„Schließt sich eine Tür, öffnet sich ein Fenster“ denke ich und halte müde lächelnd inne. Ich sitze am Computer. Natürlich. Meine Finger sind kalt, der Nacken steif, mein Körper hat eine shrimpähnliche Form. Es ist 2 Uhr morgens, die Welt ist still.
Auf dem Bildschirm habe ich so viele Tabs geöffnet, dass die gesamte Browserzeile belegt ist. Ich suche nach einem neuen Job. Suche mich in Anzeigen und Angeboten, überlege, was ich will und wie viel Kraft ich aufbringen kann, um integriert zu werden.
Gleichzeitig suche ich nach Geld. Mit ein paar Millionen würde ich das Nachwachshausprojekt umsetzen. Dann würde ich gar nicht erst über Ausbildungen und Teilzeitjobs nachdenken. Andererseits würde ich mit ein paar Millionen auch den Verlag kaufen und so grundsanieren können, wie ich es mir seit Monaten immer wieder ausmale.
Wenn alle immer einfach an benötigte Millionen kommen würden, bräuchte es vielleicht weder das Nachwachshaus noch den Verlag.
Ich seufze und klicke die nächste Seite zu, auf die ich mit irreführendem Teaser geleitet wurde. Meine Arbeitssituation im Moment ist schwierig und kostet mich zuweilen mehr Kraft als ich mir an anderer Stelle wieder hereinholen kann. Ich arbeite seit dem Sommer in Übervollzeit und habe regelmäßig Meltdowns aus Erschöpfung. Kann aber nicht einfach aus der Stelle raus. Ich verliere meine Berufsförderung – mein einziges Bonbon für Arbeitergeber_innen, mich einzustellen, da sie meine Lohnkosten deckt – wenn ich kündige, ohne woandershin zu wechseln.
Durch die Heirat habe ich keinen Anspruch mehr auf Hartz IV – ohne Hartz IV habe ich keinen Anspruch mehr auf die Förderung.
Ich muss mir etwas Neues suchen, weil die Verlagsarbeit in der aktuellen wirtschaftlichen Lage keine gesicherte Zukunft hat. Ich verbrenne gerade, weil zwei unersetzbare Kolleg_innen dauerhaft krank geworden sind. Die Pandemie ist ein Domino des Kackejackpots – es kommt immer noch was obendrauf und erodiert an allen Ecken und Enden, worauf man sich verlassen können muss. Selbst ein millionenschweres Pflaster kann an der Stelle vermutlich nur oberflächlich helfen.
Das nächste Browserfenster erinnert mich daran, wie ich noch vor einigen Wochen dachte, ich könne mich parallel zur Arbeit selbst weiterbilden. „Zeit wird nicht mehr durch Aufteilung“, das ist mein Erkenntnisgewinn aus diesem gescheiterten Vorhaben.
Ich lasse es offen.
Ich bin das Pastme der Zukunft, es ist meine Aufgabe vereinzelt Krümel liegenzulassen, mit denen ich mich in der Zukunft davon überzeugen lassen kann, dass meine Ideen gut und nur der Zeitpunkt ungünstig ist. Alles hinschmeißen und blanko Neubeginn machen ist eine Traumareaktion. Die merke ich natürlich auch wie einen unterdrückten Reflex kurz vor der Auslösung. Der Gedanke, einfach unerreichbar für alle, die etwas Unschaffbares von mir wollen, zu verschwinden und in komplett anderen Umständen alles wieder neu – und diesmal natürlich absolut richtig, erfolgreich und mühelos – umzusetzen, ist gerade extrem verführerisch. Aber sein Kern enthält eine Traumawahrheit, die in der Realität keine Substanz hat.
Ich habe nichts falsch gemacht. Die Situation ist nicht durch etwas, dass ich hätte verhindern können, so gekommen, wie sie kam. Die Grenze, an der ich jetzt bin, erleben alle Menschen irgendwann, einfach, weil Menschen begrenzt sind. Dass ich denke, ich müsse meine ohnehin schon häufig übergangenen, missachteten oder schlichtweg ignorierten Grenzen noch weiter ausreizen – noch weiter übergehen und missachten – liegt daran, dass ich ungeprüft, unhinterfragt, aus der totalen Gewohnheit heraus denke, das würde von mir erwartet werden. Von mir wird aber nicht erwartet, mich selber zu zerstören – von mir wird erwartet, in einem Umfang zu funktionieren, den ich nicht leisten kann. Das ist ein Unterschied, den ich mir im Moment immer wieder bewusst machen muss. Jede E-Mail, die liegen bleibt, jede Verabredung, die ich vergesse, jeder schlecht vorbereitete Termin, jede Ideen- und Lustlosigkeit, die ich wie eine umfassend quetschende Leere empfinde, ist ein Grenzmarker. Wenn ich sie ignoriere, ignoriert sie mein Umfeld auch. Wenn ich mich dafür schäme, ermächtige ich mein Umfeld dazu, mich darüber zu beschämen.
Meine Grenzen kommen immer mit. Auch als whimsy Autor*in in einer Hütte am Meer oder voll integrierte_r Mitarbeiter_in in einem stabilen Unternehmen werde ich nicht gut leben, wenn ich nicht zu genug Schlaf, Erholung, Anregung, Sicherheit und Freundlichkeit komme.
Halb 3. Ich schalte den Computer aus und schließe die Bürotür.
Die Tür zum Schlafzimmer ist offen. Die Küche hat keine. Ich kann mich versorgen. Ich kann schlafen. Die Suche geht weiter.
Im nächsten geöffneten Zeitfenster.