauerstoffwagen neben sich stehen und sind kaum älter als ich. Meine Lungenfunktion ist so gut wie noch nie, mein Gewichtsverlust wird erneut goutiert und dass ich mich auch um eine Boosterimpfung kümmern soll, braucht mir mein Doc gar nicht erst schmackhaft zu machen. Im Wartezimmer wird gehustet. Kann man einem Virus vergeben?

Auch am Bahnhof gehts um Vergebung. Nach erst 30, dann 70 und 80 Minuten Verspätung, fällt der Flixtrain zwischen zwei verspäteten Zügen der Deutschen Bahn aus. Scheinbar schießen die Baustellen auf den Gleisen ohne jede Vorankündigung einfach aus dem Boden. Da kann man wohl nichts machen, außer demütig üben, nicht frustriert zu sein wie jeder normale Mensch. Wer heil sein will, muss sich selbst überwinden, oder so.
Im Zug lese ich in einer liegengelassenen Zeitung vom Elend an der Grenze zwischen Belarus und Polen, von der Überschwemmung in Sarajevo und dass schon jetzt die Länder am meisten unter dem Klimawandel leiden, die ihn am wenigsten befeuern. Keine Zeile übers Sterben im Mittelmeer. Die Coronatoten haben sich in Zahlen, die Realitätsverweigerer in eine unkontrollierbare Bedrohung verwandelt.
Die Welt ist kaputt, jede_r heilt für sich allein.

Die Sonne scheint das bunte Laub der Bäume an, ich schaffe den „Berg“ nach Hause zum ersten Mal in einem Rutsch. Der Partner verzögert seinen Abflug, um noch ein bisschen zu reden, die Hunde schnuffeln um uns herum. Der erste Adventskalender war in der Post.
Es gibt nichts zu vergeben. Hier heilt es sich auch so.

Es gibt keinen Schutz vor dem Leben.

„Jetzt generalisieren sie aber“, sagt die Therapeutin.
Am Wochenende kam eine Nachricht von ihr. Sie hätte meinen Brief gelesen und die Stellen im Buch, die ich ihr präpariert hatte.
Ich prüfe mein Gesagtes und stimme zu. Ja, es ist eine Generalisierung von mir zu sagen, dass alle Therapeut_innen und Helfer_innen, die mich nicht gesehen, nicht erkannt, nicht verstanden haben, mich am Ende nie deshalb entlassen, rausgeworfen oder abgewiesen haben, sondern, weil sie sich dagegen entschieden haben, mich sehen, erkennen, verstehen zu wollen.
Das ist eine Erzählung, die mir hilft und mich tröstet.
Sie handelt von Menschen, die Versprechen geben, ohne sie zu machen. Von einem Wunsch danach, bedingungslos unterstützt zu werden, der schon seit vielen Jahren nicht mehr angebracht ist – egal in welchem Kontext. Von der Einsicht, dass man Menschen nicht ändern kann und der Anerkennung der Ohnmacht vor dem Begreifen anderer Menschen.
Es ist die Essenz der vielen Erklärungsfindungsprozesse seit den 90er-Jahren, die bei jedem einzelnen Bindungs- und Beziehungsabbruch zu Therapeut_innen, Helfer_innen und Menschen, die uns aus ihrer Position der Autorität hätten helfen können, wenn sie nur kapiert hätten, was wir ihnen sagen, ausgelöst wurden.

Es ist eine Erzählung, die wahr und fair ist.
Ich stehe nicht hier und sage: „Alle Therapeuten sind vertrauensunwürdige Dreckspisser, die eh nix schnallen und immer nur vom Elend anderer profitieren.“ Ich habe und ich werde nie – selbst nicht über die Behandler_innen, die mich mit ihrer Unfähigkeit re.traumatisiert haben – sagen, dass sie das mit Absicht getan haben oder mich einfach zu scheiße fanden, um korrekt mit mir umzugehen.
Auch das sind Generalisierungen, mit denen so einige bindungstraumatisierte Menschen nach Erfahrungen wie meinen leben.

Es ist meine Erzählung über Gewalt, es ist meine Erzählung über das Leben, über die Menschen.
Ich stehe hier und sage: Es tut weh, weil du mir ein Weh getan hast – und ich kann darauf verzichten, dass du mir sagst, dass dir das leid tut, denn ich hab nichts davon, dass du dich einer Schuld entschuldigst, die du dir selber gibst, weil du denkst, wenn ich dich als Quelle auszeichne, bedeute das irgendeine Schuld statt einer Ursachenzuschreibung. Mein Weh wird nicht weniger davon, dass du mir sagst, dass du das nicht wolltest. Absichten sind Fantasien. Sie sind bedeutungslos für die Realität.

Ich erzähle von einem Weh, das niemand wollte und das trotzdem passiert ist.
Und ich erzähle das nicht, damit irgendjemand um mich herumtanzt und versucht das wieder gutzumachen. In einer Welt, in der Fantasien mehr Bedeutung zukommt als Realitäten, kann sich mein Weh nicht transformieren. Gibt es keinen Schutz, keine grundlegende Reparation, sondern immer nur Ablenkung, immer nur noch mehr nutzloses Gewölk zur Betäubung der Ohnmachtsgefühle vor der Interaktion mit anderen Menschen und also vor dem Leben selbst.

Meine Generalisierung, diese meine Erzählung, ist keine Schutzmaßnahme. Weder für mich, noch für irgendjemand anderen.
Es gibt keinen Schutz vor dem Leben.

der Kinderwunsch

Urlaub. Tag 9.
Wir lesen, wir schreiben. Wir schwitzen, wir schnauben uns Heuschnupfen aus dem Kopf.

Ich lese gerade „Kinder wollen, über Autonomie und Verantwortung“ von Barbara Bleisch und Andrea Büchler. Ein Buch, das Ansichten, Haltungen, Fragen rund um die Verantwortung des Kinderwollens und -habens aufgreift und dazu einlädt, über die eigene Autonomie in der Sache nachzudenken. Ein tolles Buch. Es ist hilfreicher als das sorgenvoll abtastende Hin- und Her zwischen dem Freund und uns, dem merkwürdig distanzierten Irgendwienichtsorichtigdrüberreden mit der Therapeutin und Gesprächen mit den Freund_innen, die selber keinen Kinderwunsch haben.

Ich hatte das Buch gekauft, weil ich dem Freund etwas für seinen Prozess an die Hand geben wollte. Und, weil es die Kapitel „Ein eigenes Kind“ und „Kinder wollen – Eltern werden“ darin gibt. Sie beschäftigen sich nämlich mit den Bereichen, die uns umtreiben.
Erstens die unfassbar irrationale Dringlichkeit des Kinderwunsches und zweitens der Umstand, dass man sich mit der Entscheidung fürs Kindermachen auch für die Verantwortung der Elternschaft entscheidet, obwohl man erst mit der Geburt des Kindes überhaupt anfangen kann, diese Verantwortung tragen zu üben und so zu lernen.

Im Eltern-Kapitel bin ich noch nicht. Aber im Kinderwunsch-Kapitel war etwas, das mich berührt hat. Zitiert wird die kanadische Schriftstellerin Margaret Laurence: „Ich glaube nicht, dass ich meine Motive, Kinder haben zu wollen analysieren sollte. Zur Selbstbestätigung? Zum Spaß? Um dem eigenen Ego zu schmeicheln? Es spielt keine Rolle. Es ist, als würde man mich fragen, warum willst du schreiben. Wen kümmert’s? Ich muss, und das ist es schon.“
Für mich fühlt es sich genau so an. So innig. So alleinig. So intim vielleicht auch.
Ich dachte an der Stelle daran, wie oft uns das Blog zu schreiben schon pathologisiert wurde, während unsere sexuelle Aktivität, unsere Potenz zur Elternschaft irgendwie nie berührt wird. Wir werden einfach immer erst krank und zerstört, dann behindert und bedürftig gedacht, statt als lebendig und entwicklungsfähig, obwohl dies die Grundlage für Kaputtheit, Behinderung und Bedürftigkeit ist.
Und wir haben das internalisiert. Der einzige Grund weshalb wir unter dem Kinderwunsch „leiden“ ist der, dass wir ihn nicht erklären, nicht kontrollieren, nicht aufgeben können wie den Wunsch nach einem Eis in der Hitze der letzten Tage. Der Gedanke, dass wir vielleicht kein Elternleben führen können, verursacht Schmerz in einer Tiefe, wie ihn bisher nur Traumaerleben verursachen konnte und das ist verwirrend. Hier berührt etwas unser Integritätserleben, das nicht aus Zerstörungs- oder Verletzungswillen einer Person kommt, sondern aus der Möglichkeit einen Prozess nicht durchlaufen zu können. Eine Entwicklung nicht machen zu können. – Obendrauf noch eine, zu der wir von außen auch gar nicht als fähig eingeschätzt werden, während wir wissen, dass man sich Fähigkeiten wie diese immer dem Leben und der eigenen Lebendigkeit abzwingen muss. Immer. Alle. Nicht nur wir, weil wir autistisch und Viele sind.

Früh am morgen und in der Nacht ist es noch oder nicht mehr so warm in unserer Wohnung. Dann schreiben wir an unserem Buch.
Im Moment an dem Kapitel, das sich mit Autismus und unserem Weg zur Diagnostik und der folgenden Auseinandersetzung beschäftigt.
Parallel dazu bewege ich meinen Therapieurlaubsauftrag, der da lautet, die Entwicklung der letzten Jahre zu reflektieren und aufzuschreiben. Dabei merke ich, dass wir in kurzer Zeit sehr viele Prozesse durchlaufen haben und wir immer wieder dieses Moment erlebten, in dem wir uns und unserem Leben abzwingen mussten, weiterzumachen. Trotz dem und dem und dem und diesem und jenem – und mit diesem und jenem und diesem und diesem.
Nicht immer ging es dabei um konkrete Fähig- und Fertigkeiten – aber immer ging es dabei um genau die gleichen Fragen, wie denen, die mit dem Kinderwunsch kommen: Willst du leben? Wie willst du leben? Wie willst du dein Leben gestalten? Soll das, was du jetzt lebst, immer so bleiben? Bist du, wer du sein möchtest? Bist du, wie du sein möchtest?
Nie hat uns jemand den Wunsch am Leben sein zu wollen pathologisiert und alles, aber auch wirklich alles umzukrempeln und neu (kennen) zu lernen, neu zu bewerten und einer kritischen Prüfung zu unterziehen, als die Autismusdiagnose kam. Als die DIS-Diagnose kam. Als wir uns mit Ausstiegsgedanken trugen. Als wir unsere Berufsausbildung begannen.
Es waren die gleichen Fragen. Es waren die gleichen Mechanismen von Leben und Lebendigsein, die uns nicht nur ermöglichten Antworten auf diese Fragen zu finden, sondern daraus auch Haltungen, Fähig- und Fertigkeiten zu entwickeln, um diese Antworten auch zu leben.

Der Kinderwunsch ist etwas, das aus uns heraus kommt und nicht über uns hereinbricht wie ein Schicksalsschlag oder eine umfassend bitter traurige Erkenntnis um 15 Lebensjahre, die ganz anders hätten sein können.
Das macht ihn auch ein bisschen gruselig, denn mit Trauma und Gewalt, Bitterkeit und Trauer umzugehen, haben wir zweifelsfrei drauf.

Es ist etwas vollkommen Neues. Etwas, das viele weitere Prozesse und Entwicklungen verheißt.
Zum Teil frei wählbare Prozesse und Entwicklungen.

Ahnung haben

Es ist April, es fühlt sich nach Juli an. Wenn die Bauern über die Felder fahren, ziehen sie Staub hinter sich her. Ich gieße jeden Abend unsere Beete und Beetchen, hoffe, dass das Wasser überhaupt weiter als einen Zentimeter in den Boden kommt. Mein bisschen Ahnung von Pflanzen und Draußen reicht, um zu wissen, dass die Bedingungen für Anfänger_innen gerade nicht ideal sind. Aber was ist gerade ideal. Was ist das überhaupt je, außer unsere Vorstellungen und Ideen.

Heute haben wir das Auto mit 6 Heidelbeersträuchern und 8 Zentnern Erde gefüllt. Das war toll.
Es fühlt sich erwachsen an, solche Dinge zu entscheiden. „Bapp! Hier kommt ein Strauch hin.“
Ein ganzer Strauch! Genau die Dinger, die man normalerweise irgendwo eingewachsen rumstehen sieht, ohne darüber nachzudenken, warum sie da stehen und nicht woanders. So ein Strauch ist etwas anderes als eine handvoll witzig geformter Samen, die man auf kahl vertikutierten Rasen wirft, begießt und hofft, dass nicht schon zur nächsten Mittagszeit gerösteter Kerncocktail auf dem Speiseplan der Vögel steht. Ein Strauch ist schon da. Fertig. Dem guckt man nicht mehr so wirklich beim Werden zu, mehr beim Sein. Das macht den Akt des Verpflanzens für mich so besonders.

Jetzt stehen sie da im Garten, neben dem Hochbeet, das ich diese Woche angelegt habe. Vermutlich falsch. Auf jeden Fall schief. Und voller Enthusiasmus, dass das schon irgendwie gehen wird, von mir betrachtet. Ich verwandle mich in eine Gartenversion von F., dem Baufreund. Den habe ich vermisst beim Bau. Sägen ist nach wie vor ein Thema für uns.
Immerhin gärt es nun im Bauch des Hochbeets. Man kann seine Hand auf die weiche Erde legen und sie ist warm. Wenn man sie mit Wasser beregnet, riecht es nach April.

Ich habe immer gedacht, Heidelbeersträucher hätten Stacheln und Erwachsene immer genaue Ahnung, von allem, was sie tun und entscheiden. Das haben sie nicht und das ist gut zu wissen.

das Heile und der Virus

Seit Tagen habe ich meine Gedanken unter Quarantäne. Schreibe sie hier nicht rein, aus Sorge, aus Furcht, aus Gedanken um Privatsphäre und auch, weil ich nicht verpackt kriege, was gerade in der Welt passiert. Hier auf dem Land kommt mir das alles noch absurder, krasser, unwirklicher vor.
Hier gibt es keine leeren Regale, keine Leute mit Schutzmasken vor dem Gesicht. Hier gibts den Acker vor der Tür, dem langsam ein grüner Pelz wächst, die Sperlingsgang, unseren Garten und die Frage, wo wir heute mit den Hunden spazieren gehen. Es ist nicht alles in Ordnung und heil, aber es sieht nicht aus, als lebten wir in einer Zeit, in der auf Geflüchtete geschossen und eine Seuchenschutzmaßnahme nach der anderen beschlossen wird.

Wir wachen morgens auf, trinken Kaffee und beobachten die Wellenbewegung auf den Pfützen neben der Straße, auf der diese Woche schon wieder mehr Traktoren und Laster als letzte Woche langfahren. Ich mache meine Arbeit und in den Pausen mache ich mir Gedanken. Einfach so, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen, wandern sie zum Thema Kinderkriegen. Als wäre alles heil und in Ordnung, während doch praktisch alles gerade schwierig, gefährlich, unfassbar traurig, unfair und gewaltvoll ist.
Als würde das Husten des Freundes von unten nichts weiter bedeuten. Als wäre unsere Konstitution aus Stein und Stahl. Als wäre alles möglich, obwohl gerade alles so ist, wie es ist.

Ich möchte diesen gesunden Kern in uns feiern. Will mich ihm hingeben und genauso handeln und sein, wie die Menschen, die nicht mit unseren Erfahrungen und ihren Auswirkungen leben. Vielleicht erliege ich aber auch nur der naturalistischen Erzählung vom Urinstinkt der Menschen, die schwanger werden können. Halte das alles für heil und gesund, weil das Kinderkriegen als Zeichen von Heil- und Gesundheit gilt. Obwohl ich weiß, dass das nicht stimmt und alles im Grunde eine hochkomplexe Wenn-Dann-Maschine ist, deren Funktionieren nicht davon abhängt, wie gesund oder krank man ist. Wie bereit oder nicht bereit. Wie ideal oder katastrophal die Umstände sind.

Ich wünsche mir die Gedanken- und Sorglosigkeit der Gesunden und Heilen. Denke manchmal: “Hey, jetzt hab ich hier so was Heiles, was in mir wirkt und greift und irgendwie einfach so nur da ist – wieso kriegt das nicht einfach allen Raum in meinem Leben. Das ist doch sowas Gutes! Hallo Welt – Ich hab hier mal was Gutes von mir und aus mir heraus – wo kann ich damit hin?” und die Welt antwortet darauf “Ach hier neben der Erkrankung deines Freundes, deiner Armut, deinen Erkrankungen und den Behinderungen, mit denen du umgehst, da kann du dir was zwischen Seuchenschutz, Klimakatastrophe und Krieg rund um den Globus einrichten.”

Vielleicht sagt die Welt das aber auch gar nicht. Vielleicht höre ich das nur. Vielleicht sagt die Welt auch, dass immer alles kommt, wie es kommt und das Leben einfach nichts ist, das für irgendetwas mehr als sich selbst ideal ist. Und ich will das nicht hören, weil ich vielleicht inzwischen doch auch zu denen gehöre, die sagen, dass sie jetzt auch mal einfach nur was Gutes im Leben haben wollen. Dass sie die Schnauze voll haben von Traumascheiße, von Ämterbullshit, von Last und Sorge wegen Dingen, die längst vorbei sind, von Lebens_Angst und aktivem Bewusstsein für alles Schlimme in der Welt.
Vielleicht habe ich inzwischen auch einen verdrehten Opferstolz entwickelt, in dem ich denke, ich hätte doch jetzt langsam mal ein Anrecht auf Sorglosigkeit und gedankenloses EinfachnuramLebensein und Leben machen. Als ob das weniger anmaßend wäre, als der Gedanke um Anrechte durch Erfahrungen selbst.

Die Sonne scheint. Unten hustet der Freund. Die Sperlinge knispeln im Dachspalt. Gleich besuche ich die Nachbarn, um etwas Erde für unsere Kartoffelpyramide zu holen. Danach werde ich den letzten Heckenschnitt häckseln, eine Hunderunde machen. Vielleicht gucken wir heute Abend einen Film. Vor mir liegen etwa 4 Tage PMS, drei Zugfahrten zu wichtigen Terminen und die Sorge, bei einer davon den Virus mit nach Hause zu schleppen, der den Freund mit hoher Wahrscheinlichkeit tötet.