der Podcast „Geteiltes Leid“, eine Besprechung in 4 Teilen

Transparenzhinweis: Dieser Text entstand unbeauftragt. Finanziell ermöglicht haben ihn Steady-Unterstützer_innen. Die im Podcast und diesem Text erwähnte Emanuel Stiftung hat sich 2019 mit einem kleinen Beitrag an der Realisierung meines ersten Buches „aufgeschrieben“ beteiligt.

„Der Podcast ‚Geteiltes Leid‘ entstand im Rahmen des Projekts ‚Hast du schon gehört‘, welches durch das Programm ‚Demokratie im Netz‘ der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und vom Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben umgesetzt wurde. Mit diesem Projekt setzt Arbeit und Leben ein klares Zeichen gegen Desinformation und für eine stärkere Demokratie.“

Ich musste lachen. Denn da saß ich nun nach einigen Tagen mit E-Mails und Gesprächen über diesen Podcast und der Desinformation, die damit verbreitet wird, und las diesen Abschnitt auf der Projektwebseite. Nachdem ich die vierteilige Podcastserie gehört habe, erscheint mir kaum erreicht, was man sich mit dem Projekt vorgenommen hat. „Kritisches Hinterfragen“, „ein eindrucksvolles Beispiel für investigativen Journalismus“, „die Politik auffordern, Verantwortung zu übernehmen“ – das habe ich nicht gehört. Aber dramatische Geschichten. Viele Annahmen und unvollständige Andeutungen. Viel Vermischtes. Und das alles ohne eine Perspektive der Menschen, um die es letztlich geht.

Teil 1 – „Der Fall Leonie“

In den ersten beiden Episoden wird die Kranken- und Leidensgeschichte von Leonie (Pseudonym) erzählt. Es wird aus ihrer Krankenakte vorgelesen. Ihre Medikation und andere Details geteilt, die normalerweise besonders geschützte persönliche Informationen sind. Die man als Journalist_in nicht ohne weiteres öffentlich zitieren darf, auch wenn einem die Eltern die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben.

Das alles passiert ohne Leonie. In meinen Augen der größte Makel an „Geteiltes Leid“.
Denn der Podcast entmenschlicht sie und verdeckt die Ausbeutung ihrer Geschichte. Sowohl dadurch, dass Hörende sich keinen eigenen Eindruck von ihrer Person machen können, als auch durch unkommentierte Aussagen ihrer Eltern. Zum Beispiel die von ihrem Vater in der ersten Folge: „Wenn die Leonie zu Hause war, dann war sie ein unheimlicher Zeitfresser.“, „Man konnte auch mit ihr praktisch kein Gespräch führen. Sie konnte ins Wohnzimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und schlechte Laune verbreiten, alleine durch das, wie sie sitzt und welche Ausstrahlung sie hat. Wie ein Scheißhaufen von einem Hund.“ Es ist entsetzlich und verantwortungslos, dass eine solche Aussage überhaupt oder zumindest nicht einordnend ausgespielt wird. Man könnte oder sollte bereits hier den Podcast einfach ausschalten.

Die Erzählung von Leonies Krankengeschichte passiert nicht, um über psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie die Auswirkungen auf ihre Familien zu sprechen. Selbst die lange Zeit der lebensbedrohlichen Behinderung eines Kindes und der strukturellen wie individuellen Kämpfe, Sorgen und Prozesse, die dadurch in der Familie entstehen, wird nur ansatzweise und gefiltert durch die Leidenserzählung der Mutter erahnbar. Etwa, als sie in Folge 4 über die wöchentlichen Besuche ihrer Tochter im Pflegeheim sagt: „Und das ist so, das ist der schlimmste Nachmittag in meiner Woche.“
Das Podcast-Team möchte vielmehr aufzeigen, dass Therapeut_innen an Verschwörungserzählungen glauben und ihre Patient_innen als Beweis dafür missbrauchen, um persönliche wie politische Ziele zu erreichen.

In allen Folgen wird Leonie, genauer gesagt ihre Kranken- und Leidensgeschichte, nun wiederum als Beweis dafür benutzt, dass eben jene Erzählung über missbräuchliche Therapeut_innen und einen vor diesem Unrecht und Leid der Opfer passiven Staat wahr ist. Das ist Objektifizierung.

Für mich besonders brisant daran: Leonie ist heute offenbar schwer beeinträchtigt. Die Beschreibung ihrer Eltern legt nahe, dass sie nicht oder nur eingeschränkt fähig ist, ihre Lage zu überschauen, zu gestalten und über sich selbst zu bestimmen. Es wird nicht offengelegt, wer sie rechtlich vertritt. Dass Eltern über ihre erwachsenen Kinder aber nicht ohne richterlichen Beschluss beziehungsweise ohne eine von den Kindern erteilte Vollmacht bestimmen dürfen, wissen viele Menschen nicht. Damit erscheint Zuhörenden wahrscheinlich auch legitim, dass Leonies Eltern und Journalist_innen ihre Geschichte erzählen. Der Gedanke ist möglicherweise: „Leonie kann das ja vielleicht gar nicht mehr – dann müssen es ja andere für sie machen.“

Weil es im Podcast nicht ausführlich begründet wird, frage ich mich: Kann Leonie aufgrund ihrer Behinderung nicht selbst im Podcast sprechen? Oder bedarf es Anstrengungen von Seiten der Journalist_innen, Eltern und anderen Menschen, ihr das zu ermöglichen? Anstrengungen, auf die von dieser Seite gern verzichtet wurde? Wenn das der Fall war, warum war das für alle Beteiligten in Ordnung?

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Einwilligung und einem Einverständnis. Einen Willen kann auch jemand haben, die_r kein Verständnis von der Gesamtlage hat. Hat Leonie ein Verständnis von dem Bild, das ihre Eltern in der Öffentlichkeit von ihr vermitteln? Ist sicher, dass sie das so will? Fragen wie diese ergeben sich ganz natürlich, wenn man es mit psychisch schwer erkrankten oder intellektuell („geistig“) behinderten Menschen zu tun hat. Es erfordert eine umfassende Auseinandersetzung damit, was es bedeutet, über statt mit behinderten/(chronisch) kranken Menschen über ihre Er.Lebenserfahrungen in öffentlich zugänglichen Medien zu berichten. Das ist alles andere als trivial.

Entsprechend tauchte für mich bei diesem Podcast bereits in der ersten Folge die Frage auf, warum man sich für Leonies Geschichte entschieden hat, wenn Leonie selbst gar nicht zu Wort kommen kann oder will oder möchte. Oder soll? Direkt von etwas betroffene Menschen sind sogenannte „unzuverlässige Erzähler_innen“ – man muss ihre Aussagen stets einordnen. Warum wurde darauf verzichtet?

Später, in Folge 4, kommt eine Person, die Amelie genannt wird, zu Wort. Sie wurde ebenfalls mit der falschen Annahme konfrontiert, sie könnte Rituelle Gewalt erlebt haben und hätte eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Warum nicht diese Geschichte? Weil diese Person weniger schwer geschädigt wurde? Weil ihr Leid entsprechend geringer ausfällt – sie konnte sich ja wehren oder schützen? Brauchen Menschen wie Leonie so eine (diese?) Plattform, weil sie den schwersten Schaden haben? Woran soll das gemessen werden? Oder weil schwer geschädigt zu werden eine große Angst aller Menschen in einer ableistischen Gesellschaft wie unserer ist, wo Behinderung nach wie vor in vielen Lebensbereichen gleichbedeutend ist mit „unwert sein“?
Wie schnell man sich im Nachdenken über diese Fragen doch in einer Dynamik findet, die von ableistischer Opferfeindlichkeit und der Vermeidung der Anerkennung von Gewalt als immer leidauslösend gekennzeichnet ist. Bei einem Format, das die Demokratie stärken will, finde ich das bemerkenswert.

Ich komme nicht umhin, anzunehmen, dass man sich mit dieser Geschichte die Emotionalisierung der Debatte sichern wollte. Als sei eine Fehldiagnose, eine Behandlung durch missbräuchliche Psychotherapeut_innen oder ganz allgemein eine psychotherapeutische oder psychiatrische Falsch- oder Nichtbehandlung nicht schon schlimm genug.

Boulevard-journalistisch mag das lauter sein – menschlich, moralisch, ist es in meinen Augen nieder. Niemand, wirklich niemand, dem eine Betroffenheit zugesprochen wird, die sie_r nicht hat, von einer_einem Therapeut_in missbraucht wurde oder eine falsche Diagnose hat, hat etwas von einer emotionalisierten oder ableistischen Debatte darüber.
Die Aufmerksamkeit dient ausschließlich dem Medium und im Verlauf den Journalist_innen. Diese Art der Aufmerksamkeit ist eine Währung, mit der man nur in ganz spezifischen Kontexten etwas anfangen kann. Marginalisierte Menschen, wie behinderte Menschen oder Opfer von Gewalt, finden nicht in diesen Kontexten statt. Auch wenn das Narrativ von Opferschaft als lukratives Mittel der Selbstdarstellung weiterhin viele Vertreter_innen findet. Opferfeindlichkeit ist einfach eine der Alltagsgewalten, der sich sehr viele Menschen bis heute nicht bewusst sind.
Bis sie selbst zum Opfer werden.

Über psychische Krankheiten reden

Wenn man möchte, dass sich viele Menschen für das Leid anderer Menschen interessieren, dann muss ein Bezug hergestellt werden. Man muss eine Geschichte aus einem Leben erzählen, das wie jedes andere auch sein könnte. Sonst können sich Menschen nicht reinfühlen. Nicht annehmen: Das könnte auch ich sein.
Deshalb beginnt fast jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit, und weil die meisten Menschen Krankheit als temporären Zustand erleben, endet auch jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit. Oder mindestens der zuversichtlichen Aussicht darauf.
Leonies Geschichte beginnt mit Krankheit und endet damit. Das gefällt mir sehr gut, denn das sind die Geschichten über psychische Krankheit, die so gut wie nie gehört werden. Egal, wie oft wir Betroffenen sie der Öffentlichkeit vermitteln. Es wird von vielen Redaktionen einfach als zu deprimierend eingeschätzt. Nicht sexy. Nicht uplifting. Nicht oder nur schwer vereinbar mit kommerziellen Interessen.

Unheilbare, tödliche psychische Krankheiten sind eine Realität, mit der sich die meisten Menschen nicht abfinden wollen. Auch Leonies Eltern nicht, die mit diesem Podcast schon das zweite Mal die Geschichte ihrer Tochter benutzen, um ihre für viele Menschen absolut nachvollziehbar inakzeptable Erfahrung in die Öffentlichkeit zu bringen. [1] Sie können sich darauf verlassen, dass die Gesellschaft behinderte, unheilbar kranke Menschen verhindern will und Mitleid mit diesen Eltern hat. Und dass eben jene Gesellschaft psychische Krankheiten überwiegend als individuelles Kampfgeschehen begreift, das man „quick and dirty“ mit nur genug Willen und Kraft beenden kann.

Anorexia nervosa, die Magersucht, an der Leonie bereits als Kind erkrankt (nachdem sie eine Kindheit mit Erstickungsgefahr durchs Essen erlebt hat), ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Laut Prof. Manfred Fichter von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee sterben 10 bis 15 Prozent der an Magersucht erkrankten Menschen. 7 Prozent der erkrankten Magersüchtigen sterben durch Suizid. Die durchschnittliche Zeit der Erkrankung liegt bei 15 Jahren. [2]
Das ist schlimm. Traurig. Bitter.
Was noch bitterer ist: die durchschnittliche Wartezeit für einen Klinikplatz zur Behandlung einer psychischen Krankheit außerhalb psychiatrischer Notfallversorgung. Vor allem, wenn der körperliche Zustand einer medizinischen Mitbehandlung und Überwachung bedarf. Und erst recht, wenn zusätzlich noch eine Behinderung oder weitere Erkrankungen wie eine stoffgebundene Sucht oder eine (komplexe) Traumafolgestörung dazu kommen und eine entsprechend spezialisierte Behandlung erforderlich ist. Wie bei Leonie.

Dieser Komplex – die bittere Krankheits- und Behandlungsrealität – wird in dieser Podcastreihe nicht beleuchtet, und das ist meiner Meinung nach desinformierend. Denn das Bild von Leonies Lage, aber auch das ihrer Eltern und aller Helfer_innen, Betreuer_innen und Psychotherapeut_innen, wird dadurch massiv verzerrt dargestellt.

Die Aussagen der Eltern, die durchgehend ihr eigenes Leiden unter Leonies Krankheit, Verhalten und Re.Agieren beschreiben, kommunizieren im Kern immer auch, niemand habe ihr geholfen, niemand habe ihnen geholfen, obwohl das doch möglich gewesen wäre. Mit genug Kompetenz. Und Strenge gegenüber Leonie vielleicht. Oder Autorität. Oder Zwang, wenn nötig. Tatsächlich aber darf niemandem geholfen werden, die_r es nicht will, und nicht jede Hilfe bedeutet ein Heilungsversprechen. Mal ganz davon abgesehen, dass niemand von Ärzt_innen, Pfleger_innen und Sozialarbeiter_innen in Krankenhäusern behandelt werden kann, die aufgrund des demographischen Wandels und des Wirtschaftlichkeitszwangs im deutschen Gesundheitswesen einfach gar nicht zur Verfügung stehen.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen jeder psychiatrischen, psychologischen oder auch pädagogischen Hilfe- und Therapiemaßnahme gehört immer auch, dass sie nicht hilft oder den Zustand sogar verschlimmern kann. Wie bei Medikamenten gilt: Alles, was wirkt, kann wirken. Auch im unerwünschten Sinne.
Das ist ein absolut grundlegendes Faktum über Maßnahmen dieser Art. Jede_r Behandler_in, jede_r Helfer_in muss das wissen und den Patient_innen, Betreuten, Begleiteten und deren Angehörigen mitteilen. Befremdlich, dass die Ärztin, die uns Hörende als Host durch diesen Fall führt, das nicht vermittelt.

Dass die Eltern offenbar bis heute glauben, sie wurden um eine geheilte Tochter betrogen, kann man in diesem Zusammenhang sogar verstehen. Die (psychotherapeutische) Versorgung und Unterstützung von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen ist nämlich noch viel schlechter und erfordert manchmal eine Psychodiagnose, die man sich als Beamte_r (als Lehrer_in oder Polizist_in zum Beispiel) nicht ohne Sorge um negative Konsequenzen geben lassen kann.
Akzeptieren zu müssen, dass das eigene Kind möglicherweise unheilbar krank ist und ein Leben mit Behinderung(en) führen muss, ist für manche Menschen unfassbar schwer. Und wenn man dabei nicht unterstützt wird, kann eine Vermeidungshaltung und die Anschuldigung Dritter eine naheliegend logische Entwicklung sein.

Schwierig, problematisch, ja im Grunde tragisch wird es, wenn Dritte solche Anschuldigungen benutzen, um eine eigene Geschichte zu erzählen.

Teil 2 – „eine Geschichte, alles zu erklären“

Am Ende der zweiten Folge passiert ein Sprung, den ich auch beim zweiten und dritten Mal Anhören nicht verstehe.
Bis dahin erfahren wir, dass Leonies Zustand immer schlechter wird. Und wir erfahren, dass ihr Vater, nachdem sie absolut unfähig zur Selbstbestimmung im Krankenhaus ist und keine rechtliche Betreuung mehr hat, ihre Sachen aus ihrer Unterkunft holt. Dabei findet er einen USB-Stick, auf dem ein Video gespeichert ist. Laut der Moderation zeigt das Video, wie Leonie getauft wird. An einem offenbar schönen Tag, an einem schönen Ort, umgeben von offenbar wohlgesonnenen Menschen. Obwohl aus den im Podcast abgespielten O-Tönen keinerlei Bedrohung oder soziale Beziehung der Leute zu einander ersichtlich ist, sagt die Sprecherin zu dräuender Musik, dieses Video mache dem Journalist_innen-Team klar, dass es in Leonies Fall um ein Netzwerk ginge. Das ist angesichts dessen, was wir hören, eine irritierende Schlussfolgerung.

Mit dieser Passage endet für mich nicht nur die erste Folge des Podcastes, sondern auch mein Wille, an eine ergebnisoffene, investigative und umfassend recherchierte Arbeit dieses Teams zu glauben. Denn welches Netzwerk kann nur hinter einer Taufe stecken? Die christliche Kirche. Ein globales, ideologisch verbundenes Netzwerk, das als Organ einer Weltreligion einen allgemein legitimierten Platz in der menschlichen Kulturgeschichte einnimmt.
Der Eindruck, der hier zu erwecken versucht wird, ist, dass diese (in Leonies Leben zweite) Taufe, dieses Ereignis, das ausschließlich religiösen Zwecken dient und in der Regel mit einer standesamtlich wie sozial anerkannten Gemeindezugehörigkeit einhergeht, in irgendeiner Weise aufgezwungen wurde. Von Leuten, die Leonies Leiden entweder nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten. Also von Leuten, die gar nicht das Beste für sie wollten, sondern im besten Falle religiöses Brauchtum, im schlechtesten Fall, dass sie leidet.

Die trotz gemeinschaftlicher Verbindung letztlich doch individuelle und in der Regel selbstbestimmte religiöse Widmung und Auseinandersetzung mit sich selbst in schweren Lebensphasen wird hier als gefährlich kommuniziert. Ob es Leonie gutgetan hat, sich ein zweites Mal taufen zu lassen, ob sie es gewollt hat, weil es ihr emotionale Kraft gegeben hat, erfahren wir nicht. Wir hören jedoch erneut ihren Vater, der sein Entsetzen über seine Annahme äußert, Leonie sei zu diesem Zeitpunkt auch körperlich nicht versorgt worden. Was niemand außer Leonie und ihren Begleiter_innen wissen kann.
Zuhörende werden mit dieser Darstellung in die Idee manipuliert, die freikirchliche Gemeinde, die Leonie damals Unterkunft und soziale Gemeinschaft gab, hätte lieber für sie gebetet und Unsinn geglaubt, als sie medizinischer Behandlung zuzuführen.

Diese Erzählung – „Ideologisch überzeugte Hokuspokus-Therapeut_innen und Helfer_innen enthalten kranken Menschen echte Hilfe vor“ – sehe ich seit über 20 Jahren in Veröffentlichungen, die ihrerseits wissenschaftlich widerlegte Aussagen über die „Fälschbarkeit von Erinnerungen“ und verschwörerisch anmutende Theorien über die Unterwanderung von Medizin und Forschung durch (feministische) Akteur_innen verbreiten.
FMS, ick hör dir trapsen.
Und tatsächlich. Im Interview mit podcast.de sagt Khesrau Behroz, Mitgründer von Undone und Produzent des Podcast „Geteiltes Leid“: „Auf die Protagonisten kamen wir durch Beratungsstellen, die sich um Opfer schädlicher Therapien und deren Angehörige kümmern. Eine davon ist False Memory Deutschland e. V..“[3]

Alles, was nun in „Geteiltes Leid“ erzählerisch skizziert und argumentiert wird, folgt der Argumentation und Logik der „False Memory-Erzählung“.
Einschließlich des extrem emotionalisierenden Schlagwortes „satanic panic“, der im Titel der dritten Folge steht. Ein Begriff, der – wie immer, wenn die Protagonist_innen oder die Meinung der Redaktion davon beeinflusst ist – in der Folge nicht umfassend und inhaltlich unzureichend erläutert wird, was dazu führt, dass ein weiteres Mal das Gesamtbild verzerrt, also ein weiteres Mal desinformiert wird. Eine Dynamik, die ebenfalls seit jeher zur Debattenführung von False Memory um Rituelle Gewalt gehört und als Strohmann-Strategie[4] bekannt ist.

Der Begriff „satanic panic“ wurde in den 80er Jahren im US-amerikanischen Sprachraum verwendet, um eine teilweise auch religiös gefärbte Massenhysterie der US-Gesellschaft zu beschreiben, nachdem ein Buch mit dem Titel „Michelle remembers“ erschienen war. Das Buch handelte von einer Frau, die berichtete, mittels Hypnose an verschüttete Erinnerungen an satanistischen Missbrauch gekommen zu sein. [5]
Die davon ausgelöste Debatte beeinflusste massiv auch die öffentliche Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren, das klären sollte, ob Betreiber_innen und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool ihre Schutzbefohlenen missbraucht und in satanistisch anmutenden Szenarien gequält haben. [6]
Es gab ein für diese Zeit, in der das Privat-Fernsehen gerade erst etabliert wurde und der Kampf um die Einschaltquoten praktisch entfesselt tobte, unfassbares Medieninteresse und eine Berichterstattung, die sich zügellos in Mutmaßungen und moralischer Raserei erging.

Anfang der 80er Jahre gab es praktisch keine Standards für die polizeiliche Vernehmung bzw. Befragung von Kindern. So kam es sowohl zu wiederholten als auch suggestiven Befragungen, die zu Falschaussagen der Kinder führten. Diese Falschaussagen und deren schiere Anzahl führten zu dem Eindruck eines begründeten Verdachtes, in dessen Folge es zu dem Verfahren gegen die Schulleitung und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool kam.
Auslöser der polizeilichen Befragungen der Vorschulkinder war die Meldung einer Mutter, ihr entfremdeter Ehemann und ein Lehrer (Enkel der Schulleitung) hätten ihr Kind missbraucht. Die Mutter hatte ihr Kind entsprechend suggestiv zu Bauchschmerzen befragt.
Das Verfahren lief in Etappen bis 1990, als letztlich sämtliche Vorwürfe fallengelassen wurden.

Die im Podcast „Geteiltes Leid“ genannte Sendung mit Geraldo Rivera lief 1988 und war eine der meistgesehenen Talk-Show-Sendungen ihrer Zeit. Ein kommerzieller Traum für den Sender. [7] Ein kommerzieller Traum, den sich sowohl vorher als auch nachher viele Sender erfüllen wollten. Obwohl bereits damals offensichtlich wurde, dass mit der Erzählung von rituell mordenden Satanist_innen, die Kinder sexuell missbrauchen, auch die Zahl von Anzeigen und Falschaussagen im ganzen Land stieg.
Mit einer „Panik über oder vor Satanist_innen“ hat das, was der Begriff „satanic panic“ beschreibt, weniger zu tun als mit einem kulturellen Wandel der US-Gesellschaft, der bestimmte moralische Grundwerte in Frage zu stellen schien und bekämpft werden sollte. Der Begriff, der soziologisch gesehen zutreffender für dieses Phänomen ist, lautet: „moral panic“ [8] und beschreibt die gesellschaftlich kontrollierende Wirkung dieser und ähnlicher Erzählungen.

Menschen eine irrationale, weil von Panik verzerrte Annahme, also gewissermaßen eine wahnhafte Überzeugung nahezulegen, wenn sie ideologisch motivierte oder legitimierte und sexualisierte Gewalt in jedwedem Kontext für möglich halten, ist DIE Strategie von False Memory seit Gründung der ersten Gruppe. Verrückt, also krank, verantwortungslos und egoistisch motiviert muss sein, wer glaubt, dass Inzest und andere Formen sexualisierter Gewalt ein regelhaftes Geschehen in praktisch jeder Gesellschaft sind. Das ist eine implizierte Folgerung dieser Gruppe, mit deren Ideologie und orchestrierten Strategien sich zuerst Jennifer Freyd, die Tochter des Gründer-Ehepaares, herumschlagen musste[9] und bis heute in gewissem Grad jedes einzelne Opfer sexualisierter Gewalt in jedem nur möglichen Zusammenhang. Diese Strategien lassen sich mit dem Akronym DARVO nachvollziehen: Deny (Leugnen), Attack (Attackieren) and Reverse Victim and Offender (Täter-Opfer-Umkehr).

Für einen investigativen Podcast, der „die Mechanismen hinter Verschwörungsideologien sichtbar zu machen und einen Beitrag zur politischen Aufklärung zu leisten“ zum Ziel hat, ist die Protagonisten- und Geschichten-Akquise aus diesem Umfeld das Ende für den eigenen Anspruch. Denn unter False Memory kommen Menschen unter der Prämisse zusammen, dass sexualisierte Gewalt sehr selten und regelhaft von Psychotherapeut_innen eingeredet sei, um unschuldigen Individuen zu schaden. Was in Bezug auf die Realität von sexualisierter Gewalt nicht stimmt und nicht objektiv belegbar ist in Bezug auf die Psychotherapeut_innen.
Das schließt False Memory und damit assoziierte Protagonist_innen für jegliche Zusammenarbeit, die Üb.Erlebenden von sexualisierter Gewalt und/oder Menschen mit psychischer Erkrankung nach Gewalterfahrungen nicht schaden soll, aus.

Ich stelle mir im Hinblick auf die Realität von sexuellem Missbrauch und einer Psycho- bzw. Traumatherapie, die inzwischen ganz anders arbeitet als in den 70er und 80er Jahren, auch die Frage, warum man sich für das Ziel der Aufklärung über Verschwörungstheorien und ihre Folgen nicht mit QAnon, Chemtrails oder Impfgegnern befasst hat. Die Recherche dazu stelle ich mir viel einfacher vor, weil sie viel weniger Risiko bietet, dass Einzelpersonen in ihrem persönlichen Leid zur Schau gestellt und letztlich ausgenutzt werden.

Aber vielleicht geht es bei der Wahl dieses Themenkomplexes ja tatsächlich um Menschen, die an schlechte Therapeut_innen geraten und so Opfer von Falschbehandlung geworden sind.
Diese Geschichten passieren und ihre Protagonist_innen lügen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber die Begründung dieser Geschichten mit einem einge.schworenen Netzwerk aus verschwörungsgläubigen (also irrationalen) Einzelpersonen mit Verbindungen bis „ganz nach oben“ und wissenschaftlich als falsch nachgewiesenen Annahmen[10], [11] über die Folgen und Auswirkungen von Psychotrauma muss einer Redaktion als einer Verschwörungstheorie nahekommend auffallen. Und in ihrer Folge ebenfalls als etwas erkennbar sein, das den Betroffenen nicht hilft.

Schrödingers Journalismus – investigativ und unfähig, das Naheliegende zu sehen

So ist der Verlauf der Podcastserie für mich wie ein Autounfall, bei dem ich nicht weghören kann. Man versucht, sich als Patientin für ein Erstgespräch getarnt bei der Psychotherapeutin von Leonie einzuschleichen, um sie zu etwas zu befragen, worüber sie überhaupt nicht sprechen darf, weil sie einer Schweigepflicht unterliegt.
Eine Zeit- und Ressourcenverschwendung, unter der die Journalist_innen nicht leiden – dafür aber die Patient_innen, die gerade in Not sind und ein Erstgespräch brauchen.

Man spricht mit einer Psychotherapeutin, die selbst für mich als halbwegs informierten Laien erkennbar nicht korrekt informiert ist über die ganz basalen Grundlagen der aktuellen Traumaforschung – und dazu noch irritierend überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns und Wirkens als Therapeutin und Ärztin. Aber man meldet sie offenbar nicht bei der Kammer, wie es die Eltern von Leonie damals bei einer anderen Behandlerin von Leonie ganz richtig gemacht haben. Wie es jede_r machen kann, wenn sie_r an eine_n Behandler_in gerät, an dessen_deren Kompetenz und Handlungsweise Zweifel bestehen. Für solche Situationen gibt es Strukturen. Verantwortliche. Handlungsoptionen für Patient_innen. Niemand muss in so einem Fall schweigen oder wird von irgendwem davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Ressourcen dazu habe ich in den Quellnachweisen dieses Betrages zusammengetragen.[12] Das journalistische Rechercheteam, das neben Politik und Wissenschaft auch die Zivilgesellschaft zur Verantwortungsübernahme aufrufen will, hätte diese Informationen ebenfalls teilen können.

Doch nein, man kreiselt sich immer weiter hinein in die ebenfalls kaum haltbare Erzählung von Unklarheit und fehlenden Belegen für Rituelle Gewalt.
So wird gesagt, die Polizei habe keinerlei Kenntnis über Fälle von Ritueller Gewalt. Auch das ist eine desinformierende, weil unvollständige Aussage.
Denn: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst keinerlei religiöse oder politische Motive für Straftaten. Es gibt eine Abteilung im Bundeskriminalamt, die „Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“ beobachtet, doch die konzentriert sich auf Islamismus und keine andere Religion oder Weltanschauung. [13]
Wenn also Journalist_innen die Polizei fragen, ob sie Fälle von Ritueller Gewalt kennen, dann antwortet diese: „Nein.“, weil Rituelle Gewalt kein erfasstes Kriterium für die Polizei ist. Mord im Namen einer Religion ist Mord, ideologisch motivierte Vergewaltigung ist Vergewaltigung.

Abgesehen davon gibt es allgemein bekannte Fälle Ritueller Gewalt. Eine einfache Google-Suche zu folgenden Fällen bzw. Gruppierungen hilft: Colonia Dignidad, Kwa Sizabantu, Niederbonner Schwestern, Zeugen Jehovas, Scientology, Orde der Transformanten.

Warum Fälle wie diese nicht als Rituelle Gewalt verstanden werden, kann anhand dieses Podcasts ganz gut illustriert werden:
Zum Einen bewegt man sich, wie gesagt, im Kontext eines Strohmann-Arguments.
Man will einfach, dass Rituelle Gewalt als von Satanisten ausgehend verstanden wird. Immer wieder wird in einen (von False Memory oder „Zweiflern“) selbst geschaffenen und selbst aufrechterhaltenen Diskursraum getragen, „die da“ (die unfähigen Hokuspokus-Therapeut_innen, die religiös wahnhaften Christenpriester und wer nicht noch alles) würden an satanistische Eliten glauben, die ihre sadistischen Phantasien an wehrlosen Kindern ausleben und alle Schichten der Gesellschaft damit beeinflussen – genauer gesagt: verrückt machen.

Während „die da“, welche forschend über Rituelle Gewalt sprechen, die jedwede ideologisch geprägte Weltanschauung zugrunde liegen haben kann und zunehmend als „Thema“ zur Vertuschung oder „inhaltliche Gestaltung“ von organisierter Gewalt verstanden wird. Weshalb es immer wieder auch die sprachliche Weiterentwicklung zur schärferen Abgrenzung dieser zu anderen Formen von Gewalt geben wird. So funktionieren Wissensentwicklung und Diskurs. Wer es genauer weiß, spricht nicht in einfachen Schlagworten. Und schon gar nicht in so übertrieben vereinfachten Worten, wie es für ein Strohmann-Argument notwendig ist.

Eine umfassende Entwicklung der Definition des Begriffs „Rituelle Gewalt“ ist öffentlich zugänglich einsehbar und zeigt, wie sich über die Jahre hinweg mehr und mehr Trennschärfe ergeben hat.[14]
Es ist desinformierend, in einem Podcast zu behaupten, es gäbe keine eindeutige Definition. Und in meinen Augen einfach unverschämt, Menschen um Begriffsklärung und Erläuterung der eigenen Arbeitsgrundlage zu bitten und ihnen dann „Schlagwort-Slalom“ vorzuwerfen.
Das passiert in Folge 3, nachdem Eva Lauer von Lüpke, Vorsitzende der Emanuel-Stiftung und Unterstützerin von Leonie. Lüpke wurde vom Podcast-Team zu einem allgemeinen Gespräch über ihre Stiftung eingeladen und hat offenbar viel Zeit und Mühe aufgebracht, so unmissverständlich wie möglich Definitionen und allgemein missverständliche Schlagworte zu klären. Eine Aufgabe, die im Hinblick auf eine über 45 Jahre andauernde Begriffsentwicklung mit erheblichem Anspruch einhergeht.

Das Verhalten des Podcast-Teams erscheint mir spätestens dann nur noch dreist, als Olga Herschel, die Journalistin, die uns als Sprecherin durch diesen Podcast führt, sagt: „Alles, wirklich alles an Ritueller Gewalt scheint heikel zu sein und dadurch bleibt vieles im Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke sehr schwammig. Aber es gibt einen Fall von Ritueller Gewalt, der ist sehr konkret und den hat Eva Lauer von Lüpke aus nächster Nähe erlebt: Leonie.“
Plötzlich haben sich also die Klarheiten gedreht. Leonie ist also doch ganz konkret Rituelle Gewalt geschehen und die, die es wissen muss, schließlich leitet sie eine Stiftung, die sich unter anderem für Opfer Ritueller Gewalt einsetzt, spricht schwammig.
Interessante Wendung.

Nach dem Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke spricht Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Zum zweiten Mal bekommt das Team sinngemäß vermittelt: „Hey, Leute, ‚satanistischer Missbrauch‘ – damit sind wir hier überhaupt nicht befasst. Niemand hier redet von dem, was ihr unterstellt. Es gibt gar nicht so viel Unklarheit, wie ihr annehmt. Hier, diese Zahlen konnten wir erarbeiten, das ist unser Stand der Auseinandersetzung, das ist unsere Datenlage.“
Und wieder wird einer klar erläuternden und daher wenig missverständlichen Interviewpartnerin „Schlagwort-Slalom“ vorgeworfen, weil diese nicht sagt, was das Team hören will, um die Argumentationslinie, der sie inhaltlich folgt, zu bestätigen. Hier sind wir schon weit von seriösem Journalismus entfernt.

Wer dieser Argumentationslinie zuletzt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefolgt ist und anschließend als mutiger Gegenpol dargestellt wurde, ist Jan Böhmermann mit einer Folge der Sendung „ZDF Royale“. Seine vom Podcast-Team sogenannte „Kritik“ an der Erzählung über Rituelle Gewalt wurde nach mehreren Beschwerden beim Fernsehrat vom ZDF depubliziert. Eine außergewöhnliche Situation, denn so schnell wird von einem Sender nichts depubliziert. Da müssen dann schon extreme Mängel zu finden sein.
In dieser Sendung jedoch, die als Satire-Sendung bekannt ist, wurde nicht, wie für Satire üblich, nach oben getreten. Also sich über Menschen oder Umstände lustig gemacht, die politisch oder gesellschaftlich verantwortlich sind für Dinge, die schieflaufen. Tatsächlich wurden Gewaltbetroffene und ihre Erfahrungen herabgewürdigt und sich über die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber als Einzelperson lustig gemacht. Eine Person, deren Einfluss auf Deutschland kaum zu vergleichen ist mit dem eines_r Politiker_in oder ähnlichen Verantwortungsträger_innen.

Eine Fernsehsendung, deren Witz nur dann funktioniert, wenn man annimmt, dass Menschen mit Traumafolgestörungen und/oder spezifischen Gewalterfahrungen lügen oder ihre Krankheit und die Überzeugung, bestimmte Gewalterfahrungen gemacht zu haben, von jemandem wie Michaela Huber eingeredet bekommen, ist keine Satire. Das ist nicht einmal Kritik. Das ist opferfeindlich und abwertend gegenüber Menschen mit psychischer Krankheit und gegenüber Michaela Huber möglicherweise auch üble Nachrede oder Verleumdung.[15]

Auch wenn – und darüber muss es einen gesellschaftlichen Konsens geben – es nötig ist, das Thema auch kritisch in der Öffentlichkeit zu besprechen, um Falschbehandlung und Falschanzeige oder Falschverdächtigungen zu verhindern oder aufzudecken – so wie es das ZDF Royale gemacht hat, ist es einfach nicht in Ordnung. Denn egal, wie man es dreht und wendet – es wird nie witzig oder gesellschaftlich anständig sein, darüber zu lachen, dass Menschen Gewalt erfahren haben. Sei es, weil sie ihnen tatsächlich passiert ist oder sei es, weil ein_e Therapeut_in sie davon überzeugt hat. In beiden Fällen ist den Menschen etwas passiert, das nicht in Ordnung war und ein soziales Umfeld erfordert, das diese Erfahrung ernst nimmt, in ihrer Bedeutung begreift und angemessen reagiert. „Hihi haha, Satan-Kostüm, guckt mal, die komische Frau und der Quatsch, den sie erzählt“, ist kein angemessener Umgang. Eine solche Sendung zu depublizieren und auch im Nachhinein nicht noch einmal neu produziert zu veröffentlichen, ist unter der Prämisse, nicht zu schaden oder zur Herabwürdigung von Menschengruppen beizutragen, nur richtig und hat mit umfassender Diskursverhinderung, wie es das Podcast-Team von Undone in Interviews und in der dritten Folge vermitteln, nichts zu tun.

Dass ein Rechtspsychologe wie Andreas Mokros den Schutz von Opfern durch Verhinderung solcher Sendungen erschreckend findet und eine universitäre Verantwortungsposition inne hat, finde ich nun wiederum erschreckend.
Jemand, der etwas für Menschen wie mich tun und erreichen möchte, sollte mir nicht vermitteln, ich müsse es aushalten, dass ganz Deutschland darüber lacht, was mir passiert ist oder passiert sein könnte. Die Konsequenz eines solchen Umgangs mit meinen Gewalterfahrungen – wie gesagt, entweder durch Therapeut_innen oder organisierte Straftäter_innen – ist eine Demütigung aufgrund meiner Erfahrung und meiner Erkrankung. Für mich ist das eine weitere Gewalterfahrung und in letzter Konsequenz auch offene Diskriminierung.

Bedauerlich ist zudem, dass mit ihm und seinem Beitrag die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu einem Streit verkommt, dessen Ziel nicht das Schaffen oder Erweitern des Wissensstandes zu ideologisch oder weltanschaulich motivierter Gewalt und ihren Folgen zu sein scheint, sondern – ja, was eigentlich?

Die intersektionale Forschung, also die Zusammenarbeit verschiedener Professionen zu einem gemeinsamen Thema, könnte enorm bereichernd sein und Betroffenen tatsächlich helfen. Warum ist es in der deutschen Wissenschaft so viel leichter, einander zu diskreditieren und in der Fachlichkeit in Frage zu stellen, als zusammenzuarbeiten? Vor allem, wenn es doch allen „nur um die Sache geht“?
Der Gedanke, der mir in Bezug darauf sehr naheliegend erscheint, ist, dass es eben nicht „nur um sie Sache geht“. Wäre dem so, würde meiner Ansicht nach über nicht über Rituelle Gewalt diskutiert oder darüber, dass andere Forschende den Herrn Mokros für einen „wadenbeißerischen Bösewicht“ halten, sondern über die Möglichkeiten und Grenzen unabhängiger Forschung zu Gewalt, die so selten von Täter_innen selbst angezeigt wird, dass es ganz zwangsläufig immer wieder zu „Aussage gegen Aussage-Situationen“ kommt und damit zu einer außerordentlich herausfordernden Zugangs- und Interpretationslage. Keine Seite wird schnell zu eindeutigen Ergebnissen kommen, solange sie sich im Streit mit der anderen befindet. Aber immer wird es Menschen geben, die davon profitieren, dass es noch unzureichend beantwortete Forschungsfragen und einen extrem schwierigen Zugang zum Forschungsfeld gibt: Menschen, die Gewalt ausüben und Menschen, die Täter_innen vor der Strafverfolgung schützen wollen.

Teil 3 – „und die Nebelkerze brennt“

Im Folgenden macht der Podcast inhaltlich einen breiten Bogen.
Er macht Aussagen über Studien- und Forschungsbetriebsarchitektur, die eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit kaum in ihrer Validität einschätzen kann, und ordnet sie zum nächsten emotionalisierenden Schlagwort zu, das diesmal jedoch von der UKASK kommt: „Memory Wars“.
Für mich ein irritierender Sprung, ging es bei den „Memory Wars“ doch um die Frage, ob und wenn ja, wie sehr Erinnerungen an traumatische Erfahrungen verdrängt werden können. Ob Verdrängung überhaupt ein Ding ist. Was eine Erinnerung ist. Wie man sich unter welchen Umständen erinnert. Was eine Erinnerung von einer Überzeugung unterscheidet.
Das wissenschaftliche Veröffentlichungs-Pingpong der 90er Jahre hat nicht darüber diskutiert, ob es Rituelle Gewalt gibt oder nicht, sondern ob man sich als Opfer in welcher Form und in welcher Zeitspanne wie konkret und bewusst erinnert.

Zu sagen: „Sowas kann doch keiner verdrängen oder vergessen!“, ist eine der Attacken, die False Memory von jeher fährt, nachdem Vertreter_innen dieser Bewegung sexualisierte Gewalt lange geleugnet hatten, indem sie äußerten: „Würde es sowas geben, gäbe es ja Beweise.“
Heute ist allgemein bekannt, dass es das gibt. Selbst in „Geteiltes Leid“ wird eingeräumt: „Natürlich gibt es organisierte Gewalt an Kindern, Menschenhandel und Ausbeutung. Das ist alles vielfach dokumentiert. Und es gibt Fälle, in denen organisierte Gewalt in einer Sekte stattfindet. Und ja, viele Opfer organisierter oder sexualisierter Gewalt berichten auch von Einschüchterungen, von Manipulationen. Das ist ein Grund, warum sich Betroffene lange nicht trauen, sich Hilfe zu holen.“ Heute kann sich wirklich niemand mehr in die Öffentlichkeit stellen und die Leugnung (Denial) über sexualisierte Gewalt aufrechterhalten.
Aber attackieren (Attack), wer Erfahrungen teilt, ohne objektive Beweise anzubringen, oder Menschen glaubt, die Erinnerungen oder Überzeugungen teilen, ohne Beweise dafür einzufordern oder auch nur dazu forscht, um vorliegende Hinweise zu untersuchen – das funktioniert noch heute. False Memory muss das auch machen, sonst würde die Argumentation aus der Opferrolle heraus (Reverse Victim and Offender) nicht funktionieren.

An diesem Punkt in der Serie wünscht man sich mehr Klarheit in all dem Nebelkerzenrauch.
Nachdem man nun vieles gehört hat, zu dem man selbst als nicht-wissenschaftliche_r Zuhörer_in kaum eine fundierte Meinung, ja, nicht einmal einen Einblick in die Arbeitsrealitäten haben kann – da ist man versucht, der Abgrenzung des Teams zu folgen. „Was es aber nicht gibt: Brutalste Folter und Morde, die unsichtbar im Untergrund passieren … “ – Ein Ausschluss, der bei einem Format mit journalistischem Anspruch irritiert. Etwas komplett ausschließen, das ist vollkommen unjournalistisch. Vielmehr ist es journalistisch, dort etwas zu finden, wo andere sagen, da sei nichts. Deshalb ein kleiner Realitätscheck: Guantánamo Bay, Colonia Dignidad, die Mafia, kalter Krieg – Zweifelsfrei gibt es Folter und Morde in Zusammenhängen, die dem Großteil der allgemeinen Bevölkerung verborgen sind. Das ist, was der Begriff „im Untergrund“ an dieser Stelle bedeutet.
„… und an die die Opfer jahrzehntelang keine Erinnerungen haben, weil ihre Persönlichkeiten zersplittert und programmiert sind.“
So ausgedrückt – ja. Kann ich zustimmen. Die „Zersplitterung“ einer Persönlichkeit ist nicht möglich, da die Persönlichkeit eines Menschen das Ergebnis seiner Interaktion und Kommunikation mit dessen Umwelt ist und kein fester Gegenstand, an dem mal hier, mal da was absplittern kann, wenn jemand draufschlägt. Dieses Bild von Persönlichkeit ist massiv überholt und führt zu falschen Annahmen über die Leistungsfähig- und Fertigkeiten der menschlichen Psyche und dem folgend ihre (neuro)biologischen Grundlagen.

Entsprechend redet heute kein wissenschaftlich fundiert arbeitender Mensch mehr von „verschütteten Erinnerungen, die in einer Therapie hervorgeholt werden“, sondern davon, wie ganz normale Prozesse der Reiz- und Informationsverarbeitung dafür sorgen, dass man sich sowohl banaler als auch ganz massiver Dinge teilweise oder auch ganz nicht (ich-)bewusst sein kann. „Sich der eigenen Erfahrungen (ich-)bewusst sein“ über Dinge oder (biografische) Erfahrungen ist etwas anderes, als „sich an Dinge erinnern“. Das eine kann erreicht werden mittels Datenauf- und -übernahme – das andere durch Erfahren bzw. erfahrungsbedingtes und kontextualisiertes Lernen.
Wenn mir jemand einredet, ich hätte Gewalt erlebt, kann ich dieses mir eingeredete Wissen jederzeit abrufen und wiedergeben.
Wenn ich Gewalt jedoch erfahren habe, gibt es bedingt dadurch, wie im Moment der Gewalterfahrung das Gehirn funktioniert, schwer vorhersehbare Grenzen der Reiz- und Informationsverarbeitung.[16] Das, was man im Nachhinein dann über die Erfahrung sagen kann, ist zwangsläufig lücken- und fehlerhaft und in manchen Fällen auch als ich-fremd erlebt. Die betroffenen Menschen erleben sich selbst und werden oft auch von anderen Menschen als „nach dem Ereignis nicht mehr die_rselbe“ wahrgenommen.
Ein Umstand, der relativ gut erforschte (Schutz-)Reaktionen der Betroffenen, aber auch ihrer Angehörigen fördern kann. Wie zum Beispiel Vermeidungsverhalten.

Im Fall der DIS kann man von extrem gut eingeübter traumabedingter Vermeidung (die durch Dissoziation ermöglicht und aufrechterhalten wird) sowohl vor sozialem Umfeld, als auch vor sich selbst ausgehen.[17] Wer sich selbst nicht umfassend mit einer oder mehreren traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang bringen kann, entwickelt ein Selbstbild, das damit einfach nichts zu tun hat und im gegebenen sozialen Alltag und Miteinander so angepasst wie möglich funktionieren kann, um diese Vermeidung bzw. das eigene Selbstbild nicht aufgeben zu müssen.
Die eigene Funktionsfähigkeit um jeden (auch langfristig schädigenden) Preis zu erhalten, ist in diesem Zusammenhang gesund, normal und ein zum Niederknien großartiges Ding, zu dem Menschen fähig sind. Alle Menschen. Nicht nur Überlebende oder Menschen in schweren Krisen.

Dissoziation ist ein natürliches Phänomen. Kein Mensch würde ohne durch den Tag kommen – übrigens der Grund, weshalb Amelie unter der Aufforderung, sich „immer auf jede noch so kleine Stimme im Kopf“ zu konzentrieren, so enorm gelitten hat, wie sie in der vierten Folge „Geteiltes Leid“ schildert. Es ist für das menschliche Gehirn biologisch überhaupt nicht vorgesehen, alles immer zu jedem Zeitpunkt bewusst und präsent im Denken zu haben. Wir brauchen nicht so zu tun, als wäre Dissoziation ein von windigen Therapeut_innen ausgedachtes Spezialfeature oder eine besondere Begabung von Opfern sexualisierter Gewalt, die sie zu etwas ganz Besonderem macht, nämlich einem Menschen mit DIS oder assoziierter dissoziativer Störung.

vom Besonderen zum Absurden – eine gefährliche Abkürzung

Diese „Besonderisierung“ (dieses Othering) von Menschen mit DIS bietet einen extrem isolierenden Nährboden für alle möglichen von mir so genannten „Multimythen“, die letztlich bis heute dafür sorgen, dass die Allgemeinheit entweder annimmt, diese Störung sei mit dem Leben nicht vereinbar, oder aber denkt: „DIS – ja ha Sybil, Split, Satanistische Elite, Quatschtherapeuten und Trauma-Opferbonus“ und entsprechend mit Betroffenen umgeht.

Zu den klassischen Multimythen gehört in meinen Augen die Erzählung von Medikamenten, die bei allen Anteilen unterschiedlich wirken. Anteile mit unterschiedlichen Augenfarben, extreme Fähigkeiten bei allen möglichen Anteilen gleich, zu 100 % komplett autonome Doppel-Dreifach-Vierfachleben und die „absichtlich gemachte DIS“, auch „künstliche DIS“ genannt in Abgrenzung zu „natürlicher DIS“.
Jede meiner Recherchen in den vergangenen 20 Jahren zu diesen und anderen Multimythen, von denen einige auch in den ersten Auflagen von Michaela Hubers Buch „Multiple Persönlichkeiten, Überlebende extremer Gewalt“ stehen, führten zu nichts. Keine Studien, nichtmal qualitative Befragungen, nur anekdotische Evidenz in den sozialen Medien und Veröffentlichungen von Betroffenen sowie eine praktisch quellenlose Beschreibung der Idee der „planvollen Spaltung“ von Gaby Breitenbach[18] habe ich bisher dazu gefunden – und das ist mir zu wenig.

Um diese kritische Haltung einzunehmen, brauche ich nicht zu negieren, dass die DIS eine valide und unterforschte Erkrankung ist, oder dass es für Täter_innen außerordentlich praktisch sein kann, es mit Menschen zu tun zu haben, die es gewohnt sind, Opfer zu sein und sich entsprechend leicht fügen oder sogar „aus freiem Willen“ für Gewalt zur Verfügung stellen.
Zu dieser kritischen Haltung komme ich, weil ich ein Mensch bin, wie andere Menschen mit einer anderen Diagnose auch. Wer heute in Epileptiker_innen noch jemanden mit direktem Draht zu G’tt sehen würde, würde zuverlässig vor dieser und ähnlichen längst überholten Fehlannahmen geschützt werden. Und zwar nicht nur von Professor Doktor_innen und den spezialisiertesten Fachärzt_innen, die es gibt, sondern auch von der Mehrheit der Menschen. Wer jedoch auch heute noch eine DIS-Diagnose bekommt, steht diesbezüglich praktisch allein auf weiter Flur. Wie allein, das wird in der vierten Folge des Podcasts gut illustriert.

Teil 4 – „Die Helfer_innen und die Hilfe“

Eine Diagnose ist etwas, das Beobachtungen von fachspezifisch geschulten Menschen zusammenfasst. Sie sehen etwas, erkennen etwas und gleichen ihre Beobachtungen ab.
Damit in Medizin und Psychologie Klarheit darüber besteht, welche Beobachtungen wie eingeordnet werden können und in jedem Land auf der Welt die gleiche Einordnung und Behandlung möglich ist, gibt es standardisierte Verzeichnisse. Diese Verzeichnisse sind das „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) und das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM).
Die World Health Organisation (WHO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat Aufgaben, deren Ergebnisse auf vielen Ebenen dazu führen sollen, dass überall auf der Welt das Recht jedes Menschen auf Gesundheit und medizinische Versorgung umgesetzt werden kann. Im Zuge dieser Aufgaben ist die WHO an der stetigen Aktualisierung des ICD beteiligt.

Eine Diagnose kommuniziert also eine Beschreibung des Bildes, das sich jemand von jemand anderem gemacht hat. Sie ist kein Messinstrument. Sie ist kein Werkzeug zur Bestätigung oder Bewertung individueller Lebenserfahrungen eines Menschen. Eine Diagnose kann nicht bestellt oder geliefert werden. Diagnostik hingegen kann beeinflusst werden, denn Menschen planen sie und führen sie durch.
Im Podcast „Geteiltes Leid“ geht man der Idee nach, dass Psychotherapeut_innen und Mediziner_innen von Verschwörungstheorien beeinflusst sind und deshalb nicht nur eine falsche Diagnose an schwer erkrankte Menschen vergeben, sondern diese Menschen auch noch so beeinflussen, dass diese die verschwörungsbedingten Überzeugungen ihrer Behandler_innen bestätigen. Ein Geschehen, das man ironischerweise als Rituelle Gewalt einordnen könnte.

The wheels on the bus go round and round and round and round

Beim Hören entsteht der Eindruck, die Beeinflussung durch den Verschwörungsglauben an satanistische Eliten wäre das Hauptproblem für falsche Behandlung und alleinige Grundlage für die Vergabe einer DIS-Diagnose. Würde man nicht daran glauben, dann würde man die Diagnose nicht vergeben und auch keine schädigende Behandlung machen.
Diese bis zum Schluss nicht falsifizierte Vorannahme der vierten und letzten Folge der Serie, wird deutlich im Gespräch zwischen der Sprecherin und Journalistin Olga Herschel, die in 5 Jahren an 3 verschiedenen Standpunkten als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, und ihrem Interviewpartner Stefan Röpke, der seit 22 Jahren Facharzt ist und an der Charité forscht.
Man kann sich aufgrund der Vorstellung seiner Person nicht erschließen, wie viele Patient_innen er pro Tag sieht, ob und wenn ja, wie er in Diagnostik und Behandlung eingebunden ist. Ja, nicht einmal, woran genau er in Bezug auf Traumafolgestörungen forscht. Sein Expertenprofil auf der Webseite der Charité zeigt lediglich, dass eines seiner größten Themen die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (BPS) ist.[19]

Die Diagnose der BPS hat viele Überschneidungsbereiche mit einer DIS-Diagnose. So können zum Beispiel auch Menschen mit BPS teils schwere dissoziative Symptome, Identitätsstörungen und suizidale Krisen haben. Suchterkrankungen und selbstverletzendes Verhalten unterschiedlicher Ausgestaltung sind keine Seltenheit in der Gruppe der Menschen mit dieser Störung, und viele von ihnen haben traumatische Erfahrungen in ihrer Biografie. Im Vordergrund steht jedoch häufig eine Affektregulationsstörung, die das soziale Miteinander mit anderen Menschen erheblich beeinflusst und zu wiederkehrenden Bindungskrisen durch Angst vor dem Verlassenwerden führt.[20]

Für mich erklärt sich mit diesem Hintergrundwissen zu Röpkes Expertise schnell, weshalb er noch nie eine DIS-Diagnose vergeben hat. Wer einen Hammer hat, sieht auch in einer Schraube einen Nagel und kriegt sie mit genug Kraft auch an die vorgesehene Stelle.
Ein verbreitetes Phänomen, das auch unter dem Stichwort „confirmation bias“ bekannt ist und nichts damit zu tun hat, ob man von einer Verschwörungserzählung überzeugt ist oder nicht.
Es ist eine natürliche Tendenz, sich selbst in dem zu versichern, was man kennt und entsprechend überwiegend den Fokus auf das zu legen, was man eindeutig erkennt. Man erkennt am sichersten, was man am häufigsten gesehen hat. Was man am häufigsten gesehen hat, hat man am häufigsten angesehen. Was man dabei alles nicht gesehen hat, hat man auch nie gesehen.

In einem Podcast, der zur Verantwortungsübernahme mahnt, muss man meiner Ansicht nach der Verantwortung nachkommen, diese Tendenz und die Folgen von selektiver Wahrnehmung auch im eigenen Projekt zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Das ist meiner Meinung nach nicht passiert.

der echte Teufelskreis

So verpasst das Podcast-Team im Abschnitt über die Dresdner Privatklinik „Waldschlösschen“, Amelies Behandlungserfahrung und die Aussagen von Martina Rudolf, der Leiterin der Klinik, das tatsächliche Hauptproblem – den für so manche Menschen mit DIS wahren Teufelskreis – zu erkennen: die ganz allgemein und für alle Menschen gleich unzureichende und entsprechend häufig auch mangelhafte psychotherapeutische, psychiatrische, medizinische, pädagogische und sozialarbeiterische Versorgung in Deutschland und sämtliche Konsequenzen für Patient_innen mit jedweder Diagnose daraus.

In diesem Abschnitt können wir anhand von Amelies Behandlungserfahrung sehr gut nachvollziehen, wie schädlich es ist, wenn eine ambulant gestellte Diagnose und die sich daraus ergebenden Behandlungsansätze im stationären Rahmen nicht umfassend überprüft, sondern offenbar einfach übernommen wird.
Zahlen kann ich für diese Praxis leider nicht anbringen, daher muss an dieser Stelle die anekdotische Evidenz ausreichen. Jeder, egal, ob psychisch oder physisch chronisch kranke Mensch, den ich kenne, hat zu einem oder mehreren Zeitpunkten im Leben eine Fehldiagnose in der Akte stehen gehabt, die noch mindestens eine weitere behandelnde Person ohne validierende Diagnostik einfach übernommen hat. Ein Grund dafür: „Husch husch – Zeit ist Geld.“ In Deutschland das typische Grundrauschen jedes medizinischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungsgeschehens.
Damit, dass jemand bestimmte Diagnosen stellen will, weil sie das eigene Weltbild bestätigen, wie im Podcast über die DIS und Rituelle Gewalt unterstellt, hat das nichts zu tun.

Am Ende des letzten Teils schrieb ich, dass man als Mensch, der diese Diagnose bekommen hat, allein auf weiter Flur ist. Und dass das ein Problem ist.
An Amelies Geschichte kann man sehr gut aufzeigen, inwiefern das so ist.
Da ist zum einen der Umstand, dass vor der DIS für die meisten Betroffenen viele andere Diagnosen, Klinikaufenthalte, Therapien und Hilfemaßnahmen kommen, die unterschiedlich hilfreich (heilend) oder zerstörerisch (verletzend) wirken und in jedem Fall mit dem Stigma und der Diskriminierung von psychischer Krankheit bzw. Behinderung einhergehen.
Viele Betroffene verlieren im Lauf ihrer „Psychokarriere“ nicht nur zeitweise ihre individuelle Freiheit, Würde und Selbstbestimmung (etwa durch Zwangsbehandlungen oder den Umstand, dass es gar nicht genug Einrichtungen mit passendem Behandlungskonzept gibt, sodass eine selbstbestimmte Wahl der Behandlungsart unmöglich ist), sondern auch den Kontakt zur eigenen Familie, den Anschluss an Schule, Arbeit und Freund_innen.
Je länger die Phase der psychischen Krankheit andauert, desto wahrscheinlicher ist eine solche Entwicklung. Und davor haben so gut wie alle Menschen Angst. Ob sie nun wissen, dass etwa 76 % der obdachlosen Menschen „auch psychisch krank sind“[21] oder nicht. Es ist absolut klar, dass, wer nicht gesund im Sinne von arbeitsmarktgerecht funktionstüchtig ist, ein echtes Problem hat und sich um Hilfe bemühen muss.
Ob welche da ist oder nicht. Und auch: Ob sie hilft oder nicht. Bevor man gar nichts macht und man für jemanden gehalten wird, die_r krank sein will, nehmen sehr viele Menschen auch Angebote an, die nicht für sie geeignet oder für Menschen mit ihrer Diagnose unerprobt sind. In so mancher Krisenphase ist „zu wenig oder nicht ganz richtig“ schnell mal „immerhin etwas und nicht ganz falsch“. Die Folgen solcher Kompromisse können verheerend sein und die Entscheidung darüber kann von niemandem in allen möglichen Konsequenzen vorhergesehen werden.

Eingegangen werden müssen diese Kompromisse dennoch. Für komplex traumatisierte Menschen mit mehreren assoziierten Erkrankungen gibt es de facto keine andere Wahl, denn „Traumatherapie“ ist kein geschützter Begriff. Als Psychotherapeut_in und Heilpraktiker_in für Psychotherapie kann man praktisch alles „Traumatherapie“ nennen, was dabei helfen soll, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Der Fort- und Weiterbildungsmarkt zur Thematik ist voll mit allen möglichen Akteur_innen, die viele verschiedene Methoden anbieten oder weiterentwickeln. Manche davon, wie zum Beispiel EMDR, sind umfassend erforscht, während anderen, wie der „(traumafokussierte) Familienaufstellung“, ganz klar ein Personenkult und damit verbunden eine esoterisch-autoritäre Weltanschauung zugrunde liegt.

Als Patient_in mit Traumafolgestörung ist eine umfassende Psychoedukation wichtig, um überhaupt zu verstehen, worum es bei der eigenen Erkrankung geht. Nur so gibt es eine Chance, Kompetenzen im Umgang damit zu entwickeln und sich vor Betrug und wirkungslosen Behandlungen zu schützen.
Auch um diesen ganz basalen Punkt der Aufklärung ist ein Abgleich mit der Realität wichtig. Man muss sich fragen: Wann und wozu erhalten Menschen eine Diagnose und wie wird sie ihnen erklärt? Sind Behandler_innen – egal ob sie medizinisch, psychiatrisch oder psychotherapeutisch arbeiten – immer in der Lage, ihre Patient_innen aufzuklären? Gibt es wirklich immer die Zeit und die Ruhe und die angemessenen Umstände, um sich auf jede_n einzelne_n Patient_in einzulassen? Auch die, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen? Die Leichte Sprache brauchen? Die gehörlos, taub oder taub-blind sind? Die temporär oder dauerhaft Probleme mit dem Gedächtnis haben? Die mental instabil oder sogar dekompensiert sind?

Gerade in Bezug auf Notfallbehandlungen können meiner Meinung nach die wenigsten Patient_innen davon ausgehen, eine Diagnose zu erhalten, die tatsächlich auch etwas mit ihnen zu tun hat. Viel eher werden hier schnelle und durchaus auch fachfremde Sichtdiagnosen gemacht und die Spezifizierung, wenn nötig auch Richtigstellung und Patient_innenaufklärung, den (weiter)behandelnden Kolleg_innen überlassen. Ob die Patient_innen einen Behandlungsplatz zur Weiterbehandlung haben oder nicht. Und ob die_r weiterbehandelnde Kolleg_in die Ressourcen dafür hat oder nicht.

Der hochproblematische „Doktor Google“ ist nicht der ständige Mitbehandler vieler Patient_innen geworden, weil diese hypochondrisch sind oder ihre Pathologie zelebrieren, sondern weil das Internet mit seinen massenhaften Informationen verfügbarer ist als ein_e kompetente_r Behandler_in mit ausreichend Zeit und angemessen spezifischem Wissen, um die Informationen, mit denen Patient_innen kommen, fachlich richtig einzuordnen.
Es ist die Folge eines strukturellen Problems im deutschen Gesundheitswesen, das alle Patient_innen und (Weiter)Behandler_innen gleich betrifft. Es sind jedoch marginalisierte Personengruppen ((darunter chronisch (psychisch) erkrankte Menschen)), die den größten Schaden davontragen. Denn sie sind es, die mit Diagnose A bei Behandler_in A sind, aber die Notaufnahme mit Diagnose B oder C oder D verlassen und damit zur Weiterbehandlung zu Behandler_in B müssen, weil Behandler_in A, Krankheit B, C oder D nicht behandeln kann. Es liegt an Behandler_in B, ob nun Krankheit A, B, C oder D behandelt wird und ob die_r Patient_in umfassend und für sie_ihn nachvollziehbar aufgeklärt werden kann.
Und ob Behandler_in B überhaupt weiter von der_dem Patient_in aufgesucht wird. Vielleicht ist die Praxis nicht barrierefrei. Vielleicht ist die Praxis zu weit weg. Vielleicht muss die Behandlung bei Behandler_in B anteilig selbst gezahlt werden. Vielleicht ist es Teil der Erkrankung, Termine nicht pünktlich wahrnehmen zu können oder sie gänzlich zu meiden, weil sie mit unerträglichen Inhalten konfrontieren könnten. Vielleicht ist eine Assistenz oder Betreuung notwendig für den Termin, das Budget der Fachleistungsstunden aber bereits ausgeschöpft. Oder Assistenz/Betreuung beeinflusst die_n Patient_in mit negativen Kommentaren oder anderem unangemessenem Verhalten.

Verschwörungsindoktrinierte Behandler_innen sind nicht der Grund für Patient_innen (und ihre Angehörigen), die Antworten in Selbsttests, windigen Artikeln oder laieninformierter Selbstdiagnose suchen – das Gesundheits- und Abrechnungssystem besorgt das schon von ganz allein und fördert es zuweilen sogar noch mit unmoderierten Selbsthilfegruppen, die lediglich eine Selbstauskunft erfordern oder dem sozialen Notausgang „Sie sind die_r Experte_in für sich selbst“.
Patient_innen jeder wie auch immer gelagerten Erkrankung sollen und müssen es am Ende immer selbst am besten wissen. Auch dann, wenn sie das gar nicht können, weil ihnen das Fachwissen nicht angemessen zugänglich gemacht wird oder sie initial fehldiagnostiziert wurden, was sie als Patient_innen ohne die entsprechenden Kompetenzen überhaupt nicht wissen oder an sich selbst auch nicht in allen Fällen überprüfen können. Sie sind auf ihre Behandler_innen und deren Behandlung, aber auch ihre Behandlungsempfehlung angewiesen.

Bei einer Erkrankung wie der DIS bewegt man sich im Fachbereich der dissoziativen Störungen und der Traumafolgestörungen. Das macht die DIS jedoch nicht zu einem juristischen Beweis oder wissenschaftlich eindeutigen Nachweis für Gewaltbetroffenheit und schon gar nicht zu einem Beweis für eine bestimmte Form von Gewaltbetroffenheit.

Ein Trauma ist kein Ereignis. Es ist die Folge eines oder mehrerer Ereignisse.
Eine Traumafolgestörung entsteht durch die unzureichende Verarbeitung der Folgen eines oder mehrerer Ereignisse. Aufgrund der unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Einschränkung und Veränderung der Reiz- und Informationsverarbeitung während eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse, ist es unmöglich, spezifischen Gewalttaten spezifische Traumafolgestörungen zuzuordnen.
Man kann jedoch in Wahrscheinlichkeiten denken. Wenn beispielsweise ein Berufssoldat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach einem Einsatz entwickelt und diese Erkrankung bei Berufssoldaten allgemein als „Berufskrankheit“ eingeordnet wird, dann ist es zwar nicht wissenschaftlich oder juristisch gesichert, dass der Einsatz eines Berufssoldaten zu dessen PTBS geführt hat – als medizinische_r oder psychologische_r Behandler_in die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch als hoch einzuschätzen, wird dadurch nicht automatisch falsch. Eine Überprüfung im zur Verfügung stehenden Rahmen (also das Gespräch mit jenem Soldaten und wenn vorliegend dessen Krankenakte) geschieht im Zusammenhang mit der Diagnostik.

Diese für viele Menschen so komplizierten Feinheiten, die zu verstehen und nachzuvollziehen so viel Wissen um wissenschaftliches Denken und Ordnen, Kategorisieren und Bewerten erfordert, sind die Teile, die dem Podcast „Geteiltes Leid“ fehlen, um die Situation von Amelie im Waldschlösschen, aber auch von Leonie und Thomas, dem Sohn von Herrn Bartel, dessen Geschichte in der dritten Folge erzählt wird, wirklich umfassend zu verstehen. Vielleicht hätte Thomas etwas davon erzählt, doch wir werden das nie erfahren, denn das Podcast-Team hat nur dem nach eigener Aussage fälschlicherweise des „knallharten Missbrauchs“ beschuldigten Vater ermöglicht, sich persönlich zu äußern.

Amelie hingegen kann sich äußern. Und was sie über die Klinik „Waldschlösschen“ in Dresden sagt, stimmt: Jede_r in der DIS-Bubble kennt diese Klinik.
Warum? Weil sie, soweit ich informiert bin, die einzige Klinik in Deutschland ist, die eine eigene Station für Frauen mit DIS hat und nicht nur allgemein „auch dissoziative Störungen und Traumafolgestörungen“ behandelt. Die Konkurrenz ist rar. Die Wartezeit unfassbar lang. Für Kassenpatient_innen nur mit enormem Aufwand überhaupt finanzierbar.

Das Hilfeversprechen wirkt nicht nur auf Patient_innen, sondern auch Behandler_innen. Besonders, weil praktisch allen Behandler_innen von Menschen mit komplexem Krankheitsbild klar ist, dass die Krankenkasse aufhört, die Therapie zu bezahlen, bevor die Krankheit geheilt bzw. das Leiden erheblich verringert oder weg ist. Eine Intervalltherapie in einem teil- oder vollstationären Rahmen wird daher von ambulanten Psychotherapeut_innen häufig als begleitende oder ersetzende Behandlung angestrebt bzw. der ambulanten Behandlung hinzugefügt, um ihrem Arbeitsauftrag weitestgehend nah zu kommen.
Eine Überprüfung der Behandlungsqualität von an Patient_innen empfohlenen Kliniken ist wünschenswert, aber auch nur im bestimmten Rahmen für Behandler_innen leistbar.
Die Patient_innen sollen und müssen selbst entscheiden. Leider ganz egal, ob sie das auch können oder nicht.

Die meisten können – egal, ob es bei ihrer Behandlung um eine DIS geht oder nicht – erst vor Ort und nach einer gewissen Behandlungszeit wissen, ob die Behandlung wirkt oder nicht und ob sie ihnen hilft oder nicht. Und wenn sie merken, dass sie Quatsch mitmachen sollen und mit ihnen Dinge passieren, die ihnen falsch oder verfälschend erscheinen, dann haben sie nicht nur ein Problem, sondern gleich einen ganzen Haufen.
Denn an wen können sie sich in so einem Fall wenden? Wer kann ihnen ganz sicher sagen, was ihnen wirklich hilft und was nicht? Worauf sollen und worauf können sie sich verlassen? Wie erfolgversprechend ist das Kontaktieren des Qualitätsmanagements? Wie viel von ihrer Würde und ihrer Privatsphäre müssen sie opfern, um ihre Lage klarzumachen? Wer muss alles involviert werden, um eine Klinik erfolgreich wegen Falschbehandlung oder Betrug, Versorgungsmängeln oder der Desinformation von Patient_innen dranzukriegen? Wer glaubt ihnen? Wer nimmt sie ernst, obwohl sie psychisch krank sind?

Und überhaupt – was ist denn danach? Wo ist die Heilbehandlung denn realistisch noch zu erwarten, wenn die spezielle Spezialklinik nicht in Frage kommt? Wo gehen von Helfer_innen verletzte Menschen hin, wenn sie Hilfe brauchen?

Die wenigsten Patient_innen in Amelies damaliger Lage sind Therapeut_innen hörig, die ihnen Verschwörungsstuss einreden. Die meisten kämpfen um ihr Leben und tun, was nötig ist: Mitmachen, bis ihnen kein (angenommener oder realer) Schaden mehr entsteht, wenn sie damit aufhören. Das ist eine Dynamik, die nicht speziell für das Waldschlösschen steht, aber im Podcast wird es so impliziert.

Außer Frage steht für mich, dass man über Handouts und andere Inhalte, die in einer Klinik vermittelt werden, auch kritisch sprechen können muss. Es ist äußerst problematisch, dass Patient_innen kein fundiertes Material zum Umgang mit ihrer Symptomatik gegeben wird. Das ist in meinen Augen ein erheblicher Mangel und bedarf mehr Erklärung als das, was wir dazu, gefiltert von der Podcast-Redaktion, von der Klinikleiterin erfahren.
Und es ist kaum zu fassen, dass Kliniken die Behandlung von Patient_innen deshalb finanziert bekommen, weil sie der Krankenkasse und anderen Kostenträgern gewissermaßen garantieren, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft oder nach höchstem fachlichen Standard zu behandeln, sich dies aber nicht durchgehend in Einzel- oder Gruppentherapien, der Unterbringung oder pflegerischen Versorgung zeigt. Würde das vorliegen, wäre dies in meinen Augen Betrug und ein Skandal – egal, ob es dabei um eine Klinik mit Schwerpunkt auf DIS geht oder nicht.
Eine Einordnung, die diesem Podcast nicht gelingt.

Und noch mehr Einordnungen passieren in diesem Podcast nicht.
Zum Beispiel die um den Komplex darum, ob es möglich ist, dass die WHO von einer nicht näher benannten Gruppe, die sich nicht im Rahmen der Satzung der WHO bewegte, getäuscht wurde, damit sie die Diagnose der DIS im ICD platziert und infolgedessen Rituelle Gewalt (als von satanistischen Eliten, die unbemerkt foltern und morden, ausgehend) als reales Geschehen anerkennt.

Für mich als Laien klingt genau das nach einem Element einer Verschwörungstheorie. Deshalb fütterte ich den VerschwörungsChecker[22] mit der Geschichte. Hier ist das Ergebnis:

Screenshot, das Ergebnis ist nahe an

Normalerweise bekomme ich ein besseres Bild von Zusammenhängen, wenn mir klar ist, was Quatsch ist und was nicht. Bei diesem Podcast hilft es mir nicht sonderlich, die einzelnen Abschnitte und Erzählungen so zu ordnen. Ich muss an die Bemerkung von Aurelia Bazekovic, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, zu diesem Podcast denken: „Lost in Amalgam“.[23]

Das Podcast-Team vermittelt, die WHO sei unfähig zur Analyse, Verifizierung und Falsifizierung wissenschaftlicher Daten, und wer sich auf ihre Veröffentlichung, also den ICD-11-Katalog, beziehe, würde Falschbehandlung gewissermaßen aus Überzeugung durchführen. Was diese Unterstellung für sämtliche anderen Diagnosen im ICD und entsprechend für Behandler_innen jeglicher Professionen bedeuten würde, bleibt den Zuhörenden und ihrer Vorstellung überlassen. Meiner Meinung nach ein grober Fehler und eine ungeheuerliche Unterstellung gegenüber allen Behandler_innen weltweit, da die WHO global agiert.

So einen großen Bezugspunkt medizinischen Konsenses anzugreifen und frühere Fehlannahmen wie die, dass auch Homosexualität lange von der WHO als Krankheit verstanden wurde, heranzuziehen, führt dazu, dass Patient_innen und Behandler_innen verunsichert werden. Wer unsicher ist, gibt bestimmte Grundhaltungen tendenziell schneller auf. Die Grundhaltung, um die es hier geht, ist die, wem man was unter welchen Bedingungen und warum glaubt.

Die Verpflichtung zu helfen

Eine Gesellschaft, die Gewalt an Menschen in unterschiedlichsten Formen für real, die Opfer von Gewalt für Individuen mit ganz eigenen Reaktionsfähig- und -fertigkeiten hält und die zwischenmenschliche Fürsorge auch in Form von medizinischer Behandlung für ein Grundrecht – so eine Gesellschaft kommt wohl kaum zu dem Schluss, zu sagen: „Wir könnten uns über Ausmaß und Gestaltung der Ursachen irren, deshalb glauben wir niemanden und haben entsprechend auch keine Grundlage zu helfen, wenn nötig.“
Letztlich ist doch aber das ein Kernstück des hippokratischen Eides und dessen Pendants in anderen helfenden Berufen: die Verpflichtung, zu helfen.

Aus dieser Verpflichtung ergeben sich unzählig viele Fragen und Ansätze darüber, was Hilfe eigentlich ist. Wer wie helfen kann und wer nicht. Was genau wem wann und warum hilft und was nicht.
Die Bundesregierung hat sich mit der Einrichtung des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM, derzeit besetzt von Kerstin Claus) und der Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) für einen pragmatischen Weg der Klärung und des Erkenntnisgewinns entschieden. Die staatliche Anerkennung der Realität aller Formen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie ihrer individuellen Folgen für die Betroffenen ist damit implizit erfolgt. Ein unvergleichlicher Meilenstein.

Die Anerkennung von offenen Fragen zum Themenkomplex „sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ und bisher wenig oder nur unzureichend beantworteten Fragen ist damit jedoch auch passiert. Daher wurden eindeutige Aufgaben und Ziele formuliert.
Die UKASK soll:

  • […] Tatsachen offenlegen, Verantwortlichkeiten identifizieren und Wege zur Anerkennung des Unrechts aufzeigen.
  • Sie soll einen geeigneten Rahmen bieten, um Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend sowie Zeitzeug*innen anzuhören und somit die Möglichkeit schaffen, auch verjährtes Unrecht mitzuteilen.
  • Daraus sollen Schlüsse zur besseren Versorgung heute erwachsener Betroffener sowie zur Prävention gezogen werden.
  • Sie soll Wege der Anerkennung des Unrechts und Leids durch Politik und Gesellschaft aufzeigen, sowie modellhaft Eckpunkte der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch entwickeln und empfehlen.
  • Sie soll institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitungsinitiativen anregen, Forschungsfragen zu relevanten Themen der Aufarbeitung identifizieren, Forschungsaufträge vergeben oder deren Vergabe anregen.
  • Sie soll regelmäßig öffentlich über ihre Tätigkeiten und Erkenntnisse informieren[24]

Die UKASK generell, aber speziell auch Silke Gahleitner, deren Thema Rituelle Gewalt in dem Zusammenhang ist, hat nicht den Auftrag, Vorfälle zu verfolgen, bei denen Ärzt_innen von Journalist_innen unterstellt wird, sie würden ihren Patient_innen die eigene Weltanschauung einreden und in der Folge falsch behandeln. Also Fälle wie jenem in der Schweiz rund um den Arzt Matthias Kollmann, der im Podcast unvollständig und damit desinformierend erwähnt wird.
Die UKASK soll sich mit Tatsachen befassen. Mediale Berichterstattung, die nicht primär den Erkenntnisgewinn um Rituelle Gewalt, sondern eine Debatte um die Frage von möglicher Falschbehandlung psychisch kranker Menschen zum Ziel hat, ist für die Arbeit der UKASK zum Thema Rituelle Gewalt nicht brauchbar. Gahleitners Distanzierung ist entsprechend überhaupt nicht „bemerkenswert“, sondern vielmehr logische Folge ihres Auftrages.

Bemerkenswert für Hörer_innen sollte meiner Ansicht nach sein, wie systematisch die Erzählung des Podcastes versucht, das Bild einer passiven UBSKM Kerstin Claus zu zeichnen, die dem Diktat von Betroffenenberichten unterworfen sei und deshalb dem Familienministerium nicht einfach vorgeben könne, dass Rituelle Gewalt durch Satanist_innen wahrscheinlich eine Verschwörungserzählung ist, denn wissenschaftlich lässt sie sich nicht belegen. Als wäre, dem Familienministerium zu sagen, was es machen soll, die Aufgabe der UBSKM. Was sie nicht ist. [25]

Auch dieses Interview mit einer Vertreterin einer für Betroffene von sexualisierter Gewalt wichtigen Institution bzw. Instanz bringt diesen Podcast inhaltlich überhaupt nicht weiter und wirkt seinem eigenen Anspruch als demokratiestärkend entgegen. Denn auch hier wird am Vertrauen in Institutionen, auf die man sich im Bedarfsfall verlassen können will, manipuliert – und wieder wird Unsicherheit bei den Zuhörer_innen in Kauf genommen.

Diese Unsicherheit wird zur Rampe in die letzten Passagen dieses Podcasts.
Da wird der Themenmixer nochmal ganz tief in das Sujet der Podcastreihe geschoben und abgedrückt, sodass man als Hörer_in nur allzu bereit ist, unkritisch hinzunehmen, was nachkommend noch erwähnt wird. Zum Beispiel die unbelegbare Behauptung, die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber habe die Verschwörungserzählung über Satanist_innen nach Deutschland gebracht. Oder die Aussage, ein nicht näher benanntes oder definiertes „Rituelle Gewalt Netzwerk“ hätte durch sein Wirken erheblich dazu beigetragen, dass QAnon und andere Verschwörungserzählungen in Deutschland überhaupt greifen konnten.

Komplett erwartbar ist das Ende von „Geteiltes Leid“ eines, das die ganz großen Gefühle wecken soll. Allem voran: Mitleid. Obwohl allgemein bekannt ist, dass man damit niemandem hilft.
Ein Impuls, die Zivilgesellschaft dahingehend zu aktivieren, die eigene Haltung, die eigene Meinung und Bewertung des Themas kritisch prüfend vorzunehmen – der wird nur in eine Richtung gesetzt. Und zwar gegen Opfer sexualisierter Gewalt und ihre Helfer_innen.

Mein Fazit

Ich halte diesen Podcast für eine verpasste Möglichkeit, ein relevantes Thema umfassend und für die Zivilgesellschaft verständlich aufzubereiten.
Mit Protagonist_innen wie Amelie und der Zeit, die das Podcast-Team in die Recherche investieren konnte, hätte ein Podcast entstehen können, der ein echtes Problem ganz grundsätzlich aufzeigt und in seinen Auswirkungen allgemein nachvollziehbar macht.

Stattdessen blieb man in dem bereits als solchem bekannten Strohmannargument, nämlich „Therapeut_innen/Helfer_innen glauben an Satanisten, die Kinder quälen und nennen das Rituelle Gewalt, um überall Opferbonus abzugreifen und schaden allen damit“, verfangen und vermischte alle Aspekte, die es berührt. Dabei ist eine ableistische Abwertung behinderter und (chronisch) kranker Menschen und umfassende Desinformation passiert.

Meiner Meinung nach hat das Podcast-Team von Undone mit „Geteiltes Leid“ eine Geschichte erzählt, die dazu dient, Opfern sexualisierter Gewalt und (chronisch) psychisch kranken Menschen die Glaubwürdigkeit und die Legitimität ihrer Selbstbestimmung in Frage zu stellen. Aber auch, um Behandler_innen und Helfer_innen verschiedener Professionen zu diskreditieren und allgemeines Misstrauen in Institutionen mit Versorgungs- und wissenschaftlichem Auftrag zu schüren.

Die Reihe begann mit etwas, das Laien überhaupt nicht beurteilen können und auch nicht können müssen, nämlich allen Fragen rund um die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung. Es entsteht der Eindruck, dass zum einen nur verschwörungsgläubige Therapeut_innen Falschdiagnosen und unwirksame bzw. schädigende Behandlungen machen, und zum anderen, dass die DIS deshalb keine valide Diagnose sei. Ein Eindruck, der in diesem Podcast zu keinem Zeitpunkt berichtigt wird.

Ebenfalls fehlt eine Angabe dazu, wie viele Psychotherapeut_innen der Glaube an Verschwörungstheorien allgemein und den an satanistische Eliten, die Kinder quälen, im Speziellen überhaupt beträfe. Ohne diese Informationen als faktischen Bezugspunkt, der Hörer_innen ermöglichen würde, eine Vorstellung vom Umfang des Problems zu entwickeln, wurde dann noch eingebracht, verschwörungsgläubige Therapeut_innen/Helfer_innen würden Institutionen unterwandern und damit der ganzen Welt schaden. Immerhin hätten sie es mit ihrer Erzählung bis in die WHO geschafft. Ein weiterer verstörender, allgemein verunsichernder Blick auf mögliche Mängel in Strukturen und Institutionen, die zweifellos real bestehen können, im Gesamten jedoch für die Mehrheit der Menschen nicht oder weit weniger schädlich oder gefährlich sind als in „Geteiltes Leid“ impliziert.

Inmitten dieses zuweilen nur schwer zu entwirrenden Gemischs fanden sich alte Bekannte der False-Memory-Rhetorik: die emotionalisierenden Schlagworte „satanic panic“, „memory wars“ und „Scheinerinnerungen“. Von denen nur einer – und zwar von einer Betroffenen – im richtigen Zusammenhang verwendet wurde: Amelie, der ich für ihren großen Mut und ihre Offenheit an dieser Stelle meinen tiefen Respekt und Dank ausspreche.

Meiner Ansicht nach führt die permanente Vermischung von Annahmen und unvollständig vermittelten Tatsachen dazu, dass die Hörer_innen, die nicht sonderlich tief oder lange mit der Thematik befasst sind, am Ende kaum mehr klar und eindeutig einordnen können, was sie da eigentlich für eine Geschichte gehört haben. Und das bei einem Podcast, der uns doch „investigativ recherchiert“ zeigen wollte, dass es ein krasses Problem gibt. Was von den vielen aufgebrachten Problemen nun genau das Problem, in welchem Ausmaß, für wen eigentlich genau ist, das wird nicht klar.

Das Problem für mich an dieser Podcastserie: Eine Er_Lebensrealität wie meine ist für Journalisten wie von diesem Podcast-Team von „Geteiltes Leid“ nicht mehr als eine krasse Story darüber, was so manche Leute für real halten. Für Showleute wie Jan Böhmermann nichts weiter als eine Witzvorlage. Für False Memory Deutschland e. V. ein traditionell benutztes Ziel in einem längst verlorenen Kampf und ein stets und ständig zu komplexer Fall für Wissenschaft und anders fachlich orientierte Hilfelandschaft.
An uns, den Menschen, die mit der Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung leben, haben alle ein Ding. Ein Thema, einen Konflikt, ein komplett eigenes, zuweilen fachliches, doch immer auch eigennütziges Interesse.

Unsere Stimmen fehlen in dieser Auseinandersetzung.

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Quellen:

[1] Rituelle Gewalt und Scheinerinnerungen: Wenn die Therapie destabilisiert | Y-Kollektiv https://youtu.be/o8AD5hz3s0Q?si=OcCSVPadRXkhC9Iw
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirbt-400121.html
[3] https://www.podcast.de/podcast-news/verschwoerung-und-missbrauch-khesrau-behroz-im-interview-zum-neuen-undone-podcast-geteiltes-leid
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Strohmann-Argument
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Satanic_panic
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/McMartin_preschool_trial
[7] https://gizmodo.com/when-geraldo-rivera-took-on-satanism-and-a-very-confus-5829171
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Moral_panic
[9] http://dissoc.de/02-05.html
[10] Dallam, S. J. (2002). Crisis or Creation: A systematic examination of false memory claims. Journal of Child Sexual Abuse,9 (3/4), 9-36.
[11] Dalenberg, Constance & Brand, Bethany & Gleaves, David & Dorahy, Martin & Loewenstein, Richard & Cardeña, Etzel & Frewen, Paul & Carlson, Eve & Spiegel, David. (2012) Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Psychological bulletin. 138.550-88.10.1037/a0027447.
[12] FAQ der Ärztekammer zu Fragen über die Meldung eines Arztes oder einer Ärztin und umfassender Artikel von ProPsychotherapie e. V. mit Link zu einer Liste von Anlaufstellen zur Beratung und Klärung von Fällen vor einer Meldung oder Anzeige
[13] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/PMKreligioes/PMKreligioes_node.html
[14] https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/
[15] https://www.juraforum.de/lexikon/satire
[16] https://www.scinexx.de/news/biowissen/gefahr-gehirn-ist-sofort-in-alarmbereitschaft/
[17] Denial and Dissociation: 10 things to consider https://www.youtube.com/watch?v=z4-y8SFpW-Y
[18] Gaby Breitenbach, „Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt, Ware Mensch – die planvolle Spaltung der Persönlichkeit“, erschienen bei Asanger, 2012
[19] https://forschungsdatenbank.charite.de/experts/expertenprofil.xhtml?id=35605da015d548ec9d1a1103398b0d31&type=ps&lang=de
[20] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/krankheitsbild/
[21] https://pmc-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/articles/PMC8423293/?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq
[22] https://verschwoerungschecker.org
[23] https://www.sueddeutsche.de/medien/geteiltes-leid-podcast-undone-kritik-lux.CNtKhRb3gB3Nkm6NihKz1X?reduced=true
[24] https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/beauftragung/
[25] https://beauftragte-missbrauch.de/ueber-uns/aufgaben-und-aktivitaeten

die Möglichkeit und das Machen

Was für eine Woche das war, begriff ich erst am Wochenende.
Da habe ich mit einer Freundin telefoniert und gemerkt, dass ich einen Knaller nach dem anderen in meinen Bericht der aktuellen Lage einbrachte.
Später fiel mir aber auch auf, dass ich jeden dieser Knaller komplett erinnere und kongruent empfinde.
So ist das also. Dieses stabil, gesichert und weniger dissoziativ sein.
Wie immer. Nur mehr.

Diese Woche fiel mir dann noch etwas auf.
Ich habe in der Auseinandersetzung mit meinen Psychiatrieerfahrungen einen Prozess angestoßen, der hätte sein können wie immer. Intellektuell. Analysierend. Ganz so, wie ich es immer brauchte, um mich damit sicher zu fühlen. Wenn man Ursache und Wirkung versteht, kann man sich schützen. Und ich, Hannah, die mal die Rosenblätter waren, die mal die Anderen waren, die Menschen und Leben in Klapse und Therapie gut können, brauchte auch nur das. „Wie war es dazu gekommen?“ – „Alles klar, dann ergibt das ja alles Sinn, dann mache ich mal dies und das …“
Jetzt kann ich die fühlen, die vor mir waren. Und manchmal mischen wir uns auch. Manchmal auch schon so sehr, dass es mich nicht einmal komisch befremdet.
Jetzt ist die Auseinandersetzung damit wie immer. Und mehr.

Jetzt merke ich, wie mein Anspruch des Bewusstmachenwollens von Helfer*innen- und speziell Psychiatriegewalt auch daraus entstanden ist, sie mir selbst bewusst zu machen. Und zu halten. Nicht nur für alle, die es (im Gegensatz zu mir) nicht verdient haben, so etwas zu erleben, sondern auch für alle, die es erlebt haben. Wie ich ich? ich.

Und ich merke, wie weit mich meine Intellektualisierung gebracht hat. Obwohl sie zu meinem Vermeidungsverhalten gehört und damit aus therapeutischer Sicht zu den Dingen, die meine komplexe posttraumatische Belastungsstörung aufrechterhält. Böse böse also. Irgendwie.
Andererseits musste ich intellektuell begreifen, was meine Diagnose ist. Es hat nicht gereicht zu glauben, ich hätte mich „abgespalten, um mit traumatischen Erfahrungen klarzukommen“. Ich musste wissen, was toxischer Stress ist und wie er sich auswirkt. Ich musste wissen, wie Gehirne üblicherweise funktionieren. Wie Lernen funktioniert. Was Angst ist. Was andere Emotionen sind. Ganz konkret. Was Macht ist. Was Gewalt ist. Warum alle Menschen dagegen sind und gleichzeitig viel dafür tun.
Ohne diese Auseinandersetzung, diese Forschungs- und Versteharbeit hätte ich nie erfahren, dass Intellektualisierung und die vorerst kognitive Erfassung von Umständen nicht ausschließlich traumabedingtes Vermeidungsverhalten sind. Wofür ich mich schämen sollte, weil sich manche Leute davon überfahren, bedroht, eingeschüchtert, abgewertet fühlen. Und weil es meine psychotherapeutische Behandlung unnötig in die Länge zieht. Nur für mein eigentlich irrelevantes und mit diesem Verhalten dreist und aus narzisstischer Motivation erschlichenes Wohlgefühl.

Ohne diese distanzierte Analyse und die Schemata, die ich dafür gebraucht habe, hätte ich nie welche für mein Verhalten und meine Gefühle entwickeln können. Ich wäre Quatscherzählungen übers Viele- und Menschsein, über Gewalt und Hilfe schutzlos ausgeliefert. Wäre enorm abhängig von meiner Psychotherapeutin oder anderen Be.Handler_innen. Würde so vieles von meinem Verhalten immer noch als etwas von meiner viel weniger veränderbaren Person behandeln.

Meine Birne macht wirklich vieles komplizierter, als es manchen Menschen erscheint. Und vielleicht auch umständlicher. Aber sie schützt mich auch. Und stärkt mich dabei, noch andere Schutz- und Kraftquellen zu entwickeln.
Und eine zu sein. Für mich.

Diese Auseinandersetzung ist anders. Wie immer und mehr.
Wie ich sie mache und wie die anderen in mir sie machen.
Sie haben Angst und ich nicht.
Sie haben detaillierte Erinnerungen und ich nicht.
Ich kann die Umstände als Struktur und Dynamik überblicken und analysieren, und sie nicht.
Sie waren komplett auf sich allein gestellt. Jetzt haben wir uns.
Und einen Partner. Und Freund_innen. Und Begleiter_innen.

Ich habe lange geglaubt, um an so einen Punkt zu kommen, müsse etwas mit mir passieren, das ich in keiner Weise beeinflussen kann. Irgendwie würden mir unvorstellbare, bisher unerreichbare Fähigkeiten wachsen. Wenn ich mich als würdig erwiesen habe. Wenn ich durch genug unangenehme Therapietermine durch bin. Wenn ich die richtigen Medis habe. Wenn ich gut genug bin.
Dann würden sie auftauchen wie Krokusse im Frühjahr und dann ginge es von ganz allein weiter in Richtung Heilung und Normalität.

Aber auch Krokusse kommen nicht beliebig aus der Erde geschossen. Da hat jemand mal eine Knolle in die Erde gedrückt. Da war Wetter und Klima. Da ist keine Maus drangegangen. Kein Rasenmäher drübergefahren. Da war Zeit und Ort und Raum und Möglichkeit. Und genug Leben drin, um sich selbst zu wollen und die nötige Arbeitskraft freizusetzen.
Das, was man vom Krokus sieht, ist das, was ihm das Überleben als Spezies sichert. Das, was ihm Kommunikation und Interaktion mit allem, was dafür nötig ist, sichert. Die Wurzeln sieht man nicht. Ihre ständige Arbeit lässt sich trotz vieler Kenntnisse über Pflanzen kaum insgesamt erfassen. Man wird nie erfahren, wie viel Wasser, wie viel von welchen Mineralien im Verlauf eines Tages, einer Woche, eines Jahres dieser eine Krokus wann genau wie wozu sammeln und wie genau umwandeln und einsetzen musste.
Wir werden vielleicht nie erfahren, ob sich die Knolle für ihr Leben entscheiden oder einfach nur dem Leben als Impuls hingeben musste. Aber wir können uns sicher sein, dass da sehr vieles sehr günstig zusammenkommen musste, das nicht allein von ihr beeinflussbar war. Wir können Glück dazu sagen. Und Lauf der Dinge.

Und müssen immer an beides denken.
An das Glück und die Arbeit.
An die Möglichkeit und das Machen.

mit allem Rechnen: Angst + Kontrolle = Selbstsabotage

Woran ich in dieser Woche erinnert wurde: Selbstsabotage

Menschen mit Ängsten so wie ich sind oft richtig super darin, sich Angst zu nehmen, indem sie weit vorausdenken. Planen. Organisieren. Sich ziemlich konkrete Annahmen ableiten, um Vorhersagen machen zu können.
Das ist eine super Strategie, denn wenn man immer mit allem rechnet, kommt am Ende immer ein Plus – nie ein Minus – raus.
Man hat doppelten Schutz: Man wird nie überrascht und selbst wenn doch, hat man es ja schon vorher gewusst. Und einen ziemlich konkreten Plan, was dann zu tun ist, was was wie bedeutet und zu managen ist und so weiter.

Erstes Problem dabei: Man kommt nie in die Situation, dass man keine Angst hat. Das beruhigende Plus am Ende des „mit allem Rechnens“ ist, dass die Angst immer berechtigt ist. Dass es immer gut ist, Angst zu haben. Und dass man den Selbstschutz immer als Reaktion trainiert und statt als etwas, das immer ein wenig da ist und gewissermaßen die Ausgangslage für jedes Handeln bildet.

Zweites Problem: Wenn man die so sorgfältig vortrainierten Katastrophenrettungspläne nicht ausführen kann, wie geplant, kann es zu massivem Selbsthass, Abwertung und Selbstbestrafung kommen und das nächste Angstfeld eröffnet sich.
Bei mir ist das oft Angst vor mir selbst, weil mich die Brutalität in mir drin erschreckt. Ich habe aber auch Angst davor, dann mit anderen Menschen darüber zu reden, weil sie mich nicht verstehen oder nicht mehr mögen könnten. Der Kontakt könnte die nächste Situation werden, nach der ich denke, dass meine Angst berechtigt war.

Und was mache ich, um damit umzugehen?
Ja, richtig: Einen wasserdichten Plan mit allen Toppings aus der Auslage.
Mehr ist mehr.

Die Strategie des Antizipierens und Planens vermittelt oft Kontrollgefühle. Das ist zwar nicht das gleiche wie Sicherheitsgefühle, aber wenn man sich mit Sicherheitsgefühlen noch nicht so gut auskennt, dann verwechselt man das auch schnell mal.
Ich habe mir eine Liste erstellt, woran ich diese Gefühle unterscheiden kann:

  • Wenn ich Kontrollgefühle habe, fühle ich mich total potent – auch in Bereichen, in denen ich nicht mal Kompetenzen habe.
  • Bevor ich Kontrollgefühle habe, habe ich viele Szenarien analysiert, bewertet, durchgespielt – meine Denkarbeit dafür ist enorm.
  • Wenn ich Kontrollgefühle habe, dann kann ich viel machen – aber tendenziell weniger fühlen, was außerdem noch da ist.
  • Ich habe vor allem dann Kontrollgefühle, wenn ich allein bin. Das heißt, dass ich (wenn ich den Eindruck habe, es könnte hart auf hart kommen) andere Leute (auch die, zu denen ich gerne Kontakt hätte) wegstoßen, vernachlässigen, ausblenden muss.
  • Ich bin extrem unflexibel, wenn ich Kontrollgefühle habe. „Never touch a running system“ ist dann mein Modus. Niemand bewegt sich – nichts darf sich ändern. Und sei es noch so viel vorteilhafter. Total egal. Ich hab grad mal alles im Griff und bin kein zitternder Angstaal – jetzt ändert sich hier gefälligst mal gar nichts.

Sicherheitsgefühle wirken anders.

  • Wenn ich mich sicher fühle, dann sage ich, was ich kann und wobei ich Unterstützung, Begleitung, Hilfe brauche. Meine Erwartung an das, was ich kann, ist viel realistischer.
  • Und ich sage, was ich brauche, dann nicht mit exorbitantem Vorfühlen und Abtasten und Prüfen, sondern einfach so.
  • Wenn ich mich sicher fühle, dann kann ich die Erfahrung vollständig erinnern. Handeln und Fühlen sind in der Regel kongruent. Ich kann daraus alles Mögliche (und eben nicht nur das Unmögliche) lernen.
  • Im Sicherheitsgefühl belastet mich der Kontakt mit anderen Menschen weniger. Wenn ich mehr Zeit zur Anpassung brauche, dann empfinde ich das irgendwie mehr als Teil des Kontaktes insgesamt.
  • Im Sicherheitsgefühl kommt meine Kreativität, Neugier, Spielbereitschaft, Humor und meine Fähigkeiten, Zuneigung und Liebe auszudrücken, zum Vorschein. Andere Menschen haben dann die Möglichkeit, mich vollständig als Mensch zu erleben – und ich habe die Möglichkeit, vollständig im Kontakt zu sein. (Ist auch gruselig sowas – aber mehr so „Uhuuu „gruselig“-gruselig“)
  • Im Sicherheitsgefühl fühlt es sich manchmal auch gut an, nicht alles unter Kontrolle zu haben. Der Spruch „Augen zu und durch“ ist in diesem Zusammenhang nicht die ignorante Floskel, die sie ist, wenn man um Kontrollgefühle ringt.

*

Die Erinnerung an den selbstsabotierenden Aspekt des vorausschauenden Planens gegen die Angst hat mir heute in Bezug auf meine Fahrschulstunde geholfen.

Denn was ich die letzten Male seit dem Meltdown ständig versucht habe, ist die Kontrolle über mich und die ganze Situation zu behalten. Ich habe unfassbar starke Ängste, von anderen als gefährlich wahrgenommen zu werden. Ich will nicht abgewehrt eingesperrt bestraft erzogen werden, weil ich mich nicht im Griff hatte. Mein Fokus ist dem Fokus der Fahrlehrerin und allen, denen ich von der Situation erzählt habe, gefolgt: Hauptsache durch da. Irgendwie einfach schaffen und fertig. Nicht weiter drüber nachdenken – machen.
Kontrolle haben und halten und halten und halten und halten – und nebenbei dann halt lernen.

Mich sicher zu fühlen, erschien mir als gefährlich. Nach dem Meltdown hatte ich vor mir selbst das Recht darauf verwirkt. Ich hatte meinen Versuch, den habe ich verkackt. Es war irgendwie logisch, dass es mir ab dem Zeitpunkt nur noch scheiße ging, wenn ich im Fahrschulauto saß oder an die Fahrschule dachte, selbst wenn ich durch den Ort der Fahrschule fuhr.
Obwohl es inzwischen ein halbes Jahr her ist. Niemand verletzt wurde. Allen Beteiligten klar ist, dass es bei einem Meltdown nicht um steuerbare Impulse geht. Heute die ganze Konstellation eine andere ist.

Meine eigentlich ganz hilfreiche Eigenschaft des konsequent seins hat sich richtig ungünstig mit meiner Angst vermischt und mein Umgang damit hat keinen Raum gelassen, die Erfahrung zu integrieren. Im Gegenteil hat er meine Angst immer wieder bestätigt und mich daran gehindert zu begreifen, dass wieder alles okay ist. Soweit man das halt realistisch sagen kann.
Und das ist ein Klassiker der Selbstsabotage.

Also back to the roots.
Wenn man was anders haben will, muss man was anders machen.

Ich habe 8 Stunden geschlafen. Gegessen. Mir was angezogen, das sich gut anfühlt. Habe auf der Fahrt zur Fahrschule einen Podcast gehört, den ich schon seit 9 Jahren jeden Tag mindestens ein Mal höre. Bin eine Strecke gefahren, die ich kannte. War pünktlich. Habe erst aktiv an die Stunde gedacht, als sie wirklich losging. Mich aktiv darauf aufmerksam gemacht, dass die Lehrerin eingreift, wenn nötig bzw. wie sie sich immer dafür bereit macht. Ich habe ausschließlich auf das geachtet, was tatsächlich passiert ist und ausgesprochen, was ich in dem jeweiligen Szenario annehme, was passieren könnte. Die Lehrerin hat mir dann gesagt, was davon realistisch ist und was nicht.

Ich bin nach einer Stunde ausgestiegen und war nicht komplett im Arsch mit Nerven, Geist und Seeligkeit.
Das war richtig gut.
Mach ich nächstes Mal wieder so.

„besser helfen“

Schnell zur Bewertung einer Situation zu kommen, ist überlebenswichtig. Niemand überlebt akute Bedrohungslagen durch Tiefenanalyse. Doch abstrakte Themen wie Helfen, Fürsorge, Miteinander sein können nur außerhalb von akuter Bedrohungslage konstruktiv bewegt werden.
Das ist Trauma 101: Wenn was brennt, trinken wir keinen Tee, sondern schütten ihn auf die Flammen. – Wenn der Brand gelöscht ist, trinken wir erstmal was, um uns zu erholen.
Wenn eins von beidem nicht oder nicht vollständig möglich ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Traumatisierung, weil der natürliche Mechanismus der Stressreaktion bzw. -verarbeitung gestört wurde.

In der Interaktion zwischen Helfenden und (in der Kindheit) komplex traumatisierten Menschen entstehen manchmal reaktive Dynamiken.
Da ist die eine Seite mit komplex traumatisierten Menschen, die nach Triggern, die so unbewusst und subtil sind, dass sie überhaupt nicht eingeordnet werden können, in einem Bindungsschrei feststecken. Sie rufen nach Hilfe, setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um nicht allein zu sein. Sie fordern und wollen, wünschen und bitten. Sind bereit, einfach alles zu tun, um ihr Leben zu retten – denn so fühlt es sich an. Als ob ihr Leben in akuter Gefahr ist.

Und da ist die andere Seite mit Helfenden, die über die Dauer dieses „Geschreis“ verzweifeln, weil sie einfach weder die Ursache finden noch beheben können; weil nichts von dem, was sie machen, keine Ressource, die sie aufbringen, zu helfen scheint und die Belastung kein absehbares Ende hat. Und: Weil sich zu erholen nach 8-Stunden-Schicht mit unvorhersehbar nötiger Überstundenzahl und eigenen Alltagsthemen praktisch unmöglich ist. Diese Leute kommen Tag für Tag/Termin für Termin mit einer leeren Teetasse in ein brennendes Haus.
So stellt es sich jedenfalls dar.

Solche Konstellationen führen zu den Dynamiken von Helfergewalt, über die ich hier bereits oft geschrieben und in Workshops und Vorträgen gesprochen habe.
Für beide Seiten geht es um alles oder nichts – beide Seiten werden so aktiviert, dass sie schnelle Bewertungen vornehmen, um handlungsfähig zu bleiben oder wenigstens die Illusion/das Gefühl davon aufbauen zu können.

Helfende, die sich in so einem Moment fragen „Wie kann ich besser helfen?“ haben oft noch nicht realisiert, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit leider noch gar nicht helfen.
Weil sie noch gar nicht helfen können.
Die Grundlage für Hilfe in so einer Situation ist die Fähigkeit zu erkennen, dass weder das Haus brennt noch die_r Klient_in in akuter Lebensgefahr ist. Und jede Möglichkeit nutzen und anwenden zu können, um Erholungsphasen traumabewusst anzubahnen, zu begleiten und abzusichern und zu integrieren. Sowohl für sich selbst als auch die_n Klient_in.

Klient_innen im „Bindungsschrei-Loop“ bewerten ihre Situation traumalogisch.
„Niemand ist für mich da/Ich bin allein“, „Ich kann nichts machen“, „Nichts hilft“, „Es wird nie enden“ ⇾ „Und deshalb werde ich sterben.“ Der Trigger ist in ihrem Bewertungsprozess gewissermaßen eingebaut. Der erste Auslöser hatte vielleicht noch etwas mit der Beziehung zu den Helfer_innen zu tun oder mit einem äußeren Umstand. Doch nach einer Weile wird der Einordnungsversuch zum Trigger-Perpetuum-Mobile, weil jeder Gedankengang mit der Bewertung der Lage als akut bedrohlich endet und entsprechend traumareaktives Wahr.nehmen, Denken und Handeln aktiviert.

Kommt man als helfende Person nun dazu und sagt: „Hey, du siehst das alles ganz falsch …“ fügt man eventuell das nächste triggernde Element hinzu: Das Absprechen der eigenen Wahrnehmung/ Verunsicherung durch Umdeutung von Außen
Und die nächste Runde geht los bei der_m Klient_in – und damit auch für die helfende Person, wenn die komplex traumatisierte Person etwa noch selbst- und/oder fremdschädigende Bewältigungsstrategien hat.
Helfer_innen, die ihren Auftrag gegenüber komplex traumatisierten Menschen vordergründig darin sehen, sie von der Wunderbarkeit des Lebens, ihrer Person oder anderen Dingen zu überzeugen, können so jahrelang anhaltende Loops mit ihren Klient*innen erzeugen, ohne jemals geholfen zu haben. Obwohl sie immer da waren. Immer alles gegeben haben. Immer alles möglich gemacht haben.

Traumalogik ist brutal.
Aus meiner Innensicht als komplex traumatisierte Person beschreibe ich sie als genauso tief und umfassend beruhigend wie ängstigend. Es gibt kaum eine andere Keule, die mich so weit aus mir raus wie in mich hinein schlagen kann. Bin ich darin aktiviert, ist es bis heute mit gezielter Anstrengung verbunden, sie zu reflektieren, zu prüfen, zu hinterfragen, abzugleichen.
Nun ist es mit Traumalogik aber nicht so wie mit Alltagslogiken, die sich aus vielen kleinen Aspekten und Wahrscheinlichkeiten entlang sozialer Bedingungen, Tageszeiten, Zustandsoptionen einzelner Elemente zusammensetzen und mehr oder weniger orchestral funktionieren.
Traumalogik ist 1 oder 0 und egal welche Seite man wählt, wird die gesamte Selbst- und Umweltwahrnehmung verzerrt zu dem, was man als in der Kindheit komplex traumatisierter Mensch am sichersten und einfachsten einordnen kann: eine potenziell lebensbedrohliche Umgebung
Eine Umgebung, in der man sich auf nichts und niemanden verlassen kann. Eine Umgebung, in der nichts ist, wie es scheint. Eine Umgebung, in der man um jeden Preis (wenigstens das Gefühl von) Handlungsfähigkeit aufrechterhalten muss.

Und das alles, ohne dass man sich dessen selbst bewusst sein kann. Denn das bereits in der Kindheit komplex traumatisierte Gehirn hat dafür Strukturen angelegt, als es noch keine oder nur wenig ausentwickelte Einordnungsfähig- und -fertigkeiten gab.
„Am Anfang war das Wort“ trifft für diese Personengruppe also nicht zu. Sprechen ist Miteinander. Bewertung (1 oder 0) ist überleben. Überleben ist Leben. Leben gewinnt immer.

Etwas von so umfassender Relevanz wie Traumalogik ist extrem energieaufwändig.
Diese Energie wird an anderen Stellen eingespart.  Der Selbstfürsorge-Skill kann komplett abgeschnitten sein. Funktionen, über die man im Alltag nicht nachdenken muss, werden plötzlich unmöglich. Der Miteinander-Modus kann massiv zusammenschrumpfen. Zum Beispiel auf den Bindungsschrei.
An dem Punkt ist es unerlässlich als helfende Person zu begreifen, dass die_r Klient_in gewissermaßen durchgehend und mit aller Kraft sendet – ohne die Antworten vollständig und richtig empfangen und einordnen zu können. Das hat nichts mit der Beziehungsqualität zu tun, nichts mit dem Vertrauen und nichts mit der emotionalen Bewertung der Person.

Es kann etwas damit zu tun haben, dass die_r Klient_in:

  • eventuell noch nicht weiß, wie das ist, wenn jemand (angemessen) auf den Bindungsschrei antwortet und wiederum mit Angst reagiert bzw. getriggert wird von der Antwort
  • eventuell noch nicht geübt darin ist, sozial angemessen auf Reaktionen von außen hin zu handeln
  • eventuell eine ganz spezifische Antwort erwartet (und davon abweichende Antworten nicht übersetzen kann)
  • am Ende der Kraft ist und der Kollaps kurz bevorsteht (oder bereits passiert ist)
  • der Auslöser in realen, chronisch stressenden Lebensumständen liegt (keine sichere Unterkunft, Finanzlage, soziale Sicherheit, dauerhaft überfordernde Ansprüche)

Die Herausforderung in so einer Situation besteht also nicht nur darin, „richtig zu reagieren“, sondern auch noch darin, dass jedes Reagieren gleichzeitig richtig und gut – und belastend und triggernd (und dadurch schnell als „falsch und schlecht“ eingeordnet) sein kann. Oder dass der Auslöser etwas mit Umständen zu tun hat, die nicht „weggetröstet“ oder „wegentspannt“ werden können, sondern ganz konkrete Zusammenarbeit erfordert. Es also gar nicht um Miteinander, sondern um Füreinander geht.
„Besser helfen“ ist zu diesem Zeitpunkt ein unerreichbares Ziel.

*

Ich verstehe, dass Menschen, die auch ich in diesem Text als „Helfende“ benenne, in ihrem Handeln immer Hilfe verkörpert sehen – beziehungsweise den Auftrag haben, ihr Handeln immer nur im Zusammenhang mit Hilfe zu sehen. Niemand geht in eine Hilfeeinrichtung, um Blumenerde zu kaufen oder die Haare gemacht zu bekommen. Andererseits kann Blumenerde zu kaufen und das Haar gemacht zu haben eine große Hilfe sein. Was also Hilfe ist, ist nicht in jedem Fall davon definiert, was der Beruf oder das Berufsbild oder die Stellenausschreibung als solche vorsieht.
Deshalb gibt es ja so etwas wie den „klient_innenzentrierten Ansatz“.

Menschen mit DIS, also i. d. R. frühkindlich komplex traumatisierte Menschen, benötigen diesen Ansatz in jedem Kontext von Hilfe, Begleitung, Betreuung, Unterstützung, Assistenz insofern als dass ihre Fähig- und Fertigkeiten der Ausgangspunkt sein müssen.
Viele Menschen mit DIS haben ein enorm uneinheitliches und sich zuweilen auch (scheinbar) widersprechendes Fähig- und Fertigkeitenprofil. Die gleiche Person, die nach einer Meinungsverschiedenheit über Kaffee einen emotionalen Zusammenbruch erlebt, bei dem sie das Verhältnis aufkündigt, alle Absprachen fahren lässt und sich dann verletzt, weil sie sich fühlt, als hätte sie niemanden auf der Welt und ihr Leben so nicht aushalten kann – die gleiche Person kann keine 10 Minuten später zur Schule/Arbeit gehen und Leistung bringen. Kann andere Menschen versorgen. Kann der Mittelpunkt einer Party sein. Und beides ist gleichzeitig wahr.
Allerdings aufgrund unterschiedlicher Funktionsmodi.

Ein Konflikt mit anderen Menschen aktiviert das Bindungssystem. Schule oder Arbeit kann das Kampf- oder Fluchtsystem aktivieren. Dass die Person also auch direkt nach dem absoluten Crash zur Arbeit geht oder etwas tut, von dem sie unter anderen Umständen sagen würde, dass sie es nicht kann, bedeutet nicht, dass die Person „nicht weiß, was in ihr steckt“ oder lügt oder „es sich in der Krankenrolle bequem macht“. Sondern, dass sie es im mittleren Erregungslevel nicht kann – aber wenn sie bzw. ihr Körper sich in Lebensgefahr wähnt schon.
„Klient_innenzentriert“ zu begleiten würde in so einem Moment also bedeuten, dass man (gemeinsam) registriert, wahr.nimmt, sammelt (und in der Traumatherapie bespricht) wann ein_e Klient_in etwas „geschafft hat“ und in welchem Modus. So lassen sich wertvolle Informationen darüber generieren, was wie viel Kraft kostet. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Menschen, die sich in Lebensgefahr wähnen, weit über sich hinaus wachsen. Es kann aber eine wichtige Erkenntnis für ein Helfer_in-Klient_in-Team sein, wie viele Aktivitäten, die für die Mehrheit der Menschen zum normalen, mittelschweren Alltag gehören, von der_m Klient_in nur dann überhaupt möglich werden, wenn sie_r sich bedroht fühlt bzw. in einer Schutzreaktion steckt. Also im Überlebensmodus ist.

Meiner Erfahrung nach kommt man als Team kaum anders auch an den Punkt zu akzeptieren, dass Todesangst und Überlebenskampf auch in der Begleitung ohne Täter_innenkontakt und Gewalt oder chronisch traumatisierende Lebensumstände relevante Alltagsbestandteile sind.
Die_r Klient_in braucht diese Akzeptanz, um die eigene innere Mechanik begreifen zu können, um von einer Traumatherapie, wie sie in Deutschland überwiegend durchgeführt und kassenfinanziert wird, profitieren zu können.
Die_r Helfer_in braucht diese Akzeptanz, um sich selbst aus der Dynamik von Bindungstraumareaktion herausnehmen zu können und die gleichzeitige Wahrheit von (scheinbar) widersprüchlichen Verhaltensweisen annehmen zu können.

Die Zusammenarbeit muss also zu einem gewissen Maß immer darin bestehen, ein gemeinsames Wissen darüber zu haben, worauf – also auf welche Fähig- und Fertigkeiten – sich sowohl Klient_in als auch Helfer_in beziehen, wenn Handlungsvorschläge, Lösungsideen oder Anforderungen besprochen werden.

Wenn „Bindungsschrei-Loops“ etwas sind, das immer wieder passiert, es ist etwa eine Möglichkeit, die_n Klient_in in eine Umgebung zu bringen, in der immer „Schrei-Beantwortung“ gewährleistet ist. Zukunftsfähiger und Selbstbestimmung wahrend ist es jedoch, die_n Klient_in dazu zu befähigen, sich selbst zu regulieren und damit in die Lage zu versetzen, die Antworten, die auf „den ersten Pieps vor dem ausgewachsenen Schrei“ kommen, zu verstehen.
Das wiederum erfordert einen durch und durch stabilen Lebensraum. Immer vorhersehbare, nachvollziehbare Prozesse. Kenntnis und Sicherheit über alle Handlungsmöglichkeiten bei Abweichung. Klare Zuständigkeiten über Aufgaben, die mit der Sicherung und Gestaltung des Kontaktes und der Lebensumstände zu tun haben. Verbindlichkeit und Verantwortungsübernahme zu jedem Zeitpunkt.
Und das, während die Strukturen sind, wie sie sind: ein permanenter Trigger an Bindungstraumata, weil sie voller Bedingungen stecken, die nie sicher und für immer auch erfüllt werden können. Die Hilfe, die man also mal gewährt bekommt, bekommt man nie für immer.
Sie dennoch anzunehmen, sich einzulassen und auf ihre Wirkung zu vertrauen, ist ein unfassbar großer Ver/Zutrauensvorschuss. Den muss ein Mensch aufbringen, der unter Umständen nie zuvor im Leben die Erfahrung gemacht hat, dass so etwas überhaupt im Ansatz eine gute Idee sein könnte.
Auch dieser Umstand kann als empfindlicher Triggerpunkt während jedes einzelnen Kontaktes berührt werden. Egal, wie lange die Betreuung/Begleitung/Hilfe schon läuft. Egal, wie gut das Verhältnis ist. Egal, was für tolle, liebe, nette Menschen, die Helfenden sind. Und auch egal, wie gut die Hilfe prinzipiell ist. Hat sie Bedingungen, ist sie nicht zweifellos sicher.

„Besser helfen“ ist also auch unter den strukturellen Gegebenheiten nur mit einer Abwärtsbewertung erreichbar: Besser als nichts – was wiederum zu vielen weiteren ungünstigen Folgeannahmen und Haltungen führen kann.
Dabei ist das wichtigste doch das Helfen – die antragende, kompensierende Zuwendung zu anderen Menschen – das, worum es geht. Die Möglichkeit, die Realität, dass da eben nicht nichts und niemand ist.

Am Anfang jedes Lebens steht der Kontakt.
Dann kommt der Austausch.
Dann die Entwicklung.

Jeden einzelnen dieser Schritte muss man als Mensch im übertragenen Sinn kennen und können lernen. Bei Menschen, die sicher gebunden aufgewachsen sind, hat diese Phase früher und anders eingesetzt als bei Menschen, die ohne diese Sicherheit groß wurden – aber die Möglichkeit zum Kontakt besteht immer und bringt immer Potenzial mit sich, diesen Lernprozess durchzumachen.
Und das ist, was Hilfe generell wichtig und wertvoll macht.
Der Kontakt.

Autismus von Trauma unterscheiden

Die Thematik kommt an. Die Frage wird häufiger gestellt.
Neue Literatur wird veröffentlicht. Zuletzt ist das Buch „Autismus, Trauma und Bewältigung, Grundlagen für die psychotherapeutische Praxis“ von Brit Wilczeck dazu erschienen. Ich kann es uneingeschränkt empfehlen, da es ein umfassendes 101 zu Autismus, zu Trauma und Fragen der Therapie bietet.
Für mein eigenes Buch „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“, hätte ich das Buch gern gelesen, denn meiner Ansicht nach sind es neben persönlich falscher Motivation von Behandler_innen auch unhinterfragte Multimythen und falsche Vorstellungen von Autismus, die eine Unterscheidung bei vorliegender dissoziativer Identitätsstruktur (DIS) schwer machen.

Menschen mit DIS wird häufig eine ähnliche Individualität wie autistischen Menschen nachgesagt. Viele Betroffene fordern deshalb sogar ein, nicht mit anderen Vielen verglichen zu werden.
Für mich ergibt sich daraus ein Momentum, in dem Sachstände zu Wahrnehmungen verklärt werden. So kann keine eindeutige Position mehr eingenommen werden und jeglicher Abgleich wird unmöglich. So auch in der Frage: Was ist die DIS und was der Autismus?

Die Herausforderung der Unterscheidung von DIS und Autismus liegt meiner Meinung nach darin, diesen Abgleich, die Diagnostik, mit angemessenem Mittel und einer grundlegenden Reflexion persönlicher Annahmen vorzunehmen.

Es gibt viele Aspekte im Leben mit DIS, die ich meinem Leben mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) zuordne. Denn nur im Zusammenhang damit wird meine dissoziative Symptomatik überhaupt sichtbar, nachvollziehbar und letztlich auch therapierbar.
Die DIS ist eine Anpassungsleistung, eine Kompensationsstrategie. Sie ist eine messbare Reaktion – keine Grundlage, auf deren Basis allerlei Empfinden und Verhalten passiert. Die gesamte „Krankheitsmechanik“ hat mit Stressverarbeitung und -kompensation zu tun. Es hat sich für mich nie als hilfreich herausgestellt, das Konzept von Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen anzulegen, um die DIS zu verstehen oder zu behandeln.

In Bezug auf meinen Autismus hingegen ist das Konzept einer Kompensationsstrategie unzureichend. Autismus ist keine Anpassungsleistung, sondern eine neurobiologische Grundlage. Die meisten Symptome sind im Kontakt und im Vergleich mit nicht autistischen Menschen sicht- und messbar. Das, was meinen Autismus zur Störung bzw. Belastung macht ist, dass ich ihn immer aktiv kompensieren, verstecken und unter Umständen erklären muss, um in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen.

Jemand, die_r aufgrund von falschen Vorstellungen glaubt, alle Menschen mit DIS und alle Menschen mit Autismus seien unvergleichbar verschieden, kann die Unterscheidung nicht korrekt vornehmen. Die Datengrundlage ist einfach nicht verlässlich. Jedes Ergebnis kann alles und nichts bedeuten. Jeder Hinweis kann alles und nichts bedeuten. Eine sichere Einschätzung und ein sicheres Ergebnis sind so nicht zu erwarten und in der Folge nichts wert. Die Individualisierungsfalle ist zugeschnappt. Keine Therapiemethode ist zweifelsfrei anwendbar, Medikation ohnehin nicht. Klinikbehandlungen werden undenkbar und die Frage, ob bestehender Leidensdruck überhaupt je gelindert oder behoben werden kann, bleibt immer bestehen.

In Bezug auf die Behandlung von Menschen mit DIS habe ich diese Falle schon oft zugehen sehen. Immer entstanden daraus re-traumatisierende (weil gewaltvolle) Beziehungserfahrungen mit Behandler_innen. Denn diese Unsicherheit betrifft nicht nur die Klient_innen, die sich oftmals bereits wegen ihrer Gewalterfahrungen und der davon bedingten Einsamkeit als one of a kind fühlen und in diesem Gefühl bestärkt werden, wenn sie erfahren, dass ihre Diagnose „umstritten“ oder selten oder besonders speziell sei, und/oder sie deshalb keine Behandlung oder sonstige Hilfestellung erhalten. Auch Behandler_innen haben nicht immer einen Umgang mit Unsicherheit, der ihren Patient_innen nicht schadet. Ich habe schon Therapeut_innen getroffen, die sich für allein verantwortlich gefühlt haben, Patient_innen zu behandeln, die „durch alle Raster rutschen (weil sie so individuell anders krank sind als alle anderen)“ oder weil „das Krankheitsbild ja so umstritten ist, dass man damit eigentlich nirgendwo ankommen kann (in Supervision, Fortbildung, Kliniken etc.).“
Besonders tragisch ist es, wenn es sich initial sogar um eine Fehldiagnose handelt.

Aufgrund von Annahmen wie: „Autismus ist extrem selten.“, „Autismus betrifft Jungen häufiger als Mädchen.“, „Autismus ist offensichtlich.“, „Autist_innen sind in sich gefangen/unfähig zur Kommunikation.“, wurde ich erst mit 30 als autistisch erkannt. Das Glück zur Diagnostik an jemanden geraten zu sein, der seine Verantwortung in Bezug auf sein nötiges Fachwissen so ernst genommen hat, ist unermesslich. Es war eine der wenigen Diagnostiken in meinem Leben, bei der ich das Gefühl hatte, jemand würde sich die Mühe machen, meine Persönlichkeitsstruktur, mein Verhalten und meine Schwierigkeiten mit den meisten anderen Menschen abzugleichen. – Und nicht nur mit denen, bei denen der Vergleich (aufgrund verschiedener Vorannahmen) angemessen erscheint.
Zudem war hilfreich, es mit jemandem zu tun gehabt zu haben, für den die DIS keine soziale Aussage hatte. Der also nicht dachte: „Ui – exotisch“ oder „Wow – Satanisten“ oder „[insert völlig schräges Medienprodukt, in dem Vielesein der Gag oder Grusel ist]“

In meinem Leben und in meiner therapeutischen Behandlung war die Unterscheidung von Traumafolgen und Autismus ausschließlich für die saubere Diagnostik wichtig.
Ich habe ein Er_Leben, das von diversen schwerwiegenden und komplexen inneren Konflikten flankiert und ohne gewisse Formen der Unterstützung bei der Einordnung, Verarbeitung und Integration nicht zu ertragen ist.
Geholfen haben mir immer die Therapeut_innen, welche die sozialen Implikationen der DIS meiner konkreten Lebensrealität nachrangig und ihre Vorurteile über Autismus wirklich gründlich als solche aufgearbeitet haben bzw. immer wieder mit Fachwissen konfrontieren. Und zwar nicht für mich oder meinetwegen, sondern weil das zur Grundlage der Behandlung gehört. Weil sie es gut und richtig machen wollen – und nicht weil sie richtig Recht haben wollen.

gute Chancen auf Zahnshit

Vielleicht ist es ein Zahn. Unbemerkt verstorben in meinem Mund, entzündet meinen Gesichtsnerv reizend. Totenruhe neu interpretiert. Lang wirke das Modernde.

Gegen 1 kann ich es nicht mehr aushalten. Mein Nerv ist ruhig, der Zahn nicht. Mir ist schwindelig vom Schmerzmittel, es ist Montagnacht, mein Inneres summt. Am Sonntagmorgen hatte ich meine Sachen schon gepackt. Mein Magen, mein Bauch, mein Kopf, mein Gesicht, alles tat weh. Und dann nicht mehr so stark. Wir fuhren nicht ins Krankenhaus, sondern tranken lauwarmen Kamillentee zu zimmerwarmem Haferbrei. Schauten einen Film von 1985 und schliefen mitten am Tag 6 Stunden durch.
Die Wahrscheinlichkeit am Wochenende an einen Bereitschaftsarzt zu geraten, der die Gesamtlage falsch einschätzt, erschien zu groß. Mein Partner, dessen heftiges Bluthusten aus der kranken Lunge, initial für „aus dem Mund kommend“ gehalten wurde und ich, die_r bei egal welchem Notfall auch immer eine Psychodiagnose mit auf dem Zettel stehen hat, haben damit so unsere Erfahrungen. Und es ging gut.
Bis 1 Uhr morgens.

Ich begann nach dem zahnärztlichen Notdienst zu suchen. Ging runter, um meinen Partner zu wecken. Der war noch wach und schnell genauso verwirrt wie ich. Denn so einfach ist das mit der notfallmäßigen Versorgung mitten in der Nacht nicht. Schon gar nicht für Zähne, das offenbar allgemein zu vernachlässigende Spezialorgan des menschlichen Körpers. So kam es, dass wir um dreiviertel 2 vor einer dunklen Praxis standen und lernten, dass der Notdienst, der von Samstag um 8 Uhr bis Montag 8 Uhr zuständig war, in Wahrheit nur am Samstag von 10 bis 12 Uhr Patient_innen behandelte. Wie auch die Praxis, die für die Stadt Notdienst hatte.
Wir lernten außerdem, dass „Zähne nachts immer schwierig ist“. Und dass uns die 116 117 nur bestätigen konnte, dass eine Vorstellung beim Arzt dringlich angeraten sei – aber niemanden in ganz Niedersachsen vermitteln konnte.

Knapp – ganz ganz knapp – wirklich um Haaresbreite – entging ich einer wutbürgerlichen Empörungsentladung. Mein Partner blieb ruhig, konnte nicht glauben, dass das jetzt wirklich nicht zu lösen sei. Er googelte für Bremen, ich dachte an die anstehende Krankenhausreform, die die Versorgung von kranken Menschen verbessern soll, indem weniger Versorgungsangebot gemacht wird. Dann googelte er für Nordrheinwestfalen und ich nach dem Gefahrenpotenzial von dem Medikamentenmix, den ich bis zum nächsten Morgen noch einnehmen könnte.
Ich entschied, dass ich eine akute Magenruptur schon rechtzeitig mitkriegen und Ohnmachten, Leber- und Nierenüberbelastung überleben würde. Wir fuhren also nach Hause, um die nächsten 3 Stunden, bis wir uns auf den Weg zu meiner Zahnärztin machen könnten, zu überstehen.

Tatsächlich bin ich eingeschlafen. Ein Bett mit verstellbarem Kopfteil – Gold.
Als ich den Lattenrost damals gekauft habe, hatte ich an Schmerztage gedacht, an denen ich vom Bett aus arbeiten muss – nicht an Erstickungsängste und die Notwendigkeit, nicht so viel Blutdruck auf meine Zähne auszuüben. Trotzdem – gut, dass ich ihn habe. Er hat auch in dieser Situation sehr geholfen.

5 Uhr morgens fuhren wir los. Um 7 öffnet die Praxis. 120 km Hoppellandstraße, Bundesstraße, Autobahn. Erst im Dunklen, dann im Dunkelblauen, bald im Hellgrauen, besprenkelt mit immer mehr Beleuchtungspunkten. Ich strenge mich an, mit meinem Partner zu sprechen. Er soll nicht müde werden, sich gut mit mir fühlen. Ich möchte, dass er merkt, dass er das nicht wirklich umsonst macht, obwohl er es nicht-autistisch betrachtet, komplett umsonst macht. Denn natürlich hätten wir auch bis um 7 schlafen und dann wieder zu der Dorfpraxis fahren können, die wir in 10 Minuten mit dem Auto erreichen. Aber um 7 Uhr morgens hat auch meine Zahnärztin auf. Die weiß, dass ich eine konkrete Ansprache brauche, wenn ich Schmerzen habe, übernächtigt bin und Medikamente intus habe. Die weiß, dass sie mir schon mit Kleinigkeiten sofort Todesangst macht, die ganz real sind, in meinem Körper wirken und die Behandlung traumatisch werden lassen kann. Die weiß, dass ich bei ihr bin, weil ihre Behandlung in meinen Abwägungen darüber, was der effizienteste und am wenigsten belastende Weg ist, das Problem, das Unwohlsein, die Krankheit anzugehen.

Abwägungen wie diese sind vor allem in dem Umfang für nicht-autistische, nicht traumatisierte, nicht chronisch kranke Menschen oft nicht 1 zu 1 nachvollziehbar. Und ich habe das internalisiert. Meine Grundannahme in solchen Situationen ist bis heute: Ich stelle mich an, mache mich besonders, ich mache unnötige Umstände, ich überstrapaziere die Güte anderer Menschen, ich muss entsprechend ganz besonders dankbar, lieb, demütig sein. Alles organisieren, alles fürs Wohlbefinden derer tun, die mir helfen. Das ist das Mindeste und in Wahrheit – ganz unter uns – nicht im Ansatz genug.
Und diese Grundannahme ist generell. Betrifft also auch meinen Partner, meine Freund_innen, meine Therapeutin – alle. Immer. Und weil ich weiß, dass manche von ihnen davon verletzt sind, weil sie ja aus ihrer Sicht immer nur Gutes für mich wollen und vielleicht auch nie (bewusst) so über mich gedacht haben, habe ich auch ein schlechtes Gewissen darüber. Und weiß gleichzeitig doch sehr sicher: Diese Grundannahme ist so wenig falsch wie richtig.
Leider. Es ist einfach verflixt mit mir, meiner komischen Merkwürdigkeit m Autismus und dieser Traumasache. Das Generelle sitzt nie da, wo die stets Generalisierenden es erwarten und das Konkrete bestimmt das Konkretisierende, nämlich mich. Schwierig schwierig.

Zum Glück habe ich schon viele selbstbestimmte Entscheidungen treffen und absichern können.
Meine Freundin K. teilt Räume ihres Wohnraums mit mir, wenn ich in der Stadt bin. So kann ich sie an Therapietagen besuchen, bei ihr arbeiten und übernachten, wenn ich für die Arbeit noch weiter wegfahren muss. Und wir, mein Partner und ich können bei ihr auf ein Bett fallen, wenn wir um 7 Uhr morgens nach 2 Stunden Fahrt erfahren, dass wir erst um 11 in die Praxis können.
Nicht aufzuwiegen dieses doppelte eternal Glücksgold in life.

Der Termin selbst bringt nur einen Verdacht, noch keine ganz feste Sicherheit darüber, was den Nerv initial gereizt hat. Aber die Chancen stehen gut auf Zahnshit.
Mir wäre das ganz lieb, denn ich habe prinzipiell lieber lösbare Probleme bekannter Größe, als kompliziert bis unlösbare Probleme unbekannter Größe.
Nun beginnen wir also eine Antibiose und haben das Ziehen der Nervleiche im Zahn geplant.
Derweil betrachte ich im Stillen den Spaten, mit dem ich auch diesen Zyklus für meine Erschwangerung begraben muss und versuche meine Enttäuschung mit Rationalisierung zu lindern. Es soll einfach auch diesmal nicht sein. Irgendwas Gutes findet sich schon noch daran. Irgendwie. Bald. Hoffentlich.
Das wär schön.

Autismus und Ver.Bindung #2

Bindung ist ein Ergebnis von Kommunikation.
Von guter Kommunikation, von schlechter Kommunikation. Von Kommunikation, die mit beliebigem Adjektiv beschrieben werden kann. Egal, wie kommuniziert wird, es wird immer eine Ver.Bindung hergestellt. Auf Basis dessen werden die verschiedenen Kommunikationskanäle trainiert und ausgestaltet. Die Bindung, die Kinder mit ihrer Familie aufbauen, gilt als der erste Entwicklungsraum dafür. Man weiß, wie wichtig stabile Beziehungen zu Menschen sind, welche die Grundbedürfnisse der Kinder an.er.kennen und sie dabei begleiten, sie erfüllt zu bekommen. Wie wichtig es ist, dass die Gefühle von Kindern auch von außen wahrgenommen, eingeordnet und begleitet werden. Wie wichtig es noch bis in die Jugendzeit ist, beim Prozessieren bestimmter Erfahrungen und Gefühle unterstützt zu sein.

Bindung und Bindungsstörungen werden entsprechend häufig im Kontext von (früher) Kindheit und (komplexem) Trauma besprochen. Es gibt sehr viele Forschungsergebnisse zu den schwerwiegenden Folgen von Vernachlässigung und Bindungsstörungen. Und sehr viel Text zu Autismus als Bindungsstörung. Vor allem viel misogynen Text. Denn als erste und in den Leben vieler Menschen einzige Bezugsperson für Kinder galt die Mutter. Bis heute hält sich das Bild vom reinen, intuitiv richtigen Mutterinstinkt, der dafür sorgt, dass eine Person ganz einfach aus sich selbst heraus einem Kind ganz und gar gerecht werden kann. Und das mit Leichtigkeit, denn natürliche Reflexe und Instinkte, sind keine Arbeit. Nichts, was man bewusst und aktiv erlernen oder trainieren muss. Nichts, was auch etwas vom Kind oder dem sozialen Umfeld erfordert.

Ich weiß nicht und werde vermutlich auch nie erfahren, wie ich als Kind war. Als Erwachsene kann ich heute nur mutmaßen und von den Erinnerungen, die ich inzwischen an meine Kindheit habe, rückschließen. Im Wissen, um meine Traumawahrheiten, muss ich dabei auch darauf achten, mich nicht störungsverantwortlich zu machen. Ver.Bindung erfordert Kommunikation. Kommunikation erfordert Sender und Empfänger in Kongruenz. Die gleiche Wellenlänge sozusagen. Und die Fähigkeit, die eigene Wellenlänge auf das Gegenüber anpassen zu können.

Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie relevant der Satz „Das hab ich nicht gehört“ oder „Ich hab dich nicht gehört“ in meiner Kindheit war. Meine Eltern haben mich oft ohrenärztlich untersuchen lassen. Mein Gehör war jedoch in Ordnung. Heute kenne ich die ICD 10 Nummer F 80.20, die Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung [AVWS]. Heute verstehe ich, welche Annahmen andere Menschen allein aufgrund meiner Schreib- und Sprechfertigkeiten (Hyperlexie) hatten.
Und, dass sie falsch waren, ohne, dass ich irgendetwas hätte tun können, um sie zu berichtigen. Ich konnte sehr schnell sehr gut lesen und schreiben – und Worte sehr gut aussprechen – hatte aber ein unterdurchschnittliches Bedeutungsverständnis. Ein unvorstellbarer, nicht nachvollziehbarer Widerspruch für viele Menschen. Man verstand mich als clever, aufmerksam und sehr gezielt in allem, was ich als Sender_in ausgab. Niemand hatte eine Ahnung davon, wie sehr meine Kommunikation auf bloßer Wiedergabe ich-fremder Inhalte beruhte. Was nicht bedeutet hat, dass meine Kommunikation selbst auch ich-fremd war. Ich wusste, dass ich, um mit anderen verbunden zu sein, etwas sagen und auf das reagieren musste, was sie sagten. Und ich wusste, dass es relevant ist, was man, wem wann wie sagt. Die lautsprachliche Kommunikation war damit schon damals das Puzzle, das ich bis heute in jedem Kontakt zusammenbringen muss. Und auch ganz gut kann, denn mein Wort-(bildliches) Gedächtnis ist durch das viele Lesen seit meiner Kindheit umfang- und abwechslungsreich.

Als ich in der Grundschule mit Hörspielkassetten in Kontakt kam, trainierte ich unwissentlich auch meine auditive Wahrnehmung. Meine Kassetten waren das Spezialinteresse, das man bei mir übersah. Während mein autistisches Geschwist über Straßenbahnhaltestellen, Mülltonnen und Pokémon referierte und Plüschtiere im Bett aufreihte, sammelte ich Kassetten nach Verlag und Sprecher_innen und konnte jede einzelne mitsprechen, bevor ich ihren Inhalt auch verstand. Die Kassetten wurden mir das Hilfsmittel zur Barrierenüberwindung, wie es schriftliche Kommunikation bis heute für mich ist.
Die Kassettengespräche konnte ich so oft anhören, wie ich sie brauchte. Da bei einem Hörspiel immer auch mitgedacht wird, dass die Hörenden die Umstände eines Gespräches nicht aus der Körpersprache und der (sozialen) Umgebung schließen können, werden diese Aspekte explizit genannt oder beschrieben. Das war für mich, als würden im Hörspiel die „Störgeräusche“, die in meinem Lebensalltag immer wieder dazu führten, dass ich zum Beispiel meine Eltern „nicht hören konnte“, einfach ausgeschaltet sein. So kam ich in die Lage, Inhalte auch kontextuell zu begreifen und nicht nur wie eine Art Schnellfeuer aus Geräusch und Anspruch in einer Umgebung voller verschiedener Reizschnellfeuer und Ansprüche an die Reaktion darauf.

Als ich sehr klein war, hatte ich diese Hilfsmittel noch nicht. Die Wahrnehmungswelt in der ich er_lebte, stelle ich mir heute als zwangsläufig chronisch stressend, chronisch überfordernd vor. Die verbindende Kommunikation mit anderen Menschen als praktisch unmöglich. Ich nehme an, dass ich eventuell nie einen Unterschied „sehen“ konnte zwischen absichtsvoller Misshandlung und liebevoller Zuwendung.
Überhaupt zu verstehen, was gerade vorgeht – in welchem Kontext ich und das aktuelle Geschehen, in das ich involviert bin, passiert – ist bis heute die Herausforderung, mit der ich (wie andere Autist_innen auch) zu kämpfen habe. Und an der ich weitaus häufiger scheitere, als man es mir anmerkt, geschweige denn zutraut.

Das Ausmaß an Anstrengung, die mit der Kompensation dieser sogenannten „Kontextblindheit“ einhergeht, ist enorm. Das Ausmaß der Überlegenheit von Menschen, die damit keine Schwierigkeiten haben, ebenfalls. Ich bin darauf angewiesen, immer die Kraft dafür zu haben, Erlebtes und Erfahrenes analytisch zu prozessieren. Häufig als „overthinking“ missverstanden, ist es meine einzige Chance zum Selbstschutz und zur Anpassung im Kontakt mit anderen Menschen und gleichzeitig das Verhalten, das mir am häufigsten als Grund für meine psychische Belastung vorgehalten wurde.
Da der Kontext die Kommunikation zwischen Menschen maßgeblich bestimmt, gehen meine Kontaktschwierigkeiten, meine Ver.Bindungsprobleme mit anderen, entsprechend weit über Themen wie Vertrauen, einander mögen und die richtigen Worte im richtigen Moment hinaus.

Tieren hingehen, ist der Kontext oft weniger wichtig. Entsprechend viel leichter fällt es mir, mit ihnen in Kontakt zu gehen und in Ver.Bindung zu sein. Selbst wenn sie mich sensorisch überreizen oder der Kontext über unseren Kontakt hinaus diese Ver.Bindung nicht unterstützt. Um einen Hund zu verstehen, brauche ich mich nicht im Geringsten anstrengen. Ich weiß, dass Straßen scheiße laut und chaotisch unübersichtlich sind. Ich fühls – ein Hund muss mir das nicht erst signalisieren. Genauer gesagt weiß ich genau, welche Signale ich an einer Straße von einem Hund erwarten kann, um in der Annahme bestätigt oder korrigiert zu werden, wie der Hund den Moment erlebt.
Die Mischung aus „wenig Anstrengung“ und häufiger Kongruenz der Empfindungen in Alltagssituationen hat es mir sehr leicht gemacht, eine Ver.Bindung zu meiner Assistenzhündin aufzubauen und diese in ihrer Ausbildung und unserem gemeinsamen Alltag zu gestalten.
Mit ihr im Leben war es leicht für mich, mich generell mit der Welt und im Potenzial mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Jetzt, wo sie gestorben ist, habe ich diese Verbundenheitsgefühle nicht mehr.

das Helferding

„Aus jeder Therapie nimmt man etwas mit“, dachte ich im Zug nach Hause „Aus jeder.“
Während die feuchtgrünen Felder und Wiesen am Fenster vorbeiglitten, dachte ich an unser erstes „Mami-Ding“ und daran, was für ein verkorkstes Scheißding das insgesamt war. Kinder- und Jugendpsychiatrie, halb von zu Hause weg, halb mittendrin. 3 Suizidversuche überstanden, den 4. schon in Planung, gerade entlassen, aber doch noch zu Gesprächen mit der Psychologin hinbestellt.

Sie war klein, hatte dunkle Haare und Augen. Sie hatte nichts Blendendes an sich, nichts Überforderndes. Die Gespräche waren ruhig, auch wenn sie es nicht sein konnten. Und irgendwann wollten sie nicht mehr von da weg. Wollten immer nur noch da sein. In dieser Ruhe, dieser Anwesenheit, die nichts überreizte, niemanden überforderte. Vielleicht ginge das? Vielleicht könnten sie für immer bei ihr bleiben? Sie waren ja eh nicht gewollt zu Hause. Aber bei ihr waren sie ja immer willkommen.
Alles wäre besser, wenn sie ihre Mutter wäre.

Ich spürte R.s Druck im Oberkörper, während ich mir ihre Erinnerungen daran ansah. „Alles wäre besser gewesen, wenn wir damals jemanden gehabt hätten, die_r uns im Leben willkommen geheißen hätte.“ Sie verkrampfte und drehte sich aus unserem Kontakt.
Ich weiß aber auch so, wie es weiterging.
Jemand hatte es der Psychologin gesagt und sofort bereut. Einerseits, weil der Verrat gegenüber der Familie* so ungeheuerlich war, dass er von den Dunkelbunten sofort bestraft wurde und andererseits weil die Psychologin sich abgrenzte und keine Termine mehr anbot. „Nichts gewonnen – alles verloren“, sagte Z. deren vibrierender Puls halb in meinem verschwand. „Ab da gings nur noch bergab.“

Bergab, das klingt, als wären sie damals noch auf einem gewissen Niveau gewesen. Hätten nicht schon die Arme zerschnitten, die Schullaufbahn kaputt, die Familienbande zerfetzt, den Glauben an ein lebenswertes Leben zerstört gehabt. Aber es stimmt irgendwie doch. Sie konnten nicht mehr so tun als ob. Diese so kraftgebende Fähigkeit haben sie verloren. Sie konnten sich selbst nichts mehr vormachen. Sich keine Idee mehr von einem Kontakt machen, der etwas zum Besseren verändern könnte.
Also haben sie es nicht mehr gemacht.
R. hatte sich in ihrer Abwehr bestätigt gefühlt, Z. keinen Kontakt mehr nach Außen. Das ganze System wurde von dem, was sich in der Zeit praktisch wie von selbst entwickelte, überschrieben. Heim- und Klinikablauf förderliches Funktionieren während Täter*innen zufriedenzustellen waren, war wichtiger. Ob als Klapsleiche oder Jugendliche_r, die_r einfach immer gut mitmacht, um gut mitzumachen, weil das Leben ja erstmal aus nichts anderem mehr bestand, war keine Wahl, die sie getroffen und auch nicht gelebt haben.

Ich schaute mir noch ein Mal die Liste der unausgesprochenen Dinge zur Psychotherapie an. Die hatte ich zusammengetragen, weil wir in unserer Therapie besprachen, wie wir woran arbeiten können in der nächsten Zeit. Die Krankenkassenstunden sind verbraucht, wir warten und hoffen auf den FSM.

Wir haben feste Positionen für die Psychotherapie und den Kontakt mit der Therapeutin.
Eine davon war bis vor einigen Monaten noch, dass wir solche unausgesprochenen Dinge nicht aussprechen. Egal, ob wir seit 12 Wochen oder 12 Jahren mit jemandem in Kontakt sind.
„Es ist gefährlich – man verliert einfach zu viel, wenn man solche Dinge sagt.“, das war Z.s Argument, als wir uns damit befasst hatten, ob wir diese Liste wirklich machen und mit der Therapeutin teilen. „Wenn wir heute etwas verlieren, ist das nicht so umfassend wie früher“, argumentierte ich – die gut schnacken hat, weil sie ja eh keine Ahnung hat, wie R. sich ganz richtig und gewohnt frustrierend einbrachte.
Ich habe es dann doch gemacht. Schließlich sind wir nicht nur wegen all der Dinge, die uns gesagt wurden, sondern auch wegen all der Dinge, die nie gesagt wurden in Traumatherapie.

Unsere Positionen haben fast alle etwas mit Performance, mit Kommunikation und Interaktion zu tun.
Keine davon zwingt unser Gegenüber zu etwas, alle beziehen sich auf uns und das, was wir zulassen können. Wir leben nicht nach Schweigegeboten und unterliegen auch keinen Redeverboten – aber wir schützen uns vor Verletzungen und Gefahren, die durch Transparenz entstehen.
Schon das zu teilen war schwierig. Obwohl es so logisch ist. Und überhaupt kein Geheimnis oder etwas, das sonst wie überraschend für unsere Therapeutin oder irgendwen sein dürfte. Aber mit dem Aussprechen wird nicht nur unsere Position sichtbar, sondern auch die Angst und die Nichtbereitschaft dafür, Verletzungen hinnehmen zu müssen. Der Umstand, dass wir etwas wollen, aber nicht … so.
Nicht so wie A., die sich von einem Behandler hat missbrauchen lassen, wie Z., die sich von einer Behandlerin hat wegstoßen lassen, wie ich, die sich nie gegen die Fehlannahmen und Falschbehandlungen von Behandler_innen gewehrt hat – immer mit der Traumawahrheit im Kopf, es gehöre dazu, dass es weh tut. So sei es nun mal. Dieses Leben. Als Patientin, als Geholfene, als Empfänger_in, die froh sein kann.

So viel von unserem Behandlungsweg war in sich traumatisierend schmerzhaft und so viel von dem motivierenden Selfcaresprech, der mir mitunter begegnet, setzt gewissermaßen eine Bereitschaft zum Schmerz voraus. Therapie soll nicht schön sein. Angenehm. Die soll weh tun, die soll mich von meinen Illusionen runterholen, egal welcher Natur sie sind. Die soll mir alle möglichen irrigen Annahmen klarmachen und mir helfen, zu neuen Ansichten zu kommen.
In all dem ist die Beziehungsebene zu meiner jetzigen Behandlerin aber nie als Teil der Beziehungsgeschichte betrachtet, die ich mit früheren Behandler_innen hatte.
Wir konnten gut in die gemeinsame Arbeit einsteigen und drinbleiben, weil wir keine zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut haben. Sie war und wird von uns immer wieder dahingehend gedacht, dass sie Teil des Raumes ist. In gewisser Weise also eine Art Möbel, das zur Interaktion und Kommunikation fähig ist – aber nicht zur Verletzung. Sobald wir damit konfrontiert werden, dass sie ein Mensch ist, kommen wir in Stress. Weil Menschen einfach zur Verletzung fähig und wir damit in Gefahr sind.
Diese Realität weit genug zu verdrängen und sich dennoch zu öffnen für die Arbeit ist herausfordernd und ich glaube so auch nur möglich mit einer dissoziativen Störung.

Nun ist das Ziel aber die Dissoziation in meinem Leben weitgehend zu entstören.
Ich muss schauen, auch jetzt noch, nach der ganzen Arbeit und allem, ob die Dissoziation meiner Therapeutin nicht doch langsam auch eher störend, als hilfreich ist.

das innere Chaos begreifen – ein Plädoyer gegen die Demokratisierung des Inneren

Anfang der Woche sah ich die Formulierung der „Demokratie im Inneren“ mal wieder im Kontext der Traumaheilung und DIS. Wenig verwunderlich, denn diese Formulierung, diese Zielsetzung zum inneren Frieden gibt es schon lange in der Welt.
Ich halte sie für problematisch und schreibe hier, warum.

Zwei Dinge.
Erstens ist Demokratie eine Herrschaftsform. Eine Struktur, um Macht in einer Gruppe (Gesellschaft) herzustellen, anzuerkennen, durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.
Traditionell ist keine Herrschaftsform gewaltlos. Wo Herrschaft ist, ist auch Macht und wo Macht ist, ist Gewalt. Demokratie, aber auch Diktaturen oder Autokratien und viele andere *kratien können sozusagen als Verwaltungssystematiken gedacht werden. Ein ganz spezieller Zettelkasten, in denen die Rechte und Pflichten, Verbote und Gebote des Zusammenlebens ganz spezifischen Menschen(gruppen) zugeordnet werden. Bereits diese Gruppierung und Zuordnung sehe ich als gewaltvolle Praxis an, da sie zu gewalttypischer Distanzierung führt, die ihrerseits sowohl als Funktion als auch als Ziel zur Weiterführung von Gewalt als System einzuordnen ist.
Die Zuordnung von Rechten und Pflichten, Ver- und Geboten ist in der Folge als Privilegierung bzw. Deprivilegierung zu sehen. Also etwas, das sowohl die getane Zuordnung in Gruppen definiert als auch aufrechterhält. So durften bereits in den frühen Demokratien verschiedene Personengruppen nicht wählen und hatten deshalb praktisch keine Möglichkeiten, ihrer Deprivilegierung auf demokratischem Wege entgegenzuwirken. Die Folgen waren unvermeidbare Aufstände, Kämpfe, Kriege. – Gewalt.

Nun mögen manche einwerfen, dass solche Demokratien heute gar nicht mehr existieren. Sklaverei wurde ja abgeschafft und das Frauenwahlrecht gibt es ja auch. Darauf möchte ich zum einen mit einem Mini-Serien-Tipp antworten: „Amend, the fight for america“ [Esquireartikel] und zum anderen daran erinnern, dass erst 2019 bestimmte Gruppen von betreuten und behinderten Menschen ihre Stimme bei der Europawahl abgeben durften. Und dass Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren auch zum Volk gehören. Weiterhin ist wählen zu dürfen auch in unserem Land keine Selbstverständlichkeit für alle gleich. [Tagesschauartikel]
Demokratie war nie von allen, für alle vom Volk gedacht und wird entsprechend auch bis heute nicht für alle angewandt, um Fragen des Zusammenlebens, Wirtschaftens und Ge.Waltens zu beantworten. Demokratie war schon immer ein Werkzeug, den mächtigsten Positionen in einer Gesellschaft den größten Einflussradius zu verschaffen. Nicht: den mächtigsten Menschen – aber den mächtigsten sozialen Positionen sowie darin begründete Ideen und Werte, die von (heute) mehrheitlich gewählten Gruppen (Parteien) (die wiederum mit viel Machteinsatz von ihren Ideen und Werten überzeugt haben) zu Taten kommen. Also dann irgendwann Gesetze oder Verbote werden und Gruppen der Gesellschaft privilegieren oder deprivilegieren.

All dem liegt weiterhin wie dereinst in den ersten Demokratien unserer westlichen Kulturen die Idee zugrunde, dass die mächtigsten die Richtigsten sind und deshalb immer schon eher Recht haben als andere. Hinzu kommt noch der „die Mehrheit hat immer Recht“-Gedanke, der meiner Meinung nach schon deshalb ein Fehlschluss ist, weil die Mehrheit in der Regel einfach nur immer die Macht hat. Eine Mehrheit kann Minderheiten zerstören, entrechten, ausschließen usw. Das gibt ihr kein Recht – aber eine mächtige Mehrheit braucht auch nicht darauf warten, dass ihr Recht gegeben wird – sie kann es sich einfach nehmen.

Und hier kommen wir zu meinem zweiten Punkt und in einem Bogen zur persönlichen inneren Struktur.

Du hast vielleicht gerade deine DIS-Diagnose oder pDIS-Diagnose oder wie auch immer benannte „Anteile-nach-Trauma“-Diagnose bekommen. Du weißt von einem oder mehren Anteilen, die irgendwie dauernd in dein Leben hineinfunken oder dir Entscheidungen unmöglich machen. Oder du spürst immer wieder, dass du mit Erinnerungen geflutet wirst, die dich quälen oder dass du dein Leben einfach nicht genießen oder bestimmte Therapiefortschritte nicht machen darfst. Ständig ist Krieg in deinem Inneren und du wünschst dir vor allem Ruhe, Frieden, Einigkeit, Harmonie.
Und dann liest du die Formulierung „Demokratie im Inneren“ und du denkst: „Ahja Demokratie, so machen wir das ja im Außen mit allen möglichen Entscheidungen. Alle sagen, was sie wollen und dann machen wir, was die meisten wollen und damit müssen alle zufrieden sein, denn so läuft es nun einmal.“

Das denkst du aber vielleicht nicht, wenn du gerade mit den tausenden Menschen in ganz Deutschland gegen die demokratisch gewollte gewählte AFD auf die Straße gehst, oder? Da gehst du ja hin, weil du sie nicht gewählt hast und nicht willst, dass sie so viel bestimmen dürfen wie die AFD, die sich CDU/CSU nennt. – Die du ja vielleicht auch schon nicht gewählt hast, die du aber irgendwie hingenommen hast, weil du ja mit deiner Stimme für SPD, Grüne oder Linke schon noch ein Gegengewicht herstellen konntest. Hast du jedenfalls gedacht. Sie habens ja versprochen. Im Wahlkampf. Wo sie jedem potenziell Wählenden alles erzählt haben, was sie hören wollten.
Aber vielleicht machens sie es ja noch wahr. Große Veränderungen dauern ja.

Nun spielen wir den Gedanken mal weiter, als hättest du keine demokratiekritische Haltung und du versuchst diese Demokratie in deinem Inneren herzustellen.
Okay: Welche Konflikte gibt es bei euch? Welche Entscheidungen müsst ihr treffen? Welche Überzeugungen und Werte sind für euch bei Abstimmungen relevant? Welche Parteien habt ihr im Inneren? Welche Koalitionen und welche Oppositionen gibt es? Habt ihr eine Struktur in euch, die eure Entscheidungen legitimiert? (Also eine Legislative, eine Justiz?) Habt ihr eine Struktur in euch, die dafür sorgt, dass sich alle von euch (auch, aber vor allem die Minderheiten, die Verlierer jeder Mehrheitsabstimmung) an eure Entscheidungen halten? (Also eine Polizei oder Armee?) Wie prüft ihr, ob eure Entscheidungen nicht totaler Quark sind?
Was macht ihr, wenn trotz innerer Demokratie gar nicht die Ruhe eintritt, die ihr haben wollt?
Wie geht ihr mit Aufständen, Großdemos und gewaltvollen Attacken um? Welcher Instanz, welcher Stelle außerhalb von euch selber, überlasst ihr in dem Fall die Kontrolle (die Macht) über euch?

Allein diese Fragen für sich beantworten zu können, erfordert unfassbar viel Wissen über „die Anderen“, über euch als System und über euch als Menschenkörper sowie das Leben als Mensch in der gesellschaftlichen Position, in der ihr lebt. Es ist überfordernd und zwangsläufig auch frustrierend. Denn gerade am Anfang, vor allem wenn auch noch PTBS oder andere traumabedingte Belastungsstörungen wie Essstörungen, Süchte, dysfunktionale Beziehungsmuster oder Persönlichkeitsstrukturen unreflektiert wirken und gebraucht werden, um den Tag zu überstehen, kommt man nicht „auf einen grünen Zweig“ beim inneren Demokratieaufbau. Viele halten sich dann für therapieunfähig oder in Annahmen über generelle Unfähigkeit bestätigt oder schlicht für einen hoffnungslosen Fall.
Dabei ist das, was da oft passiert in meinen Augen eine total gute, gesunde, heile Reaktion. Wozu denn ein System der Herrschaft etablieren, wenn doch im Inneren gerade eigentlich alle nur mal die Nase in den Wind oder den Kopf aus dem Sand stecken und die Augen aufmachen? Die Anfangszeit rund um die Diagnosestellung ist doch vor allem deshalb so grauslig: Da sind auf einmal welche, die irgendwas machen und wollen und man versteht nicht, wieso und wozu – und wenn doch, dann ist man erstmal total erschreckt und will das alles vielleicht gar nicht.
Warum zu dem Zeitpunkt erst mal alles kontrollieren? Alles ordnen, Posten verteilen, gruppieren, mit Namen versehen, wer keinen hat, umbenennen, wer peinlich oder verräterisch klingt und Regeln nebst Strafen aufstellen?
Für mich ist das eine gewaltvolle Traumareaktion. Man kriegt Schiss wegen des Kontrollverlustes und die Reaktion ist der Versuch Kontrolle herzustellen. Dabei ist die bedürfnisgerechte Reaktion auf diese Furcht, diesen Schiss, eigentlich, sich zu versichern. Also nicht diesen Schritt zu machen: „Ich will die Kontrolle nicht verlieren – also sichere ich mir die Kontrolle.“ – sondern: „Ich habe Angst vor Kontrollverlust, also begebe ich mich in eine sichere Umgebung, einen versichernden Kontakt, in dem ich keine Angst vor dem Kontrollverlust haben muss.“

Diese Art der Analyse eigener Bedürfnisse können komplex traumatisierte Menschen mit DIS, pDIS, DDNOS etc. in der Regel gar nicht vornehmen, weil sie ihre Grundbedürfnisse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht als solche (für) wahr.nehmen, einordnen und kongruent befriedigen können.
Die meisten können auf Angst – egal wovor und egal, wie bewusst ihre Auslöser für sie sind – nicht anders als traumareaktiv re.agieren.
Was bedeutet das aber für den Aufbau innerer Strukturen für den Systemfrieden?

Das bedeutet erst einmal, dass die bestehenden inneren Strukturen verstanden, wertgeschätzt und akzeptiert werden müssen, wie sie sind und sich zu überlegen, was „innerer Systemfrieden“ diesbezüglich überhaupt sein kann.

Dazu gehört auch eine grundlegende Akzeptanz für inneres Chaos zu entwickeln – und auch von Außen innerlich chaotisch gelassen zu werden, solange dadurch kein körperlicher Schaden für die Person und deren Mitmenschen entsteht. So manches „Chaos“ ist in Wahrheit eine Expedition von Innens nach Außen oder Versuche des Andockens an die Gegenwart. Was ich selber auch oft als Chaos wahrgenommen habe (und manchmal noch so empfinde) ist der Versuch herauszufinden, wie ich was eigentlich wahrnehme und für mich allein bewerte – während ich aber gleichzeitig merke: „Oh Shit, ich kann das aus mir allein heraus gar nicht.“ Dass ich so etwas merke und dann innerlich ganz zerwurschtelt in meinem Wollen und Können und Fühlen und Denken bin, ist per se überhaupt kein Problem, solange ich sicher und versorgt herumprobieren kann, was ich wie will und brauche und möchte. Es ist weder ein spezieller Spezialaspekt meines Vieleseins, noch etwas psychologisch Pathogenes – es ist ein vollkommen normaler Lern- und Selbst.Erfahrungsvorgang.

Einer, der auch beim Kompetenzaufbau zur alltagsorientierten Überlebenssicherung hochgradig relevant ist.
Priorisieren, rechnen, strategische Überlegungen anstellen, Planung über mehrere Tage hinweg – das sind Fähig- und Fertigkeiten, die eine umfängliche Hirn- bzw. Körperfunktion erfordern. Dafür müssen bei sehr vielen komplex traumatisierten Menschen erst einmal passende neuronale Netzwerke entstehen. Denn chronisch toxisches Stresserleben (wie beim Aufwachsen in traumatisierenden Lebensumfeldern üblich) verhindert dies. Viele komplex traumatisierte Menschen wirken vielleicht so, als wären diese Aufgaben kein Problem – sie sind es aber und sie versteckt von Grund auf (neu) zu lernen, weil Außenstehende sie erwarten, ist ein ungeheuer großer Kraftaufwand.

Das Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur bzw. Er_Leben, das von dissoziativer Selbst- und Umweltwahrnehmung beeinflusst ist, bedeutet sehr viele Herausforderungen, die die meisten nicht komplex traumatisierten Menschen mehr oder weniger unkompliziert und liebevoll begleitet in ihren ersten Lebensjahren meistern. Das heißt, dass auch das Verständnis von diesen Menschen für „Viele“, was das angeht, oft nicht groß ist. Man redet nicht oft darüber, auf welcher Basis „die Ungeschlagenen“ ihr Leben und sich selbst auf die Kette kriegen, weil sie sie oft schon einem Alter aufgebaut haben, in denen niemand von ihnen erwartet, ihre Herausforderungen zu beworten. Meiner Meinung nach heißt das für „späte Neulernende“: Ihr solltet das auch nicht machen müssen, um darin unterstützt und gesichert zu werden.

Und das – das Nichtbeworten und das Beobachten, um zu verstehen ohne einzugreifen – ist die Haltung, die ich für den Anfang der Auseinandersetzung für zielführend halte. Sowohl von Außenstehenden als auch allen im System.
Aus dem, was sich mit dieser Haltung vor mir aus meinem Inneren auftut, ist keine Demokratie oder sonst wie strukturierte Herrschaft aufzubauen. Nicht ohne ein Bewusstsein dafür zu bekommen, was für heftige Ein- und Übergriffe ich damit vornehme – und was für Spannungen ich aufbaue, halte und gewaltvoll legitimiere, die früher oder später wieder zurückkommen.

Mit diesem Plädoyer möchte ich nicht sagen, dass eine „innere Demokratie“ zu wünschen oder zu haben falsch ist. Wer das für sich erreicht hat und zufrieden ist, ist in meinen Augen deshalb kein schlechter Mensch.
Das macht meine Aussage über die Gewalt, die Demokratie bedeutet, auch nicht kleiner. Aber vielleicht ist dieser Beitrag eine Stimme für diejenigen, die nichts mitbestimmen dürfen, weil sie sehr traumanah erleben oder weil sie etwas (noch) nicht hinbekommen im Außen oder weil sie von den Bestimmenden der inneren Demokratie bislang nicht gehört wurden.

Und vielleicht ist dieser Text auch ein Impuls, sich mit Konzepten von radikaler Fürsorge, Communitycare und anarchistischer Gruppenorganisation auseinanderzusetzen. Denn letztlich brauchen wir als Viele primär gar nicht die Kontrolle über uns, um in dieser Welt zu bestehen, sondern Sicherheit, Fürsorge, Raum zum Wachsen und Freiheit für den ganz eigenen Selbstausdruck.

Stress und Opferbelange

Es war zufällig aufgefallen.
Mein Partner war gerade wieder in der Lage zwischen Couch und Schlafzimmer zu wechseln, ohne sofort die Augen schließen und durchatmen zu müssen. Aus Gag hatte ich sein Pulsoximeter aufgezogen und einen Puls von 42. Was ein bisschen niedrig ist für jemanden, die_r gerade hin- und hergelaufen und auch sonst nicht gerade tiefenentspannt war. „Vielleicht spinnt das Gerät, man soll sich ja ohnehin nicht so darauf verlassen, wie auf die Geräte bei Mediziner_innen. Die Dinger sind ja nur fürs Gefühl, für die Tendenz.“ So haben wir darüber gedacht.
Das war im April.

Im Mai habe ich mir einen Körperspion gekauft. Eine Fitnessuhr.
Weil ich dachte, dieser Sommer würde der Sommer werden, in dem ich mich endlich auch körperlich mal so auf die Reihe kriege, wie ich andere Aspekte in meinem Leben schon auf die Reihe gekriegt habe.
Ich würde nicht mehr einfach nur so ’ne Stunde schwimmen, tüddelü, Hauptsache, es fühlt sich gut an, sondern bäm bäm bäm besser, schneller, burn burn burn mein Stressfett weg.
Da fiel die Pulsausnahme in ihrer Regelhaftigkeit auf. Im Schlaf, klar, da würde man eine niedrige Pulsfrequenz erwarten – aber um die 40? Und, ist es nicht irgendwie komisch, wenn man mit Sport anfängt, den man schon seit Jahren in gleicher Regelmäßigkeit macht, von 80 auf 140 hochschießt und dann runterplumst auf 45 bis 42? Hm, hm, hm.

Ich dachte, dass es eine Folge der Covid-Infektion war. Vielleicht sowas wie POTS oder irgendwas Gefäßiges, schließlich ist COVID am Ende eine Vaskulitis – eine Entzündung von Gefäßen.
Und machte weiter wie immer.
Nur, dass es mir im Verlauf des Jahres nicht besser ging. Ich war lange in Sorge, hatte mein Buch veröffentlicht und Lesungen geplant, „Viele Leben“ gestartet und bei der Arbeit ist das Pensum in das für mich Unschaffbare gestiegen, weil immer wieder jemand ausgefallen ist und eine Person ausstieg. Meine Projekte und Pläne konnte und kann ich auch weiterhin nur schluckweise bearbeiten, es ist einfach alles sehr sehr viel. Sehr sehr viel Stress vor allem. Und dann auch noch die Art Stress, die nicht mit regelmäßigem Sport ausgleichbar ist. Oder mit mal schön im Garten sitzen. Oder genießen, wenn was gut gelaufen ist. Feierabend machen. Es ist die Art Stress, die auch immer wieder antickt: Wenn du das nicht schaffst, bist du tot (weil dich alle hassen/du kein Geld hast/du bestimmte Fähigkeiten nicht hast, die dich schützen …)

Irgendwann hat meine Fitnessuhr angefangen zu vibrieren, wenn sie erkannt hat, dass ich aktiv war und einen Puls unter 45 hatte. Logisch, man würde das wohl nicht erwarten bei einer gesunden Person, in meinem Alter.
Ich habe einen Termin bei meinem Kardiologen ausgemacht. Der sollte im Dezember stattfinden. Das fand mein Lungenfacharzt nicht so geil und ließ ihn vorverlegen. Es gab Untersuchungen. Ultraschall, Belastung, 24 Stunden-EKG. Alles mit Wartezeiten natürlich.

Der Sommer kam und ging, ich arbeitete durch. Nix mit Radfahren zusätzlich, nix mit krass mehr burning Schwimmen, sondern schön den Arsch am Computer. Setzen, lesen, schreiben, planen, organisieren, als hätte ich eine Vollzeitstelle und sowas wie nutzbare Freizeit zum Ausgleich.
Im September habe ich dann Urlaub gemacht. Für 4 Wochen. Nachdem ich im Grunde jede Woche mindestens einen Meltdown hatte und wirklich und echt nicht mehr konnte. 2 der 4 Wochen habe ich damit verbracht nachzuarbeiten, was liegengeblieben war, aber mit Ausschlafen. Wenn es denn ging. Und dann bin ich zwei Wochen Fahrrad gefahren. Etwa 650 Kilometer mit ein Mal COVID-Ansteckungsangst und ohne Fitnessuhr. Ich merke inzwischen auch ohne, wann wieder alles im Keller ist und schaffe es, ohne Panikschub meine Herzfrequenz wieder zu erhöhen.

Auf der Buchmesse im Oktober dachte ich kurz, dass ich einen Herzinfarkt bekäme. Ich hatte so heftige Rückenschmerzen, Zahnschmerzen und die Luft ging schwer rein. Aber mein Puls war gut. Wahrscheinlich nur der Stress vom Fahren unter der Woche, im Zugchaos der Deutschen Bahn, im Arbeitschaos, während ich Innenarbeit mit inneren Jugendlichen mache. Panikattacke ohne Panik? Hatte ich noch nie, aber was weiß denn ich?!

Gestern, auf dem Weg zur Praxis meines Kardiologen, dachte ich darüber nach, was ich ändern würde, würde mir jetzt irgendeine echte Herzsache ins Leben treten.
„Ich würde kündigen.“, das war mein erster Gedanke. Kündigen, meine Förderung mitnehmen, eine Reha versuchen und irgendwo neu anfangen. Das Büchermachen würde meine Freizeit werden. Ich würde den Podcast abgeben, die Gruppe abgeben, meine Stifte spitzen und Leinwände zuschneiden. Meine verstaubte Kamera rausholen und erst wieder sprechen, wenn es sich wirklich gut für mich anfühlt.
Ich würde betrauern, dass ich kein Kind bekommen kann, weil wie selbstbestimmt wäre das mit irgendeiner Herzsache und dann würde ich den Partner belatschen, dass wir 6 Monate im Jahr mit dem Wohnwagen unterwegs sind.

Dann aber sagte der Kardiologe, dass ich tippitoppi gesund bin. Super fit halt, da ist eine niedrige Pulsfrequenz normal. Er erklärte mir, wie niedrig mein Risiko für irgendwas Herziges sei und zeigte dabei auf eine Tabelle. Meine Beschwerden könnten vom Übergewicht kommen.
Ich habe also ein messbares und völlig harmloses Ding, weil ich so fit bin und einen Haufen unmessbarer Dinge, die mich belasten, weil ich so fett bin. Geil.

Ich suchte den nächsten Zug nach Hause aus und begann mit Textarbeit. Dann kamen die Nachrichten, über Verspätungen, Reparaturen, komplett ausgefallene Verbindungen. Klar. Ich würde wieder eine Arbeitssache nicht hinkriegen, meine Betreuerin wollte mit mir telefonieren, klappt das noch? Nicht vergessen, der Partner muss noch in die Werkstatt kommen, wir müssen pünktlich zu Hause sein. Wär ich doch nur nicht so fett, dann würde ich das jawohl ganz ohne Druck im Oberkörper und Schwindel überstehen. Natürlich hatte ich noch nichts gegessen und nur Kaffee im Organismus. Wer braucht Kalorien, wenn sie_r auch Stresshormone haben kann. Der Treibstoff der Gewinner, alte Anorexieweisheit zwinkyzwonky

Ich stand am Gleis, weinte und aß ein Brötchen vom Bahnhofbäcker. So wie das jemand machen sollte, die_r seit nun 23 Jahren so ein bizarres Verhältnis zum Essen hat, dass es einfach nie wirklich okay, selten wirklich ganz und gar befriedigend oder zweifelsfrei in Ordnung ist.
Nicht.

Natürlich habe ich nicht nur wegen all dem geweint. Ich war auch angefasst von der Therapiestunde am Tag vorher und eh in Kontakt mit Innens, die nie wieder irgendwas im Mund haben wollen oder in der Nähe davon aushalten können. Manchmal habe ich einfach Pech. Da schieben sich die Themen ineinander wie tektonische Platten und meine innere Welt bebt. Dann denke ich im Nachhinein: Okay, sind meine Tränenvulkane auch mal wieder aktiviert worden.
Aber was erzähle ich mir denn damit?
Irgendwie naturalisiere ich damit doch auch wieder nur die ständige Anspannung, den fehlenden Erholungsraum, die Sackgassen, aus denen ich allein, ohne Ermutigung, Ansporn, Versicherung von außen nicht mehr rauskomme.

Im Zug weinte ich noch ein bisschen weiter, weil scheiße ey, 23 Jahre Essstörung und irgendwie gesund Gewicht verlieren, das hinzukriegen erscheint mir inzwischen einfach nur noch utopisch. Innerhalb all der Dinge, die auch dran sind. Und auch so, wie ich jetzt bin.
Vor 14-15 Jahren hätte ich auf so eine Ansage hin, einfach aufgehört zu essen und fertig. Ich hätte nichts, aber auch gar nichts von dem Druck mitbekommen, den das auslöst. Ich hätte nicht weinen können und wenn doch, nicht ein Mal gemerkt, womit es was zu tun hat.
Vor 10 Jahren oder vielleicht noch vor 5 Jahren, habe ich mir Pläne machen können und es so hingekriegt. Ich hätte nicht gemerkt, wie einseitig ich esse und meine Ängste vor Abweichungen und Unvorhersehbarkeit als Ansporn für meine Selbstbeherrschung nutzen können. Ich hätte nichts von dem Horror mitbekommen, den so eine Dynamik für die Kinder und Jugendlichen in mir bedeutet. Nicht einen Hauch.

Irgendwann war ich leergeweint und dümpelte in der Dissoziation.
Dann stand ich an der Baustellenampel im Parkhaus und spürte die Erschöpfung wie eine warme Wachsdusche. Ich entschied mich gegen einen weiteren Diätanlauf in Eigenregie und begleite das auch jetzt noch mit etwas, das die Therapeutin mal gesagt hat: Alles ist anstrengender, wenn irgendwas nicht grundlegend erfüllt ist.
Ich kann es einfach nicht grundlegend (stabil, ohne außerordentliche Anstrengung) – das gesunde normale Leben machen.
Ich bin halt blöd chronisch stresshormonsüchtigabhängig und meiner Umwelt ist das schwer verständlich zu machen.

„Wie hast du denn so gar kein Erschöpfungsthema?“, hat mich jemand nach der letzten Lesung gefragt. Schon da habe ich mir ein gequältes Lächeln rausgedrückt. Denn ja, doch, klar hab ich ein Erschöpfungsthema. Total! Mein Wunsch im Leben ist, meine Ruhe zu haben. Endlich einfach nur Ruhe und Schlaf und nichts, was mich in irgendeiner Form agitiert. G’tt ich würde so gerne einfach mal einschlafen und wirklich und echt erst dann aufwachen, wenn ich auch wirklich und echt wach bin. Ich bin sau erschöpft. Ich stehe auf, gehe pinkeln und könnte dann schon wieder ins Bett kriechen, weil bereits das – dieses bloße einfache Pinkeln gehen – so ein inneres Traumadrama ist und das Traumadrama ums Im-Bett-Liegen schneller ins dissoziative Nichtsfühlen kippt.
Ich kenne mich nicht ungestresst. Nicht unter Druck. Nicht irgendwie doch damit beschäftigt, irgendwas zusammenzuhalten, damit ich selbst irgendwie be.greifbar bin. Sowohl für mich als auch für andere Menschen.
Ich hab sowas von ein Erschöpfungsthema.
Aber ich kann sehr gut auf Stress funktionieren. Vielleicht sogar nur so. Das will ich nicht hoffen, aber vielleicht gehört das zu den posttraumatischen Realitäten wie diese Essstörung, die Ängste an allen Ecken und Enden, das ewige Brodeln aus dumpfspitzscharfem Erinnerungsschleim, der hier und da zu Krusten getrocknet in mein Begreifen krümelt.

Aber vielleicht, ganz sicher, spreche ich nicht oft genug darüber, in dieser Klarheit.
Vielleicht muss ich mir auch eine Teilverantwortung für diesen medizinischen Fuckup geben. Denn natürlich habe ich meinem Kardiologen nichts von meinen 23 Jahren zwischen 47 und 127 Kilo erzählt. Natürlich weiß der nicht, dass ich komplex traumatisiert nach systematischer sexualisierter Ausbeutung bin. Und damit allein schon zu der Personengruppe gehöre, die doppelt mehrfach erhöhtes Risiko für allen möglichen Herzkreislauf-Shit hat. Noch vor meiner Risikoerhöhung durch die Depressionen und Ängste, meine Behinderung und die Medikamente, die ich nehme.
Andererseits hätte ich es ihm auch nicht verheimlicht, wenn ich nach Fragen zu meinen Symptomen auch danach gefragt worden wäre.

Man verbindet Lebensgeschichten wie meine immer mit Defiziten und Problemen. Aber, dass mich mein Aufwachsen in (toxischem) Stress befähigt, mich durch langanhaltende chronische Stressphasen zu bringen, ohne ständig krank zu sein, ohne andere mit meinen Emotionen zu belasten, ohne einen merkbaren Abfall in meiner Arbeitsleistung, das bleibt oft unbemerkt. Tatsächlich ist das oft eher der Grund für Irritation, wenn ich dann wirklich nicht mehr kann und absolut keinen Verhandlungsspielraum mehr einräumen kann. Dann denken andere Menschen eher, ich würde nicht verhandeln wollen, würde es mir bequem machen, würde einfach querschießen wollen. Keine Verantwortung tragen wollen, keinen Bock, kein Mitgefühl für andere haben. Während aber genau das oft die ersten Gründe für Dauerdurchhalten und intensive Selbstmotivation in die totale Erschöpfung sind. Darin nicht gesehen zu werden und auch keine Anerkennung dafür erhalten, hat bei mir dazu geführt, dass ich das bis heute nicht intuitiv erwarte, sondern als Selbstverständlichkeit in mein Leben hineingebacken empfinde. Ich ballere bis ans Limit und andere halten das für mein mittleres, übliches, normales Anstrengen.

Ich kam zu Hause an, legte den Rucksack ab, holte die Arbeitssachen heraus und arbeitete meine To-dos ab. Mit einem Ohr zum Partner, der immer noch auf den Anruf aus der Werkstatt wartete und umkämpfter Wachheit, denn die Hunde mussten auch noch raus und vielleicht könnte sich eine Zeitblase ergeben, um ein Design für unsere Hochzeitseinladung zu produzieren.
Der Tag verging. Ohne Zeitblase. Ohne Werkstattfahrt. Mit einer Hunderunde im Regen, während meine Betreuerin mit mir telefonierte. Mit dem Entschluss tatsächlich bald zu kündigen, meine Hausärztin um Hilfe beim Abnehmen zu bitten und zu akzeptieren, dass es gerade nicht anders geht, als meine Opferbelange selbstständig zu vertreten.
Ohne es okay zu finden.