Eine neue Versorgungsrealität erschaffen – es liegt bei uns!

Und wieder bin ich dabei, wie jemand mit DIS einen Therapieplatz sucht. Wie jemand mit 40 Psychotherapeut_innen telefoniert und 40 Mal hört: „Nein. Kein Platz.“ und oftmals auch: „DIS kann ich nicht, will ich nicht, mach ich nicht.“
Ich weiß, wie die Person jetzt da sitzt. Das Telefon in der Hand und voll mit dem Gefühl der Ablehnung, das unweigerlich und trotz aller erwachsenen Kompetenz, zu kindlicher Not führt. Wie die gegenwärtige Angewiesenheit auf Unterstützung in das Wiedererleben vergangener Ohnmacht hineinzieht und sich der Kampf um das eigene Leben verstetigt.

Und ich weiß, wie die Angerufenen da sitzen. Das Telefon in der Hand und mit Grenzen konfrontiert, die nicht noch weiter strapaziert werden dürfen, sollen, können. Vielleicht bemüht um Abgrenzung zu der Verantwortung, die mit jeder Anfrage herangetragen wird, weil es keinen anderen Punkt zum Hintragen gibt. Vielleicht irgendwann voll ohnmächtiger Wut auf Strukturen ohne verantwortlichen Menschen. Vielleicht auch ohne jedes Gefühl. Weil man sich an alles gewöhnen kann. Auch Unrecht, Not und Leid, dem keine Abhilfe geschaffen werden kann.

2015 haben wir von der Initiative Phoenix die Versorgungsrealität komplex traumatisierter Menschen in einer Studie (PDF) erfragt.
Aktuell fragen wir wieder. Denn es gab ja eine Reform. Dinge wurden verändert. Aber hat das geholfen? Wir werden sehen.
Was sicher ist: Die Versorgung von Menschen in psychischer Not ganz allgemein ist nicht gewährleistet.
Genauso wenig, wie die Versorgung von kranken Menschen gewährleistet ist. Die Medizin brennt, nachdem die Pflege verbrannt wurde.
Und alle wissen das.

In diesem Jahr gab es so viele kleine und große Aufrufe, etwas für psychisch leidende Menschen zu verändern, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Kampagne der deutschen Depressionsliga, #22WochenWarten, war mit 110.522 Unterschriften auf change.org eine der erfolgreichsten. Erfolgreich, weil sie so viel Reichweite hatte – nicht, weil sie etwa mehr erreicht hätte als jede Aktion vor ihr.
Als Aktivist_in frage ich: „Wie haben sie das geschafft?“ Und bin versucht anzunehmen, dass es daran liegt, dass Depressionen leichter sind als (komplexe) Traumafolgestörungen. Weniger stigmatisiert. Leichter zu behandeln. Pille rein, bisschen warten, bisschen Verhaltenstherapie, zur Not ein paar Stromstöße ins Hirn. Am Ende die Erkenntnis: Depressionen kann man überleben. Sehr lange. Sehr produktiv. Und auch sehr aktiv.
Auch aktivistisch.

Aber so einfach ist das nicht. Ist es nie und in diesem Kontext ganz besonders nicht.
Denn die meisten Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen sind depressiv. Ein erheblich großer Anteil in der Kindheit und Jugend sexualisiert misshandelter Menschen bekommt die Depression als erste Diagnose ins Fahrtenbuch ihrer Odyssee um die Rettung des eigenen Lebens. Viele dieser Menschen möchten aber keine Therapie wegen ihrer Depressionen machen. Sie suchen vielleicht einen Platz wegen der Depression – aber sie brauchen sie, weil die komplex traumatisiert sind. Weil sie einen sicheren Raum brauchen, in dem sie sich damit auseinandersetzen (lernen) können. Weil sie Ansprechpersonen brauchen, die einen sicheren Abstand zu ihnen herstellen und halten. Weil sie Sicherheiten brauchen, die ihnen in keinem anderen sozialen Kontext kontinuierlich, professionell fundiert und primär für sie allein angeboten werden. Können. Dürfen. Sollen.

In Deutschland wurde der Bedarf psychotherapeutischer Versorgung zuletzt in den 90er-Jahren … tja … festgelegt. Man könnte aber auch sagen: geschätzt, geraten, zurechtgelegt, angenommen. Denn schon damals war klar, dass man nicht allen Menschen jederzeit und mit jedem Problem gerecht werden würde. Und das hat man hingenommen.
Als behinderte Aktivist_in erkläre ich das mit dem Konzept des Ableismus. Nehme ich an, dass die Idee: „Wer das überleben kann, wird es schon überleben“ stark dabei geholfen hat, diese unzureichend versorgende Struktur zu legitimieren.  Weiß ich, dass Menschen, die nicht(s) (mehr) können, häufig (unbewusst) nicht (mehr) als Menschen gedacht werden, sondern in moderner Manier der weißen Gewalt, als zu verwaltende Masse. „Weiße Gewalt“, damit meine ich das Töten durch Strukturen. Das Morden durch unterlassene Hilfeleistung. Die Folter durch Verwaltungsakte.

Eine Realität, der wir als Gesellschaft nicht genug Rechnung tragen ist, dass am liebsten geholfen wird, wem einem*r am nächsten ist. Am gleichsten. Wir lügen einander darüber an, weil es moralisch falsch ist, so zu handeln. Und wir vermeiden die Auseinandersetzung damit, indem wir Strukturen produzieren, die diese Unmoral an unserer statt durchsetzen. Weil wir denken, wir würden nie brauchen, was andere brauchen. Und schon gar nicht, was DIE brauchen. Die Kranken, die Behinderten, die Anderen.
Und weil wir fürchten, wir würden irgendwann brauchen, was DIE brauchen. Besser irgendwie mangelhafte Strukturen als gar keine, denn auf einander können wir uns ja nicht verlassen. Sollen wir ja auch gar nicht. Müssen wir ja auch gar nicht. Es gibt ja die Möglichkeit, auf professionelle Dienste zurückzugreifen.

Als öffentlich zum Thema DIS, Trauma und Gewalt sprechende Person, werde ich oft gefragt, welche Klinik gut ist. Wie man einen Psychotherapieplatz bekommt. Erlebe oft mit, wie schlimm, schwer, frustrierend, zerstörerisch und auch wie verstörend dieser Prozess ist. Wie elend es Menschen geht, die aus Kliniken kommen, die nicht im Ansatz das eigene Therapiekonzept erfüllen können, weil der Krankenstand hoch oder der Aus- oder Fort- oder Weiterbildungsstand der Behandler_innen und Pfleger_innen zu niedrig ist. Aus Kliniken, in die sie überhaupt nur deshalb gehen mussten, weil sie ambulant keinen Platz bekommen haben. Oder weil die Psychiatrie sie nicht mehr aufnimmt. Ohne Beschluss. Weil niemand sonst sie betreut. Wegen Mangel.
Diese Menschen, die meine Diagnose und in vielen Aspekten auch mein Leben teilen, werden teilweise seit Jahren durch die Mühlen einer Zuständigkeit gedreht, die niemand übernehmen will. Aus meiner Perspektive werden sie gefoltert. Sie sollen aufgeben. Sie sollen sterben. Und können gleichzeitig nichts anderes tun, als sich immer wieder in diese Mühlen zu begeben, wenn sie nicht sterben wollen. Und wer will das schon? Außer nach so einer (erneuten) Folter- und also Gewalterfahrung.

Dies mitzuerleben ist belastend für mich. Manchmal extrem belastend.
Denn die Grenzen, die ich ziehen kann, sind durchsichtig. Ich bin die andere, die versorgte Person. Die das schlechte Gewissen, wegen des Belegens eines Therapieplatzes beiseiteschieben muss und sich in das Versprechen gezwungen hat, etwas mit der durch die Therapie gewonnen Stärke für andere Betroffene in die Welt zu bringen. Etwas mit.zubewegen.
Ich bin die_r Freund_in, die_r durch das viele Wissen um diese Situation, weiß, dass sie_r mit nichts trösten kann. Und manchmal auch will, dass die Untröstlichkeit in dieser Situation als real erkannt wird. Denn es gibt einfach nichts und niemanden, die_r trösten kann, wenn die ganze Welt dein Leiden in Ordnung, weil so normal findet. Niemand sollte darüber jemals getröstet werden können. Niemand. Jemals.

Aktiviert werden sollen sie. Wir. Alle.
Anders machen sollen wir. Raus aus der Blase von Gewaltsicherheiten, rein in die gesamtgesellschaftliche Verantwortungsübernahme. Wer nicht helfen will, muss aufhören, für Hilfebedarf zu sorgen. Das ist die einzige Alternative, die wir haben. Das ist, was wir alle miteinander unabhängig von Strukturen machen können: Verantwortung dafür übernehmen, dass es den Menschen in unserem Leben gut (mit uns) geht. Egal, welche Diagnose sie haben. Egal, wie fähig sie sind. Egal, wie viel wir glauben, davon zu haben.

Die Entscheidung liegt bei uns.
Treffen wir sie!

Wofür

Kleben blieb, dass sie sagte „Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, wofür sie da raus sind“.
Weil es ein wunder Punkt ist. Etwas, das mir lange das Gefühl gab, ich könne meine Situation nicht mit der von Menschen vergleichen, die aus komplett abgeschlossenen Gemeinschaften oder Gruppen ausgestiegen sind.

Ich bin da nicht raus, weil ich einen Vergleich angestellt habe und fand: „Ja, nee, draußen ist schon besser für mich. Da bin ich frei, Freiheit ist cool, ich will coole Freiheit.“ Am Anfang meines Lebens „draußen“ stand keine Möglichkeit mir aufzuzählen, was ich jetzt alles darf und vorher nicht. Ich durfte immer alles tun oder nicht tun. Die Grenzen unter denen viele Aussteiger_innen aus „high controlling groups“ gelitten haben, habe ich gesucht, habe ich verlangt – ziehe ich mir heute in mein Leben um Halt und Orientierung zu haben. Mein Leben im Kontext organisierter Gewalt war nicht die Hölle und hat sich, was den täglichen Energieaufwand, die Zermürbung, die seelenzerquetschende Inkongruenz zwischen mir und dem Rest der Welt betrifft, ehrlich gesagt nur im Framing des Leidens darunter unterschieden. Jedenfalls soweit ich mich daran erinnere.

Viele sprechen von ihrem Ausstieg als eine Art Ausbruch aus einem Kerker – ich habe viele Jahre nur in einem Hundekäfig schlafen können, weil es der Rahmen war, in dem ich überhaupt Entspannung finden konnte. Ruhe im Kopf, Orientierung in meiner Körperlichkeit, Pause vom ständigen Greifen nach Dingen außerhalb von mir, um mein eigenes Ende zu fühlen.
Ich litt nie unter der Todesangst anderer Aussteiger_innen, die sich mit freiem Willen oder freien Entscheidungen eingestellt hat. Mir hat nie jemand verboten frei zu denken oder frei zu wollen – ich wurde immer nur für falsches Handeln, falsches Wollen umgebracht. Das ist ein Unterschied. Und ja, ich sehe, wie perfide das ist. Wie elaboriert bösartig das ist, gerade weil das außerhalb solcher Kontexte auch passiert.

Ich bin nicht für irgendetwas ausgestiegen und bleibe auch nicht für irgendetwas ausgestiegen. Ich bin wegen etwas ausgestiegen und das ist im Moment ein Problem, weil es sich bedroht anfühlt.

Vor einigen Jahren formulierte ich, dass das Leben immer nur sich selbst für sich selbst will. Weil das so ist.
Mir war klar, dass viele Menschen diese Formulierung nicht verstehen würden, weil sie sich selten, manche auch nie, mit solcherlei in sich geschlossenen, sich selbst brauchenden, selbst befriedigenden, selbst erschaffenden Systemen befassen. Dabei ist daran überhaupt nichts geheimnisvoll oder kompliziert zu verstehen – es ist nicht einmal besonders, sondern vielleicht einfach viel zu naheliegend, um es zu bemerken. Oder auch zu sehr im Widerspruch mit der Norm, in der alles Sinn und Zweck über sich selbst hinaus haben muss, um als etwas behandelt zu werden. Ein Menschenleben zum Beispiel. Oder ein Lebensziel.

Ich wusste, dass ich sterben würde, würde ich in diesen Kontexten bleiben. Entweder durch jemanden, die_r sich nicht genug im Griff hat oder durch mich selbst, weil ich mich nicht genug unter Kontrolle hatte, um mein eigenes Nicht_Handeln vorherzusehen oder zu beeinflussen. Und ich wusste, dass ich lebe. Dass das ein eigener Wert ist. Eine eigene Ressource. Dass ich, um zu leben, am Leben sein muss.
Und dass ich diesem Kontext nicht geben können würde, was er von mir braucht, fordert, erzwingt, wenn ich tot bin.

Mein Ausstieg war also nie die totale Abgrenzung von diesen Leuten und dem, was sie tun oder glauben, sondern das einzige Mittel, dass ich noch hatte, um zu tun, was sie von mir wollten. Es war eine täter_innen- eine kontextloyale Entscheidung.
Keine Umarmung meiner individuellen Freiheit. Keine Selbstermächtigung. Keine heroische Selbstrettung. Keine Entscheidung aus einem wundersam erhalten gebliebenem Körnchen Selbstwert. Ich hatte einfach nur Glück, mit meinen Überlegungen zufällig die eine logische Lücke in dem ganzen Gebilde gefunden zu haben und damit keinen Grund anzunehmen, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte.

Ich habe die Intentionen dieser Menschen nie verstanden. Selbst heute, wenn mir außenstehende Menschen erzählen, ich sei so sehr angelogen worden, sie hätten immer nur ihre eigenen Ziele verfolgt – ich verstehe es nicht. Für mich handelten sie logisch im eigenen Bezugsrahmen. Sie haben mich also nie angelogen. Sie wollen eine bessere Welt möglich machen. Das wollen viele andere Menschen mit anderen Mitteln auch tun. Wo ist also die Lüge? – In jedem anderen Bezugsrahmen, außer dem, in dem es passiert ist.
Zu welchem Bezugsrahmen gehöre ich? In welchem Kontext hat mein Leben nur eine Bedeutung für sich selbst? – Bis jetzt nur in meinem eigenen. Und in dem sind die Bezugsrahmen anderer Menschen und Gruppen für mich eher Räume, die ich vereinzelt betreten darf. Mal nur kurz und für den Zeitraum einer Arbeit oder gemeinsamen Tätigkeit – und mal über Jahre hinweg, sodass ich das Gefühl habe, ich gehöre dazu, dürfte Wurzeln schlagen und mich verbinden, obwohl ich weiß, dass Verbindung nicht das gleiche wie Verschmelzung ist.

Und das ist das einzige, das mich heute trägt. Dass ich weiß, dass selbst, wenn wir wieder zurückgehen, um das im Moment praktisch 24/7 in mir hallende Schreien, die Todesangst, die Albträume, dieses fahrig zittrige Greifen nach Halt zu beenden, es nicht bedeuten würde, einen Bezugsrahmen zu betreten, mit dem wir 1 zu 1 verschmelzen würden.

Es wäre alles anders und alles gleich.
Wozu also der Aufwand.

die Klapsen-Gedankenschleife

Es rauscht und knackt in der Leitung, am anderen Ende gibt es Probleme mit Soft- und Hardware. „Hm, in ihrer Gegend kann ich ihnen keinen Termin vermitteln.“ Der Mitarbeiter der zentralen Terminvergabestelle klingt irritiert. In mir zieht sich etwas zusammen. Ich lasse ihn im Umkreis von 50 Kilometern suchen, dort findet er etwas.
Als ich auflege, brennt meine Haut. Mir ist schlecht, ich bin erschöpft. Ob immer noch oder schon wieder kann ich gar nicht so genau sagen. In der Nacht hatte ich einige Stunden damit verbracht herauszufinden, ob ich wirklich ganz aus Schmerz bestehe oder ein Erinnern mich das glauben lässt. Am Morgen hatte ich eine lange Selbstmotivationsphase gebraucht, um daran zu glauben, dass es gut ist, dass es wichtig ist, dass ich genug dafür bin, mich um einen weiteren Termin zu kümmern.
Jetzt sitze ich am Schreibtisch und fühle meine Kopfhörer wie die Berührung einer Person, die mich da erreichen will, wo es am schlimmsten ist. Sehe meine Arbeit, meine Projekte wie Türme, die weit über mich hinausragen, erinnere mich an meine Zukunftswünsche wie an einen Traum, den ich mir nie hätte erlauben dürfen.

Für eine Weile bin ich aus Stein. Mir laufen Tränen eine nach der anderen auf der gleichen Bahn über die Wange ans Kinn, wo sie sich sammeln, um gemeinsam auf meinen Pulli zu fallen. Ich beobachte das, fühle nichts, denke nur daran, was für ein jämmerlicher Zustand das ist. Was für ein erbärmlicher Wurm ich bin. Was für ein ekelhaftes Klischee.
Weiter hinten gibt es einen Streit darüber, was es bedeutet eine_n Therapeut_in zu brauchen, daneben steht die Erinnerung an die Pflegeperson aus der KJP, die mir vor 16 Jahren sagte, dass ich mich schon mal drauf einstellen könne, immer irgendeine Form von Therapie zu brauchen, weil bei mir einfach alles so richtig kaputt wäre.

Vor einigen Monaten habe ich mich so heil gefühlt, dass ich dachte, in ein zwei Jahren fertig zu sein und vielleicht nur noch das Autismuscoaching als Unterstützung zu brauchen. Wir haben über ein Kind nachgedacht, über Heirat, über eine kleine berufliche Selbstständigkeit. Darüber, das Nachwachshaus-Projekt auszuentwickeln, über einen Alltag, in dem meine psychische Beschaffenheit keinen Krankheitswert mehr hat. Jetzt kommt es mir naiv vor. Vermessen. Dumm.
Gesund, normal, ohne Therapiebedarf sind immer nur die anderen. Unbesprochenen Alltag, unbearbeitete Wahrnehmung, das dürfen immer nur die anderen haben. Mir ist das Leben nur dann zuzumuten, wenn jemand mit Fachwissen auch drin ist.

Ich bin in der Klapsen-Gedankenschleife. Getriggert bis unters Dach. Noch zwei drei Kreisel und ich bin suizidal. Kann keinen Sinn mehr sehen, nicht mehr an den Unterschied zwischen „real“ und „wahr“ glauben.
Ich hänge meine Wäsche auf, mache mein Bett, schalte den Wasserkocher ein und beobachte die Bewegungen darin. „Heute ist es anders als früher.“ denke ich und kann keine Entlastung im Gedanken an einen Suizid finden. Da wäre zu viel vorzubereiten, so viele Leute zu verlassen, ohne, dass sie es merken, was mir nie gelingen wird.
Ich rufe bei der Neurologin an. Die Praxis ist zu, ich rufe bei der Therapeutin an, die drückt mich weg. Ich rufe den Begleitermensch an, die Mailbox. Merke wie es hinter mir nickt und sagt: „Siehst?“

„Ich bin überfordert.“ denke ich. „Ich bin überfordert und das ist schon alles. Das passiert. Das ist auch Leben.“ Ich entscheide mich für ein Frühstück, verschließe die Stelle im Auge, aus der die Tränen kommen. Als ich dabei bin zusammenzubrechen, weil mir meine Handlung in Einzelteile und Bedeutungslosigkeit zerfällt, klingelt das Handy.
Die Therapeutin ist dran.

der zweite Sprechstundentermin

Sie braucht mir gar nicht sagen, dass sie keine Kapazitäten hat. Kann ihr Bedauern eingepackt lassen, braucht nicht überlegen, wie sie mir helfen kann. Ich sitze in ihrem halbdunklem Behandlungszimmer und denke kurz darüber nach, was es mit mir macht, dass diese Plexiglaswand zwischen uns so sichtbar ist, wie ich sie sonst nur fühle.

Wir sind einige Kilometer Landstraße gefahren, dann auf einen Acker. Vor dem Haus, in dem sie ihre Praxis hat, picken freie Hühner in der nackten Erde herum. Es ist mein erster Sprechstundentermin mit einer Therapeutin, der mir über die 116 117 vermittelt wurde.
Der Freund ist krank, es ist kalt, ich war vertieft in eine Arbeit, als er mich zur Abfahrt rief.

Ich bin gerade so schön taub und zerstäubt, das Sprechen fällt mir nicht so schwer, wie ich befürchtet hatte. Das Gefühl für meine Geschichte und ihre Wirkung auf andere ist durch das Bloggen und den Podcast, das viele Sprechen vor anderen in Rahmen, die keine Nähe entstehen lassen, irgendwie … tja, weg? abstrahiert? dissoziiert? Es ist jedenfalls kein Akt, der Vertrauen erfordert oder etwas, das ich nur mitteile, wenn ich mich sicher fühle. Tatsächlich werde ich eher unsicher, etwas davon zu erzählen, wenn ich mich sicher fühle im Kontakt mit jemandem, weil meine Geschichte in ihren Details und Realitäten diesen belastet und also die Sicherheit bedroht.

Früher hätte es etwas mit mir gemacht, auf so eine Therapeutin zu treffen, wie sie. Etwas älter, das Behandlungszimmer halbdunkel und warm, im Gesicht schräg gestellte Augenbrauen und die Stimme auf warm und fühlig. Ein ganz wunderbarer Schonraum. Ein weiches Nest voller Wärme und Verstehen. Früher hab ich gedacht, so etwas würde mich satt machen, heute weiß ich, dass es mich daran hindert, mich selbst zu ernähren.

Weil ich nicht weiß, woraus ihr Protokoll besteht und wie viele Informationen sie zwingend braucht, um mir den Zettel auszufüllen, auf dem steht, dass ich eine Therapie brauche, sie aber keine Kapazität hat, beantworte ich ihre Fragen und erzähle dabei, welche Diagnosen ich wann hatte und was ich durch die Therapie bisher erreicht habe.
Als sich mein Mund nach Waschlappen anfühlt, denke ich, dass ich das perspektivisch irgendwie anders machen muss. Es nervt mich, mit meinem Diagnoseweg immer auch mein halbes Leben zu erzählen und die andere Hälfte als Grund dafür zu haben. Und irgendwie tut es auch weh. Denn ich erzähle das wie ich es schon als Jugendliche erzählt habe: Stationsweise, Klinikweise, Heimweise, irgendwann Jahrweise. Mit Überbegriffen, abstrakt, sachlich. Ich weiß nicht, welche Informationen andere Menschen eigentlich wollen, wenn sie mich danach fragen. Was ich ihnen sage, ist es jedenfalls oft nicht, denn sie stellen Rückfragen auf Dinge, die ich schon gesagt habe, nur nicht zur Rampe für emotionale Tiefenwanderungen durch meine Gefühle konstruiert.

Sie fragt nach meinen Gewalterfahrungen, meiner Traumatisierung, ich sage, dass ich sexualisierte Gewalt erlebt habe. „Durch ihren Vater?“ fragt sie mit sanfter Verständnisstimme und nickt unbewusst. In mir drin klappen Türen zu, meine Antwort zerquetscht mit Nachdruck etwas rasendes, das sie wie mich gefährden könnte.

Später sagt sie, dass meine Geschichte ja sehr dramatisch sei, ich weiß nicht was sie damit meint. Ein Drama beschreibt in der Regel einen Konflikt und von dem habe ich ihr gar nichts erzählt. Mein Problem ist nicht, erlebt zu haben, was ich erlebt habe. Und selbst wenn das mein Problem wäre, wie sollte ich das denn lösen? Passiert ist passiert, ich hab überlebt und das ist im weitesten Sinne mein Problem.
Ich bin froh, dass sie keine Kapazitäten hat. So muss ich nichts ablehnen und mit Rechtfertigungsdruck umgehen.

Auf dem Rückweg fliegt eine Schleiereule von einem Strommast auf, an dem wir vorbeifahren. Dafür hat sich die Unterbrechung meiner Arbeit gelohnt.

Es gibt keinen Schutz vor dem Leben.

„Jetzt generalisieren sie aber“, sagt die Therapeutin.
Am Wochenende kam eine Nachricht von ihr. Sie hätte meinen Brief gelesen und die Stellen im Buch, die ich ihr präpariert hatte.
Ich prüfe mein Gesagtes und stimme zu. Ja, es ist eine Generalisierung von mir zu sagen, dass alle Therapeut_innen und Helfer_innen, die mich nicht gesehen, nicht erkannt, nicht verstanden haben, mich am Ende nie deshalb entlassen, rausgeworfen oder abgewiesen haben, sondern, weil sie sich dagegen entschieden haben, mich sehen, erkennen, verstehen zu wollen.
Das ist eine Erzählung, die mir hilft und mich tröstet.
Sie handelt von Menschen, die Versprechen geben, ohne sie zu machen. Von einem Wunsch danach, bedingungslos unterstützt zu werden, der schon seit vielen Jahren nicht mehr angebracht ist – egal in welchem Kontext. Von der Einsicht, dass man Menschen nicht ändern kann und der Anerkennung der Ohnmacht vor dem Begreifen anderer Menschen.
Es ist die Essenz der vielen Erklärungsfindungsprozesse seit den 90er-Jahren, die bei jedem einzelnen Bindungs- und Beziehungsabbruch zu Therapeut_innen, Helfer_innen und Menschen, die uns aus ihrer Position der Autorität hätten helfen können, wenn sie nur kapiert hätten, was wir ihnen sagen, ausgelöst wurden.

Es ist eine Erzählung, die wahr und fair ist.
Ich stehe nicht hier und sage: „Alle Therapeuten sind vertrauensunwürdige Dreckspisser, die eh nix schnallen und immer nur vom Elend anderer profitieren.“ Ich habe und ich werde nie – selbst nicht über die Behandler_innen, die mich mit ihrer Unfähigkeit re.traumatisiert haben – sagen, dass sie das mit Absicht getan haben oder mich einfach zu scheiße fanden, um korrekt mit mir umzugehen.
Auch das sind Generalisierungen, mit denen so einige bindungstraumatisierte Menschen nach Erfahrungen wie meinen leben.

Es ist meine Erzählung über Gewalt, es ist meine Erzählung über das Leben, über die Menschen.
Ich stehe hier und sage: Es tut weh, weil du mir ein Weh getan hast – und ich kann darauf verzichten, dass du mir sagst, dass dir das leid tut, denn ich hab nichts davon, dass du dich einer Schuld entschuldigst, die du dir selber gibst, weil du denkst, wenn ich dich als Quelle auszeichne, bedeute das irgendeine Schuld statt einer Ursachenzuschreibung. Mein Weh wird nicht weniger davon, dass du mir sagst, dass du das nicht wolltest. Absichten sind Fantasien. Sie sind bedeutungslos für die Realität.

Ich erzähle von einem Weh, das niemand wollte und das trotzdem passiert ist.
Und ich erzähle das nicht, damit irgendjemand um mich herumtanzt und versucht das wieder gutzumachen. In einer Welt, in der Fantasien mehr Bedeutung zukommt als Realitäten, kann sich mein Weh nicht transformieren. Gibt es keinen Schutz, keine grundlegende Reparation, sondern immer nur Ablenkung, immer nur noch mehr nutzloses Gewölk zur Betäubung der Ohnmachtsgefühle vor der Interaktion mit anderen Menschen und also vor dem Leben selbst.

Meine Generalisierung, diese meine Erzählung, ist keine Schutzmaßnahme. Weder für mich, noch für irgendjemand anderen.
Es gibt keinen Schutz vor dem Leben.

Sie will nicht mehr.

4 Wochen seit dem letzten Therapietermin.
Ich habe gearbeitet. Urlaub gemacht, einen Brief geschrieben, Informationen zusammengetragen.
Am Sonntagabend sitze ich mit Sack und Pack im Zug nach Bielefeld. Am Montagmorgen würde ich mit Dr. H. in Gütersloh sprechen, welche Aspekte meiner Traumatherapie besser an den Autismus angepasst werden könnten. 3 Monate habe ich auf den Termin warten müssen.

Es ist warm als wir am Bahngleis stehen. Mir ist schlecht, mein Magenschmerz bohrt sich zwar nicht mehr bis in den Rücken, dafür ins Gemüt. Ich merke, dass ich meine Atemtechniken nicht mehr mache, um so wenig wie möglich im Bauch zu bewegen. Ich somatisiere, aktiviere, agiere, gefalle mir in der Rolle der Klientin, die aktiv tut und macht, nichts in ihrer Therapie als gegeben hinnimmt, sondern hilft zu helfen.
Meine Motivation trägt mich durch die Ansteckungsangst im Zug, im Bus, auf dem Klinikgelände, im Haus selbst.

Dr. H. ist gut. Das Gespräch hilfreich. Meine Hände tun weh vom Waschen und Desinfizieren, meine Füße, mein Magen. Es ist noch ein halber Tag, bis der Termin mit der Therapeutin ist. Zwischendurch komme ich mir vor wie eine liebe Oma, die den Tisch unter Essen begräbt und sagt: „Hier, nimm dies, nimm das – es ist alles da.“ In meiner Vorstellung braucht sie nicht mehr machen. Nur dies lesen und das. Nur die Angebote annehmen, die ich mit Dr. H. und dem Begleitermenschen für sie eingefädelt habe. „Hier dies, hier das, greifen Sie ruhig zu.“ Es ist übergriffig und zu viel. Ich weiß das und kann doch nicht anders.
Ich kanns einfach nicht kampflos aufgeben. Kann und will nicht hinnehmen, dass es bleibt wie es ist, weil es mir schadet – kanns nicht beenden, weil so viel dran hängt.

Am Abend sagt sie, dass sie nicht mehr will.
Dass sie nicht verstanden hat, was der Autismus für mich bedeutet. Was er für die Arbeit hier bedeutet. Die ganzen letzten 5 Jahre nicht.
Aus dem Brief hat sie die Kritik aufgenommen, die auf 2 von 8 Seiten stand. Sie hat in den letzten Wochen nichts getan für das, was wir miteinander haben. Sie hat sich für Traumaschwurbel entschieden. Das soll ihre Zukunft sein, „Herzlichen Glückwunsch“ denke ich und frag mich, wofür ich mich jetzt entscheiden kann.
Wir werden einen Abschied versuchen. Das ist neu, die Chance hatten wir bisher noch nie. Jetzt, am Morgen danach denke ich, dass die Abbrüche früher einfacher waren, weil die Katastrophen viel konkreter waren. Sie haben mich, Hannah, gemacht. Jetzt bin ich schon da. Und die Dinge, die wir uns vor 8 Jahren vorgenommen haben.

„Wenn das hier nichts wird, beantragen wir Sterbehilfe. Wir gehen, es hat keinen Sinn. Diese Traumafolgestörung ist eine Krankheit, die meine Lebensqualität so einschränkt, dass es kein Leben ist. Es gibt nicht genug Behandler_innen, die Wartezeiten, die Therapieregularien, jede stationäre wie teilstationäre Option bedeuten für mich das gleiche Risiko einer Retraumatisierung wie die Chance auf Verbesserung – diesen einen Versuch machen wir noch und wenn das nicht klappt, ist Schluss.“
Funktionale Suizidalität ist das, was uns lange durch die Therapie getragen hat und auch jetzt noch trägt. Das Wissen, dass wir nach dem erneuten Scheitern beim Versuch uns und unser.e Leben zu verstehen, nicht ohne Aussicht auf Ruhe in Frieden sind.

Als wir rausgehen, glänzt die Straße feucht. „Kommen sie jetzt klar?“ hatte die Therapeutin gefragt, „Ja“ habe ich gesagt, „Das kann dir doch egal sein“ gedacht. Vor mir leuchtet eine Straßenbahnhaltestelle mit Übergang.
Jetzt ein Suizid aus Affekt wäre total dumm. Ich muss noch so viel erledigen. Bin für einige Kontexte nicht mehr so egal wie vor 8 Jahren. Wie ich leben möchte und könnte, wenn ich nur die richtige Unterstützung bekomme, ist so viel mehr in mein Bild von mir und auch in die Beziehung mit dem Freund Partner hineingemalt. Heute geht es nicht mehr darum, ob es irgendetwas gibt, das den Schmerz am Leben wert ist, sondern darum was ich ihm an die Seite stellen kann.

Der Begleitermensch hat Nachtdienst, ist erst später zu erreichen. Ich rufe K. an und bitte sie, mit mir zu sprechen, bis ich ruhiger bin. Morgen bin ich wieder zu Hause beim Freund. Bei NakNak*, bei Bubi. Den letzten Tomaten und der Sperlingsgang in der Ligusterhecke.
Vor 8 Jahren wäre da niemand gewesen.

mein Trauma gehört mir – alles davon

Ich bin in dem Glauben erwachsen geworden, die Traumafolgestörungen mit denen ich lebe, seien eine Art Manifestation der erlebten Traumata in mir. Was mir passierte, war mir allein passiert und deshalb passierten die Symptome auch in mir allein und deshalb musste ich in die Psychiatrie, in Therapie, in die Opferrolle, in ein Leben, das nie wieder frei von der Thematik und allem, was sie mit sich bringt, sein kann.

Welche Rolle was in meinem Leben gespielt hat, ist für mich bis heute Forschungsgegenstand.
Ich schaue nicht auf die Gewalt in meinem Leben und sehe tausend Traumata, verurteile Täter_innen als schlechte Menschen und bewerte jedes schwierige Ereignis als Trauma. Wie bei einfach allem sehe ich mich vor einem riesigen Haufen von Stücken und Details, die ich mir immer wieder und wieder, ganz bewusst und in aller Anstrengung zu Kontext, zeitlicher Reihenfolge, Ursache und Wirkung zusammenpuzzeln muss, was immer oft überfordert und ein ganz eigenes traumatisierendes Potenzial in sich trägt.

Ich weiß, dass ich, was mein eigenes Leben angeht, viel viel langsamer bin als Äußere. Für mich ist nicht mit einem Blick alles klar. Für mich sind viele der Zusammenhänge von Trauma und aktuellem Leiden nicht so klar, wie man das zuweilen von mir erwartet.
Ich lebe in einer manchmal wirklich albtraumhaften Realität der Inkongruenz und Widersprüchlichkeit aus der ich nicht rauskomme, weil ich sie empfinde, sie aber nicht in mir passiert und es trotzdem von niemandem wahr.genommen wird. Damit meine ich zum Beispiel Situationen des gegenseitigen Missverstehens, die sich ja immer dadurch ergeben, dass man sich jeweils nicht auf die gleichen Dinge bezieht oder zu unterschiedlichen Schlüssen kommt, weil man unterschiedliche Vorannahmen hat oder unterschiedliche Bewertungen vornimmt.
Damit meine ich aber auch Situationen, in denen ich überfordert werde, weil man Dinge über meine Haltungen und mich annimmt, die nicht stimmen – und von mir auch nicht richtig gestellt werden können, weil man mir nicht glaubt, oder falsch interpretiert, was ich sage.

Übrigens ein Grund, weshalb ich „Loriot“ so abgrundtief traurig und schlimm finde.
Alle lachen über jemanden, der nicht aus einem Missverständnis heraus kommt oder der nicht gegen eine Struktur ankommt, die aller menschlichen Logik widerspricht, egal was er tut oder sagt. Ich habe bisher noch nicht eine Person getroffen, die in der Wahrnehmung der Grausamkeit dessen mit mir übereinstimmt oder sich wenigstens mal ein bisschen hineinfühlen kann, wie es ist, was es für einen Eindruck macht, wenn man sieht: Für andere ist das, was mein tägliches Leben im Kleinen wie im Großen, im Dringlichen, wie Brandgefährlichen im Kern ausmacht, ein Witz. Ein Moment sozialer Verbundenheit mit allen, die das auch als Witz empfinden. Etwas, das dazu beiträgt, Leichtigkeit ins Leben zu bringen. Inkongruenz ist für sie die Ausnahme. Und zwar so sehr, dass sie als Witz taugt.
Sie haben die Unaushaltbarkeit von Un- und Missverstandenheit nie als so bedrohlich, so umfassend isolierend, so traumatisierend erlebt wie ich – und sie erleben sie nicht jeden Tag in all ihrer Unauflöslichkeit, Unverhinderbarkeit, Unerträglichkeit.
”Meine Menschen” erleben das wenn, dann mit mir. Und manchmal können wir einander nähern, indem wir darüber reden, doch oft frage ich nach, lasse mir ihre Sicht erklären und nehme das an. Bis ich fertig bin, meine Sicht zu erklären – und verständlich zu machen – , bis ich fertig bin, formulieren zu können, was ich meine oder glaube oder auf welches Hintergrundwissen ich mich beziehe, ist meine Kraft vorbei oder die der anderen Person. Oder der Rahmen passt nicht oder es ist nicht wichtig genug oder das Risiko, dass wir in Streit geraten ist mir zu hoch.

Gerade Streit will ich vermeiden, weil der Grat zur Aggression und Wut für mich ein haarfeiner ist.
Meine Wut, meine Aggression wurde mir immer als Kraftquelle angerechnet, aber treffen soll sie nie jemanden. Wie meine Traumafolgesymptomatik soll ich sie fühlen, passieren soll sie aber nirgendwo.

Ich schreibe das hier gerade alles auf, weil ich – inmitten meiner Recherchen zu Autismus und Trauma – sehr stark an Traumata erinnert werde, die ich als solche nicht ausdrücken, nicht kommunizieren, nicht haben darf (read as: keine soziale Erlaubnis dafür haben), weil sie nicht die Art Trauma sind, wie sie im DSM-5 stehen.
Ich merke, dass ich noch gar nicht genug wütend war bisher. Noch gar nicht zerstörerisch, aktiv rachsüchtig, willentlich verletzend, laut, er_schreckend und brutal genug war – nicht einmal in meinen Gedanken. Ein einziges Mal war ich in den letzten Jahren so wütend, wie ich es innerlich bin und die Bestrafung folgte auf dem Fuß. Und niemand war in dem Moment für mich da. Niemand hat meine Wut legitimiert. Niemand hat meine Verzweiflung, meine Ohnmacht, die Unaushaltbarkeit der Wut und meiner Überforderung von allem, überhaupt begriffen oder irgendein Verstehen angedeutet. Das einzig Gute war, dass ich sie erschreckt habe. So hat wenigstens niemand gelacht und dass ich krasse Gefühle hatte, war eindeutig für alle.

“Mein Trauma gehört mir”, ist mir gerade ein starker Satz.
Während ich mich durch dutzende Studien arbeite, die dann zu Fußnoten hinter meinen Aussagen werden, realisiere ich, dass in der ganzen Zeit der Traumatherapien – egal, wer mich wie behandelt hat – nie eine Rolle gespielt hat, was konkret das traumatisierende Element für mich war. Immer wieder wurde und wird mir angetragen, dass die Situation an sich eine traumatisierende gewesen sei. Vergewaltigt zu werden, misshandelt, ausgebeutet zu werden kann traumatisierend sein, ja, aber es ist eben nicht nur das Geschehen dessen, sondern auch, das Erleben an sich, das traumatisieren kann.
Kein traumatisierend wirkendes Ereignis passiert allein in einer Person. Jede zwischenmenschliche Gewalt passiert zwischen Menschen.

Zwischenmenschliche Gewalt ist ein Kommunikations- und Interaktionsgeschehen.

Zu realisieren, dass unsere Interaktions- und Kommunikationsprobleme offenbar nie auch als Teil einer Traumatisierung oder als Trigger gedacht werden, fühlt sich im Moment sehr schrecklich an und ich kann gerade nicht sehen, ob ich das je vergeben kann – und will, denn es war immer und immer und immer wieder Thema. Immer wieder haben wir das auszudrücken versucht und immer wurden – und werden – wir mit der Klarstellung der Rollen in Täter_in(en) und Opfer überfahren, als wäre das alles, was dazu wichtig zu verstehen sei.
Es gibt viele Menschen, denen das hilft und reicht. Mir reicht es nicht. Am Ende meiner Auseinandersetzung mit dem, was mir passiert ist, soll kein Urteil oder eine Bewertung über die traumatisierenden Ereignisse oder die Täter_innen stehen. Ich habe bereits ein Urteil und eine Bewertung über den Umstand überhaupt traumatisiert worden zu sein, und über die Täter_innen stehen mir weder Urteil noch Bewertung zu, denn ich habe von vielen nur ihre Taten an mir erlebt, aber weiter nichts. Was ich will, ist Kontext. Ich will ein Narrativ. Ich will meine Geschichte. Ich will keinen ungeordneten Haufen Details, die sich unterschiedlich fremd und nah anfühlen, irreal, unverständlich, unlogisch und bizarr. Ich will mich in meinen Erfahrungen und mir zurechtfinden können. Dabei wird mir kein Urteil jemals helfen.

Am Dienstag hatten wir eine Online-Therapiestunde in der ich, nach einer halben Stunde, in der ich wiederholt versuchte mich und ein Thema von mir zu erklären, die Verbindung unterbrach, weil ich merkte, wie ich jeden Moment entweder ausraste und alles um mich herum oder mich selbst zerstöre. Ich hatte das Gefühl, dass die Therapeutin mir einen wesentlichen Aspekt meiner Traumatisierung wegnehmen will, indem sie meine Versuche eine andere als meine eigene Perspektive auf unser Familienleben einzunehmen, um vielleicht zu weiteren, anderen, Einschätzungen und damit auch Möglichkeiten des Verstehens zu kommen, mit dem Implizit begegnete, dass doch schon alles klar sei. Wir Opfer, die_r Täter_in, fertig. Was hat es denn da für einen Zweck noch irgendeine andere Perspektive drauf zu haben? Was sonst außer, dass da Gewalt passiert ist, könnte denn noch relevant sein?

Sie schrieb mir eine Nachricht, dass mein Verhalten inakzeptabel sei.
Ich konnte nicht anders als zu denken: “Ja, passt doch. Alles das hier ist verdammt noch mal inakzeptabel.”

28 und 29

Kurz vor Mitternacht.
Draußen ist es warm kalt gewesen. Die Luft wusste nicht, ob sie uns beißen oder streicheln wollte. Komisch, dieser Winter.

Beim Besuch noch kurz vorm Einschlafen, stehe ich jetzt aufgedreht in meiner Küche und weiß nicht ein noch aus. NakNak* rumpelt sich grunzend in der Küchenbankkurve zum Hundeschlafball zusammen. Ich öffne das Fenster und lasse sie dunkle Stille auf meine Front treffen.

Wir haben über unsere Zukunftskreisel gesprochen. Was wir gerne würden und was alles könnten, was ja, was nein und was eine Entscheidung bedeuten könnte.
Und, weshalb manche Optionen überhaupt nur da sind. Sie hatte sehr recht, als sie sagte, man müsse nicht immer alles können, was man in der Zukunft vielleicht braucht. Und, dass viel der Hartz fear in unseren Überlegungen eine Rolle spielt.
Dass wir schon viel Zeit verloren haben. Dass wir mit einem Studium, egal von was, von dem abkämen, was wir könnten.

Da wirds dann neblig. Was wir können.
Wir können von vielem ein bisschen. Nichts spezialisiert.
Wir müssten in die Kunst, in der Kunst bleiben, in der Kunst wachsen und ausreifen. Unter Bedingungen, die uns den Raum lassen.
Und wir müssten dran bleiben. Immer weiter machen.
Das ist so fragil. So Hartz 4. Und damit nicht, was wir wollen.
Auf der anderen Seite: Niemand will Hartz 4. Niemand. Jemals.

Wenn es das Kafka-Einsteinmodell wird, ist es wohl gut. Morgens Obstkisten stapeln, nachmittags auf Papier explodieren.

Zehn vor 12.
Als ich auf mein Handy schaue, erinnere mich daran, dass ich meine Sprachlernlektion mit Duolingo noch nicht gemacht habe.
Zwei Minuten vor Mitternacht bin ich fertig. Den 143 sten Tag in Folge Norwegisch, seit ein paar Tagen auch Dänisch.
Als die kleinen Lingot-Schatztruhen vor mir auf und ab hüpfen, erinnere ich mich an die Motivation, diese Sprache zu lernen. Überhaupt eine weitere Fremdsprache richtig ordentlich zu lernen. Sie kam auch aus der Hartz fear und dem Spüren, dass sich das Leben in Deutschland, in Europa, in der EU, auf diesem Planenten in den nächsten Jahren sehr verändern wird. Für die meisten ist das Teil unseres Hangs zur Katastrophisierung. Bitte schön, sollen sie es denken. Aber die Sicherheit, die Beruhigung, die brauchen wir doch. Und uns reicht kein “da mach dir mal keine Sorgen, das wird schon alles werden”, wir brauchen konkrete Ideen, was wir dann machen. Wo wir dann hingehen, worauf wir uns in uns und aus uns heraus verlassen können. Und das ist im Moment so verdammt wenig.

Wir haben keinerlei Ersparnisse, keinen Beruf erlernt, der nicht in 10 Jahren obsolet ist. Wir kosten, ohne wertzuschöpfen. Das ist die Realität. Völlig losgelöst von uns persönlich oder dem, was andere Menschen subjektiv empfinden. Wir sind kein gesellschaftliches Element, das gesellschaftliche, politische, ökonomische, wirtschaftliche Krisen überstehen kann, weil es noch auf etwas anderes als den bloßen Überlebenstrieb setzen kann.
Für viele Leute, mit denen wir darüber sprechen und denen wir das so sagen, klingt das nach traumabedingten Selbstwertkomplexen. Nach “sich nichts zu trauen”. Nach “die schönen Seiten nicht sehen”. Nach “der Zukunft nicht trauen”.  Nach Katastrophisierung eben. Also etwas, das man von sich schieben muss, weil es zu schlimm ist, Angst macht, am Ende keine Antwort hat. In ihnen anders resoniert, als in uns, die wir wissen, wovon wir da reden.

Deshalb gehen wir so oft aus Gesprächen über unsere Zukunftskreisel und fühlen uns dumpf, orientierungslos, planlos. Versuchen, uns an die kleinsten Schritte zu halten, versuchen wirklich, von Tag zu Tag zu leben, zu denken, zu arbeiten, weil uns nur das als jetzt relevant benannt wird. Und einige Zeit später können wir es dann nicht mehr aushalten. Diese Kontextlosigkeit des Tag für Tag, die sich auftut, wenn man nicht auf eine klar definierte Zukunft, einen Zweck des eigenen Machens hinwirkt.

Dann versuchen wir das weiter. Und weiter. Und aus Kontextlosigkeit wird Sinnlosigkeit. Wird Bedeutungslosigkeit. Wird Verzichtbarkeit. Wird das Moment, in dem wir uns vor uns selbst ekeln, weil wir um unser selbst weiterleben und machen. Müssen. Sollen. Obwohl es uns weder braucht, noch wünscht, noch will. Dieses Leben. Dieses Alles. Nie, weil es so ist.

Das ist ein Trigger. Eine Lage, ein Headspace, könnte man so sagen, in dem wir uns wieder in sadistischer Quälerei befinden.
“Sei am Leben, bleib am Leben, damit ich dich quälen kann. Du lebensunwertes Drecksvieh. Geh weg, ich mag dich kaputt. Bleib hier, ich will dich kaputt machen. Für nichts und wieder nichts anderes als das Moment des Leidens. Mach mir eine Freunde – versuch mir zu entkommen. Du kannst mir nicht entkommen, denn ich bin die Macht. Ich hasse dich, ich brauche dich. Stirb endlich. Steh auf. Beweg dich. Mach was, ich will es kaputt machen.“

Und das ist das Tor zur Hölle einfach. Das auszuhalten und wie eine abgekapselte Eiterbeule, die zu berühren unvermeidbar ist, durch den Alltag zu tragen, in dem das niemand sieht, niemand versteht, niemand aus eigener Erfahrung mitfühlen kann – das ist grauenhaft. Wirklich.
Und für uns Realität.

Das heißt nicht, dass wir das nicht von unserem Leben heute unterscheiden können. Wir sehen sehr wohl die Unterschiede. Sehen unsere Selbstbestimmung, sehen und fühlen, dass wir auch geschützt, bestärkt und in Teilen getragen werden. Wir wissen, dass es nicht das selbe ist. Aber die Notgefühle, die Ohnmachtsgefühle, die Bitterkeit der Wahrheiten um uns selbst herum, die sind die Gleichen und es gibt keinen anderen Grund außer Vermeidung, Nichtanerkennung oder wohlmeinender Ignoranz, uns zu sagen, dass das ja gar nicht sein muss. Dass es ja auch ganz anders sein könnte. “Wenn nur…”

Ich weiß nicht, ob man als außenstehende Person, die das jetzt liest bis hier hin überhaupt folgen konnte.
Nun ist es 4 Uhr morgens. NakNak* atmet ihren Schlaf ein und aus. Der Kühlschrank summt. Ich fühle mich allein. Einsam. Und endlich auch müde. Vielleicht musste mal so aufgeschrieben werden. Für nichts und wieder nichts. In all seiner Sinnlosigkeit.
Mir bedeutet es etwas.
Das ist ja immerhin was.

shutdown

Dieses Jahr versuchte ich mich zu entspannen. Ganz dringend sehr schnell Ruhe zu finden und Kraft zu tanken, für all die Dinge, die zu tun sind. Allein mit meinen Büchern sein, zeichnen, das Hörbuch, das wir schon länger geschenkt bekommen hatten, anhören, Kekse essen, lange Runden mit NakNak* machen.
Nichts davon hat bis jetzt wirklich zu Entspannung geführt.

Am Morgen bin ich noch müde, denn Traumascheiß kennt keine Feiertage oder den Moment, in dem man nicht mehr nachtritt, weil jemand schon am Boden liegt. Mittags bin ich fertig mit den Nerven, weil ich noch keine Ferienroutine habe. Da sitze ich in der Küche und weiß: Ich habe Dinge zu tun – kann Dinge tun, die ich in der Schulzeit nicht tun kann – und weiß nicht wo wie womit wann anfangen. Und fange dann gar nichts an. Bleibe sitzen und starre Brandflecken in die Luft bis NakNak* kommt und mich nervt, damit wir rausgehen.

Draußen ist es kalt und nass. Draußen ist Weihnachten und ich laufe an Häusern vorbei, die entweder voll mit Familie sind oder leer, weil alle bei der Familie oder Freund_innen sind. Ich muss uns eingestehen, dass wir es nicht schaffen unseren Freund zu besuchen. Muss andere, hellwach überreizte Ichs hinter mir daran erinnern, dass wir keine Familie haben, zu der wir fahren wollen.
Merke, wie mir die zwei Wochen Ferien zu wenig sind, für das Ausmaß an Ruhe und Alleinseinbedarf, der direkt neben dem Wunsch steht, mit all dem nicht allein sein zu müssen. Der neben dem Wissen steht, dass wir das auch nicht müssen. Neben dem wiederum die Klarheit ist, dass genau das nicht aushaltbar ist, weil es zu viel erfordert und abverlangt.

Nach 3 Tagen weint es einfach aus mir raus und ich merke meinen Selbsthass wie etwas, das von meinen Schultern klettert, um mir durch Augen, Nase, Mund und Ohren in den Kopf hineinzukommen. Alles ist dicht, jeder zusätzliche Reiz zu viel. Meine Tränen brennen mir Schneisen ins Gesicht und es gibt nichts, das macht, dass es aufhört. Ich würde sagen, das ist ein Nervenzusammenbruch. Von nichts. Denn ich weiß nicht, woher es kommt.

Ich will, dass es aufhört. Das weiß ich schon. Ich weiß auch, dass es ein so traumanaher Gedanke ist, dass es gute Chancen auf einen alltagstriggerscheiß Zustand gibt, der latent mit dem Alltag mitschwingt. Aber ich weiß auch: ich bin gerade nicht im Flashback. Ich bin real überreizt von all dem Alles in einer Zeit, in der ich sehr viel Nichts brauche. Doch sobald ich zur Ruhe komme, kriecht das Trauma wieder hoch.

Ph und: “das Trauma” wie das klingt. Viel zu weich, um diesen baumstammdicken Schmerzreiz, der mir senkrecht durch den Rumpf schießt, um in der Mitte angekommen, eine schrille Kaskade nach der anderen loszutreten, zu beschreiben.
Es ist ein Horrorloop. Einer, bei dem es nicht reicht bei der Telefonseelsorge anzurufen, oder der Therapeutin zu schreiben, oder mit dem Begleitermenschen zu sprechen.

Es ist eine Ecke von “nichts hilft”, der man nur wahrnehmend zunicken, aber keinesfalls um Halt ersuchen darf, weil man sie erkannt hat.
“Nichts hilft” ist das Medusenhaupt der Traumascheiße. Du darfst wissen, dass du das gerade fühlst und es dich gerade anschaut, aber du musst die Augen schließen und warten. Augen zu und durch_über_leben. Du weißt nicht, wie lange das dauert und wie schlimm es noch wird, aber irgendwann geht es nicht mehr darum, was hilft, sondern, dass es vorbei ist. Das traumatisierende Moment, genauso wie das Loophole aus PTBS-Symptomatik und dem Dauerlauf der Kompensation dessen. Irgendwann kommt es bei uns immer und es ist immer eine Frage von Zeit und Raum. Der Shutdown. Das Moment, in dem nichts mehr rein und nichts mehr rauskommt.

Es hat keinen Sinn dagegen anzukämpfen. Es vielmehr so, dass dieser Zustand etwas für uns erkämpft, in dem er uns zum Aufhören zwingt.
Also hören wir auf, mehr als die Basis zu wollen oder zu müssen.
Mehr von uns zu fordern, als weiter am Leben zu bleiben.

durchaushalten

Der Regen schneit in aller Unförmigkeit auf uns runter, als wir durch den Wald nach Hause laufen. Sie könnte schreien vor Schmerzen, doch wieder ist es das Fehlen einer konkreten Quelle, die einen Ausdruck dessen unlogisch macht. Die Haut ist taub. Kalt, aufgerissen, feucht unter Kleidung. Weh tut es darunter.

„Es ist ja kein Aufgeben von allem“, sagt sie und argumentiert uns in eine Mauer hinein. „Wir sind viele, ja, aber das allein bedeutet doch nichts weiter. Außer Arschkarte halt.“.

Sie hat zuletzt am Wochenende mehr als 2 Stunden geschlafen. In unser beidaller Blut schwimmen Medikamente, die man nicht ins Klo entsorgen darf.

Klausurenphase. Zweifelzeit. Beklommenheit.

Während die Schritte unter uns in Matsch und Regenwasser verwinden, denken wir einander mit Gefühlen und Wahrheiten zu. Wissen, der Schlafmangel verzerrt alles. Die Not hat keinen Platz, dort wo wir sind. Wissen, wo wir sind, hätten wir nie hingemusst.

Wir laufen weiter. Nach Hause. Zu Tee am Küchenfenster und Klausurenvorbereitung auf dem Schoß. In unsere Festung des Durchaushaltens.