k.eine Lawine

Es ist Jahre her, dass mich mein Shampoo zum Kotzen gebracht hat. Und wie lange Jahre vorbei fühlt es sich an, dass ich zuletzt unter so einer massiven Lawine von Erinnerungen begraben wurde. Vorbei ist mein eitler Höhenflug, bald wäre ich durch. Nicht mehr lange. Bald bin ich fertig mit der Therapie. In Kürze nur noch little fires everywhere und ich wie Fiona Feuerwehr kompetent und alltagsnormal am Start.
Jetzt saß ich am Fenster, mein Telefon noch in der Hand. Meine schwere Decke auf den Beinen, müde, das Nachgespräch mit meiner Therapeutin prozessierend.
Ich kam mir so dumm vor, dass ich nicht damit gerechnet habe. Das Prinzip, dass man irgendwo rüttelt und aus dem Unsichtbaren fällt etwas runter, so unbemerkt ist meine Angst davor geschrumpft.

Aber „Lawine“ ist eigentlich das falsche Wort. Das Problem mit Lawinen ist, dass sie viele wichtige Dinge begraben. Sie rollen sich aus und die Arbeit danach ist restaurativ. Man verliert Dinge, die man kennt und bekommt jede Menge Material dazu, aus dem man sie sich nicht wiederherstellen kann.
Bei Erinnerungen an Erlebnisse in meiner Kindheit ist es eher so, dass ich ganz vorsichtig an einem Stück Erinnerung zupfe und dann durch den Boden breche. Tausend Jahre falle und in einer Dimension lande, über die mir niemand etwas sagen kann. Ich kann nicht wissen, ob das echt ist, nur ob es sich echt anfühlt. Ich kann nicht wissen, wie die Abläufe sind, nur wie ich sie verstehe. Keiner meiner üblichen Maßstäbe wird meinem Erleben gerecht, die Orientierung ist praktisch unmöglich. Es geht nur vorwärts oder weg. Bis man raus hat, wie man im Übergang stehen kann. Wenn es einen Übergang gibt.

Und dann das Material. Ich kann nichts damit anfangen. Vielleicht kam ich deshalb auf das Bild der Lawine.
Eine Bemerkung der Therapeutin war, dass niemand von uns Mitgefühl mit ihnen hat. Ihnen, Kindern, die wir nicht wie Kinder erleben, nicht wie Kinder fühlen, nicht wie Kinder denken. Die sie aber als Kinder identifiziert. Das ist die schwierige Ebene. Ich habe Erinnerungen bekommen. In Form von Traumascheißekonfetti. Wild umherwirbelnd, verwirrend in seiner Mischung der Emotionen, Impulse und Gedanken_reste_stücke_anfänge. Das ist etwas, was diese so eingeordneten Kinderinnens betrifft, aber nicht sie selbst sind. Das ist etwas, was ich wahrnehme, aber nicht ich bin.
Identität vs. Erfahrungshintergrund. Hat beides miteinander zu tun, ist aber nicht das Gleiche. Mitgefühl erfordert ein Miteinander, in dem man einander fühlt und das ist nicht da. Auch jetzt nicht. Ich kann die Gefühle nicht benennen und einordnen, ich kann die Gedankenfitzel nicht sinnig mit dem Erlebnis verbinden, fühle mich elend, verlassen und hilflos, wenn ich versuche Ordnung hineinzubringen und es nicht schaffe. Fühle mich von der Therapeutin abhängig, wenn ich denke, dass ich das lieber nur noch versuchen will, wenn sie dabei ist. Bekomme Angst während der Überlegung, wie ich das in einer Therapiestunde machen will, wenn sie immer wieder Fokus auf die Kinderinnens legt, während ich versuche deren Erinnerungen zu etwas zu ordnen, das Sinn ergibt und Bedeutung hat. Beides ist wichtig, ich weiß. Aber gleichzeitig? Das ist zu viel.

Zum Glück war es keine Lawine. Mein Alltag läuft weiter, praktisch unberührt von all dem. Manchmal flackert eine Geräuscherinnerung bis zu mir. Manchmal ein Bild. In der nächsten Zeit benutze ich wieder festes Shampoo. Mein nächster Therapietermin ist in 3 Wochen.
Vielleicht ist es eher eine Welle gewesen.

Schmerzfamilie

Ich habe mir einen Vortrag zum Zusammenhang von Schmerz und Trauma im Kontext von Traumafolgen angesehen.*
Neben mehr Ansätzen zur Erklärung meiner Schmerzen ging ich mit dem neuen Wort „Schmerzfamilien“. Damit sind Familien gemeint, in denen Schmerzen das einzige oder das effektivste Mittel der Kommunikation sind. Statt Dinge auszusprechen, haben einzelne oder auch alle Familienmitglieder unterschiedlich gelagerte Schmerzproblematiken und entwickeln mehr oder weniger effektive Strategien des Umgangs und der Ver_Bindung.

Ein jugendliches Innen reagierte auf meine Erklärung des Wortes: „Dann war meine Familie voll die Unschmerzfamilie, haha.“ Eine kleine Erinnerungsblase öffnete sich erneut für mich, etwas erweitert durch die Verbindung zu der Jugendlichen. Meine Mutter, wie sie sich vor Schmerzen in der Küche krümmt. Die Hände um den Bauch, schwer atmend, über ihr stechend brizzelndes Essen in der Pfanne. Ihr Kopf ohne Gesicht, die Anspannung im Raum, Zeitlupe und Lichtgeschwindigkeit. Das Innen im Heute neben mir sagt: „Sieht aus wie in „Alien“, ne?“
Ich gehe weiter. Sehe, wie die Mutter sich aufrichtet, wegdreht, die Pfanne schüttelt. Mich, die_r immer noch starr im Türrahmen steht, zur Seite schiebt und meinen Schmerz der Berührung genauso ignoriert wie ihren eigenen keine fünf Minuten vorher. Da ist die Verbindung zum Innen schon wieder weg.

Im Nachdenken über meine Schmerzwahrnehmung und Einordnung tauchten weitere Blasen auf. Wie ich in meinen Führerschein von der Legoland-Fahrschule unter „Überempfindlichkeiten“ „Schmerz (Weh-Wehchen)“ schreibe und es absolut ernst meine.
Wie stolz ich bin, meine Selbstverletzung zu schaffen, um mich anschließend mit Grund zu verbinden. Mit wie viel, ja, euphorischer Freude ich mich gegen Wände werfe, meinen Kopf anschlage, mich vom höchsten Punkt des Klettergerüsts fallen lasse, weil es sich so gut, so körperhaft – und eben nicht schmerzhaft – anfühlt. Obwohl ich doch so überempfindlich bin. Wenn mich jemand ganz ~“normal“~ berührt, einfach mal anspricht, ich mich an- oder ausziehe, wasche oder die Kleidung wechsle.

Was ich nach dem Vortrag denke ist, dass mein Körper einerseits gelernt hat, dass es von Vorteil ist, so schnell wie möglich zu erfahren, wann es potenziell gefährlich für ihn wird. Er ist sehr sensibilisiert und leitet alles schneller weiter, um entsprechend schneller in die Selbstschutzkaskade gehen zu können.
Andererseits kann mein Körper auch nur mit dem Input umgehen, der bei ihm als Schmerz ankommt bzw. von ihm als Schmerz erkannt wird. Entsprechend begreife ich einfach nur selten und wenn dann stark verzögert Verspannungsschmerzen oder so Dinge wie schmerzende, weil entzündete Organe. Aber lande praktisch sofort in – ich weiß, dass das übertrieben klingt, aber so ist es für mich – schlimmen Schmerzzuständen, wenn es sensorische Ausreißer in der üblichen Alltagskakophonie gibt. Ich also unerwartet angefasst oder angesprochen oder mit lauten Geräuschen (Sirenen, Klingeln, z. T. das Tuten beim Telefonieren) konfrontiert werde.

Irgendwie bin ich sowohl überempfindlich als auch unterempfindlich. Schon im Normalzustand. Kommt Stress dazu, verstärkt sich alles und löst dissoziative Mechanismen aus. Und wird unterscheidbar. Für mich jedenfalls. Ertauben, betäubt sein, ist sehr anders für mich als unempfindlich sein. Dissoziation verändert die Wahrnehmung, die man üblicherweise hat.
Ich habe gelernt, dass meine Wahrnehmung nicht richtig ist. Und ich kann an dieser Stelle nicht sagen: „Weil die Täter_innen das so wollten.“ Ich will es auch nicht. Denn viel häufiger war ich in meinem Leben mit einer ganz normalen, ganz alltagsgewaltvollen Abwehr meiner Empfindlichkeiten konfrontiert. Ganz üblich hat mir die Schulglocke den Schädel zersägt. Voll normal haben mir die Sockennähte die Zehen aufgeschnitten. Easypeasy mit Lächeln im Steingesicht habe ich mich jahrelang durch Händeschütteln, Freundschaftsumarmungen und mein ganz eigenes Desensibilisierungstraining gequält. Immer mit dem Gedanken: Irgendwann werde ich mich daran gewöhnen, dass es sich anfühlt, als würde meine Haut aufreißen. Weil ich nicht wusste, weil niemand in meinem Leben wusste, dass es bei den meisten Menschen anders ist als bei mir.

Bisschen paradox vielleicht – ich wollte gerade schreiben, dass die Gewalt an mir eigentlich immer eher die dankenswerte Ausnahme-Schmerzerfahrung war. Weil der Schmerz in diesen Situationen von allen Beteiligten erwartet war. Aber naja, „dankenswert“, hm. Das macht es irgendwie noch trauriger und schlimmer alles. Hm, hm, hm.

Jedenfalls.
Ich gehe auch mit dem Gefühl aus dem Vortrag, dass ich mit dem Schwimmen als Ausgleich und den Radtouren im Sommer tue, was sich therapeutisch an der Front anbietet. Defokussierung üben, andere Körpergefühle kennenlernen, die Schmerzerwartung aktiv reflektieren und beobachten, was passiert. Sich immer wieder darin verwurzeln, dass jetzt darauf reagiert wird und gut tuende Umgänge probiert werden können. Heute darf es sich auch gut anfühlen – es gibt einen Raum über „Schmerz“ und „Geht“ hinaus. Wir können ihn erforschen.
Und verteidigen. Gegen die Schmerzerwartungen anderer Menschen.

* der Vortrag wurde vom THZ München angeboten und ist Teil eines kontinuierlichen Angebotes – reinschauen lohnt!

’stuck in time‘

Zuletzt hatten wir es mit Innens zu tun, die an Dinge glauben, die nicht real sind. Das schreibe ich so, weil ich nicht „Blödsinn“, „Lügen“ oder „Traumawahrheiten“ sagen will, denn weder weiß ich näheres über ihre Ansichten noch bin ich mir schlüssig darüber, worum es dabei ~wirklich~ /eigentlich/ in WAHRheit geht.
Ich bin mir nur in einem sehr sicher, nämlich, dass sie deshalb irgendwie falsch sind. Besonders gefährlich vielleicht. Besonders böse. Besonders schlecht. Und peinlich. Doch gerade habe ich mir das neuste Video der CAT Clinic auf YouTube angesehen. „When alters (in OSDD and DID) are ’stuck in time‘
Vielleicht bin ich selber stuck in time, wenn es um Innens wie diese geht, dachte ich. Und ehrlich gesagt halte ich es sogar für sehr wahrscheinlich, je länger ich jetzt darüber nachdenke.

Erzählungen wie die in dem Video oder auch in manchen Fachbüchern produzieren den Eindruck, dass Innens sich für oder gegen die Realität entscheiden, weil sie sich nicht sicher fühlen. Sie misstrauen dem Neuen und halten deshalb lieber am Alten fest. Sie brauchen das Gefühl des Willkommenseins, der Akzeptanz und man sollte sie liebevoll in der Gegenwart aufnehmen.
Schon bei der Aufzählung habe ich den Wunsch, ein Kotzgeräusch zu machen. Nicht, weil ich die Vorstellung irgendwie kitschig oder romantisch verklärt finde (das auch, aber das würde mich nicht so in die Abwehr bringen) – sondern irgendwie auch voll colonizer style. Invasiv. Übergriffig. Als müsste ich in einem Panzer voller Liebesbomben sitzen und nur gut genug zielen, dann würde schon alles klar gehen.

Ich habe generell ein Problem damit, wie häufig über Kinderinnens oder auch jugendliche Innens gesprochen und gedacht wird, weil sie oft als niedlichere Personifikation des traumatisierten Opfers verhandelt werden oder als unberührte Unschuld, reinweiß und shiny in jemandem, die_r das ganze Leben durch den Dreck geschliffen wurde und nach Blutschweiß stinkt. Obendrauf kommt dann oft noch ebenjener Anspruch, sie in ihrer Perspektive doch bitte anzufassen zu verändern, weil wegen Realität und Gegenwart und isso, musso, iswichtigweildeshalbso.

Ich bin an diesem Anspruch gescheitert. Immer wieder. Das war meine, damals unsere, Existenz. Ich sitze vor einer Therapeutin, die vermittelt mir: „Da ist jemand, der_m wurde etwas eingeredet/die_r weiß nicht, dass es heute vorbei ist/die_r denkt, wir hätten 19 hundertxundneunzig – jetzt mach mal. Mach anders.“ Und alles, was ich machen konnte – like actual Können, war wegmachen. Unsichtbar. Klappe zu, Auslöser für den Wechsel zu diesen Innens vermeiden. Von einem Innen, das gut sprechen kann, zu einem System von Innens werden, das die Gegenwart kennt, vom eigenen Vielesein weiß, aber die Bedeutung dessen überhaupt nicht in sich bewegen kann, weil es immer wieder scheitert und scheitert und diese Wiederholung gut 9 Jahre durchlebt, bis es sich traut zu sagen, dass es immer wieder scheitert, weil es anders nicht funktionieren kann als vermeidend.
Daran habe ich in den letzten Jahren gearbeitet. Innerhalb meines Funktionssystems erfolgreich – vielleicht vermutlich sehr wahrscheinlich, weil ich darin niemanden groß in die Gegenwart lieben musste – außerhalb dessen, mit Basiserfolgen. Es macht mir keine Todesangst mehr Kinderinnens oder Jugendliche überhaupt irgendwie wahrzunehmen und es ist auch seit Jahren nicht mehr das schlimmste, was mir in der Therapie passieren kann, wenn jemand von ihnen dort auftaucht. Es ist weiterhin schlimm und ich darf nicht zu viel darüber nachdenken, aber ich klappe nicht mehr komplett in mir selbst zusammen und kann begreifen, was meine Therapeutin mir sagt, wenn sie sagt, dass es okay ist, wenn andere als ich mit ihr sprechen. Ich weiß, dass das in Anbetracht der Therapiedauer eigentlich erbärmlich ist, aber wenn ich mich selbst als Innen denke, das „in der Zeit stecken geblieben ist“, dann kann ich anerkennen, dass es schneller einfach gar nie hat gehen können.

In all den Fallgeschichten von Vielen sind gescheiterte bis traumatisierende Therapieversuche, misslungene Behandlungen oder grob schlecht behandelte Patient_innen nie Thema. Nur selten wird aufgearbeitet, warum Therapieansatz X für Patientengruppe A bis D konkret nicht funktioniert hat und soweit ich weiß, hat es noch nie eine Studie dazu gegeben, welche Auswirkungen schlechte, falsche, traumatisierende Psychotherapie in Menschen mit DIS hat.
Restpatient_innen wie mich gibt es in der Literatur nicht. Erst wieder als Patient_innengruppe für Behandlungsform/verfahren XY, die genau so definiert ist, dass unsere Vorbehandlung und ihre Folgen weder abgefragt noch sonstwie zu relevanten Markern werden. Die Praktizierenden der Traumatherapie befassen sich einfach nicht mit ihren Opfern Fehlern und das hat Auswirkungen auf sehr vielen Ebenen.

Manche davon habe in diesem Blog schon oft angerissen und ich will das jetzt nicht alles wiederholen, vor allem, weil ich in diesem Text einen anderen Punkt ausdrücken will. Nämlich, dass mir durch die Rahmung von außen immer vermittelt wurde, ich wäre orientiert. Ich wäre der funktionale Anteil. Die_r Erwachsene. Die_r Fähige. In vielen Punkten stimmt das – in manchen jedoch überhaupt nicht und das geht immer wieder unter. Besonders dann nämlich, wenn wir an Punkte kommen, die mein Entstehungstrauma berühren: Die Konfrontation von „verwirrten“/“unfähigen“/“hilflosen“/von mir nicht gezielt ansteuerbaren Innens im Kontext der Traumatherapie.
An diesen Stellen bin ich einfach nicht fähig. Da bin ich 16 Jahre alt und verstehe nicht im Ansatz, was die Erwachsenen um mich herum von mir zu kapieren verlangen – Vielesein, Dissoziation, Du erinnerst dich nicht, aber…, Wir helfen dir mit Fixierung und Betäubung, Du bist hier sicher, eingesperrt in einer Psychiatriestation – und bin so abgrundtief verloren in dem Auftrag etwas zu „reorientieren“, ohne zu wissen, wohin diese Re_Orientierung gehen soll; zu lieben, als etwas von mir willkommen zu heißen, obwohl (und weil) es doch irgendwie dafür verantwortlich ist, dass ich keine Familie, kein Zuhause, keine Gegenwart außerhalb der Psychiatrie mehr habe und deshalb erst recht keine Zukunft.

Und wie ist es jetzt. Meine Therapeutin fordert mich seit Jahren immer wieder dazu auf, zu differenzieren. Ich soll einen Unterschied erkennen zwischen damals und heute, als würde diese Erkenntnis etwas mit mir machen. Das passiert aber nicht. Ich sehe den Unterschied. Bin informiert. Bin orientiert. Aber Kenntnis allein bedeutet nicht auch Befähigung. Bedeutet nicht auch Ermächtigung.
Mal abgesehen davon hat es oft auch einen Anteil von Bagatellisierung dessen, was mich traumatisiert hat. Es ist immer auch eine Art drüberwischen und manchmal auch der Anspruch an mich etwas zu abstrahieren, was ich ohne Unterstützung nicht zu abstrahieren schaffe. Dieser Aspekt wurde im Video auch angesprochen und das hat mir ermöglicht, mich als „feststeckend“ zu überlegen, obwohl ich kein „Kind im Trauma“ bin. Kein_e „Jugendliche_r im Körper eines Erwachsenen“. Kein „von Täter_innen produzierter Anteil, der nicht wissen darf, dass alles vorbei ist“ oder jemand aus irgendeiner anderen Kategorie, die immer wieder benannt wird, um traumareaktives oder -antizipatives Verhalten zu rahmen.
Ich bin ein von schlechter Traumatherapie gemachter Anteil, der in Traumatherapie ist. Für mich kommt niemand aus dem System und betüddelt mich mit Gegenwartszucker, da bin nur ich. Und meine Therapeutin.

Ich spüre vor allem Druck, ihr doch endlich zu vertrauen. Druck, doch endlich zu glauben, dass heute alles anders ist, obwohl sich außer die Repräsentation (nämlich die Person, die therapeutisch mit mir arbeitet) überhaupt gar nichts von dem verändert hat, was mich damals in diese Lage brachte. Nichts und niemand außer mir schützt mich seit 20 Jahren davor wieder für Jahre in einer Psychiatrie eingesperrt zu sein, weil mein Inneres für zu desorientiert, desinformiert, w.irr, krank gehalten wird, um so gelassen zu werden wie es ist.
Und niemals steht das als Frage im Raum. Ob sie tatsächlich desorientiert sind oder sich anders orientieren als erwartet. Ob ich sie vielleicht erstmal kennen.lernen darf, bevor ich irgendwas an ihnen mache oder ihnen irgendwas einrede, was ich in seiner Bedeutung und Auswirkung für sie überhaupt nicht einschätzen kann. Geschweige denn, ob die das überhaupt wollen.

Ich kann sehen, dass mein Misstrauen alt ist. Ich kann sehen, dass es im Hinblick auf das Verhalten meiner Therapeutin nur ein Mal berechtigt war. Aber wie da raus, wenn die Gegenwart des Heute, der Gegenwart von damals so ähnelt? Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der Ver.rückte einfach sein dürfen. Wo Zwangseinweisung und -behandlung als (traumatisierende) Gewaltverbrechen verstanden werden. Ich habe keinen Grund, keine Angst zu haben. Keine Sicherheiten, die mir nicht genommen werden können.
Ich treffe hier keine aktive Entscheidung gegen die Gegenwart oder die Realität.
Es ist die Gegenwart, die Realität, die mich an diesem einen Punkt „stuck in time“ hält.

alle sind immer genug

Es berührte mich mit Verspätung und unerwartet. Unerwartet, weil ich dachte, schon alles erfasst, verstanden und ins Außen gebracht zu haben. Aber vielleicht auch nicht? Ich kann mich nicht darauf verlassen und das ist ein Trigger. So offensichtlich wie ein 500 Kilo-Findling auf englischem Rasen. Jetzt.

*

Ich bin sehr froh darum, mit meiner Therapeutin sprechen zu können und einen Raum zu haben, in dem ich von Dingen befreit bin, wie „DIE Wahrheit“, „den Leuten“ oder „DER Normalität“. Ich vergesse manchmal, dass das nicht bedeutet, auch einen Raum zu haben, in dem ich nicht ganz genau darauf achten muss, was wie verstanden wird. In dem ich nicht einfach annehmen kann, dass ich in allen Selbstzuständen schon richtig verstanden werde. Ohne nochmal zu prüfen. Nochmal zu fragen. Und dann nochmal, weil es einfach nicht so einfach ist, sondern viel, komplex, alles.

Manchmal denke ich, dass sie mir in allem voraus ist, weil sie viel schneller als ich versteht oder einfach weiß?, welche Gefühle mit Geteiltem einhergehen. Dann aber gibt es diese Momente, in denen ich merke: Das sind oft Annahmen. Annahmen, die ebenfalls oft passen und wichtig sind und eigentlich ist alles gut damit, aber … es sind Glückstreffer. Glück für mich, weil ich so über die Therapeutin in Kontakt mit mir komme, aber sollte das nicht mehr sein?
Vielleicht nicht. Ich habe für mein Buch so viele Studien zur Kommunikation zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen gelesen, dass ich fast sagen würde: Jo, das ist typisch. Der Großteil der nicht-autistischen Kommunikation fußt auf routiniert getroffenen Annahmen über mehr oder weniger diffuse Reize. Glück ist darin nur, dass es mehr nicht-autistische als autistische Menschen gibt, die miteinander kommunizieren. So fällt es nicht auf. Und wenn doch, kann es jedem passieren. Nicht schlimm. Bis sich herausstellt, dass man (sich) als nicht-autistischer Mensch mit dem autistischen Gegenüber einfach sehr sehr oft nicht (richtig) versteht. Dann wirds anstrengend. Oft zu anstrengend.

Da ist die Gefahr von routinemäßigem Erfolg. Die Gewohnheit, immer richtigzuliegen. Das Sicherheitsgefühl. Die Überzeugung: „Ich weiß schon Bescheid, hier Checkbox 1 bis 5 passt, es kann nur Tor 3 sein, ein Zonk ist nicht dahinter zu erwarten.“ Aber dann ist da einer. Und es ist nicht einfach nur ein Irrtum oder ein Missverständnis, das man einfach ausräumen kann, indem man etwas auf andere Art formuliert oder strukturiert, sondern etwas, das aufzeigt, dass Checkbox 1, 3 und 4 doch nicht passen. Dass es nicht nur um ein Missverständnis geht, sondern um vier.
Ich weiß nicht, wie das für meine Therapeutin ist. Ich hoffe, dass sie Umgänge damit gefunden hat, die sie nicht entmutigen, frustrieren oder an sich selbst anzweifeln lassen. Hoffe einfach ins Tiefblaue hinein, dass sie nicht glaubt, ich könne ihr (ableistisch-) eigentlich besser helfen zu verstehen oder „in Wahrheit“ ja doch alles einfach aufklären.
Das ist nämlich meine Angst. Dass sie meine Fähigkeiten zur Auflösung ihrer Frustration oder Anstrengung in solchen Missverständnissen braucht, um dranzubleiben, aber ich kann sie nicht geben, weil ich wirklich und echt und tatsächlich – like profoundly, bottomline of all – nicht kann. Weder als Hannah, erwachsen, alltagsfähig und voller Bemühen um funktionierende Kommunikation mit dem Außen – noch in kindlichen oder jugendlichen Selbstzuständen, die weder erwachsen, noch in meinem Alltag problemlos fähig sind und in der Regel mehr oder weniger verzweifelt, frustriert, gekränkt, hoffnungslos, ohnmächtig, hilflos, überanstrengt vor den Herausforderungen der Kommunikation mit dem Außen stehen.

In den letzten Monaten waren wir so gut in der Arbeit zusammen. Und jetzt ist da wieder so eine Schleife. Eine etwa 30 Jahre alte in mir und eine, die ich mir als nachhaltig für immer aufgelöste und nie wieder auftauchend gewünscht hatte, in unserem Gespräch. Und vor beidem stehe ich mit so wenig. Kann ich so ganz offenkundig wenig tun, dass es möglicherweise nichts ist.
Ich könnte alles verlieren, denke ich. Alles könnte kaputtgehen. Es hängt alles von mir ab und ich versage. Ich bin schuld. Ich habe es ausgelöst, ohne es auflösen zu können. Wie unbedacht, unvorsichtig, dumm kann man sein. Ich habe nicht anders verdient, als dass alles kaputtgeht. Ich habe nicht genug getan. War nicht eindeutig, nicht eindeutlich genug. Bin einfach nicht genug. Das ist die nächste Schleife. Meine schöne Coping-Strategie aus autopoietischem Selbsthass, um bloß nicht zu viel Raum für die Möglichkeit entstehen zu lassen, dass es vielleicht natürlich, logisch, einfach so ist, dass man dann nicht viel tun kann. Oder auch nichts.

Neulich habe ich meinen ersten Wildunfall mit dem Auto gehabt. Ich habe einen Sperling angefahren. Sah ihn im Rückspiegel noch auf der Fahrbahn wild flattern, doch als ich umgekehrt war, hatte ein anderes Auto ihn schon totgefahren. Tagelang hatte ich das Bedürfnis, nochmal in die Situation zu können. Vor ihm abgebremst zu haben, sofort angehalten zu haben. Ich hätte ihn hochnehmen können – mich hätte das andere Auto nicht überfahren. Ich hätte ihn retten können, konnte aber nicht. Ich konnte in dem Moment noch nicht und ich kann jetzt nicht mehr. Es ist passiert und für immer so wie es war. Schlimm, traurig, tödlich, unbeabsichtigt.

Miss- und Unverständnisse erlebe ich nicht so selten wie Wildunfälle, aber ihre Wirkung in Bezug auf meine Ohnmachtsgefühle sind sich sehr ähnlich, nämlich traumanah. Ich denke mich darin automatisch ganz allein. Allein verantwortlich, allein betroffen, allein gelassen. Obwohl das nur in Bezug auf die traumatisierende Situation stimmt.
Ich kann durchaus sehen, dass ich nicht alleinverantwortlich für die Kommunikation in der Therapie bin. Dass ich schon getan hab, was ich konnte, weil ich mehr nicht kann. Ich weiß, dass es nicht meine Aufgabe als Patientin ist, passend für die Therapeutin oder das Therapiekonzept zu sein. Aber die Konsequenz dieses Wissens ist, dass ich etwas von meiner Therapeutin erwarten könnte. Und das macht mir Angst. Wieder irgendwas Traumanahes. Die nächste Kaskade, die mich erniedrigt, allein, weil da die Gefahr besteht eine Möglichkeit ist, dass unser Kontakt nicht nur für mich mit Anstrengung, Arbeit, dem Stoßen an Grenzen des Könnens verbunden ist, sondern auch für sie. Ich sie also nicht geschützt, nicht bewahrt, nicht verschont habe zu empfinden, was mich so oft im Leben schon gequält hat. Als wäre das etwas, das ich könnte. Das irgendwer könnte.
Kurz bin ich in dem Gedanken, dass der Kontakt mit mir einfach immer schwer ist. Immer anstrengend und viel. Wie unfassbar leid mir tut, dass es mich überhaupt noch gibt, obwohl das doch niemand wollen kann. Niemand kann doch wollen, dass so eine Belastung weiter besteht. Ich merke, wie es an mir zieht, das zu beenden. Aus dem Kontakt zu gehen, die Therapie zu beenden, meine Campingausstattung zusammenzupacken und wegzugehen. Fernwandern. Raus, weg, vielleicht plumpse ich unterwegs in eine Gletscherspalte oder werde von einem Problembären gegessen. Mutter Erde knows best how to manage Ballastexistenzen, darum brauche ich mich dann nicht mehr kümmern.

Da ist sie also. Die Gewalt, die ich mir selbst antue, um meine Gefühle der Trennung kongruent zur Situation zu machen. Gewalt kann das einfach so gut. Trennen, spalten, dissoziieren. Das funktioniert so zuverlässig.
Aber das ist nicht, was ich will. Für kurz war es jetzt aber vielleicht wichtig das zu glauben. Um es zu wissen.

*

Vielleicht muss man den Trigger manchmal ganz durchfühlen. Bis zum Schluss durchmachen – so weit, bis man wirklich kurz davor ist, die Koffer zu packen oder sich das Leben zu nehmen, um leichter an den Punkt zu kommen, an dem man sich fragt, was man eigentlich wollte. Ob man das wollte – getrennt sein von allen und allem – oder doch etwas anderes. Was man sich (noch) nicht zu wünschen traut, erlaubt oder zu wünschen aushalten kann. Oder, was (möglicherweise nur jetzt gerade in diesem Moment) einfach noch nicht funktioniert. Oder insgesamt unmöglich ist, aber nicht unersetzbar.

Ich wünsche mir, dass meine Therapeutin mit mir im Kontakt ist. Nicht mit Ideen von mir, die sie sich macht, weil sie Annahmen folgt, die sich aus Begriffen entwickeln, die wir unterschiedlich mit Bedeutung füllen. Wenn wir das hinkriegen (und wir haben das schon hingekriegt), dann fühle ich mich verbunden mit ihr. Nicht allein. Nicht getrennt. Sehr eindeutlich anders als traumanah. Das will ich. Das will ich nicht kaputtmachen, nicht verlieren. Das würde niemand verlieren wollen. Niemand hätte es verdient, das zu verlieren. Egal, wie viel oder wenig sie_r dafür tun kann. Alle sind immer genug für Kontakt, Beziehung, Verbindung.
Alle sind immer genug.

Fundstücke #83

Gespürt habe ich es schon am Mittwoch bei der Blutspende. Aber der übliche Huch-der-Arm-ist-voller-Narben-Sozialtanz hatte mich abgelenkt. Nun steige ich durch die Wildpflanzen vor unserem Haus und spüre den Schwindel wie Fahrtwind. Ich konzentriere mich auf mein Ziel. Freie Fläche für das vom Partner geschenkte Gewächshaus schaffen. Nächste Woche kommen Gemögte zu Besuch und dann bauen wir es auf. Bei dem Gedanken daran steigen kleine weiche Bläschen in mir auf. Das wird schön.

Also weiter. Ich greife nach den verblühten Pflanzen, ziehe sie aus dem trockenen Sandboden und schüttle sie vorsichtig aus. Entdecke Insekten, spüre F. wie einen Klumpen durch meine Adern wandern als sie_r Fotos macht und weiß nicht, ob ich mich übergeben muss oder gleich ohnmächtig werde, als ich aufstehe, um die Pflanze in die Schubkarre zu legen. Dann kommt der Menstruationsschmerz im Unterkörper und der Flashback im Oberkörper als real in meinem Bewusstsein an.

Ich bin verschwitzt, meine Füße stecken unbeweglich im letzten klassischen Schuhpaar, das ich habe. Es ist schwül, immer wieder kommen Nachbar_innen, die wir nicht kennen, mit ihren Hunden an uns vorbei. Schauen mich an, schauen weg. Gehen weiter. Ich denke mich flackernd zwischen Hier und Woanders, beobachte mich weiter nach Pflanzen greifend. Wieder stehe ich auf, wieder erfasst mich der Schwindel, diesmal wanke ich nicht. „Rein. Hoch. Ausziehen. Waschen. Abtrocknen. Anziehen. Wassertrinken. Hinsetzen. Pause. 10 Minuten“. Ich schlage die Worte zu Etappen des Handelns in den Treibsand meines Fühlens. Arbeite sie ab und merke wie sich an der inneren Gegenbewegung andere formen. R. auf jeden Fall, aber auch K. und W. „Klar“, denke ich, „alle, die Angst davor haben zu fallen, aus Angst, sie würden nicht wieder aufstehen (und abwehren) können.“

Das Wasserglas in der Hand betrachte ich die geschaffte Arbeit von oben. Es ist nicht mehr viel. Ich kann es noch vor dem Besuch schaffen. Und wenn nicht, dann muss der Aufbau etwas warten. In meinem Kopf entwickeln sich alternative Pläne, etwas Entspannung, in meiner Hand finde ich eine Schmerztablette.

Als die Hunde den Partner aus dem Bett genervt haben, stehe ich im Tomatenurwald. Es schmerzt weniger, der Schwindel macht mir keine Angst mehr. Später kann ich mich sogar hinlegen, ohne eine Erinnerungsmine auszulösen. Noch später anerkennen, dass ich mich gerade richtig gut schlage. Und noch später begreifen, woran ich mich erinnere.

Zeitsplitterbomben

„Erinnerungen sind wie Zeitbomben“ – ein Zitat eines Zitates in der Podcastserie „Vor aller Augen“ der Süddeutschen Zeitung. Renate Bühn spricht über ihre Erfahrungen, es ist die 5. Folge. Endlich spricht ein Opfer und rückt die Taten und Täter_innen, die Ermittlungen und Strafprozesse aus dem Fokus.
Ich sitze am Bahnhof. Die Sonne scheint, hinter mir liegt eine Therapiestunde, ich fühle mich wie ein Zeitsplitterbombenopfer. Übersät, durchdrungen, übriggeblieben.

Am Ende war es darum gegangen, dass eigentlich immer das Gleiche passiert ist. Eigentlich wurde immer jemand verletzt und das wars. Ganz abstrakt ist das alles, was passiert ist. Eine Sache, ganz kompakt. Also eigentlich … nichts.
Die Haare auf meinen Unterarmen zittern im Wind wie die Halme des verbrannten Grases überall. Im Podcast sprach man über ungeahnte Ausmaße, über Materialmassen, die nur mit erheblichem Aufwand und persönlichem Einsatz händelbar seien, ich spreche mit mir selbst darüber, wie erbärmlich meine Erleichterung über den Gedanken ist, dass sich heute vermutlich kaum noch analoges Material im Umlauf befindet. „Terabyte von Material“, immer das gleiche und gleiche und gleiche, immer wurde jemand verletzt und das wars.

„Terabyte Nichts, oder was?“ Eine schwere Stirn schiebt sich in meine, zerbröselt meinen Fluchtweg in die Vermeidung.
Nein, nicht Nichts. Sowieso nicht. Aber vielleicht haben wir ein Splitter-, ein Fragment-, ein Müsliproblem? Ich fühle mich merkwürdig verbunden mit den Polizist_innen und ihren Helfer_innen in der Datenauswertung. Terabyte Splittermaterial von Gewalt, die über Stunden, Tage, Monate, Jahre passiert ist, landet Festplatte für Festplatte auf ihrem Arbeitsplatz. Ein Ding, eine Zeitsplitterbombe aus dem Leben eines Opfers, die beschriftet, gesichtet, sortiert, und archiviert wird; von mehreren Beamt_innen, die das Opfer nie kennenlernen werden, nie anders mit ihm zu tun haben werden, als in größter Not, schwerster Pein. Opfern, die für die Sortage mit dem Splittermaterial in ihnen drin vielleicht zur Psychotherapie gehen. Wenn sie einen Platz bekommen. Und dort sortieren dürfen. Können. 50 Minuten pro Woche, bis die Krankenkasse nicht mehr zahlt.

„Wir haben Terabyte Material in uns drin“. Das denkt R., ich fühle es. Wir spüren einander beim Trinken, trennen uns wieder, als eine Lautsprecherdurchsage durch die Kopfhörer schießt. Es ist immer das gleiche und gleiche und gleiche. Und es ist immer wieder etwas. Etwas noch mehr. Etwas wieder schlimmes. Etwas ((schon) (wieder)) unaushaltbares. Etwas anderes. Etwas mit jemand anderem und deshalb neu, anders, wieder gleich und gleich und gleich.
Und wir haben nur uns, das zu sichten. Zu sortieren. Nur unser Gehirn als Archiv zur Verfügung. Und die Splitter sind überall. Nicht alle kann ich fühlen. Von vielen weiß ich nicht einmal. „Und die meisten lässt du bei uns. Als wenn wir deine Polizei wärn, aber in Wahrheit sind wir …“
Sie sagts nicht. Denkts auch nicht. Kanns genauso wenig aushalten wie ich. Der Zug fährt ein, wir schalten um auf Musik.
calm like a bomb“.

die letzte Etappe

Ich saß in Emden. Gerade angekommen, mariniert in Sonnencreme-Rest und eingeschweißt von 42 Kilometern auf dem Fahrrad. Am Morgen hatte ich den Rücken eines verirrten Schafkindes berührt, nun zupfte ich mein T-Shirt vom Rücken. Die Sonne stand hoch, die Bedeutung dessen, was der Fahrradhandwerker zum Raspeln meiner Kette sagte, sickerte langsam ein.

Meine Radtour würde nun also ihr Ende finden. Noch die gut 23 Kilometer bis Greetsiel, dann ist Schluss. Kette verschlissen, Ritzel hin, am Montag in die Werkstatt.
Ich kaufte mir ein Eis, ein anderes als sonst, damit die außerordentliche Andersheit dessen, was Urlaub ist, nicht von meiner Routine beeinflusst wird. Denn das soll es ja sein: Ein Bruch, ein Anders, ein Raus aus dem Wieimmer. Die geplante Überstrapazierung der Kapazitäten zwecks ultimativer Energiereservenentleerung, mit dem Ziel zu schauen, was sie aktuell effektiv wieder auflädt und was nicht. Ich kann mir so etwas nur im Urlaub erlauben – im normalen Alltag ist so eine Versuchsanordnung, so eine Forschungsstrecke kaum möglich. Viel zu viel Ablenkung, viel zu viel Anpassungsdruck.

Mit geringer Energiereserve steigt meine Triggerbarkeit, es sinkt aber auch die Anzahl der Fucks, die ich auf meine Anpassung gebe, um damit umzugehen. So bewegte ich die Kiwischeibe in meinem Mund herum und spuckte sie aus, als mir das Knirschen der Kernchen im Mund zu unangenehm wurde. Eine Person in luftiger Sommerkleidung schaute mich an. Neutral vielleicht. Oder nicht? Sie wandte den Blick ab, ließ mich ohne weiteren Hinweis auf ihre Gedanken und Gefühle zurück. Ich hob das Eis an meinen Mund und erinnerte mich an meine Mutter. Eis essen und Kaffee trinken gehen. In der Innenstadt. Ein Mal im Sommer, ein Mal im Herbst oder Winter. Beim zweiten Mal definitiv nach der offiziellen Anerkennung meiner Klatsche. Sie hatte mir Fragen gestellt, meine Antworten haben sie fast zum Weinen gebracht. Ich war ehrlich, sie überfordert.

So wie ich mich gerade fühlte, hat sie sich vielleicht damals gefühlt. Was geht in dir vor?
Und ich, damals wie heute, fast ertrinkend und erblindet im Geklapper von Tassen auf Tellern, Gesprächen und dem Glockenspiel direkt über uns. Bemüht, aber unzureichend. Bindungswillig, aber unfähig. Das Eis lecker, der Kaffee gut, die Sonne schön, die Zeit mit einem Elter allein, ganz wunderbar – und zerreißend schlimm. Weil die Kluft einfach da ist. Unüberwindlich. Die Dissoziation der Gewalt, das Alter, die Er_Lebensrealitäten. Meine Welt war noch so wortlos und ihre Versuche nach mir zu greifen, mich zu halten vielleicht, so vergeblich. Nicht weil ich ein bockiger Teenie war, nicht, weil sie schon allein zum Selbstschutz gar nicht so richtig wirklich mit mir verbunden sein konnte, sondern einfach nur…
weil da etwas fehlte.
Nicht Liebe. Nicht Zugehörigkeit. Und auch nicht der Wille zum Miteinander.
Sondern einfach … dieser eine Klick.
Vielleicht der letzte Dreh, das letzte kleine Ruckeln oder Drücken, das Zahnräder verbindet, Puzzle zusammenfügt, B auf A folgen lässt.
Kurz lasse ich mich in den Lärm fallen. Löse mich auf und nehme der Erinnerung seinen Druck.

Satt, eingelitscht und nachgeweisst wie eine griechische Häuserfassade sitze ich wieder im Sattel. Meine Elternobligatorik durchgehend vergebe ich mir diesen Routinendurchbruch. Es gibt keine Alternative zu: „Es ist wie es ist.“ und auch keine zu: „Es gibt nichts, was ich tun kann, damit meine Eltern und ich so verbunden sind, wie ich es mir wünsche.“
Aber es gibt eine Alternativroute nach Greetsiel.
Und die puckle ich dann auch lang.

Fundstücke #82

Das Wasser platscht mir auf den Rücken, seine Echos prallen von den Wänden auf mich zurück. Ich habe Schmerzen, ringe darum, nicht zu vergessen, wie Duschen geht. Die Seife, der Schaum, der Geruch, ein Weh im Unterleib, ich finde keinen Spalt für mich zwischen all dem. Ein Tropfen Blut landet zwischen meinen Füßen, ich bin allein in der Schwimmhallendusche. In der Dusche zu Hause vor 30 Jahren, in der Dusche zu Hause vor 25 Jahren, in der Dusche zu Hause vor 20 Jahren.

Ich bin zusammen.gerissen. Ziehe durch. Halte mich an meine erwachsene Schale und ziehe weiter. In der Umkleide ist ein Spiegel, ich sehe merkwürdig aus. Ich könnte heulen, tus aber nicht. Irgendwie fehlt mir der Grund. Und als er mir einfällt, bin ich zu Hause. Grabe Tomaten und Himbeeren ein. Betrachte das Unkraut, den Himmel, bin so weit weg, so allein, so verwirrt und traurig über etwas, das mir selber nur klar ist, weil ich weiß, dass ich sexualisiert misshandelt wurde und diese Gefühle etwas damit zu tun haben.

Ich prozessiere und weiß das. Es hat etwas mit Puzzlestücken zu tun. Hier eine Komponente, da eine. Hier das Kinderinnen dazu. Dort sein Körperempfinden. Da meine Realität. Hier, was als vergangene Realität begriffen werden muss. Verstehen, erinnern, fühlen, fern von Worten wie eh und je. Wann hört das auf, was kann ich tun, um es zu beschleunigen, das ist Kaffeesatzleserei.
Traumaverarbeitung ist nicht das gleiche wie die Realisation eines Traumas oder die Erkenntnis, was die Gegenwart ist.
Ich mache meinen Sport, esse halbwegs okay, versuche nicht weiter wegzuschieben, was sich mir aufdrängt.

Auf eine merkwürdig schmerzliche, ängstigend nahe Art hilft es mir, dass ich die Kinderinnens dazu mehr spüre. Es ist nicht länger das zusammenhanglose „Könnte was DAMIT zu tun haben, könnte aber auch zerkrankter Hirnfurz sein, kann man ja nie wissen – Bliblablö“, das mir weh tut, mich klein, eklig, zerstört, schwach, erbärmlich fühlen lässt. Es ist alles. Das Erinnern an einen Erwachsenen, der auf dem Arm seines Opfers liegt und darüber zu einem Teil von ihm wird. Der Gedanke, wie er mit seiner Tat Grenzen überging, um die es weder Wissen noch Selbstbezug gab. Die bedingungslose Bereitwilligkeit des Kindes, die mit Willen vermutlich gar nicht so viel zu tun hat. Die Traurigkeit, die mich so plötzlich zum Weinen bringt, wie der Selbsthass, der mich wieder davon wegzerrt.

Es bleibt das Greifen nach Sicherheiten, nach Trost, nach Beruhigung und Heilung, nach dem eigenen Selbst in all dem. Grundbedürfnisse, die sich nicht unterscheiden von denen, die ich heute habe. Nicht obwohl ich heute erwachsen bin, sondern weil.

Weil ich lebe, weil ich überlebt habe und das Leben eines Menschen wenig mehr als die beständige Sicherung dessen ist. Sein Leben lang. Auch sein Kinderleben lang.

Grenzen

Die Sonne geht gerade auf, Wolken schleichen um sie herum, am Horizont steht eine Gruppe Wild.
Ich fahre zur Schwimmhalle, blinzle mir Fetzen aus den Augen. Der Impuls ist, sich zu verkriechen. Einrollen, verstecken, dunkel, still, nichts und niemand. Ich spüre ihn genauso deutlich wie den monolithen Leuchtturm in mir, der mich in die Selbstfürsorge leitet.

Das Wasser ist kühl, im Becken schwimmen außer mir nur drei andere Menschen. Das Morgenlicht wird zu hellen Rhomben, Drei- und Vielmehrecken auf der Oberfläche. Ich schalte meine Augen aus, um nicht die Orientierung zu verlieren.
Zwei Wochen war die Schwimmhalle geschlossen, weil so viele Mitarbeiter_innen krank gewesen sind. Ich liebe, wie anstrengend es nun wieder ist, mich vorwärtszubewegen. Meine Glieder schreien mich an, ich fühle mich ihnen näher als vorher. Die dumpfen Erinnerungen auf meiner Haut werden zu Schatten und verlieren ihre Macht über mich. Und endlich kann ich es loslassen. Das drängende Gefühl, mich um etwas kümmern zu müssen, was seit mehr als 25 Jahren nicht mehr bekümmerbar ist. Das Gefühl des Versagens, das damit verbunden ist. Das Gefühl der Überforderung vor einem Anspruch, der vielleicht nur von mir ausgeht, aber irgendwie doch nicht so richtig vom Außen zu lösen. Die Furcht vor Gesprächen, die dem Geständnis der Nichtversorgung von Kinderinnens folgen könnten.

Meine körperliche Anstrengung gleicht meiner psychischen. Ich fühle mich rund in mir und kann leichter mit der Eckigkeit der Welt umgehen. Ihre scharfen Kanten müssen im richtigen Winkel auf mich treffen, um nicht an mir abzurutschen, ich muss nur meinen Sicherheitsabstand zu ihr bewahren. Grenzen setzen, vielleicht.

In Gedanken suche ich meine Körpergrenzen ab und stolpere in die Geschichte meiner Narben. Ja, auch das war Kongruenz, Metapher, reale Invasion. Selbstverletzung, Angriff, Zugriff. Aus- und Nutzung. Leute, die Kinder schneiden, Kinder, die sich schneiden. Wenn man das übereinander legt, gibt es nicht nur Gegensatz und Ausschluss, sondern auch Gemeinsamkeit. Kongruenz. Rundsein. Identität.

Auf dem Rückweg scheint die Sonne. Nicht mehr lange, dann können wir wieder mit dem Fahrrad zur Schwimmhalle fahren. Ein Kinderinnen schickt mir seine Freude über den Gedanken durch ein Fuchteln. Manche Grenzöffnung ist okay.

unverzeihlich und vorbei

Wir haben uns lange nicht mehr als Körper erlebt. Meine Kolleg_innen und ich. Wir trafen uns zur Besprechung aller Dinge und zur Befühlung aller Prozesse, die es nicht von Monitor zu Monitor schaffen.
Hohes Risiko für alle. Auf allen Ebenen. Und auch – das Leben. Das es nicht ohne Risiko gibt. In dem man nur tun kann, was man tun kann.

Ich moderiere, führe durch die Methode, schreibe mit, bin stolz und dankbar, die Traumaarbeit am Tag vorher so gut ziehen lassen zu können. Das war so lange nicht möglich. So lange so viel belastender als jetzt. Was ich jetzt fühle und denke, das hat alles mit meinen Kolleg_innen zu tun. Und damit, dass ich sie am Herzen trage. Sie sind mir wichtig, ich mag sie, wir gehören zueinander.
Wir erwarten einen großen Prozess in diesem Jahr, ich erwarte meine Überforderung. Wir planen und überlegen zusammen, ich behalte meine Befürchtung für mich, denn mehr als diffuse Furcht ist es noch nicht.

Auf dem Weg zum Bett für die Nacht mischt sich das Dröhnen der Zugklimaanlage mit dem Erinnern an das Dröhnen meines eigenen Blutes im Ohr. Ich schütte Musik hinzu wie frisches Gemüse in eine Tütensuppe. Tippe mir den Rhythmus auf die Grenze zwischen der Welt und mir. Denke nichts, fühle nichts. Bin dankbar mir sicher zu sein, dass ich dennoch da bin. Ich bin nicht meine Gedanken, ich bin nicht meine Gefühle. Ich bringe sie hervor – wenn ich es kann, wenn ich es will, wenn ich es muss, kann, darf, soll. Sie brauchen mich, ich bin auch ohne sie. Es ist okay.

K. schreibt mir, dass es eine Demonstration von Querdenkern in der Innenstadt gibt. Ich plane Umwege ein, obwohl ich kaum die Augen aufhalten kann. Es regnet, ist kalt. Wer es ernst meint, lässt sich davon nicht abhalten und hat deshalb gerade jetzt die Gelegenheit Menschen wie mich echtem Psychoterror auszusetzen. Denn mir ist wirklich unbegreiflich, wie ernst man solchen Unsinn wie Impfchips und Freiheitsbedrohung durch Rücksicht auf chronisch kranke, behinderte, sehr junge und sehr alte Menschen meinen kann. Mir macht das Angst. Zusätzlich zur Angst vor Ansteckung und damit der Angst meinen Partner durch Ansteckung zu töten. Zusätzlich zur Angst, eine Ansteckung zu überleben und dann mit Longcovid umgehen zu müssen. Zusätzlich zur Angst, die sich aus der Erfahrung ergibt, eine behinderte Person in dieser Gesellschaft zu sein.
Schon das Wissen, dass ihre Demos genehmigt werden, macht mir Angst. Denn mit freier Meinung hat das alles nichts zu tun, sondern mit der Idee, dass Menschenverachtung und Hass etwas mit Meinung zu tun hätte. Beziehungsweise, dass sich menschenfeindliche und hasstragende Meinungen aus irgendetwas anderem als Menschenfeindlichkeit und Hass entwickeln.
Es ist struktureller Betrug am Recht der Allgemeinheit sich frei und sicher zu fühlen, wenn man Querdenkern die Raumnahme erlaubt. Und es ist unverzeihlich.

Die Altstadt umrundet komme ich eine Stunde später als nötig an. Denke nur noch in Fetzen, esse etwas, lasse eine Serie in mich hineintropfen, falle in einen Schlaf, aus dem ich wegen Luftnot wieder herausstürze. Meine Allergie. Kurz nach 3. Draußen rauscht es, drinnen ist es still. Ich wackle in meinem Körper herum wie ein Steinchen in einer Blechbüchse. Hinter meinen Gedanken ans Trinken, meine Tablette, mein Notfallspray und der Planung meiner Lebenserhaltung rauscht ein Traumawiedererleben entlang. Dazwischen ist ein Spalt. Eine Luftbarriere. Ich weiß nicht, wie ich sie herstelle, aber sie ist da und ich halte mich auf meiner Seite, ohne zu wissen wie eigentlich.
Ich atme und trinke, huste und schleime. Halte die Arme über meinem Kopf, schaue auf die Uhr, konzentriere mich auf die Wirkung meiner Maßnahmen.
Die Bilder rauschen in meinen Ohren. Ich sehe Unverzeihliches. Fühle Unverzeihliches. Denke Unverzeihliches. 20 Minuten später ist es vorbei.

12 Stunden danach liege ich auf der Couch unter der schweren Decke. Ich bin zu Hause. Bubi liegt neben mir, der Partner spielt etwas vor, NakNak* hat uns im Blick. Ich verkörpere mich, ES ist vorbei.
Unverzeihlich und vorbei.