die DIS-Diagnose – ein Kurzabriss geschrieben für Menschen, die sie gerade bekommen haben

Neulich hat mich jemand gefragt, wie das bei mir war, als ich die DIS-Diagnose bekommen habe.
Für die Person war es schlimm. Für mich auch.

Ich war nicht erwachsen. Ich war 16 Jahre alt.
Das war meine 7. Diagnose in der 5. Psychiatrie in 3 Jahren.
Ich glaubte nicht mehr daran, dass mir irgendjemand mit irgendetwas helfen könnte. Ich war allein. Hatte keine Familie, kein Zuhause mehr. Ich war lange nicht mehr in der Schule. Machte Suizidversuche, ohne zu wissen warum. Zeit und Raum waren für mich kaum noch Bezugsgröße.
Man hätte mir jede andere Diagnose geben können, aber gepasst hat keine. Die der DIS erklärte meinen Zustand am besten.

Geholfen hat mir die Diagnose nicht. Sie hat mich besonders gemacht und die Gewalt der totalen Institution an mir legitimiert. Und sie hat Tür und Tor für Erzählungen über mich geöffnet, denen ich nichts entgegensetzen konnte.
Sie hat mich grundlegend aus Hilfeangeboten ausgeschlossen. Sie hat mich von Helfer_innen abhängig gemacht, die die Regeln gedehnt und die Strukturen ihres Arbeitsplatzes aufgebrochen haben.

In den ersten Jahren nach meiner Diagnose gab es mehr Romane und fiktionale Filme über die DIS als wissenschaftlich fundierte Fachbücher und theoretische Forschung. Ich habe mich und meine Er_Lebensrealität nicht abgebildet empfunden, bis ich 30 Jahre alt war.
Das Versprechen von Verbundenheit durch gleiche Diagnosen hat sich für mich nie erfüllt. Weder in Mailinglisten noch Foren noch Blogs noch Social Media noch Selbsthilfegruppen heute.

Ich habe mit der Diagnose nie mehr gewonnen als Ausschluss.
Ausschluss als Realität, Ausschluss als soziokulturelle Praxis, Ausschluss als Konzept.
Ausschluss als etwas, das ich in meine Lebenszeit integrieren muss, wenn ich leben – wenn ich Teil dessen sein will, was Hier und Jetzt ist.

Die Person schrieb, sie fühle sich wie in einem Horrorfilm.
Sie führte das nicht aus, für mich brauchte sie das aber auch nicht. Es kann ja nur entweder um den gesellschaftlich legitimierten und orchestrierten Horror des Stigmas psychischer Erkrankung oder den Horror der Aussicht auf ein ganzes Leben damit gehen. Es kann einem ja niemand sagen, ob man davon jemals heilt. Ob man überhaupt jemals ein normaler Mensch wird.

Ich habe in den ersten Jahren mit der Diagnose keinen Trost darüber gefunden.
Heute bin ich an der Stelle taub. Es ist, wie es ist.
Ich bin ein autistischer Mensch, der Pech mit der Familie hatte. Dass ich eine DIS entwickelt habe, war vom gleichen Zufall wie der in dieser Familie und später in den Psychiatrien und Hilfeeinrichtungen zu überleben. Es hätte auch alles anders kommen können und ich hätte auch damit irgendwie klarkommen müssen. Man muss immer irgendwie klarkommen.

Mein Intellekt hilft mir. Das hat er auch in den Jahren, nach denen ich die Diagnostik auf eigenen Wunsch habe erneut machen lassen. Als erwachsene Person.
Ich habe gelesen. Mich nicht nur auf die Diagnose konzentriert, sondern auf alles, was mit dem Thema Psychotrauma und Gewalt zu tun hat. Dabei habe ich mich sowohl mit der Psychologie als Wissenschaft als auch der Soziologie und ihren Theorien darüber befasst, wie Menschen zu Erklärungen kommen und welche Dynamiken sich stets und ständig wiederholen. Mir hat geholfen nicht nur zu verstehen, dass ich nicht der einzige Mensch mit DIS nach komplexer Traumatisierung bin, sondern vor allem, dass die Menschen in meiner Umgebung (also die Gesellschaft, in der ich lebe) nur ein gewisses Mü im Leben davon entfernt sind, es auch zu sein.

Ich habe nicht mehr zugelassen, dass sich Helfer_innen auf meine DIS konzentrieren. Ich habe Gewalt als normal und ihre Folgen als gesellschaftlich dissoziiert angenommen. Meinen Ausschluss als Teil eines Ganzen begriffen.
Ich habe mich für das Leben entschieden, wie es ist und dann gemerkt, dass ich nicht weiß, wie es ist. Das herauszufinden ist mein Forschungsthema bis heute.

Meine DIS-Diagnose ist dafür unwichtig. Ich bin wichtig.
Es ist mein Leben.

mit Kraft, ohne Zucken

„Eigentlich geht der aber noch“, denkt eine sachte Wolke über meine Schulter hinweg. Er, der dunkelblaue Wäscheoktopus aus Kunststoff, den mir meine Eltern bei unserem letzten Kontakt geschenkt haben. Das ist 14, vielleicht sogar 15? Jahre her. Ich drücke ihn tiefer in den Gelben Sack.

Im Badezimmer hängt nun eine neue kleine Wäschespinne am Kippfenster. Aus Edelstahl. Geschenkt vom Freund, Partner, Ehemann.
Der uns vorhin mit Quatschmachen über ein Christkind, das er gerade beim Einbruch in unser Wohnzimmer beobachtet hätte, kurz vor den Lachkrampf gebracht hat. Und gleich, das weiß ich aber noch nicht, unser Lieblingsspiel mit uns spielen wird, bevor wir sein Lieblingsessen zu Weihnachten kredenzt bekommen.
Ich denke an die Bettwäsche, die mir meine Tante zum 18. Geburtstag in die Wohngruppe geschickt hat. Dunkelblau, mit einfachem Sonne, Mond und Sterne-Muster. Längst nicht mehr Biber, seit Jahren zunehmend löchrig. „Die geht noch“ schwappt es nach jeder Wäsche, jedem Trocknen, jedem Zusammenlegen, jedem Neuaufziehen über mich drüber.
„Es war ein beknacktes Geschenk für einen 18. Geburtstag.“, „Aber es war eins. Hätte ja auch nichts kommen können.“, „Ja, ich habe das eigentlich nicht verdient.“ Ich schließe die Tür zu diesen Inneren. Ich will sie nicht fühlen, will mich nicht so fühlen.

Diese kleinen Alltagsgegenstände, die sich in jedem Haushalt ansammeln, irgendwann einfach wegkönnen und eben nicht mehr wegmüssen, weil sie wegsollen. Weil eine Therapeutin, Betreuerin, Helferin, Vertraute, Freundin argwöhnt, ob an dem Geschenk ein geheimer Code klebt. Ein impliziter Imperativ, der mich zur Kontaktaufnahme zwingt. Weil ein Therapiekonzept erfordert, nichts Verbindendes zu früheren Täter_innen zu besitzen.
Ich habe in der Verweigerung, diese Dinge wegzuschmeißen, meinen ersten Aufstand geübt. Mein erstes „Nein, du, ihr könnt mich mal – ICH entscheide das!“, gedacht, gefühlt und dann auch gemacht. Und gewartet, was sie machen würden. Mich verletzen? Oder nur rausschmeißen? Wegstoßen? Verlassen? Mir nicht helfen? – Wäre eh passiert. Mich zu halten, war nie möglich, egal, was für ein liebes Mädchen eine liebe Patientin ich gewesen wäre.
Am praktischen Ende meines Leidensdrucks hatte ich einen Haushalt, den ich mit Hartz-4 bestreiten musste, nachdem ich ihn mit der absurd niedrigen Erstausstattungspauschale aufgebaut hatte. Mit 18. Nach etwa 4 Jahren Heim-Klapse-Ping-Pong und einer Symptomatik jenseits von stabiler Entscheidungsfähigkeit. Kleinigkeiten, die bei solchen Aufforderungen zur Bereinigung Befreiung Entfernung von solchen Dingen nie wirklich eine Rolle gespielt haben. Komisch eigentlich. Dabei ging es doch immer um mein Bestes. Alles haben, was ich ganz banal und alltäglich brauche, gehörte irgendwie kaum dazu.

Mein Handy zeigt eine Nachricht mit Foto. Eine zweite Freundin hat ein Päckchen von mir unter ihren Baum gelegt. Eine dritte hat ein Briefchen von mir bekommen. Mein Partner hat auch Geschenke von mir bekommen. Und ich kann trotzdem Ende dieser Woche zum Chaos Communication Congress fahren. Und muss mich nicht einschränken. Brauche keine Geschenke, um mich zu versorgen. Jetzt sind Geschenke einfach immer schön. Und ich kann Menschen, die sich über meinen Besitz und ob ich ihn haben sollte auslassen, sagen, dass sie anmaßend und grenzüberschreitend sind. Mit Kraft in Brust und Bauch. Ohne Zucken.

Deshalb kann er weg. Der Oktopus.
Wenn jemand guckt, um zu prüfen, ob er noch da ist und wir es überhaupt wert waren, können wir ja sehen, wie es um Kraft und Zucken bestellt ist.

Der kleinste einsame Ort

Sookie war 8, als ich bemerkt habe, wie nah sie mir war.
Dass sie den Unterschied gemacht hat zwischen „frei sein“ und „frei leben“.
Dass ich mir in ihrer Anwesenheit ein Gefühl von Ankommen und Sein zugestehen konnte, das andere Menschen mit ihrer Familie, ihren engen Freund_innen und Verbündeten haben.

Sookie ist jetzt seit fast 6 Monaten tot.
Und ich fühle mich so verlassen und einsam, dass ich mir den Käfig zurückwünsche, in dem ich früher so viel Zeit verbracht habe. Manchmal auch mit Sookie. Vor dem Rausgehen, weil ich Angst vor Gesprächen mit anderen Menschen hatte. Nach dem Rausgehen, weil mich der Selbsthass über mein Sein und Sprechen mit anderen Menschen innerlich verbrannt hat. Vor Betreuungsterminen. Nach Betreuungsterminen. Vor der Therapie, nach der Therapie. Jeden Tag während des ersten Ausbildungsjahrs.

Mit der Partnerschaft mit meinem Mann und den ganzen Entwicklungen, die sich daraus ergaben, habe ich den Käfig immer weniger gebraucht. Es hat sich immer weniger so angefühlt, als bräuchte ich einen Ort, an dem die Welt und ich in sicherem Abstand voneinander existieren. Ich habe die Blase von Sookie und mir für ihn erweitert.

Und jetzt ist da keine Blase mehr.
Wenn wir uns jetzt missverstehen, dann ist da nichts mehr, das mich in meinem Bindungsgefühl hält. Da ist der gleiche umfassend vernichtende Selbsthass, wie ich ihn im Kontakt mit jedem anderen Menschen in so einem Moment hätte. Da ist der gleiche Impuls zur Selbstvernichtung wie früher. Nichts, das sicher erscheint. Nichts, das Halt gibt. Kein Momentum in Bewegung. Nur die absolute Frei-von-heit im unendlichen Raum dessen, was man nicht vorhersehen, nicht überblicken, nie sicher wissen kann.

Da ist nur noch Erinnerung. Imagination.
Eine Blase in der Seele. Der kleinste einsame Ort.

Grenzen, Limits, Möglichkeiten

Was ich vergessen hatte, war, dass unser Zug in unserer Herkunftsstadt halten würde.
Und dass sich mit dem Öffnen der Waggontüren die Zeit zurückdrehen würde. Dass alles sein würde wie vorher, als wäre das wie Normalität nun einmal funktioniert. You never know anything. Alles ist immer möglich.

Zum Glück.
Es war möglich, stützenden Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Veränderungen zu suchen und zu finden. Angst zu fühlen. Traurigkeit zu fühlen. Fremdheit zu fühlen. Vermissen zu fühlen. Verrat wahrzunehmen. Und weiterhin einen festen Stand in mir selbst zu haben. Zu sein und zu bleiben und zu werden, wie ich sein will. Belastbar. Konfrontierbar. Berührbar. Kontaktierbar.

20 Jahre später ergibt diese komische Therapie-Übung mit den Seilen, die man vor sich auf den Boden legen sollte, Sinn. Endlich kapiere ich: Das ist gemeint – Die Möglichkeit, dass da nicht nur die Dinge möglich sind, die ich so gut kenne, dass ich sie in aller Gründlichkeit fürchten und vermeiden kann, sondern auch Dinge, die ich noch gar nicht oder nur vage kenne. Und dass es etwas gibt, das ziemlich genau und deutlich aufzeigt, wo das eine anfängt und das andere aufhört: Grenzen.
Und nicht: Limits.

Ich weiß, dass viele Menschen diese Worte synonym verwenden, doch please hold the line – Ich habe einen Punkt. Einen wichtigen.
Denn für viele komplex traumatisierte Menschen gibt es so etwas wie Grenzen des Möglichen nicht – es gibt viel mehr points of no return. Eskalationsstufen, die mit Bewusstlosigkeit enden. Mit Dissoziation, mit Betäubung, mit Meltdown, Shutdown, Überdosis, Suizidversuch, reale Todesnähe.
Die Grenze, die Menschen in chronisch toxischem Stress permanent (zu) managen (glauben) ist die zwischen Leben und Tod. Und das ist ein Limit. Da geht es um ein Kontingent, das irgendwann einfach aufgebraucht ist. Nicht um Möglichkeiten.

Dieser Umstand ist es, der Helfenden, Begleitenden und manchmal auch Behandelnden schwer einsichtig ist. Vor allem, wenn die Gewalt, die Traumatisierung, das traumatisierende Umfeld nicht mehr besteht. Und wenn da doch Anteile sind, die den blauen Himmel und die bunten Schmetterlinge so toll finden können. Und eh viel tolle Alltagsstabilität da ist und tralla la.

Gerade Alltagsstabilität ist für viele Viele so lange ein Thema von Limits, weil sie nicht mit Grenzen aufgewachsen sind. Man kann nur sehen, was man kennt und auch Vorstellungen nur von dem entwickeln, was man schon einmal erfahren hat.
Deshalb war diese Übung damals vor 20 Jahren für mich auch ziemlicher Käse. Wie um alles in der Welt hätte ich diesen doppelten Geistes-Rittberger hinkriegen sollen? Erstmal die Abstraktion vom Seil auf dem Boden vor meinen Füßen hin zu dem, was berührt wird, wenn mir was im Leben passiert und von mir eingeordnet werden muss. Was ich damals ja kaum mitgekriegt habe. Und als ich es mitgekriegt habe, nicht einordnen konnte, weil meine Affektverarbeitung gestört ist und ich außer den Grundemotionen keins meiner Gefühle ohne aktives Nachdenken einordnen kann.

Und – nichts, kein einziger Aspekt in meinem damaligen Leben hatte nichts mit Limits zu tun. Ich hatte menschlichen Kontakt nach Stundenlimit – Therapie, Betreuung, Lehrplanzeiten. Meine Unterkunft, meine allgemeine Versorgung, meine körperliche Integrität – alles hing davon ab, wie weit ich meine Limits ausstreichen konnte. Es musste immer genug sein, um allen, die (ihre Arbeitskraft und -zeit) in mich investiert haben, mit Erfolgen bei der Stange zu halten, weil es so schwer, so herausfordernd war, mit mir klarzukommen. Und gleichzeitig genug, um jenen, die mir diese Räume zu nutzen gewährt haben, den grenzenlosen Zugriff auf meinen Körper und meinen Geist zu überlassen.

Also. Ja.
Wie hätte ich das früher verstehen können. Gar nicht.
Vielleicht war selbst dieser Moment im Zug ein Glückstreffer?
Oder ein erster Treffer? Wie Babys erster Schritt nach viel Hochziehen und Umfallen, komisch Weitermurksen und Wackeln und plötzlich, endlich, haben sich die neuronalen Netzwerke passend gekabelt und es klappt immer wieder?
Oder hab ichs schon ganz lange und es ist mir jetzt endlich auch selbst mal aufgefallen?

Alles ist immer möglich.

die andere Seite

Die eine Seite von Trauma ist leicht erkennbar. Nachvollziehbar. Da ist Schmerz, Blut, Tränen und Spucke. Da ist es laut und viel.
Die andere Seite ist einfach nicht.
Sie stehen sich nicht gegenüber, ergänzen einander aber auch nicht zwingend.

Manchmal denke ich, ich könnte alles, was gerade ist, auf ein großes Blatt malen. Wie eine Landkarte oder eines dieser Riesengemälde im Louvre. Doch dann gerate ich in Zustände, die einfach nichts sind. Weil ich nichts und niemand mehr bin. Oder – genauer gesagt – mir in nichts über mich sicher fühle. Und es mir gleichermaßen egal, wie zutiefst Angst machend ist.

Es ist sehr lange her, dass ich mich so grundlegend im Konflikt an so vielen Stellen im Leben fühle. Da sind Freund_innen, die mich massiv überfordern, nerven, verletzen, ärgern – zu denen ich aber nie zuvor solche Gefühle und Gedanken hatte. Da sind Ansprüche an mich selbst nicht mehr nur bloße Ideen, sondern so massiv in mich hineingepresster Druck, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes funktionsunfähig werde. Selbstbilder, die giddelig und staubig im Müll landen würden, wären sie echte Porträts, kleben jetzt untrennbar auf der Netzhaut meiner inneren Augen.
Immer wieder fühle ich mich so ohnmächtig und hilflos, weil ich nicht mehr unterscheiden kann, was reaktiver Traumashit ist und was hier-heute-jetzt-real, berechtigt und stabil verlässlich ist.

Das ist, was ich immer vermeide. Exakt dieses Momentum von Selbstverlust und Ohnmacht vor dem, was diese so viel weniger offensichtliche Seite des Traumas auslöst.
Das ist, was emotionale bzw. psychische Gewalt mit sich bringt. Man weiß einfach nicht mehr, was stimmt. Egal, wie viel man worüber weiß. Man hat keine Möglichkeit noch irgendwo Sicherheiten für sich zu generieren – außer in der Isolation. Der Abtrennung. Dem Nachgeben in dem, was Gewalt letztlich immer von einem Menschen will: Distanz, Vereinzelung, Fragmentierung, Vernichtung.

Ich kann diese Energie in mir zuordnen und weiß, dass es sich um Täter_innenintrojekte handelt. Weiß, dass die Gefühle, die mich immer wieder überschwemmen, von täterloyalen und traumanahen Anteilen kommen. Doch mein Wissen darum ist momentan nichts weiter als Treibgut, an dem ich mich so lange festhalten kann, bis es mir wieder aus der Hand geschleudert wird und an Relevanz verliert. Die Intellektualisierung solcher Zustände kann mir nur solange Sicherheit geben, wie ich keine andere Funktion ausführen muss.

Vielesein stellen sich manche an der Stelle so eindeutig vor. Hier sind die Bösen, da sind die Belasteten und da vorne ist Hannah, die muss jetzt nur hinkriegen, das zu kapieren und naja, dann wird das schon.
Tatsächlich ist aber eher so, dass Hier, Da und Vorne keine Bedeutung mehr haben. Die Bösen nichts kapieren, die Belasteten nicht mal einen Begriff von Zeit haben und Hannah sich maßlos erbärmlich und dämlich vorkommt, weil diesen Zustand zu beschreiben lediglich eine abstrakte Zeug_innenschaft nach Außen produziert – aber keine Entlastung, Befreiung, Veränderung auslöst.

Ich will dennoch nicht, nichts gesagt haben. Ich will nicht spurlos in diesem Wust verschwinden. Will nicht annehmen, dass ich hätte mehr anders besser sein werden machen können. Weder jetzt noch später. Ich habe nur noch diesen Willen als ich-kongruentes Erleben. Diese 5 % von mir sind die 100 %, die ich geben kann. Das will ich nicht vergessen.
Es gab schon so viele andere Phasen, in denen das gereicht hat. Manchmal weil es reichen musste, manchmal, weil es mehr nicht brauchte. Es gibt auch von diesen Phasen eine andere Seite.

die Fragen und die Antworten

„When I thought I know the answers, they changed the questions.“ Das stand auf einer Karte, die mir eine Therapeutin geschenkt hat. Da war ich fast 18 und hatte außer der Nische im Doppelzimmer der Ballerburg keinerlei Bezugspunkte. Ich reagierte beliebig, verstand nicht, wieso sie diese Karte angemessen fand, wusste nicht, was sie mir damit sagen will. War mir allerdings sehr sicher darüber, dass sie mich weder aufheiterte noch bei etwas half. In dem Zusammenhang war die Karte vielleicht eine Manifestation dessen, was dieser therapeutische Kontakt letztlich war: Unnütz, zynisch, pseudo-nah.

Neulich dachte ich wieder an die Karte.
Es gab eine außerordentlich großzügige Spende für „Viele Leben“, meine Podcastinterviewreihe, in der ich mit Vielen spreche, die ein besonderes Thema haben. Weil ich für meine Arbeit daran bezahlt werden möchte, produziere ich immer erst dann eine Ausgabe, wenn sie finanziert ist. Die Interviews mache ich, wenn ich kann. Ich bin sehr frei in dieser Arbeit und froh, dass weder Zeitdruck noch die Ansprüche Dritter definierende Größen sind.
Doch ich denke auch über Sympathie nach und darüber, ob es nicht besser für das Projekt wäre, würde ich einfach nur im Hintergrund rummachen und jemand anderes stellt es nach außen dar. Oder wenn ich statt eines Podcasts ein Buch daraus mache. Oder wenn ich es ganz lasse.

Ich dachte an diese dusslige Karte, weil mir auffiel, dass ich selbst die Fragen ändere, sobald ich Antworten habe. Und schlimmer noch: Wenn es die richtigen Antworten sind.

In meiner inneren Traumalogik kann es nicht sein, dass ich etwas richtig mache. Oder wenigstens prinzipiell richtig. Sobald ich etwas mache und nichts Schlimmes passiert, stimmt was nicht. Und wenn mir nicht selbst auffällt, was nicht stimmt, dann fange ich an danach zu suchen. Und immer immer immer finde ich mich selber. Ich stimme nicht. Ich bin der Fehler in dem Ganzen. Nicht [beliebiges Attribut einfügen] genug. Nie. Punktum.

Dinge machen, ist gruselig.
Ich weiß das und mache sie in der Regel trotzdem. Manche Menschen finden das gut, den meisten ist es egal. Es ist für mich selbst ein riesen Ding, denn es gibt dieses „trotzdem“. Ich mache die Dinge nicht einfach, sondern mache sie trotzdem. So sind es immer zwei Dinge, die ich da mache.
Wenn man etwas trotzdem macht, dann muss man die ganze Zeit gleichzeitig gegen die eigene Vermeidung, den eigenen Selbsterhaltungstrieb ankämpfen. Man muss ihn niederdrücken, weil man sonst keine Dinge machen kann. Wenn mir das leicht fällt, bedeutet es in meinem Fall immer, dass ich umfassend dissoziiere, während ich es mache. Ich mache die Dinge wie und als jemand, die_r dieses „trotzdem“ nicht mitmacht. Ich mache meine Anstrengungen als Einsmensch für mich selbst unsichtbar, unspürbar, pseudo-weg. Wann immer etwas unsichtbar wird, verliert es Relevanz. Bietet keinen Anlass mehr beachtet und geprüft zu werden. Ich vernachlässige also etwas, das eigentlich von großer Relevanz für mein Überleben ist und das ist dann doch einigermaßen ungünstig. Also, wenn man leben möchte.

„Viele Leben“ habe ich angefangen, weil ich die Realitätsbezüge in der Außendarstellung von Menschen, die sich als Viele erleben, vermisse. Meine Frage ist: „Welche Leben(sthemen) haben Menschen mit (p)DIS?“
und nicht „Wie sollten die Lebensthemen von Menschen mit (p)DIS rübergebracht werden?“. Ich hatte mir sogar eine Antwort dazu überlegt, warum ich mich auf die Inhalte konzentriere und weniger auf die massengerechte Darreichung. – Ich bin einfach kein super sympathisches Massenmäuschen. Ich bin ein Sachstandsmonolith – und das ist okay so.
Ich hatte also nicht nur Antworten auf meine eigenen Fragen, sondern auch noch Antworten, die anerkennend und wertschätzend mir selbst gegenüber waren.

Da arbeite ich mich jetzt wieder hin.
Und im September gibts die 4. Ausgabe „Viele Leben“.

ent.täuschte Freund_innenschaften

Seit Sookie nicht mehr lebt, erkunde ich eine Einsamkeit, die mir sehr vertraut und gleichzeitig wieder neu ist.
Das ist insgesamt schwieriges Terrain, denn ich bin nicht mehr allein und das, was mich einsam macht, ist den nicht autistischen Menschen in meinem Leben kaum zu vermitteln.

Ich muss mich vor ihren schnellen Schlüssen in Acht nehmen. Aufpassen, dass sie nicht annehmen, ich würde sie meinen. Prüfen, ob sie annehmen könnten, ich fühlte mich zu Unrecht abgelehnt. Oder nur deshalb nicht gewollt, weil mich schon meine Eltern eigentlich nicht wollten.
Diese Art des ungeprüften fixen Schlussfolgerns in sozialen Fragen kenne ich von mir nicht. Auch nicht, wie unbewusst diese Urteile und Gedanken bei ihnen aufkommen. Es ist mir ein Rätsel, wie sie nicht erst überlegen, analysieren und prüfen müssen und wollen.

Es gab nach Sookies Tod einen Moment, in dem ich gemerkt habe: Wenn ich nicht allen meinen Freund_innen die gleiche Nachricht geschickt hätte, wüssten sie es nicht und hätten es vermutlich erst in einem Moment erfahren, in dem sie mehr als ein „Oh, das wusste ich nicht“ kaum einbringen würden. Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre später.
Ich hatte eine Teilverstreuung geplant. Alle Leute in der Stadt, die ich nur durch Sookies Präsenz im Leben hatte, sollten kommen. Der Termin ist geplatzt. Von 7 Menschen hat einer zurückgefragt, wann denn der neue Termin sein würde. Wie es mir inzwischen geht. Wie ich zurechtkomme, jetzt, wo so vieles anders ist.
Von den anderen kam keine Nachricht. Kein Anruf. Nichts.

Der Aufprall hat mich in einer verletzlichen Phase erwischt und einen weiteren Trauerprozess nach sich gezogen. Ich fühle mich in sehr alten Traumawahrheiten bestätigt und erlebe immer wieder auch, wie in mir das große Orchester der Beschämung, der Abwertung und Ewigkeitsannahmen spielt.
Alle Kontakte sind auf dem Prüfstand und es sieht nicht gut aus. Spaßfreund_innenschaften habe ich gar keine. Kontakte für Krisentalk und Selbstfindung einige. Ein Mal im Jahr treffe ich die Leute, mit denen ich mich verbunden fühle, weil ich ihre Podcasts höre und Trööts lese. Und der Rest sind Projekt- oder Themenbekanntschaften. Wir arbeiten miteinander.
Der neurotypische Schnellschluss aus so einer Aufzählung ist, dass ich das zu schwarz sehe. Dass ich die Kontakte abwerte, weil ich mich gerade abwerte. Meine Einschätzung hingegen kommt aus 2 Monaten Analyse, Prüfung und Abwägung. Einer genauen Gegenüberstellung von Quantität und Qualität, Wünschen und Realität. Es ist verletzend, wenn das einfach weggewischt wird zugunsten einer Spielart von „Du machst es dir selber schwer/Du nimmst das alles ganz falsch wahr – in Wahrheit …“

Was ich initial sehr oft falsch wahrnehme, ist die Art Kontakt, die ich mit anderen Menschen habe. Vor allem, wenn sie nicht von Konflikten geprägt, sondern immer freundlich und grundsätzlich nicht unbefriedigend sind. Wer mich nicht schlägt oder beschimpft, ist im Grunde schon ein_e Freund_in für mich. Also fast. Ich muss dann natürlich gucken, dass wir uns oft treffen, damit ich die Person lesen lernen kann, um sie sicher von anderen unterscheiden zu können. Ich muss mir ihre Hobbys und Themen merken, mich dafür interessieren und dazu einlesen, damit mich Gespräche dazu weder verwirren noch überraschen. Und dann muss ich natürlich immer gucken, dass ich immer möglichst angenehm für die Person bin – vor allem, wenn sie Freund_innen hat, die ich über sie_ihn kennenlernen könnte. Naja und dann passiert das schon irgendwie mit der Freund_innenschaft, ne? Ne?
Ja, nein. Natürlich nicht. Aber bei anderen Menschen passiert es eben doch ziemlich genau so. IRGENDWIE.
Außer bei mir.

Bei mir ist es immer so, dass ich mich bemühe und in verschiedene Stadien der Überzeugung einer Freund_innenschaft komme, aus der ich an mehr oder weniger relevanten Punkten meines Lebens mehr oder weniger krass verletzend ent.täuscht werde. Menschen, denen ich mich sehr nah fühle, zum Beispiel, weil ich seit Jahren ihre Krisenbegleitung bin, haben dann irgendwann eine ganz gute Phase und melden sich überhaupt nicht mehr. Oder erwähnen beiläufig, was sie alles mit anderen Menschen erleben und unternehmen – während sie mich nie danach gefragt haben, ob wir das miteinander machen wollen. Mit anderen arbeite ich über lange Zeit an super empfindlichen Themen in komplexer Art und Weise – doch jede Einladung zu mir nach Hause, jedes Angebot für gemeinsame Zeit, die nicht von Schwere und Komplexität geprägt ist, wird ausgeschlagen. Manche sind immer für mich da, wenn es mir so schlecht geht, dass ich Suizidgedanken habe, haben aber absolut kein Interesse an Kontakt, wenn es ihnen nicht gut geht oder mir einfach gut. Auch in diesen Kontakten gibt es keine Leichtigkeit, keine umfassende, runde, ausgewogene Ausgeglichenheit, was Kraftaufwand und Gewinn am Kontakt betrifft.
Und wie viele Kontakte habe ich mit Menschen, die sich immer vornehmen, sich bei mir zu melden, es aber nicht schaffen. Es sind zwei. Zwei Menschen, die mir so so wichtig sind, dass ich diese Verletzung hinnehme und immer wieder damit beruhige, dass Komplextrauma und ADHS in ihre Lebensrealität gehört. Und es richtig schön ist, wenn wir dann endlich den Kontakt schaffen.

Meine erste Ent.täuschung dieser Art erlebte ich mit 13. Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gruppentherapie. Wir sollten über unseren körperlichen Abstand darstellen, wie wir unseren emotionalen Abstand zueinander wahrnehmen. Wer am Ende allein in einer Ecke stand und sich vorher mitten in die Gruppe, teils sogar sehr nah an Einzelne gestellt hatte, war ich. Die Beschämung und den Kommentar der Krankenschwester, die diese Gruppe geleitet hat, habe ich nie vergessen und im Laufe meines Lebens in verschiedenen Formen immer wieder gehört. Vor allem von Menschen, die mich überheblich oder intellektuell bedrohlich erlebt haben. Solche Momente eignen sich einfach hervorragend, um sich stark und überlegen zu fühlen. Gemocht und befreundet zu werden, ist in solchen Momenten nicht einfach nur ein Grundbedürfnis, sondern eine Ressource. Es wird zur Quelle von Macht.
Und während die meisten neurotypischen Menschen nicht einmal genau wissen, wie sie dazu kommen, wissen sie jedoch ganz deutlich, dass ich nicht mal nah dran bin. Und die Schnellschusserklärung dafür ist von je her, dass irgendwas an mir persönlich nicht stimmt. Ob Klassenkamerad_innen oder frühere Therapeut_innen, ob Leute in der aktivistischen Bubble oder aus der Selbsthilfeszene – selbst mein Partner sagt: „Naja du bist halt auch …“
Was diesen drei Auslassungspunkten folgt, ist nie schmeichelhaft. Nie nicht verletzend. Nie etwas, das ich unterlassen oder ändern kann. Es ist immer mein Autismus bzw. das Fehlen dessen, was Brit Wilzcek den „sozialen Autopiloten“ [1] nennt.

Eine neue Entwicklung habe ich jedoch bei meiner neuen Arbeitsstelle.
Da fühle ich mich in einen sozialen Nimbus aufgenommen, in dem Kontakt ist, was es ist: Kontakt. Freund_innenschaften und soziales Kapital spielen keine Rolle und das ist sehr angenehm.
Ich habe aber auch eine wachsame Stimme in mir, die mir sehr deutlich aufzeigt, dass ich bei der Arbeit überwiegend mit Autist_innen zu tun habe. Dass das eine Sonderwelt sein könnte, die zerstört wird, sobald sie nicht mehr gebraucht wird, als unwirtschaftlich gilt oder anders wertlos für andere (neurotypische) Menschen.
Ich kann mich da wohlfühlen – aber.

Ich kann nicht davon ausgehen, dass diese eine spezifische Einsamkeit, die sich aus der Kluft zwischen mir und nicht autistischen Menschen ergibt, irgendwann kein Teil meines Lebens mehr ist.
Das macht mich sehr traurig und führt zu einem ständigen Arbeitsaufwand für mich. Denn ja, den Mut nicht zu verlieren, die Hoffnung nicht aufzugeben, Freude an dem zu empfinden, was sich an Kontakten ergibt und was diese Kontakte dann jeweils für mich ermöglichen, ist Arbeit. Es ist unfassbar harte, zehrende Arbeit, Freude an einem Leben zu haben, das mit so einem unlösbaren Dilemma einhergeht und so viel Verletzungspotenzial hat.
Und sie wird nicht leichter, je besser ich sie benennen, verstehen und in ihrer Wirkung kommunizieren kann.
Zumindest im Moment nicht.

[1] Stimmen – Brit Wilczek | Teil 2
| Sozialer Autopilot, 3. Ebene und Wahrnehmung
| https://www.youtube.com/watch?v=Dz19jH1jk2s

wollen und können

Raus aus der Therapie zieht es mich wieder zurück in den Wattehelm auf meinem Kopf. Es ist warm, die Innenstadt wird von Urlauber_innen durchblutet. Ich prüfe die Zugverbindungen nach Hause und mein Kraftlevel. Es ist niedrig und hoch gleichzeitig. Ich weiß es also im Grunde nicht und damit genug, um mir ein ICE-Ticket zu kaufen. Spontane Abklappung in Wunstorf oder an irgendeinem anderen Stück Arsch der Heide, ist heute definitiv nicht drin.

Der Lärm umgibt mich als Ganzes. Der Bahnhof ist so laut wie meine Gedanken, die Gleichzeitigkeit von allem wirrt mich in viele Fäden. Ich warte. Irgendwann zentriert sich meine Aufmerksamkeit auf meine Füße. Der eine steht schief, der andere eingequetscht zwischen Geländer und Boden. Ich klappere mein Fürsorgeprotokoll ab. Trinke was, denke darüber nach, ob ich noch etwas essen kann, das ich nicht in meine App eintragen kann, weil ich keine Kalorienangaben dazu habe. Schalte meine Kopfhörer ein, spüre dem dichten Wattebauschen nach.
Ich will nach Hause. Ich will Sookie. Ich will alleine sein. Ich will nicht sterben. Ich will nicht. Ich will. Ich will nicht alleine sein. Ich will nach Hause. Ich will Sookie. Ich will alleine sein. Ich will nicht sterben. Ich will nicht. Ich will. Ich will nicht alleine sein.

Als der Zug einfährt, kommt die verdrängte Luft wie eine Wand auf mich zu. Es wird aus- und eingestiegen, ich spüre der Luftwand auf meiner Haut nach. Wenn alles klappt, bin ich früh zu Hause und habe viel Freizeit. Ich könnte mit Bubi los und jemanden anrufen. Aber hat überhaupt jemand Lust auf Zeit mit mir? In den letzten Wochen waren alle Freund_innen in mehr oder weniger großen Krisen. Niemand hatte Zeit und wer Zeit hatte, musste sich erholen. Zeit mit mir ist wahrscheinlich nicht erholsam. Ich merke, wie jemand meinen Rucksack prüft. Ob einfach weggehen eine Option sein könnte. Genau jetzt. Einfach in dem Zug sitzen bleiben und dann in den nächst besten Umsteigen und dann in den nächsten. Und weg sein. Wen würde das schon stören.
„J.“, antworte ich, „unseren Ehemann und Partner.“ – „Also würde es dich stören.“ – „Vermutlich.“

Im Abteil ist es kalt und dunkel. Ich hole mein Tablet hervor und beginne zu arbeiten. Das Rauschen ebbt ab. Mein Körpergefühl dämpft sich runter. Irgendwann bleiben wir stehen, weil vor uns ein Zugunfall passiert ist. Wir werden umgeleitet. Alles läuft routiniert ab. Keiner der Reisenden hat mit einer reibungslosen Fahrt gerechnet, die Bahnmitarbeiter_innen haben Übung. Ich arbeite weiter, freue mich über diese Extrazeit im Kühlen.
Der Zug macht einen Umweg über meine Endhaltestelle zum Richtungswechsel. Ich bin 20 Minuten früher als geplant da. Das Glück, das mir am Montag bei der Fahrschulprüfung gefehlt hat, habe ich also heute. Schön.

Als mich die Hitze überall anfasst, beginnt auch das Rauschen in mir drin wieder. Mein Rucksack piekst mir in die Schultern, die Schuhe reiben über meine Fußoberseiten. Die Kopfhörer pressen mein Gesicht auf den Knochen, das T-Shirt schabt über meinen Bauch. Das Piepen des Parkscheinautomaten ist mir noch durch das Noise Cancelling zu laut.
Ich will nach Hause und im Dunkeln liegen. Und arbeiten. Und mit Freund_innen reden. Und Sookie anfassen. Und mich besser fühlen als jetzt.

Zu Hause ist niemand. Als ich ankomme, ist es still und dunkel im Haus. Ich könnte arbeiten. Könnte wen anrufen. Könnte mich hinlegen. Könnte was essen. Am Ende sitze ich in der Küche und warte auf das Ende vom Schmerz am Leben zu sein.

Autismus und Bindung #3 /fin

Als ich erfuhr, dass meine Eltern meine Kassettenkiste weggeworfen haben, brach mir das Herz. Ich trauere bis heute um meine Sammlung und habe öfter über diesen Verlust geweint, als um den Umstand meine Familie verlassen zu müssen.
Meine Familie war mir nicht egal. Ist sie bis heute nicht.
Aber emotional, physisch wie psychisch sicher gebunden war ich an meine Sammlung und die Beschäftigung mit ihr.

Mein Geschwist hat Ähnliches erlebt. Es hatte als Baby ein Plüschtier geschenkt bekommen. 4 Jahre später war es von unseren Eltern zur Keimschleuder erklärt und ebenfalls in den Müll geworfen worden. Mein Geschwist war so unglücklich und wirr, dass meine Eltern es wieder herausfischen mussten. Wenn ich mich recht erinnere, war dieses Plüschtier auch noch da, als ich wegging. Säuberlich im Bett aufgereiht wie alle anderen Stofftiere, die mein Geschwist besaß.

Anekdoten wie diese können viele Eltern autistischer Kinder berichten. Manchmal schwingt in diesen Erzählungen eine Kränkung mit. Warum ist dieses olle nutzlose Ding so viel wichtiger für mein Kind als ich? Warum wählt es lieber die Beschäftigung damit als mit mir? Hat mein Kind mich nicht lieb? Merkt es denn überhaupt nicht, wie sehr ich es liebe? Unsere Liebe (unsere Ver.Bindung) ist doch viel wichtiger/wertvoller als dieser Gegenstand (dieses Thema).

Konfrontiert mit solchen Fragen, vor allem in einer engeren Beziehung mit anderen Menschen, fühlte ich mich früher oft als Psychopath. Als eiskaltes Herz. Monster. Als jemand, die_r anderer Menschen Gefühle für sich ausnutzt. Denn an meinen Bindungstendenzen hat sich bis heute nicht viel verändert.
Ich habe heute durch die Traumatherapie nicht mehr so viel grundlegende Angst vor Menschen und habe dadurch mehr Kraft und Interesse dafür, auch welche kennenzulernen und etwas mit ihnen zu erleben. Aber wirklich einfach so gern und unangestrengt ist das bis heute nicht.

Ich muss mir die Erfassung der Menschen als individuelle Menschen erarbeiten.
Bis ich jemandem sicher Stimme und Körper zuordnen kann, dauert es. Es ist leichter für mich Orte/Umgebungen mit Menschen zu assoziieren, weil sie diese Orte (und wie ich darin funktionieren muss) beeinflussen. So sind für mich zum Beispiel die Lehrer_innen in der Schule in erster Linie gleich wichtig wie Zettel und Stift, Tafel und Kreide – egal ob sie lieb mit mir sind oder nicht. Bevor ich sie nicht als individuelle, frei bewegliche Komponente „im Kopf zusammen bekommen habe“ sind sie für mich ein Teil des Systems „Schule“ und für mich daher nicht anders relevant als Zettel und Stift, Tafel oder Kreide.

Ich muss Arbeit investieren, um andere Menschen lesen und verstehen, begreifen und nachvollziehen zu können. Selbst wenn ich einen Menschen „im Kopf zusammen habe“ muss ich die individuelle Kommunikation in doppelter Übersetzungsarbeit leisten. Ich muss lernen, wie „sarkastisch“, „freundlich“, „lustig“, „ernst“ und so weiter bei dieser Person aussieht, klingt, riecht – und einüben, wie ich damit gut umgehen kann. Und zwar möglichst so, dass die Person sich nicht wie das Projekt fühlt, das sie für mich aber de facto ist.

Ich muss mir erarbeiten, was wir wann und wie miteinander machen können.
Unbewortete Grenzen kommen dabei ins Spiel. Darf ich meine Fahrlehrerin bitten, Pirouetten zu drehen, damit ich ihrem Rock beim Schwingen zusehen kann? Darf ich meinen Partner dazu drängen, mindestens zwei Mal täglich mit mir „Flügelschlag“ zu spielen? Kann ich die ganze Therapiestunde über mit meiner Kreiselsammlung spielen und die Therapeutin macht das mit dem Reden? Was – wir fahren nicht so oft in die Waschanlage, wie man gern in der Waschanlage sein möchte, sondern so oft, wie das Auto anders nicht mehr zu reinigen ist?
Was ich gern mache und sehe, erlebe und fühle, weicht von den Präferenzen andere Menschen doch erheblich ab und bietet häufig Anlass dazu, mich merkwürdig zu finden oder eigene Grenzen berührt zu fühlen. Da Konsens zu finden geht gar nicht ohne Arbeit.

Und ich muss mir erarbeiten, diese ganzen Vorarbeiten so gut zu schaffen, dass es nicht so anstrengend ist und ich meine eigenen Gefühle und Gedanken im Kontakt wahrnehmen und äußern, teilen und reflektieren kann.

Von außen sieht meine Kontaktanbahnung und das Halten dessen nicht unbedingt nach Arbeit aus. Meine dissoziative Identitätsstruktur verdeckt das meiste davon – auch vor mir selbst! Aber es ist da und ich wusste das auch schon immer auf eine gewisse Weise.
Dass ich in Anbetracht dessen sehr viel leichter in Ver.Bindung mit Tieren und Dingen gehe, ist wohl für alle logisch. Doch wichtig – besonders für die Menschen in meinem Leben, die das jetzt hier lesen – ist, dass es nur leichter ist. Nicht wichtiger. Nicht bedeutsamer.

Die Ver.Bindungen zu Menschen, die ich aufgebaut habe, sind mir wichtig. Ich habe mich zu dem Kontakt und also auch für die Arbeit daran entschieden und sehr viel Energie dafür aufgebracht.
Und natürlich geht auch das einher mit Schattenseiten.

Manche Menschen wissen nicht und werden vielleicht auch nie begreifen, wie viel Arbeit von mir in die Kontaktaufnahme und -gestaltung geht. Sie nehmen es als selbstverständlich hin und vergessen zuweilen selbst etwas in den Kontakt einzubringen. Oder sie kommunizieren mir nicht eindeutig, wie sie den Kontakt gestalten wollen. Dann verletzen sie mich damit, dass sie mir bestimmte große Ereignisse in ihrem Leben einfach nicht erzählen oder mich in schwierigen Lebensphasen ausschließen.
Manche Menschen nutzen meine Treue und Loyalität auch einfach aus. Wieder andere nutzen mein Wissen und meine Bereitschaft zur intensiven emotionalen Carearbeit für andere Menschen aus. Auch damit muss ich mir mehr oder weniger mühevoll einen Umgang erarbeiten.

Meine Kassetten waren nie so anstrengend.
Selbst die schwierigsten Phasen mit Sookie waren leichter.

Autismus und Ver.Bindung #2

Bindung ist ein Ergebnis von Kommunikation.
Von guter Kommunikation, von schlechter Kommunikation. Von Kommunikation, die mit beliebigem Adjektiv beschrieben werden kann. Egal, wie kommuniziert wird, es wird immer eine Ver.Bindung hergestellt. Auf Basis dessen werden die verschiedenen Kommunikationskanäle trainiert und ausgestaltet. Die Bindung, die Kinder mit ihrer Familie aufbauen, gilt als der erste Entwicklungsraum dafür. Man weiß, wie wichtig stabile Beziehungen zu Menschen sind, welche die Grundbedürfnisse der Kinder an.er.kennen und sie dabei begleiten, sie erfüllt zu bekommen. Wie wichtig es ist, dass die Gefühle von Kindern auch von außen wahrgenommen, eingeordnet und begleitet werden. Wie wichtig es noch bis in die Jugendzeit ist, beim Prozessieren bestimmter Erfahrungen und Gefühle unterstützt zu sein.

Bindung und Bindungsstörungen werden entsprechend häufig im Kontext von (früher) Kindheit und (komplexem) Trauma besprochen. Es gibt sehr viele Forschungsergebnisse zu den schwerwiegenden Folgen von Vernachlässigung und Bindungsstörungen. Und sehr viel Text zu Autismus als Bindungsstörung. Vor allem viel misogynen Text. Denn als erste und in den Leben vieler Menschen einzige Bezugsperson für Kinder galt die Mutter. Bis heute hält sich das Bild vom reinen, intuitiv richtigen Mutterinstinkt, der dafür sorgt, dass eine Person ganz einfach aus sich selbst heraus einem Kind ganz und gar gerecht werden kann. Und das mit Leichtigkeit, denn natürliche Reflexe und Instinkte, sind keine Arbeit. Nichts, was man bewusst und aktiv erlernen oder trainieren muss. Nichts, was auch etwas vom Kind oder dem sozialen Umfeld erfordert.

Ich weiß nicht und werde vermutlich auch nie erfahren, wie ich als Kind war. Als Erwachsene kann ich heute nur mutmaßen und von den Erinnerungen, die ich inzwischen an meine Kindheit habe, rückschließen. Im Wissen, um meine Traumawahrheiten, muss ich dabei auch darauf achten, mich nicht störungsverantwortlich zu machen. Ver.Bindung erfordert Kommunikation. Kommunikation erfordert Sender und Empfänger in Kongruenz. Die gleiche Wellenlänge sozusagen. Und die Fähigkeit, die eigene Wellenlänge auf das Gegenüber anpassen zu können.

Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie relevant der Satz „Das hab ich nicht gehört“ oder „Ich hab dich nicht gehört“ in meiner Kindheit war. Meine Eltern haben mich oft ohrenärztlich untersuchen lassen. Mein Gehör war jedoch in Ordnung. Heute kenne ich die ICD 10 Nummer F 80.20, die Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung [AVWS]. Heute verstehe ich, welche Annahmen andere Menschen allein aufgrund meiner Schreib- und Sprechfertigkeiten (Hyperlexie) hatten.
Und, dass sie falsch waren, ohne, dass ich irgendetwas hätte tun können, um sie zu berichtigen. Ich konnte sehr schnell sehr gut lesen und schreiben – und Worte sehr gut aussprechen – hatte aber ein unterdurchschnittliches Bedeutungsverständnis. Ein unvorstellbarer, nicht nachvollziehbarer Widerspruch für viele Menschen. Man verstand mich als clever, aufmerksam und sehr gezielt in allem, was ich als Sender_in ausgab. Niemand hatte eine Ahnung davon, wie sehr meine Kommunikation auf bloßer Wiedergabe ich-fremder Inhalte beruhte. Was nicht bedeutet hat, dass meine Kommunikation selbst auch ich-fremd war. Ich wusste, dass ich, um mit anderen verbunden zu sein, etwas sagen und auf das reagieren musste, was sie sagten. Und ich wusste, dass es relevant ist, was man, wem wann wie sagt. Die lautsprachliche Kommunikation war damit schon damals das Puzzle, das ich bis heute in jedem Kontakt zusammenbringen muss. Und auch ganz gut kann, denn mein Wort-(bildliches) Gedächtnis ist durch das viele Lesen seit meiner Kindheit umfang- und abwechslungsreich.

Als ich in der Grundschule mit Hörspielkassetten in Kontakt kam, trainierte ich unwissentlich auch meine auditive Wahrnehmung. Meine Kassetten waren das Spezialinteresse, das man bei mir übersah. Während mein autistisches Geschwist über Straßenbahnhaltestellen, Mülltonnen und Pokémon referierte und Plüschtiere im Bett aufreihte, sammelte ich Kassetten nach Verlag und Sprecher_innen und konnte jede einzelne mitsprechen, bevor ich ihren Inhalt auch verstand. Die Kassetten wurden mir das Hilfsmittel zur Barrierenüberwindung, wie es schriftliche Kommunikation bis heute für mich ist.
Die Kassettengespräche konnte ich so oft anhören, wie ich sie brauchte. Da bei einem Hörspiel immer auch mitgedacht wird, dass die Hörenden die Umstände eines Gespräches nicht aus der Körpersprache und der (sozialen) Umgebung schließen können, werden diese Aspekte explizit genannt oder beschrieben. Das war für mich, als würden im Hörspiel die „Störgeräusche“, die in meinem Lebensalltag immer wieder dazu führten, dass ich zum Beispiel meine Eltern „nicht hören konnte“, einfach ausgeschaltet sein. So kam ich in die Lage, Inhalte auch kontextuell zu begreifen und nicht nur wie eine Art Schnellfeuer aus Geräusch und Anspruch in einer Umgebung voller verschiedener Reizschnellfeuer und Ansprüche an die Reaktion darauf.

Als ich sehr klein war, hatte ich diese Hilfsmittel noch nicht. Die Wahrnehmungswelt in der ich er_lebte, stelle ich mir heute als zwangsläufig chronisch stressend, chronisch überfordernd vor. Die verbindende Kommunikation mit anderen Menschen als praktisch unmöglich. Ich nehme an, dass ich eventuell nie einen Unterschied „sehen“ konnte zwischen absichtsvoller Misshandlung und liebevoller Zuwendung.
Überhaupt zu verstehen, was gerade vorgeht – in welchem Kontext ich und das aktuelle Geschehen, in das ich involviert bin, passiert – ist bis heute die Herausforderung, mit der ich (wie andere Autist_innen auch) zu kämpfen habe. Und an der ich weitaus häufiger scheitere, als man es mir anmerkt, geschweige denn zutraut.

Das Ausmaß an Anstrengung, die mit der Kompensation dieser sogenannten „Kontextblindheit“ einhergeht, ist enorm. Das Ausmaß der Überlegenheit von Menschen, die damit keine Schwierigkeiten haben, ebenfalls. Ich bin darauf angewiesen, immer die Kraft dafür zu haben, Erlebtes und Erfahrenes analytisch zu prozessieren. Häufig als „overthinking“ missverstanden, ist es meine einzige Chance zum Selbstschutz und zur Anpassung im Kontakt mit anderen Menschen und gleichzeitig das Verhalten, das mir am häufigsten als Grund für meine psychische Belastung vorgehalten wurde.
Da der Kontext die Kommunikation zwischen Menschen maßgeblich bestimmt, gehen meine Kontaktschwierigkeiten, meine Ver.Bindungsprobleme mit anderen, entsprechend weit über Themen wie Vertrauen, einander mögen und die richtigen Worte im richtigen Moment hinaus.

Tieren hingehen, ist der Kontext oft weniger wichtig. Entsprechend viel leichter fällt es mir, mit ihnen in Kontakt zu gehen und in Ver.Bindung zu sein. Selbst wenn sie mich sensorisch überreizen oder der Kontext über unseren Kontakt hinaus diese Ver.Bindung nicht unterstützt. Um einen Hund zu verstehen, brauche ich mich nicht im Geringsten anstrengen. Ich weiß, dass Straßen scheiße laut und chaotisch unübersichtlich sind. Ich fühls – ein Hund muss mir das nicht erst signalisieren. Genauer gesagt weiß ich genau, welche Signale ich an einer Straße von einem Hund erwarten kann, um in der Annahme bestätigt oder korrigiert zu werden, wie der Hund den Moment erlebt.
Die Mischung aus „wenig Anstrengung“ und häufiger Kongruenz der Empfindungen in Alltagssituationen hat es mir sehr leicht gemacht, eine Ver.Bindung zu meiner Assistenzhündin aufzubauen und diese in ihrer Ausbildung und unserem gemeinsamen Alltag zu gestalten.
Mit ihr im Leben war es leicht für mich, mich generell mit der Welt und im Potenzial mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Jetzt, wo sie gestorben ist, habe ich diese Verbundenheitsgefühle nicht mehr.