die Menschenausstellungen unserer Zeit

Seit einigen Wochen wird mir von verschiedenen Leuten erzählt, dass es eine neue Doku über DIS gibt. Auf arte. „Ganz wissenschaftlich“, „total gut gemacht“, „da wirst du nichts gegen haben“, heißt es. „Werden Wechsel gezeigt?“, „Ist die betroffene Person allgemein handsome, lustig und ‚voll sympathisch‘?“, „Sagt jemand, die DIS sei ein Überlebensmechanismus?“, frage ich zurück und erfahre, dass es so ist.
Klar, denke ich, klar, klar, klar. Anders kann Liz Wieskerstrauch auch keinen Film dazu machen. Hat sie nie, konnte sie nie, wird sie nie. Konnten ja auch andere nicht. „‚Der Zuschauer‘ muss es ja sehen“, finden sie. Es, das Vielesein. Das Mysterium, das schon so lange keins mehr ist. Das Rätsel, das nur deshalb als Rätsel verhandelt wird, weil die Lösung banal erscheint und von den Falschen das Richtige abverlangt.

Ich bin es so leid. Es macht mich so wütend. Auch auf jene Unterstützer_innen, die diese Filme herumreichen, weil es so ein allgemein bekömmliches Stück Öffentlichkeitsarbeit ist. Da gibt es nur allzu oft die Annahme, dass lange, detaillierte Erklärungen verschrecken. Verschließen. Keinen Reiz setzen, sich zu verbünden und sich mitzukümmern. Während einige Viele und ich in der Realität gerade auf so „gelockte“ Unterstützer_innen wirklich verzichten können.
Es ist unglaublich hinderlich, wenn Helfer_innen jedweder Profession und Beauftragung erst begreifen, dass sie Dissoziation und ihre Auswirkungen auf das Er_Leben eines Individuums noch nicht verstanden haben, wenn sie sich fragen, warum nichts aus ihrem Angebot hilft. Warum sie ständig so erschöpft sind. Sich fragen, ob die_r Klient_in vielleicht doch lügt, etwas vorspielt oder sie selbst einfach nicht klug genug, gut genug, fachlich ausgebildet genug sind.
Da gibt es so viele völlig unnötige Schleifen des Leids auf beiden, allen, Seiten. Einfach nur, weil man inhaltliche Abkürzungen gewählt hat, um zu verstehen.

Die DIS ist das Ergebnis eines Überlebensmechanismus. Die DIS ist das angepasste Weit.Er_leben in konstant toxischem Stressniveau. Es ist keine Lösung und auch kein Endpunkt. Es ist ein Er_Leben. Nicht mehr, nicht weniger. Nichts daran ist außergewöhnlich, nichts unnormal im Sinne von „dem Menschlichen abweichend“. Man muss kein sunny Smileface vor eine Kamera klemmen, das mir nichts dir nichts böse wird, um die Alltäglichkeit dissoziativer Brüche im Er_Leben von jemandem zu erklären. Es sei denn, man will sie gar nicht erklären. Sondern zeigen. Wie man Zootiere zeigt. Attraktionen. Obskure Besonderheiten.
Für mich sind diese Filme (wie viele andere Filme anderer Leute über Krankheiten und Behinderungen) tatsächlich die Menschenausstellungen unserer Zeit. Statt Schautafeln mit Rassenlehre, gibt es heute O-Töne von Professor Doktoren, Therapeut_innen und anderen Menschen, die sich selbst nicht auch als Viele erleben, mit Theorien und Studien darüber, wie es kommt, dass es uns gibt. Wie man die Erkrankung/Behinderung hätte verhindern können. Außerdem Ideen zum Umgang mit uns. Neben dem unausgesprochenen, doch klar definierten Ziel, unserer Normalisierung.

Eine Darstellung der Innensicht, des Selbsterlebens; die originären Selbsterzählungen von Vielen sind bis heute extrem rar. Obwohl es inzwischen zig DIS-Influencer gibt. Die sich alle ein sunny Smileface aufsetzen, sich super sympathisch machen, alles ganz fein wiedergeben können, was sie von Professor Doktoren und Therapeut_innen und an Studien gelesen haben. Für „den Zuschauer“, den solche Dokus erreichen sollen.
Was man mit „dem Zuschauer“ dann anfangen soll, wenn die Krankenkasse eine wirksame Heilbehandlung ablehnt, weil ihr Gutachter an false memories glaubt und Traumatherapie als Instrument einer verschworenen Therapeut_innengemeinschaft einordnet – Oder wenn sich einfach keine betreute Einrichtung für jemanden nach einer Flucht aus traumatisierenden Zusammenhängen findet – Oder wenn die dritte Woche mit Dauerflashbacks, Schlafstörungen und ausufernder Psychosomatik das Arbeiten verunmöglicht – Damit müssen wir uns dann wieder off camera befassen. Das ist dann wieder diese unsexy langweilige Strukturkacke, mit der nun wirklich alle Menschen mit PTBS oder einer anderen (chronischen) Erkrankung bzw. Behinderung zu kämpfen haben. Und „die Normalen“ ja auch, nämlich. Ja, ja.

Diese ganze Show, diese Draufzeigerei und von Dritten unterkomplex zusammengekochte Erklärerei sind nichts wert, wenn man sich klar macht, dass es Konsumgüter sind. Denn Publikum konsumiert und ist für nichts anderes da. Es kommt, um sich selbst im Gezeigten zu finden, und geht wieder. Bis was Neues kommt.
Ein Publikum, „der Zuschauer“, ist niemals „die Community“, auf die die meisten Vielen (wie alle anderen Menschen auch) so massiv angewiesen sind. Niemals.

„Community“ entsteht durch gemeinsame Anstrengungen. Es ist eine Gemeinschaft des füreinander miteinander Lebens. Da kommt man nicht zusammen, weil jemand ne DIS hat und schöne Texte vortanzen kann. Oder fancy Schnitttechniken anwenden, um alle Details von sich abzubilden. Oder weil alle wissen, wie es zu einer Diagnose kommt und das nicht gut finden.

Uns Menschen mit DIS ist so viel mehr passiert als Trauma, das irgendwie mal geheilt werden muss. Uns sind Lebensumstände passiert, die unsere Existenz in allen Funktionen ganz basal, ganz, ganz grundlegend verändert haben. Eine Existenz, die, wird sie auf diese Art immer wieder exotisiert, verrätselt und mystifiziert, niemals inkludiert werden wird. Egal, in welcher Gesellschaftsform, egal, mit wie viel oder wenig oder wie gelagerter Gewalt wir leben.
Traumaheilung ist aber genau das: Inklusion, nahtlose Verbindung, Miteinander – sowohl im Inneren, als auch im Äußeren.
Ein Äußeres, das Viele „erstaunlich“, „fremd“ und „anders“ konstruiert, will Viele genau so gesehen haben. Das ist ein Äußeres, das nichts Gutes für Viele will.

Wieder Kunst machen. Vielleicht.

„Das ist so eine Sache, da sind Trauma und ihr Autismus, so richtig SO“, meine Therapeutin verschränkt ihre Hände fest ineinander und deutet an, dass eine Trennung kaum möglich ist.
Wir sprechen über den Kunst-Konflikt. Den Klinik-Gau. Dass sich manche Innere ausdrücken wollen und ich es nicht zulasse. Obwohl ich ein ganzes Zimmer voller Gestaltungsmaterial, eine komplette analoge Foto- und Laborausrüstung, Unmengen an Papier und Werkzeugen besitze. Ich maximal geschützt loslegen könnte. Und darunter leide, dass ich es nicht zulasse.

Ich bin meine erste Woche im Urlaub, nachdem ich 4 Wochen krankgeschrieben war. Erschöpfungsdepression. Meine Essstörung entfesselt. Die Arbeit im Zusammenspiel mit Kinderwunschbehandlung, Traumatherapie und Selbsthilfe im Umkreis von 100 bis 130 Kilometern auf Dauer entkernend.
Also fahren wir die Ressourcenrunde.
Ich habe keine echten Pausen. Und dadurch zu wenig Raum für Selbstwahrnehmung, Selbstausdruck und Selbstverwirklichung in dem Sinne, dass ich selbst begreifen kann, dass ich wirklich bin.
Meine Krankschreibung, sie führt zu selbstgemachten Therapieanwendungen.
Statt Mandalas bei Panflötenmusik spiele ich Sims 4, statt Gruppentherapie telefoniere ich lange mit Freund*innen. Ich schlafe auch am Tag. Zwinge mich nicht in eine Konzentration, die ich sowieso nicht aufbringen kann.
Nach 3 Wochen habe ich den ersten eigenen Gedanken mit Anfang, Inhalt und Ende. Nach 4 schaffe ich den Dreh zurück ins Essen ohne erweiterte Funktion. Die Therapie ist nicht mehr fast überanstrengend, sondern wieder eher meine Vermeidungsbequemlichkeiten herausfordernd.

So sitze ich da also und beobachte meine Therapeutin mit ihrer erklärenden Geste. Kurz vorher habe ich erst verstanden, dass dieses Thema wichtig ist, weil es mich von positiven Ressourcen trennt. Nicht, weil meine Therapeutin sich bei den Jugendlichen einschmeicheln will, wie R. argwöhnt, ich befürchte und hinter der Nebelwand zu Kindlichem alle Alarme kurz vor Auslösung bringt.
Zuvor wollte sie verstehen, wo das Problem liegt. Ist es Perfektionismus? Ist es Öffentlichkeit? Ist es Angst davor, abgezwungenes Schweigen zu brechen?
Nein, nein, nein.
Es ist viel banaler. Und gleichzeitig überhaupt nicht banal.
Es ist auch meine eigene Schuld. Und gleichzeitig, ein bisschen, auch nicht.
Und es ist mein Autismus. Und die Logik des Traumas.

An diesem Tag im Mai 2016 verließ ich das Besprechungszimmer der Ärztin mit den Worten: „Ich habs immer überlebt.“
Und dann hab ichs überlebt.
Ich bin da raus und wähnte mich in Lebensgefahr, vor der mich niemand schützt. Also bin ich, wie immer, erstarrt. Und gleichzeitig, dank der direkten Intervention meiner ambulanten Therapeutin, funktional in Bewegung geblieben.
Das – solche psychischen Scherkräfte, also parallel und gegensätzliche Kräfte – sind die Zutaten für funktionelle Dissoziation. Die Gleichzeitigkeit, die Trauma und das Leben danach so widersprüchlich und belastend macht. Auf der einen Seite die Todesangst (für die man sich vielleicht selbst verantwortlich macht) und auf der anderen Seite der Alltag. Hier die globale und unendliche Isolation und da Menschen, die mit einer_m sprechen. Oder zusammen in der Bahn sitzen. Oder im Laden stehen. Dieses Spannungsverhältnis führt zu der reaktiven Inflexibilität, die viele traumatisierte Menschen irgendwann in Bezug auf irgendetwas bei sich feststellen.
Dieses Spannungsverhältnis und der Druck, der dabei entsteht, können folgenden Gedanken logisch machen: „Was ich getan habe, um hier hineinzugeraten – das mache ich nie wieder.“
Ich überlebte den Klinik-Gau, diese Retraumatisierung im Hilfekontext, indem ich Entscheidungen traf und dabei blieb. Konsequent wie Stahlbeton. Nicht, weil ich so einen starken Willen habe, sondern weil toxisches Stressniveau und autistische Trägheit zusammen einen unfassbaren Superkleber und in der Folge eine unerschütterliche Inflexibilität produzieren.

Erst verließ ich das Klinikgebäude und beschloss, nie wieder mit irgendjemandem zu sprechen. Ein kindlicher Beschluss. Der hielt bis zum Kontakt mit meiner Therapeutin. „Nie wieder mit irgendwem“ ging also nicht.
Aber „nie wieder so“ und „nie wieder das“, das ging. War sogar gut. Meine Therapeutin kannte sich nicht mit Autismus aus. Ich hatte eine komplementäre Begleitung, die es nicht erforderlich machte, dass sie sich auskannte. Den Begleitermenschen nämlich. Auch der Kontakt zu ihm brauche nicht mehr „so“ zu sein. Und „das“ mit ihm zu besprechen, rückte durch den Ausbildungsalltag an der Berufsschule ohnehin in den Hintergrund. Und irgendwann endete unser Verhältnis auch.

Es dauerte 4 Jahre, bis ich meine an dem Tag getroffene Entscheidung, meine Therapie vom Thema Autismus („das“) und damit aus dem Großteil meiner Wahrnehmungsrealität und dem, was sich daraus für mein Erkennen und Verstehen meiner Selbst ergibt (und mich „so“ sein (interagieren und kommunizieren) lässt), rauszuhalten, revidierte. In Teilen. Unter einem absoluten Vorsichtsdiktat, das ich bis heute halte.
Auch das tat ich wieder in einer brutalen Krise, die mich in ungeheure Spannung brachte. Hier die Therapeutin, die sich bemüht und mit der ich mich überhaupt nicht mehr unsicher fühle – da die Erfahrungen mit sehr vielen Psychotherapeut_innen und ganz speziell der letzten, nach denen es sich immer logischer darstellte, einfach auf etwas von mir zu verzichten. Irgendwas einfach nicht mehr zu machen.
Hätte ich nicht den Eindruck gehabt, dass es mich das Leben kosten könnte, würde ich die Therapie nicht richtig machen, meiner Therapeutin nicht sagen, dass sie Murks macht, wenn sie meinen Autismus mit Fragezeichen versehen am Rand stehen lässt, hätte ich das nicht an sie herangetragen.

Keine meiner Entschlussrevisionen hatten jemals irgendwas mit „mal in Ruhe und ganz objektiv mal drüber nachdenken und dann halt mal anders machen“ zu tun. So wie man sich das von Therapie verspricht oder es in weniger drastischen Situationen im Alltag erlebt.
Meine Generalisierungen sitzen. Und zwar immer und überall. Mein Platz, mein Besteck, mein Geschirr, meine Kleidung, meine Tagesabläufe, meine Leute, meine Themen, meine Interessen, meine Offenheiten – hinter allem stehen bewusste Entscheidungen und „Für immer“-Entschlüsse. Entscheidungen für die Ewigkeit. Es erfordert absolut uneigennützige Bereitschaft, mit mir sachlich und zieldefiniert zu verhandeln, ob ich irgendetwas daran verändere. Kommt auf diese autistische Eigenschaft der Stress des Traumas, bin ich absolut darauf angewiesen. Denn an diesem Baustoff aus Traumastarre und autistischer Trägheit prallt jeder „Wägen Sie vielleicht mal ab, ob …“-Pinsel ab.

Manche meiner generellen Entscheidungen kann ich schnell revidieren. Besonders, wenn mir auffällt, dass ich eine traumalogische Basis dafür hatte. Wenn eine Entscheidung nur in einem einzigen Zusammenhang wirklich sinnvoll war, dann ist es ineffizient und unlogisch, sie auf alle anderen Lebensbereiche auch anzuwenden.
Die Entscheidung gegen meinen authentischen Selbstausdruck hingegen, die habe ich nicht nur im Zusammenhang mit dem Klinik-Gau getroffen. Diese Entscheidung habe ich bis dato in so vielen verschiedenen Momenten getroffen, dass es keinen Bereich mehr gibt, der frei davon ist. Das ist, was man heute so positiv hinzufügend als „Maskierung“ benennt. Und eben nicht negativ als „Verzicht auf sich selbst für andere“.

Der Klinik-Gau war für mich so belastend, weil ich vor der Autismusdiagnose nicht wusste, weshalb ich verschiedene Dinge nicht anspreche oder nur verschleiert und heimlich mit mir allein verhandle. Ich lebte wie ein Salamander mit abnorm gefärbten Körperteilen, die ihm immer erst dann auffielen, wenn andere negativ darauf reagiert haben.
Beim Klinik-Gau kannte ich diese Stellen und wusste, woher sie kamen. Meine Erwartung an diesen „geschützten Rahmen“, diesen Ort, an dem psychologische Exzellenz, psychotherapeutische und soziale Kompetenzen von den Autoritäten vorauszusetzen, logisch und auch gewollt ist, war zu keinem Zeitpunkt überzogen oder grundlegend falsch gesetzt. Sie wurde einfach nicht nur nicht erfüllt, sondern auch noch benutzt, um mich zu demütigen und mich glauben zu lassen, ich sei an meinem Empfinden von Auslieferung, Ohnmacht und Lebensbedrohung selbst schuld, denn ich hätte diese abnorm gefärbten Körperteile. Und die wiederum seien gar nicht das, was ich annahm, sondern etwas noch viel Abstoßenderes, was meine Gewalterfahrungen noch viel stärker zu etwas macht, das ich nie anders verdient und immer selbst verursacht hatte.
Als ich der Ärztin damals sagte: „Ich habs immer überlebt“, war für mich bereits absolut klar, dass ich mir so viele dieser abnorm gefärbten Körperteile wie möglich abhacken muss. Mein Leben voller Verdeckungs- und Vermeidungsperformance war ja offensichtlich nicht genug. Nicht das Richtige. Nichts, was mich als jemanden sichtbar macht, die_r es richtig wirklich und echt doll versucht okay für andere zu sein. Okay genug, um nicht von ihnen verletzt zu werden. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich selbst nichts bin, mit dem ich jemals irgendwo sicher einfach sein kann.

Meine Kunst, die einzige Möglichkeit für jüngere Innere, sich auszudrücken, ihre Geschichte zu teilen und sich in der Gegenwart zu orientieren, war nur ein Opfer dieser Abhack-Entscheidung. Das zweite Opfer war eine Freiheit, um die ich mit meiner Entdeckungsangst ringe – die Freiheit, nicht vermeiden zu müssen. Ich habe mir damals auch abgehackt, mir zu wünschen, dass ich Kunst mache. Irgendwie okay zu finden, was ich früher mal gemacht habe. Mich mit Menschen zu verbinden, die diese Wünsche in mir wecken könnten. Ausstellungen, Werkstätten, Projekte zu besuchen, die mich an dieser Stelle reaktivieren könnten. Mein ganzer Materialkram ist da, weil mein Entschluss, nicht zu verschwenden, besteht. Die Kisten und Ordner sind heute in einem Raum, den ich nur öffne, um ihn zu durchlaufen. Die Tür ist immer zu. Ich gehe da nicht rein, weil ich mir nicht trauen kann, dass nicht doch irgendein Innen irgendetwas macht, was mir und dem Rest der Welt meine abnorm gefärbten Körperteile aufzeigt. Denn klar, als Salamander kann man sich Körperteile abhacken – die kommen aber wieder. Man muss in der Angelegenheit sehr konsistent sein. Was wiederum nicht sehr schwer ist, wenn es sich um eine Sache handelt, die in Auti-Trauma-Beton gegossen ist. Jeder nette Kommentar über meine Kreativität führt zu einem präventiven Hack an mir. Jede Rückmeldung zu einem Text als „selbstdarstellend“ – hack of the doom. Jede Erwähnung meiner Arbeiten früher – hack hack hack.

Mag sein, dass ich damals, 2016 in der Klinik, ganz viel komplett falsch verstanden habe. Und niemand jemals von mir erwartet hat, dass ich mich für mich selbst schäme. Ich bin geübt genug in Reparations-/Entschuldigungs-/Wieder-gut-mach-/Klärungsgesprächen mit nicht autistischen Menschen, um zu wissen, dass am Ende IMMER ich die Person bin, die da was nicht richtig verstanden hat. Die irgendwas zu ernst nimmt. Die sich auf eine Art fühlt, die nicht die Intention war und deshalb halt Pech hat, weil da ja nun wirklich niemand was für kann. Außer mir.
In Bezug auf diesen Klinik-Gau, werde ich zu keinem Zeitpunkt jemals einen Moment haben, in dem die Last, der Schmerz, die Angst, die Verletzung von mir genommen wird. In ihrer Natur ist diese Erfahrung damit meinen Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie und jedem anderen sozialen Nahfeld gleich. Infolge dessen sehe ich keinen Grund, meine daraus folgenden Entscheidungen nicht zu generalisieren.
Ja, die Ärztin war nicht meine Herkunftsfamilie, alle meine anderen Mitmenschen zwischen 1986 und 2016, oder irgendjemand anders, die_r mich wegen meiner abnormen Färbung verletzt hat. Aber sie hatte den gleichen Bezugspunkt, um mich zu verletzen und mich in das Erleben einer Lebensgefahr zu bringen.
Es wäre unlogisch, das zu ignorieren. Traumalogisch ausgedrückt: lebensgefährlich dumm.

Meine Therapeutin beendet ihre Geste und spricht eine Weile. Sie sagt, ich könne mich fragen, ob ich das Ereignis mein Leben so umfassend bestimmen lassen will. Ob ich dem weiter so viel Macht geben will.
Diesen Ansatz finde ich unsinnig. Es ist ja nicht das Ereignis, dem ich Macht gebe, sondern die Beschämung, von der ich weiß, dass sie praktisch automatisch kommt, egal von wem und in welcher Absicht. Das Ding ist nicht, dass das passiert ist, sondern, dass es passiert ist, obwohl ich mich so unfassbar aufgerieben und angestrengt habe, dass es nicht passiert. Eine Klinik für Psychosomatik ist der einzige gesellschaftlich gewollte Rahmen und Ort, von dem man annehmen darf, dass man dort nicht wegen sich selbst verletzt wird. Darum war ich da. Ich brauchte Hilfe und war abnorm. Nirgendwo sonst, dachte ich, könnte ich mich risikoarm und sicher damit befassen und arbeiten.
Das Ereignis hat eine Generalisierung, die ich vorher bereits hatte, bestätigt und erweitert. Es hat nicht mehr Macht über mich, als jeder belustigte Kommentar über mein wörtliches Verstehen, jedes amüsierte Nachmachen meines Körperausdrucks, jede Demütigung nach einem Missverständnis, jede soziale Dynamik, die entsteht, weil nicht oder auch anders behinderte Menschen Behinderung mit aufwertender Sonderstellung verwechseln oder Autist_innen (oder auch Menschen mit DIS) als interessant mystische Sonderlinge einordnen.
Jetzt, wo ich weiß, dass sich in diesen Dingen mein Autismus zeigt und Autismus etwas ist, das ich, im Gegensatz zu anderen Dingen, nicht verlernen oder „einfach nicht machen“ kann, sondern ich selbst bin – jetzt ist es unmöglich, dass es keine Macht über mich hat. Es trifft immer mich. Es geht immer um mich. Ich bin immer das Problem der Witz  Trigger Auslöser ja, verdammt, ich kann das nicht einmal sachlich, nicht selbstabwertend benennen, wenn ich es versuche.

Ich habe zu viel Angst, einfach wieder anzufangen und es zuzulassen. Ich weiß, dass es nicht nur wieder passieren kann, ich weiß, dass es mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit auch wieder passieren wird. Aber ich weiß, was ich tun kann, damit es mir nicht wegen etwas passiert, das ich sicher auch lassen kann.
Das ist nicht nur Traumalogik.
Das ist auch die Logik der Gewalt.
Beschämung ist Gewalt. Beschämung ist ein Machtinstrument. Sie hat Macht. Es ist irrelevant, ob ich ihr die zuschreibe oder nicht. Ich gebe sie ihr nicht. Sie hat sie. Sie hatte sie schon immer.

Meine Therapeutin redet weiter. Ich antworte und beobachte, wie unsere Worte im Raum, zu einem Bild verwachsen. „Ich könnte es ausdifferenzieren wie beim Schreiben“, denke ich. „Statt mich darzustellen, stelle ich meine Themen und Perspektiven dar. Wer sich daraus ein Bild von mir macht, ist selbst dafür verantwortlich. So hab ich das ja immerhin trotz allem Abhackdruck halten können. Aber geht das beim Fotografieren? Beim Malen? Zeichnen? Comics machen? Drucken?“
Das könnte ich versuchen.
Vielleicht.
Wenn ich mich traue.

Kunst

Ich habe analog fotografiert. Meine Arbeiten zur Annäherung und Aufarbeitung in Kaffee und Wein entwickelt. Dann reichten mir grobe Schemen in braun und beige, hell und dunkel nicht mehr.
Der Fonds ermöglichte mir, eine spiegellose Kamera anzuschaffen. Jedes Bild hat lange gedauert. Immer wieder musste ich Widerstände umgehen wie einen Hort von Schlingpflanzen, die mich niederwürgen, mir das Maul stopfen, die Hände abknoten, die Augen durchstechen würden, sobald sie mich bemerken.
„Hässlich. Eklig. Dumm. Eingebildet. Arrogant. Anmaßend. Lass es. Hör auf. ES ist unsichtbar. Es steht dir nicht zu. Dir nicht“, das sagen sie.

Nach dem Klinik-Gau konnte ich das nicht mehr umgehen.
Konnte ich mein wörtliches Mitteilungsbedürfnis nicht unterdrücken, nahm ich die Abwehr hin. Die Stimme dieser Ärztin, die verklemmt drückende Zwinge aus Kontakt- und Verbindungswunsch und vernichtendem Unverständnis. Und dem Gefühl, dass es wahr ist. Dass es mir doch nie um Worte aus einer Traumastille ging, um Kontakt für Kontakt mit mir selbst, Ausdruck, um Druck (r)auszulassen, sondern um selbstverliebte Akte einer empathielosen Person, die nicht weiß, wo ihr Platz ist.
Jahre hat es gedauert, bis ich einen neuen Trampelpfad um die Abwehr gefunden habe. Bis ich wieder auf „Veröffentlichen“ klicken konnte, ohne mich verletzen zu wollen. Das Gefühl, dass ich das eigentlich nicht tun sollte, weil es mich als abstoßende, gefährliche, falsche, schlechte, unpassende, unwürdige Person offenbart, ist geblieben. Es passt zu vielen anderen Gefühlen, die mein Leben begleiten.

Ich habe keine Kunst mehr gemacht. Meine Kamera dient heute der Kontaktaufnahme mit der Natur und ihren Farben. Der Mut, meine Gewalterfahrungen und ihre Folgen bildnerisch aufzuarbeiten, ist weg. Diese Ärztin und ihre Worte sind als Stimme, als Haltung, als quetschender Widerstand in mir drin, wie meine Eltern. Ein bestimmter Täter. Alle, die vielleicht nicht bewusst wollten, dass ich tot bin, aber meine Lebendigkeit und ihren Ausdruck auch nicht aushalten, ertragen, akzeptieren, heil lassen konnten.

die Verantwortung Erwachsener

Es gibt diese Ansprachen an Opfer von Gewalt in der Kindheit.
Den Eimer „Es war nie deine Schuld“, der über ihnen ausgekippt wird, als würde damit alles Belastende weggespült und beruhigende Klarheit entstehen. In diesem Talk, dieser Rede, die etwas will, das sie selten auch schafft, gibt es oft auch eine Zuordnung, die mich beschäftigt.
„Die Erwachsenen hatten die Verantwortung.“

Als erwachsene Person, die auf eigene Kinder hinwirkt, beschäftige ich mich nun schon länger damit, was da für Verantwortlichkeiten sind. Satt und sauber machen, die Zeiten sind vorbei. Das reicht nicht, weil man inzwischen weithin verstanden hat, dass das noch nie gereicht hat.
Aber schauen wir weiter. Und darauf, was Verantwortung in Bezug auf das Erleben von Gewalt bedeutet. Den Schutz. Die Verhinderung.
Den Großteil der Gewalterfahrungen im Leben meiner Kinder, aber auch der Kinder anderer Menschen werde ich nicht verhindern können. Wir leben nicht in einer gewaltfreien Gesellschaft. In gewaltlosen Strukturen. Was genau umfasst meine Verantwortung also? Sie nicht schlagen wahrscheinlich. Quälen, ständig überfordern, die vor Leuten schützen, die ihnen offensichtlich schaden wollen. Sie ermächtigen, ihre Grenzen zu spüren und zu verteidigen. Ihnen alles nötige Wissen zum Selbstschutz und zur Nutzung von Ressourcen, die ihnen helfen, zukommen zu lassen. Wahrscheinlich geht es darum.

Aber ist dieser Rahmen, den man mit solchen Aufgaben zieht, nicht viel zu eng? Nicht doch eigentlich eher soziales Rosinenpicken für eine Illusion der Selbstwirksamkeit? Nicht eigentlich doch etwas, das Gewalt wie Adultismus zum Beispiel begünstigt und sogar legitimiert? Bestimmte Fertigkeiten, wie die Kommunikation und Durchsetzung eigener Grenzen, sind massiv vom sozialen und strukturellen Rahmen abhängig, in dem sich Menschen bewegen. Bringe ich meinen Kindern das richtig und gut bei, werden sie Probleme kriegen. Es ist nicht vorgesehen, dass Kinder das können. Nicht üblich, dass Erwachsene wirklich immer und in Bezug auf alles, jede Grenze von Kindern respektieren, wahren, beachten, mitbedenken. Das Ausmaß der Kommunikation, die grenzenwahrender, nicht alltagsgewaltvoller Umgang mit Kindern erfordert, ist den wenigsten Menschen bewusst. Entsprechend ist der Umgang. Und das wirklich weit vor Geprügel, Missbrauch oder orchestrierter Quälerei.
Die Verantwortung ist doch aber auch darüber da, oder nicht? Das gehört doch auch dazu. Nicht aus der Lamäng, weils geht oder weil man ohne wirklich darüber nachzudenken entscheidet, dass es selbst nie geschadet hat, einfach machen.

Sagen wir, das ist so. Ich entscheide das für mich. Ich will bestimmte Dinge nicht für meine Kinder. Endet meine Verantwortung dann an dem Punkt, an dem ich Kindergärtner *innen, Lehrer *innen, Trainer *innen, anderen Eltern und Kindern sage, welchen Umgang, welche Regeln ich eingehalten haben will im Umgang mit meinem Kind? Wegen Gewaltschutz, weil das meine Verantwortung ist?
Heißt „die Erwachsenen hatten die Verantwortung“ so viel wie: „Sie hatten sie“, also im Sinne von „Sie hatten sie wie etwas, das man auch nicht haben kann“? Oder heißt es „Da war die Potenz“, also die Möglichkeit, etwas zu tun? Was man dann einfach so annimmt. Weil Erwachsene ja immer alle fähiger sind, als Kinder je sein könnten. In jeder Situation. Immer.
Was ja nicht stimmt. Was einfach überhaupt nicht stimmt. Es gibt sehr viele erwachsene Menschen, die dieser Idee von Handlungspotenzial und Ermächtigung nicht entsprechen. Erwachsene, die Verantwortung haben, aber nicht die Potenz, ihr nachzukommen. Erwachsene können auch in Gewaltsituationen ohnmächtig sein. Gewalt legitimieren, um das eigene Leben zu retten. Aus eigener diskriminierter Positionierung heraus nicht in der Lage sein, diversen Verantwortungen nachzukommen. Und wenn man mal etwas breiter darüber nachdenkt: Wie viele Erwachsene tragen unfassbar viel Verantwortung, ohne sich dessen im Ansatz bewusst zu sein? Kann man diesen Leuten im Fall eines ungünstigen Geschehens sagen: „Guten Tag, es war ihnen nicht klar, aber sie hatten Verantwortung und der sind sie nicht nachgekommen. Sie Arsch. Mit.Täter *in.“

Mir ist schon klar, dass die Mehrheit erwachsener Menschen tatsächlich fähiger ist als Kinder. Da hat sich niemand hingesetzt und einen Unterschied erfunden.
Aber diese Verknüpfung mit Verantwortung finde ich in weiten Teilen zu unscharf. Vielleicht, weil diese Opferansprache schon unsinniger Quatschkram für mich ist. Vielleicht bin ich komisch, wenn ich mich für alle Kinder gleich verantwortlich fühle. Wenn ich Adultismus kacke finde und die Familie als speziellen Spezialschutzraum für eine gewaltvolle Illusion halte. Vielleicht werde ich eine_r von diesen Erwachsenen, über die irgendwer irgendwem irgendwann mal sagt, sie_r hätte die Verantwortung gehabt – vielleicht war ich das sogar schon. Aber Verantwortung hat man eben nicht nur. Die kriegt man nicht fürs Regal, für neben dem Pokal wegen erfolgreicher Teilnahme der Grown-up-Olypmics. Die geht mit sehr vielen Bedingungen einher, die weniger mit erwachsen sein, als mit ermächtigt sein zu tun hat.
Das sind keine Synonyme füreinander.
Korrelation ungleich Kausalität.
Man lebt mit Verantwortungen für andere Menschen, weil man mit anderen Menschen lebt. Nicht weil man erwachsen oder fähig ist, sondern, weil man lebt.

Todesangst

„Wovor hast du denn Angst, es passiert doch nichts.“ Das, diese Frage ohne Fragezeichen, diese Aussage mit Lüge drin, ist mir im Leben bereits sehr oft begegnet. So oft, dass ich sie nicht mehr hasse. So oft, dass ich sie behandle wie viele andere Versatzstücke von Gesprächen, die ich weder wirklich durchdringe noch wahrhaft als Marker für die Natur des Gesprächs nutze. Denn es tut mir nicht gut, mit Menschen über Angst zu sprechen, die Angst nur als periodisches Erleben besonderer Situationen kennen und den Lauf der Dinge, in dem immer irgendetwas irgendwie passiert, ebenfalls nicht stets und ständig, sondern nur dann und wann überhaupt wahrnehmen.
So bleibt es, was ist: eine Mikroaggression, eine Alltagsignoranz.

Und ein Marker für eine soziale Falle. Denn die meisten Menschen sagen das, um zu vermitteln, dass man (mit ihnen) sicher ist. Dass alles okay ist. Es ist aber nicht alles okay, wenn eine Person Angst kommuniziert und die andere nicht einmal eine Idee davon hat, worum es bei der Angst geht. Diese Person irrt sich. Sie bemerkt etwas nicht, sie ist nicht im Bilde über die Lage und möchte ihr Sicherheitsgefühl natürlich auch nicht verlieren. Deshalb sagt sie diese Phrase. Diese Floskel. Diesen kleinen sozialen Abwatscher, der der anderen Person vermittelt, sie würde etwas sehen, fühlen, bemerken, das nicht da ist.
Und die andere Person? Vielleicht versucht sie nochmal, zu schildern, was ihr Angst macht. Vielleicht erklärt sie. Doch je weiter ihre Ängste, ihr Erleben von Angst, die Rolle von Angst in ihrem Leben, von der der anderen Menschen abweicht, desto häufiger wird genau diese Erfahrung der Abwehr, der Mikroaggression und des Infragestellens der eigenen Wahrnehmung.
Und dadurch werden andere Menschen oder auch nur der Kontakt mit ihnen einfach grundsätzlich immer unsicher. Auch die Netten. Die Lieben. Die Vertrauenswürdigen. Die ganz wirklich überhaupt nichts Böses wollen. Die nur helfen möchten. Die nicht einen Hauch von Negativität in sich haben.

*

Ich habe geträumt, ich hätte Sookie erschossen.
Meine Assistenzhündin, mein erster echter emotionaler Spiegel, das Wesen, die Entität, mit der ich mich rückhaltlos verbunden gefühlt habe. Sookie, die letztes Jahr gestorben ist.
Es war die Art Traum, gegen die ich mich entscheiden konnte. Ich hob meine rechte Hand und drückte damit meine linke Schulter, um mich aufzuwecken. Das ist meine Traumunterbrechungsgeste. Wenn ich mich an die erinnern kann, während ich träume, weiß ich, dass ich sie ausführen kann und alles Schlimme oder Unangenehme unterbrechen.
Doch als ich aufwachte, war da keine lebende Sookie. Kein warmer, weicher Brustkorb, der sich an meine Seite schmiegt. Da war nur die Tatsache, dass sie tatsächlich tot ist und nie wieder lebendig sein wird.

Nach Sookies Tod hatte ich nicht viel Raum für die Verarbeitung ihres Todes. Ich hatte viel zu viel Angst, meine neue Arbeitsstelle nicht behalten zu dürfen. Ich hatte die Fahrschule, die mit viel Angst einherging. Neben dem Podcast, der Verlagsarbeit, den Projekten, an denen ich mich privat beteilige.
Damals habe ich ein Mal geweint. Direkt noch mit Sookie im Arm auf der Wiese. Reflexhaft, als würden sich meine Tränendrüsen übergeben müssen. Und ein Mal brach F., ein Kinderinnen, weinend aus mir heraus, als ich meine Therapeutin in einem Notfalltelefonat hatte.
Die Trauer um meine so nahe Begleiterin zeigte sich im Alltag eigentlich nur in einem Fähigkeitsverlust. Ich war nicht traurig und auch nicht sicher, ob ich trauern würde. Wenn ich in der Zeit danach mal nicht von Angst über für andere unsichtbaren, irrelevanten Kleinscheiß des Alltags umgetrieben wurde, dann hatte ich Sehnsucht nach Sookie. Nach den langen Wanderungen im Wald. Sie in ihrem unermüdlichen Weg vor und wieder zu mir und vor und wieder zu mir, Anspielen, Dinge beriechen, Schauen, Teilen, vor und zurück. Nach dem Gefühl, dass wirklich alles okay ist, weil wir so viel miteinander teilen, was der Moment in sich hat. Eine Sehnsucht, die ich sonst nur habe, wenn ich mir eine Freundin wünsche, obwohl ich schon welche habe. Oder eine Familie, obwohl ich schon eine habe. Nur eben nicht so.

In der Nacht des Traums, dem Moment der Orientierung in die Realität, kam die Traurigkeit, wie etwas, das mich töten könnte.
Ich konnte kaum noch atmen, meine Brust war so zusammengepresst, dass weder Töne heraus noch Luft hinein kam. Mein Weinen hatte meine Augen so anschwellen lassen, dass es sich anfühlte, als hätte ich Steine darauf liegen. Ich konnte kaum sehen, kaum atmen und das, während der emotionale Schmerz mich in einer Radikalität erfüllte, die ich nicht anders als grenzenlos beschreiben kann. Etwas, das ich nur von Kinderinnens kenne. Ganz entfernt. Eher theoretisch als je selbst erlebt. Ich dachte, ich bekäme einen Herzinfarkt. Mehr fremd als selbst ging ich zu meinem Mann runter. Er verstand sofort, dass es sich schlimm anfühlen würde, so einen Traum gehabt zu haben und dann in eine so gleich schlimme Realität aufzuwachen. Er tröstete mich. Und ich? Ich bin nicht in einer warmen Wolke der Liebe gelandet und fühlte mich besser. Ich bin emotional, seelisch, ichlich gestorben. Meltdown, Krampfanfall. Der erste große, den mein Mann direkt miterlebt hat. Das reine Wahrnehmen der Traurigkeit hat mich getötet.

Am Ende der Shutdown. Das dissoziative Nachwehen als diffuse Masse aus Reiz und Reaktion, ein Ich im Wiederaufbau. Das Ausgeliefertsein an die Umwelt, während das Fühlen der Angst darüber noch gar nicht wieder möglich ist. Wie auch Gefühle von Sicherheit und Liebe. Geborgenheit und Nähe.
Wir lagen zu dritt auf dem Bett, wie ein ganz intimes Familiensandwich. Bubi an meinem Bauch, mein Mann an meinem Rücken.
Ich konnte nichts empfinden. Nicht einen Gedanken halten. Nur meinen Körper entlang ihrer Atmung rekonstruieren und warten, bis ich mich als lebend wiedererkenne.

*

Vor solchen Momenten habe ich Angst.
Solche Momente habe ich fast jeden Tag in abgeschwächter Form. Nicht immer mit einem Krampfanfall. Immer wieder jedoch mit einem innerlichen Meltdown. Der absoluten Ohnmacht und der im Grunde fast immer bestehenden, sehr umfassenden, Einsamkeit wegen der für andere Menschen offenbar unmöglichen Nachvollziehbarkeit dessen, was in mir vorgeht, wenn ich mein Leben, aber auch meine eigene Lebendigkeit erlebe.
Da geht es nicht um Vertrauen oder Nichtvertrauen, wen ich lieb finde und wen nicht. Ob ich mir genug oder zu viel zutraue, ob ich zu wenig soziale Codes verstehe oder hinnehme. Ob ich mich meinen Ängsten stellen, sie mir abtrainieren oder als in der Regel unbegründet akzeptieren muss oder nicht.

Es geht darum, dass ich mich daran sterbend erlebe und weiß: Wer noch nie an seinen eigenen Gefühlen gestorben ist – wer sich noch nie an Verzweiflung, an Not, an innerer Spannung so umfassend selbst verloren hat – wird immer denken: „Ach komm. So schlimm ist das nicht.“

Fundstücke #92

„Weder Haut noch Haar ist drübergewachsen“ denke ich und bleibe einen Moment bei einem Bild von mir mit von Gras und Moos überdeckter Haut. Ja, Gras drüberwachsen lassen. Das ist eine interessante Metapher. Jetzt, wo ich mehr über Gras weiß, weiß ich, warum man von einer Grasnarbe spricht und wie fragil so ein drübergewachsenes Gras ist. So abschließend verbergend, beruhigend oder beendend ist das gar nicht.

Gleichzeitigkeiten

Manchmal sind es Gleichzeitigkeiten, die es mir schwer machen, Auslöser für Traumareaktionen und meine eigenen Fehlschlüsse zu erkennen, obwohl sie mit nur ein wenig veränderter Perspektive unübersehbar sind.
Gleichzeitigkeiten in der Bedeutung von Dingen, um genau zu sein.

Erklärender Ausschwiff, was ich damit meine:
Dass man auch „Verbrenner“ zu bestimmten Autos sagt. Da hatte ich mal eine einigermaßen fürchterliche Zeit, weil ich Verbrennungsvorgänge im Zusammenhang mit Autos nicht vereinbar mit der üblichen Funktionsweise eines Autos empfand. Wenn ein Auto verbrennt, fährt man nicht damit, denn das wäre potenziell tödlich.
Dann habe ich gelernt: Die Fahrzeuge nennt man „Verbrenner“, weil sie im Motor etwas verbrennen, um zu fahren.
Was ich aber brauchte, um eine unfassbare Angst während des Autofahrens nicht mehr zu haben, war eine Einordnung darüber, dass man in einem „Verbrenner“ – ja – in einem Auto sitzt, in dem es brennt (genauer: es einen Verbrennungsvorgang gibt), aber nein – das Auto deshalb nicht automatisch eine Feuerfalle wird, wenn man zu lange damit fährt.
Ja, nein, man macht nicht deshalb eine Rast an Raststätten. Ja, nein, wenn „der Motor überhitzt“, ist das kein erstes Zeichen für eine unkontrollierte Verbrennung, sondern eins für fehlerhafte Kühlung. Ja, wenn die Sonne stark auf die Metallkarosserie scheint, wird sie sehr heiß, aber, nein, der Kraftstoff im Auto kann deshalb weder ausdünsten und wie Gas im Auto entflammt werden – vom Zündschlüssel, den man in das Auto steckt – noch von der Hitze entzündet werden.

Die Gleichzeitigkeit ist in dem Beispiel sowohl die Bedeutung des Wortes, als auch der Schlüsse, die ich damals gezogen hatte. Ich war kein irrational bockiges Kind, das rumspinnt und sich aus Lust am Horror in ein absolutes Katastrophenszenario reinsteigert. Ich habe aus den mir vorliegenden Informationen etwas geschlossen und eine absolut logisch nachvollziehbare Todesangst gehabt, die ich – anders als die Erwachsenen in meinem Leben – weder mit Erfahrungswissen konfrontieren noch mit Vertrauen in meine Bezugspersonen beruhigen konnte.
Bei dem Auto-Feuer-Thema war informierende Differenzierung wichtig, gerade weil es stimmt, dass mit dem Autofahren Feuergefahren bestehen, nur eben nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Ähnliche Differenzierungsbedarfe habe ich bis heute, wenn es um Trigger für traumareaktives Verhalten geht. Nur dass das noch insofern einen weiteren Komplikationsgrad hat, als dass mir meine eigenen Schlüsse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht immer gleich bewusst sind.

Ich habe jetzt den Auslöser für meinen Rückfall in die Essstörung gefunden.
It’s a classic. Drohender Kontrollverlust aufgrund meines aktuellen BMI während meiner Schwangerschaft und unter der Geburt
Für mich mit meinem medizinisch vorbelasteten Autibrain eine absolut klare Kiste: Mediziner *innen haben ihre Werttabellen und daran orientieren sie sich. Punkt. Keine Diskussion. Meine Selbstbestimmung der hill, auf dem ich alleine sterben gelassen werde, weil natürlich niemand jemals wirksam gegen das widerspricht, wozu Ärzt *innen raten. Würde mir ein *e Behandler *in sagen, dass mein BMI irgendetwas nicht zulässt, würde mir niemand beistehen. Ich wäre alleine. Mit einem ausgesprochenen Risiko, das mich vielleicht noch nicht einmal wirklich betrifft, weil der BMI einfach viel mehr zur Messung sozio-ökonomischer und anderer sozialer Diskriminierungsfaktoren taugt als sonst irgendwas. Und es wäre komplett egal, ob ich damit recht habe oder nicht.
Ich wäre allein. Niemand würde mir mehr helfen. Ich wäre in Lebensgefahr.

Schon beim Aufschreiben dieses Absatzes habe ich, ohne es bewusst zu merken, mehrfach geschrieben: „Ich wäre alleine“. Und das, was ich nicht aufgeschrieben habe, hat einfach alle Traumaflaggen auf jedem Erker: „Andere würden mit mir machen, was sie wollen können für richtig/wichtig/angemessen/(mich zwingend) nötig halten, ganz egal, wie das für mich ist.“ „Ich müsste alles mit mir machen lassen, damit mich niemand alleine lässt.“

Da ist sie, diese tückische Gleichzeitigkeit von Gewalt-Trauma und Gewalt-Realität.
Ich habe wirklich und echt so gar keinen Grund, dem medizinischen Apparat grundsätzlich vertrauensvoll zu begegnen. Null. Und gerade im Themenkreis „Schwangerschaft und Geburt“ haben Menschen, die Kinder bekommen können, noch x-mal weniger Grund zur Annahme, im Fall des Falls wäre ihre Selbstbestimmung für irgendwen von Wert. Fast jeder Geburtsbericht einer traumatischen Geburt schreit zwischen den Zeilen in die Welt: „Ich hab zugestimmt, damit ich nicht allein sterbe.“
Da ist immer der Wunsch (und Auftrag und Pflicht und Eid) von Behandler*innen nicht zu schaden und von Angehörigen nur das Beste zu wollen. Und gleichzeitig eine Person, die genau deshalb zu Schaden kommt und die eigene Lebendigkeit (und/oder die des Kindes) als das Beste begreifen soll und in vielen Fällen auch muss.

In genau diesem Dreieck fand das statt, was ich heute als Helfertrauma aufarbeite.
Also jetzt gerade ganz akut. In jeder der letzten Therapiestunden. Ich, Hannah, bin immer wieder extrem aufgemacht an dem Komplex, an dem mein Ich entstanden ist. Als Schutzsystem für eine_n Jugendliche_n, die_r am Helfen anderer Schaden nimmt.
Logisch kommt es zu spontanen Querschlägern, unbewussten Schnellschlüssen, erst einmal nicht nachvollziehbaren Reaktionen, die auch aufgrund des Autismus nicht mal eben einfach mit ein bisschen mehr Reorientierung als sonst containt kriege. Ich bin gleichzeitig in der autistischen Kompensation (die ehrlicherweise auch weitgehend Retraumatisierungsvermeidung ist), der Traumaverarbeitung und in der Traumareaktion.

Ich bin gerade in einem Momentum des Traumaverarbeitungschaos. Das entsteht aus mehr Alltagsamnesien als sonst. Dadurch mehr Anspannung. Dadurch mehr Herausforderung an meine Autismuskompensation im Alltag. Die mich so schon oft über meine Grenzen bringt und mich dünnhäutig macht. Meine Dünnhäutigkeit bietet jüngeren Inneren unerwartet große Fenster in die Gegenwart. Meine Ängstlichkeit über das Gefühl ihrer Blicke durch mich hindurch wird zu einem paradoxen Helfer für mich. Ich habe Angst, sie zu spüren, aber durch meine Angst fühle ich mich sicher. – Wieder so eine Gleichzeitigkeit – Angst haben und so daran gewöhnt sein, dass es mehr Angst machen würde, wäre sie weg, weil ich mich dann nicht mehr sicher im Sinne von zuverlässig fühlen kann.
Und gleichzeitig zu all dem, was allein schon wirklich richtig schwer und zuweilen auch schmerzhaft ist, gehört ein Trigger, der mir – obwohl er mir jetzt unübersehbar erscheint – noch nicht wirklich bewusst war: „Jetzt geht DAS wieder los. Die Klapse und alles. Weil ich mitgemacht hab, aber nicht gut genug. Jetzt knall ich komplett unrettbar durch. Jetzt kann mir niemand mehr helfen.

Jetzt werde ich alleine gelassen.
Eingesperrt.
Mir selbst überlassen.

Ohne jede Möglichkeit, über mich zu bestimmen.

Weil ich zeitweise nicht mal mehr weiß, was ich will.
Was wollen ist.
Wie bestimmen geht.

Es wird eben doch nie enden.

Andere müssen vor mir geschützt werden.
Egal, wie das für mich ist.

Es ist das Beste, wenn ich nicht mehr hier bin.
Ich sollte weg.
Ich muss weg.“

Das hat dann alles gar nichts mehr mit der Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen zu tun, sondern mit der Verarbeitung eines Selbstzustandes, in dem die schwierige Erfahrung nicht mehr nur in mir drin ist, sondern auch im Raum, im Kopf, im Herz meiner Therapeutin und dadurch mit einer anderen Perspektive angeschaut.
Ein Selbstzustand mit neuen bisher ungelebten inneren Zusammenhängen, Selbsterfahrungen und Handlungsmöglichkeiten.
Ich, wir alle als Einsmensch, könnten alles Mögliche machen. Da ist ja was zusammengekommen. Mehr verfügbar als vorher. So ganz objektiv draufgeschaut. Heute ist ja, auch wenn ich mich in diesem inneren Chaos befinde, alles sicher. Alles okay soweit. Und gleichzeitig können wir das noch nicht. Wir können gerade nur, was wir als System jeweils können.

Ich kann richtig kompetent Angst haben und meine Therapeutin anrufen und auf alle ihre Fragen „Ich weiß nicht antworten“, darüber komplett verzweifeln und genau deshalb aber auch präsenter und alltagshandlungsfähiger werden.
Die Anderen können die Kämpfe wieder aufnehmen, die sie damals gegeneinander geführt haben, weil sie gegen nichts und niemanden außen kämpfen konnten. In Form von der Essstörung. Das ist ihr Ding. Ihr Lösungsweg.

Ein Lösungsweg, der schon damals überkomplex war und über zwei andere Systeme hinweg überhaupt gar nichts verbessert hat. Aber etwas sichern konnte. Selbstbestimmung als aktiver Akt. Also etwas, das jeden Tag in bestimmten Handlungen gemacht werden kann.
Selbstbestimmtes nicht alleine Verhungern. Selbstbestimmtes hoffentlich vielleicht an Erbrochenem ersticken. Selbstbestimmter Magendurchbruch. Selbstbestimmter Dauerbauchschmerz. Selbstbestimmte Heimlichkeiten. Selbstbestimmte Schamgrenzen. Selbstbestimmt weggegebene Würde. Selbstbestimmte Zahlenziele. Selbstbestimmte Ideale. Selbstbestimmter Zeitlupensuizid.
0 % Angst. 100 % Kontrolle über die Inneren anderer Systeme, die immer wieder aus ihnen rausbrechen, weil sie um ihr Überleben kämpfen.

Vielesein ist genau diese Art der Gleichzeitigkeiten immer und auf so vielen Ebenen.
Alles ist immer irgendwie verbunden und gleichzeitig komplett voneinander abgetrennt.
Ich kann das alles wissen und trotzdem von genau den Dingen, die ich weiß und über die ich schon tausend Mal gesprochen habe, radikal geschnetzelt werden, einfach nur, weil irgendein bisher nicht so präsentes Innen durch meine Haut sieht und versteht, dass Gewicht immer noch Relevanz in Bezug auf die Selbstbestimmung hat.

„Ja, so wie damals, aber nein, nicht so.“, in einem anderen Szenario könnte ich mich hinsetzen, mich konzentrieren und die Sicherheit vermitteln, das zu erklären. „Schau hier sind die Unterschiede, das läuft so und so … deshalb ist es zwar gleich, aber nicht gleich.
In diesem heutigen Jetzt müssen wir alle, die anderen Inneren und ich alle zusammen, das von anderen Menschen erklärt kriegen. Ich brauche Sicherheiten, die anderen das konkrete Erleben von Selbstbestimmung durch für sie so radikale Akte wie selber etwas (anderes als den Essens/Selbstverletzungs/Suizidschissel) wollen und es dann tun. Wie das geht, müssen wir lernen. Mit Anleitung, denn so etwas hat noch kein Mensch von alleine gelernt.

was es gekostet hat

Ich steige mit der Tür ein. Der gelben Tür, die hinter mir zuschlägt und alles verändert. So beginnt mein Manuskript, weil ich so beginne. Nie kam ich davor. Mir fehlte ein Bindeglied. Eine Idee von mir bevor der Deckel der Station schwer in seinen Rahmen schlug.

Zuletzt haben wir in der Therapie viel Raum dafür gelassen, was mich dahin gebracht hat. Was mich gemacht hat. Zuletzt ging es viel um die Klapsleichen. Davor darum, was es uns gekostet hat, Objekt des Hilfesystems zu sein. Am Ende der Stunde war ich zerschossen von den Querschlägern meiner Gefühle.

„Sie waren absolut am Boden“, hat meine Therapeutin gesagt.
Sie hat in 13 Jahren nur zwei Mal etwas gesagt, das mich in einer Situation ähnlich eindeutig verortet, beschreibt, einordnet.
Jetzt fühlt es sich an, als hätte sie damit einen Keil unter die gelbe Tür geschoben. So, als hätte sie eine Kraft aufgebracht, eine Klarheit hergestellt, um die ich seit vielen Jahren gerungen, doch nie erreicht habe.

Ich kann es auf meiner Haut spüren. Dieses „Vorher“, das wie eine Hitzewand vor der Tür steht und die Eigenschaft hat, mich in eine 14-Jährige zu verwandeln, die nicht weiß, wie ihr geschieht, eigentlich noch 13 ist und diese Tür als entbeinende Schleuse erlebt. Als entkernendes, ent-selbstigendes Moment.
Mein Gefühl ist drückend uneindeutig. Die Erkenntnis aber klar.
Das hat es sie gekostet. Nicht nur die Familie. Die erweiterte Familie. Vermögen. Schulfreund *innen. Die Band. Die Chöre. Die Gemeinde. Die Freund *innen da. Die Nachbarin mit dem Klavier. Die Anarchofriends. Jede Aussicht auf Zukunft. Jeder Raum für eigene Wahrheit. Persönliche Freiheit. Selbstbestimmung.

Es hat sie auch sich selbst gekostet.

Fundstücke #91

Ich legte auf und hielt mein Gesicht nah an den Ventilator.
Die kalte Luft bewegte meine Wimpern, das Summen des Motors rüttelte meine Gedanken in eine Richtung.
So ist das also, wenn ich darüber rede. Meine Essstörung. Und das. Also alles. Irgendwie. Draußen fahren immer noch Autos lang, das Korn wiegt sich, die Maschine vor mir pustet Geräusch und Wind auf mich.

Ich habe nicht erwartet, dass die Welt untergeht. Aber ich habe erwartet, dass es mir schlecht geht. Dass ich mich mit einer Antwort befassen müsste, die mich überfordert oder verletzt. Obwohl ich mir ein Gegenüber gesucht hatte, das sich auskennt. Und mehr Sicherheitsvorkehrung praktisch nicht möglich ist. Am Ende sind Gespräche unkontrollierbar, Menschen unvorhersehbar, empfindliche Themen empfindlicher Menschen einfach sehr empfindlich.
Da kommt der Mut ins Spiel.
Oder die Verzweiflung.
Druck auf jeden Fall. Energie. Kraft.
Und davor eine Entscheidung für den Kontakt. Nicht: der Wunsch nach Kontakt oder die Hoffnung darauf. Sondern: Ja, das mache ich jetzt.

Die Person fragte mich, warum ich bisher noch nicht mit meiner Therapeutin darüber gesprochen habe. Das war eine gute Frage für mich. In der Antwort war für mich ein Faden zu meinem Grundproblem rund um die Essstörung und warum ich sie jetzt nach über 20 Jahren in meinem Leben erneut belastend erlebe. Rosenblattscher Classic: Angst und Vermeidung. Keine Angst vor dem Beziehungsabbruch oder Verletzung, sondern vor Überforderung und Enttäuschung. Scham und Ohnmacht. Wir haben ein Arbeitsverhältnis – ich habe hier etwas am Laufen, vor dem ich mich handlungs- also arbeitsunfähig erlebe.
Und die klapstrainierten Patient_innen in mir werfen sich mir jedes Mal schreiend vor die Brust, wenn ich auch nur plane, Anlauf zu nehmen, um ihr zu sagen: Ähm, ja hm, wir machen grad hier Traumadings, das wir schon ewig angebahnt und vorbereitet haben in 14-tägig stattfindenden Terminen – wie wärs mit einem Problem, das ich schon länger habe und zu dem ich nicht mal eine Lösungsidee habe, die nicht davon beeinflusst ist?

Es ist eine pragmatische Entscheidung dagegen. Ich weiß, dass mir die Traumaarbeit mit anderen Innens in der Regel neue Einordnungskompetenzen und manchmal auch Handlungsfähig- und fertigkeiten gibt. Die Therapie wie ich sie jetzt nutze, ist für dieses Problem eher komplementär hilfreich. Also zusätzlich zu anderen Dingen.
Und es ist eine vermeidende Entscheidung, einfach aus dem Umstand heraus, dass ich mich gerade wegen meiner Kinderwunschbehandlung damit befasse. Ich weiß, dass meine Therapeutin nicht ewig am Symptom rummachen würde, sondern direkt an die Störungsquelle geht. Ist ja schlau. Effizient. Wegen dieser Eigenschaft bzw. dieser Kompetenz schätze ich sie als Arbeitspartnerin sehr.
Die Störungsquelle liegt jedoch im medizinischen Kontext. Ein Kontext, den ich von verschiedenen Seiten her als gewaltvoll und traumatisierend erfahren habe. Und ich will nicht von ihr hören, dass das dazugehört. Dass man da nichts machen kann, weil es ist, wie es ist und tja, mit unsensiblem oder grenzberührendem Umgang, Inkompetenz oder mit der „nicht jederzeit alles auf Zettel haben können“-heit anderer Menschen und der generellen Alternativlosigkeit muss man halt klarkommen. Das können mir alle Hanzeln und Franzeln auf der Welt sagen, die nicht wissen, was ich in Krankenhäusern erlebt habe. Die nichts von den Patient_innen in mir wissen. Und die mit solchen Aussagen ja auch markieren, dass sie gar nicht mit mir in Kontakt kommen wollen.
Aber meine Therapeutin soll mir das nicht sagen. Sie soll auch nicht in Gefahr geraten, mir das potenziell aus Versehen aus einem Moment von „kurz mal irgendwie nicht ganz so konzentriert sein“ zu sagen. Und da ich es ihr nicht verbieten kann und Gespräche insgesamt unkontrollierbar sind, kontrolliere ich mich. Und vermeide.

Da geht es überhaupt nicht um mein Vertrauen in sie, sondern um mein Vertrauen in den Lauf der Dinge. Meine Erfahrungen mit dem Unkontrollierbaren. Ich bin mir so bewusst darüber, dass ich mich im Gespräch mit ihr nicht schützen kann, ohne mich gegen den Kontakt mit ihr zu entscheiden (und im Zuge dessen möglicherweise sogar so stark zu dissoziieren, dass ich zu einem anderen Innen wechsle), dass es letztlich sogar mehr Entscheidung für den Kontakt mit ihr als dagegen ist.

Ich weiß, dass diese traumalogische Kette für die Begleiter_innen und manchmal auch Behandler_innen von komplex traumatisierten Menschen ein wiederkehrendes Problem darstellt. Manchmal wird es für beide Seiten ein dauerhaft anstrengendes Ringen um Wollen und Sollen, Einladungen wahrnehmen, glauben und annehmen bzw. Einladungen machen und absichern – nur um dann doch vielleicht wieder bei Dissoziation oder Vermeidungsverhalten zu landen.
Weder meine Therapeutin noch ich sind alleine damit.

Umso wichtiger erlebe ich gerade meinen Ausbruch aus dem Risiko dieser Dynamik. Ich habe mir selbst erarbeitet, was mich belastet. Habe selbst beobachtet, welche Symptomatik wieder verstärkt ist und mich damit befasst, wie ich meine Vermeidung einerseits erhalten, andererseits vermeiden kann. Nur weil ich mit meiner Therapeutin nicht darüber sprechen möchte, muss ich nicht dazu schweigen oder generell erstarren und mich wieder von allem entfernen. Deshalb der Kontakt mit der Person am Telefon.

Es zeigte sich, dass mein Problem, meine Essstörung gerade durch keine meiner üblichen Maßnahmen containen zu können, von mehreren Faktoren beeinflusst wird.
Wir müssen sortieren. Was geht pragmatisch? Wie kann ich meine Angst vor bestimmten Lösungsversuchen konkretisieren und in der Folge aktiv beruhigen? Wie viel Vermeidung ist mir bewusst und wichtig und wie viel reflexhaft aus traumalogischen Vorannahmen heraus und dadurch doppelt zu prüfen?
Mir hilft gerade auch etwas aus dem Buch „Trauma verstehen, bearbeiten und überwinden“ von Prof. Dr. L. Reddemann und Dr. C. Dehner-Rau im Kapitel „Was hilft bei Angst und Panik?“. Darin gibt es einen Absatz dazu, dass es absurd klingen mag, aber dass Angst manchmal auch ein Schutz vor Dissoziation ist, wenn es (unbewusst) erträglicher ist, Angst zu haben, als Derealisation oder Depersonalisation zu erleben. Das trifft auf mich in manchen Situationen definitiv zu, weil Angst mich aktiviert und Dissoziation deaktiviert. Jetzt weiß ich zwar noch nicht genau, wie ich das in meinem Unterfangen konkret für mich nutzen könnte, aber es gibt mir einen weiteren Hinweis auf eine Energiequelle in mir. Und es setzt meine Angst in ein Verhältnis zu mir, in dem sie nicht mein Feind ist, obwohl sie es mir gerade schwer macht, ein echt ungünstiges Problem anzugehen.

Tag der nicht binären Menschen

Nach der Nachricht zum Register „gefährlicher psychisch Kranker“, kam die Nachricht zur Liste über alle Menschen, die vom Selbstbestimmungsrecht Gebrauch gemacht haben. Das war, nachdem die Regenbogenflagge nicht mehr auch am Bundestag wehen sollte und der Grund, weshalb ich niemals davon Gebrauch machen werde. Denn mit Listen hat auch die Verfolgung aller Gruppen angefangen, die den Nazis nicht deutsch, nicht gesund, nicht Mensch genug waren. Und jede dieser Listen entstand, weil Menschen das Vertrauen ihrer Mitmenschen in ihre Verwaltungsorgane ausgenutzt haben.

„Far stretch“ haben viele sinngemäß gesagt, wenn ich meine Bedenken geäußert habe. „Das wird nicht passieren. Heute sind wir so viel weiter.“
Und dann passiert es doch. Denn die, auf die es ankommt – jene Leute, die über uns entscheiden, zum Beispiel im Bundestag – die sind nicht weiter. Die sind so weit, dass sie eine Geste zur Solidarität mit einer diskriminierten Minderheit, mit einer Degradierung des Hauses und damit auch der Entwürdigung seiner Vertreter_innen gleichsetzen.
So zu denken ist nicht dezidiert faschistisch, aber so zu denken führt zur Legitimation von faschistischem Bewerten und Handeln. Und mit dieser Sorge bin ich aktuell ein nicht binärer Mensch in Deutschland. Mit einer psychischen Erkrankung. Mit einer Behinderung.

Wir schreiben das Jahr 2025.
Ich traue mich auf die Straße, wie sonst auch. Ich habe eine Arbeit, kann am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilhaben. Ich darf Eigentum besitzen, Handel treiben und Kredite aufnehmen. Ich darf mich frei bewegen und mein Pass garantiert mir die Einreise in 170 Staaten. Ich werde medizinisch versorgt, wenn ich krank bin. Ich wurde von klein auf gebildet und kann auch im Alter noch Bildung erhalten. Ich darf lieben, wen ich will, darf anziehen, was ich möchte. Alle Rechte der Bundesrepublik Deutschland gelten für mich.
Allerdings ausnahmslos mit einer Zuschreibung, die nicht stimmt.
Einer Zuschreibung, die allein so harmlos ist, doch in ihren Folgen so profund, dass gestandene Staatsmänner um das gute Leben für alle bangen.
Allein deshalb ist es eine Zuschreibung, deren Richtigstellung für mich nicht sicher ist.

In diesem Jahr, in diesem Pridemonth, zeigt sich, was ich in den letzten Jahren immer wieder gesagt habe: „Ja, fein love is love, danke Auto/Kosmetik/Gedönsmarke, die sonst nie irgendwas zum Thema beiträgt – aber ich weiß, ihr werdet euch zurückziehen, sobald es sich nicht mehr lohnt an unserer Seite zu stehen.“ Denn die Sichtbarkeit ist drastisch zurückgegangen, nachdem „Diversity“ zum Begriff des rechten Kulturkampfes wurde. Oder hast du dieses Jahr schon einen Labello mit Regenbogenkappe gesehen? Oder ein Markenlogo mit Regenbogendesign und „love is love“-Spruch? Selbst unsere „unpolitischen Allies“ merken es. Und sagen, machen … so viel wie bisher.

Ich mache keine Aufklärungsarbeit mehr für diese Allies. Ich erkläre nicht mehr, was Neopronomen sind oder warum das Selbstbestimmungsgesetz für alle Menschen in Deutschland wichtig ist. Ich berichtige niemanden mehr, die_r mich misgendert, nachdem ich mich vor ihr_ihm geoutet habe.
Die Zeit dafür ist vorbei.
Wer bis hier und heute nicht aufgepasst hat, nicht hingehört, mit dem Thema nicht in Kontakt gegangen ist, kann die Lage und ihre Entwicklung in ihrer Gefahr für Menschen wie mich und all die anderen trans Personen (und andere intersektional von Diskriminierung betroffene Menschen) in Deutschland nicht begreifen.
Da wo wir jetzt stehen, reicht es nicht davon überzeugt zu sein, dass Menschen Menschen sind und alle ein gutes Leben verdienen. Es ist nicht genug, sich nach transfeindlichen Kampagnen wie zuletzt in Großbritannien und einigen US-amerikanischen Staaten an die Stirn zu fassen und zu sagen: „Hä, ich kapier einfach gar nicht, was das soll!“ Diese und andere Fragen konnten wir in Ruhe besprechen. Es gab genug Zeit und Raum zu neuem Verstehen und Lernen.
Jetzt sind wir im Backlash.
Für mich geht es um Sicherheiten. Notfallpläne. Fragen wie: Wohin, wenn nicht hier? Mit wem, wenn nicht denen, die meinen Alltag begleiten? Wie, wenn es anders gehen muss als jetzt?

„Far stretch“ denke ich selber, wenn ich aus meinem Fenster schaue vor dem sich das Korn in sanftem Wind wiegt. „Close enough“ hingegen, wenn ich mich daran erinnere, dass mein Partner weder Flaggen noch Plakate aufhängen will, um Stress zu vermeiden.

Ich bin so froh um den Tag der nicht binären Menschen.
Seine Existenz bestätigt meine Existenz, ohne dass ich etwas dafür tun muss.
Es gibt ihn. Es gibt mich.
Das kann mich trösten.