Autismus und Ver.Bindung #2

Bindung ist ein Ergebnis von Kommunikation.
Von guter Kommunikation, von schlechter Kommunikation. Von Kommunikation, die mit beliebigem Adjektiv beschrieben werden kann. Egal, wie kommuniziert wird, es wird immer eine Ver.Bindung hergestellt. Auf Basis dessen werden die verschiedenen Kommunikationskanäle trainiert und ausgestaltet. Die Bindung, die Kinder mit ihrer Familie aufbauen, gilt als der erste Entwicklungsraum dafür. Man weiß, wie wichtig stabile Beziehungen zu Menschen sind, welche die Grundbedürfnisse der Kinder an.er.kennen und sie dabei begleiten, sie erfüllt zu bekommen. Wie wichtig es ist, dass die Gefühle von Kindern auch von außen wahrgenommen, eingeordnet und begleitet werden. Wie wichtig es noch bis in die Jugendzeit ist, beim Prozessieren bestimmter Erfahrungen und Gefühle unterstützt zu sein.

Bindung und Bindungsstörungen werden entsprechend häufig im Kontext von (früher) Kindheit und (komplexem) Trauma besprochen. Es gibt sehr viele Forschungsergebnisse zu den schwerwiegenden Folgen von Vernachlässigung und Bindungsstörungen. Und sehr viel Text zu Autismus als Bindungsstörung. Vor allem viel misogynen Text. Denn als erste und in den Leben vieler Menschen einzige Bezugsperson für Kinder galt die Mutter. Bis heute hält sich das Bild vom reinen, intuitiv richtigen Mutterinstinkt, der dafür sorgt, dass eine Person ganz einfach aus sich selbst heraus einem Kind ganz und gar gerecht werden kann. Und das mit Leichtigkeit, denn natürliche Reflexe und Instinkte, sind keine Arbeit. Nichts, was man bewusst und aktiv erlernen oder trainieren muss. Nichts, was auch etwas vom Kind oder dem sozialen Umfeld erfordert.

Ich weiß nicht und werde vermutlich auch nie erfahren, wie ich als Kind war. Als Erwachsene kann ich heute nur mutmaßen und von den Erinnerungen, die ich inzwischen an meine Kindheit habe, rückschließen. Im Wissen, um meine Traumawahrheiten, muss ich dabei auch darauf achten, mich nicht störungsverantwortlich zu machen. Ver.Bindung erfordert Kommunikation. Kommunikation erfordert Sender und Empfänger in Kongruenz. Die gleiche Wellenlänge sozusagen. Und die Fähigkeit, die eigene Wellenlänge auf das Gegenüber anpassen zu können.

Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie relevant der Satz „Das hab ich nicht gehört“ oder „Ich hab dich nicht gehört“ in meiner Kindheit war. Meine Eltern haben mich oft ohrenärztlich untersuchen lassen. Mein Gehör war jedoch in Ordnung. Heute kenne ich die ICD 10 Nummer F 80.20, die Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung [AVWS]. Heute verstehe ich, welche Annahmen andere Menschen allein aufgrund meiner Schreib- und Sprechfertigkeiten (Hyperlexie) hatten.
Und, dass sie falsch waren, ohne, dass ich irgendetwas hätte tun können, um sie zu berichtigen. Ich konnte sehr schnell sehr gut lesen und schreiben – und Worte sehr gut aussprechen – hatte aber ein unterdurchschnittliches Bedeutungsverständnis. Ein unvorstellbarer, nicht nachvollziehbarer Widerspruch für viele Menschen. Man verstand mich als clever, aufmerksam und sehr gezielt in allem, was ich als Sender_in ausgab. Niemand hatte eine Ahnung davon, wie sehr meine Kommunikation auf bloßer Wiedergabe ich-fremder Inhalte beruhte. Was nicht bedeutet hat, dass meine Kommunikation selbst auch ich-fremd war. Ich wusste, dass ich, um mit anderen verbunden zu sein, etwas sagen und auf das reagieren musste, was sie sagten. Und ich wusste, dass es relevant ist, was man, wem wann wie sagt. Die lautsprachliche Kommunikation war damit schon damals das Puzzle, das ich bis heute in jedem Kontakt zusammenbringen muss. Und auch ganz gut kann, denn mein Wort-(bildliches) Gedächtnis ist durch das viele Lesen seit meiner Kindheit umfang- und abwechslungsreich.

Als ich in der Grundschule mit Hörspielkassetten in Kontakt kam, trainierte ich unwissentlich auch meine auditive Wahrnehmung. Meine Kassetten waren das Spezialinteresse, das man bei mir übersah. Während mein autistisches Geschwist über Straßenbahnhaltestellen, Mülltonnen und Pokémon referierte und Plüschtiere im Bett aufreihte, sammelte ich Kassetten nach Verlag und Sprecher_innen und konnte jede einzelne mitsprechen, bevor ich ihren Inhalt auch verstand. Die Kassetten wurden mir das Hilfsmittel zur Barrierenüberwindung, wie es schriftliche Kommunikation bis heute für mich ist.
Die Kassettengespräche konnte ich so oft anhören, wie ich sie brauchte. Da bei einem Hörspiel immer auch mitgedacht wird, dass die Hörenden die Umstände eines Gespräches nicht aus der Körpersprache und der (sozialen) Umgebung schließen können, werden diese Aspekte explizit genannt oder beschrieben. Das war für mich, als würden im Hörspiel die „Störgeräusche“, die in meinem Lebensalltag immer wieder dazu führten, dass ich zum Beispiel meine Eltern „nicht hören konnte“, einfach ausgeschaltet sein. So kam ich in die Lage, Inhalte auch kontextuell zu begreifen und nicht nur wie eine Art Schnellfeuer aus Geräusch und Anspruch in einer Umgebung voller verschiedener Reizschnellfeuer und Ansprüche an die Reaktion darauf.

Als ich sehr klein war, hatte ich diese Hilfsmittel noch nicht. Die Wahrnehmungswelt in der ich er_lebte, stelle ich mir heute als zwangsläufig chronisch stressend, chronisch überfordernd vor. Die verbindende Kommunikation mit anderen Menschen als praktisch unmöglich. Ich nehme an, dass ich eventuell nie einen Unterschied „sehen“ konnte zwischen absichtsvoller Misshandlung und liebevoller Zuwendung.
Überhaupt zu verstehen, was gerade vorgeht – in welchem Kontext ich und das aktuelle Geschehen, in das ich involviert bin, passiert – ist bis heute die Herausforderung, mit der ich (wie andere Autist_innen auch) zu kämpfen habe. Und an der ich weitaus häufiger scheitere, als man es mir anmerkt, geschweige denn zutraut.

Das Ausmaß an Anstrengung, die mit der Kompensation dieser sogenannten „Kontextblindheit“ einhergeht, ist enorm. Das Ausmaß der Überlegenheit von Menschen, die damit keine Schwierigkeiten haben, ebenfalls. Ich bin darauf angewiesen, immer die Kraft dafür zu haben, Erlebtes und Erfahrenes analytisch zu prozessieren. Häufig als „overthinking“ missverstanden, ist es meine einzige Chance zum Selbstschutz und zur Anpassung im Kontakt mit anderen Menschen und gleichzeitig das Verhalten, das mir am häufigsten als Grund für meine psychische Belastung vorgehalten wurde.
Da der Kontext die Kommunikation zwischen Menschen maßgeblich bestimmt, gehen meine Kontaktschwierigkeiten, meine Ver.Bindungsprobleme mit anderen, entsprechend weit über Themen wie Vertrauen, einander mögen und die richtigen Worte im richtigen Moment hinaus.

Tieren hingehen, ist der Kontext oft weniger wichtig. Entsprechend viel leichter fällt es mir, mit ihnen in Kontakt zu gehen und in Ver.Bindung zu sein. Selbst wenn sie mich sensorisch überreizen oder der Kontext über unseren Kontakt hinaus diese Ver.Bindung nicht unterstützt. Um einen Hund zu verstehen, brauche ich mich nicht im Geringsten anstrengen. Ich weiß, dass Straßen scheiße laut und chaotisch unübersichtlich sind. Ich fühls – ein Hund muss mir das nicht erst signalisieren. Genauer gesagt weiß ich genau, welche Signale ich an einer Straße von einem Hund erwarten kann, um in der Annahme bestätigt oder korrigiert zu werden, wie der Hund den Moment erlebt.
Die Mischung aus „wenig Anstrengung“ und häufiger Kongruenz der Empfindungen in Alltagssituationen hat es mir sehr leicht gemacht, eine Ver.Bindung zu meiner Assistenzhündin aufzubauen und diese in ihrer Ausbildung und unserem gemeinsamen Alltag zu gestalten.
Mit ihr im Leben war es leicht für mich, mich generell mit der Welt und im Potenzial mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Jetzt, wo sie gestorben ist, habe ich diese Verbundenheitsgefühle nicht mehr.

ob stolz oder nicht

Ich schrieb neulich über die Wichtigkeit, die Scham für mich hat, wenn es um meine Erfahrungen sexualisierter Gewalt und ihren Folgen geht.[1] Als „Seitenarm“ bezeichnete ich dabei auch die Scham, die ich als behinderte Person oft empfinde.
„Seitenarm“, weil der Text, wie meine Podcasts, die meisten meiner anderen Blogtexte, meine Beiträge an anderen Stellen, zu lang war. Und zu kompliziert. Und deshalb irgendwie … naja, anstrengend. Zu viel.
„Seitenarm“ schrieb ich, weil ich mich schon vor der Veröffentlichung dieses Textes über das Schreiben des Textes und die Notwendigkeit dieses Textes für mich selbst, geschämt habe. Dass ich diesen Aspekt überhaupt erwähnte, ist Ergebnis meines Vollständigkeitsanspruchs. Zu meiner Scham über alles, was mit meiner früheren Opferschaft zu tun hat, gehört auch die Scham über alles, was mich sonst noch ausmacht.
Aber warum hab ich das nicht einfach verschwiegen? Einfach Klappe zu. Stille. Nichts sagen, nichts zeigen. Was sehen, nicht gesehen werden. Ist doch nicht so schwer.
Oder?

Der Juli wird als disability pride month begangen. Zumindest im US-amerikanischen Sprachraum. Und in manchen deutschen Städten. In Berlin zum Beispiel dieses Wochenende.
Ich kann da nicht hingehen. Möchte es auch nicht. Es wäre geheuchelt. – Anderen gegönnt und zugepusht, keine Frage, aber mir selbst gegenüber wäre es geheuchelt. Ich bin nicht stolz, nicht mal irgendwie grundsätzlich okay damit behindert zu sein. Chronisch krank. Gehandicapt. ~Herausgefordert~
Ich muss es hinnehmen, obwohl es die meisten Menschen nicht hinnehmen. Ich muss damit leben, obwohl die meisten Menschen es kacke finden, dass ich einfach damit lebe. Ich kann nichts dagegen tun, obwohl die meisten Menschen genau das von mir verlangen. Implizit. Unbewusst. Nicht so gemeint. Aus Versehen.

Es gibt viele Mikrointeraktionen, die mich beschämen. Manchmal bevor, manchmal nachdem ich selbst bemerke: „Hey, das tut eigentlich weh.“ oder „Äh, aber ich kann das nicht (anders als so) …“.
Und genau so viele Anpassungslügen von mir. Ich kann gut die Klappe halten. Gut sein lassen, was mir im Fleisch steckt und mich monatelang quälend schmerzhaft beschäftigt. Das ist nicht nur „Maskieren“, das ist auch knallharter Selbstbeschiss. Selbstverletzendes Verhalten. Lieb, okay, freundlich, nett nach außen – hasserfüllt, zerstörerisch und brutal nach innen. Außen Lüge, innen Wahrheit. Außen normal, innen behindert.

Ich war in den letzten Wochen traurig, weil ich öfter danach gefragt wurde, wie es bei der neuen Arbeit ist, als danach, wie es ist, jetzt, wo Sookie nicht mehr lebt.
Es ist traurig, weil sich für mich darin zeigt, dass niemand ein echtes Verständnis davon hat, was mein Assistenzhund für mich geleistet hat. Ganz konkret. In jedem Moment, in dem ich mit anderen Menschen zusammen war.
Und es ist bitter, weil ich auch von anderen behinderten Menschen weiß, dass die wenigsten von ihren nicht- oder anders behinderten Freund_innen fragen würden, wie es ihnen mit dem Verlust ihrer Brille, ihres Rollstuhls, ihrer Insulinpumpe, ihrer Pflege- oder Assistenzperson geht. Ich bin nicht allein damit. Das machts eben so, wie es ist: Traurigbitterschlimm.

Ohne Sookie hätte ich niemanden von denen kennengelernt, die ich heute als meine Freund_innen und Gemögten bezeichne. Nicht eine_n. Nicht mal die Person, die mal meine Betreuerin war. Die hätte ich wahrnehmen gelernt wie jeden anderen Menschen auch – aber mehr auch nicht.
Ich hätte weiterhin das Haus kaum verlassen. Hätte weiterhin Sprechen abgespult, Reden performed, Leben gespielt und mich dafür gehasst, dass ich einfach nicht rauskomme. Weiterkomme. Rankomme. An die Welt. An die Menschen. An das, worum es geht.

So viele der Fähig- und Fertigkeiten, die ich mit Sookie trainiert habe, sind jetzt wie aus meinem Kopf radiert.
Und niemand scheint es zu merken.
Und niemand soll es bemerken.
Und ich wünsche mir, dass es alle bemerken.
Und ich weiß, dass das, was nötig ist, um es zu bemerken, wirklich sehr tiefe Einsicht in mein Erleben und Funktionieren erfordert.
Was zu viel verlangt ist. Immer war, immer sein wird.
Es ist so schwierig. So kompliziert. So langwierig zu erklären.

Es ist so, wie es niemand mag.
Und ich muss damit klarkommen.
Ob stolz drauf oder nicht.

Skill Regression

Das klingt wie ein langsamer Prozess. Jeden Tag ein bisschen weniger Skill. Tatsächlich aber ist es jeden Tag ein weiterer Skill, eine weitere Fähig- oder Fertigkeit, die ich nicht mehr zuverlässig abrufen kann. Die mich einfach verlässt und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, wiederkommt.

Dazu gehören sichtbare Dinge – ich fahre im Moment so Auto, als hätte ich erst eine Fahrstunde gehabt – die sich aus dem Verschwinden unsichtbarer Dinge ergeben – ich komme mit der Reizverarbeitung nicht hinterher. Kann meine sozialen und meine Verhaltens-Skripte weder schnell genug aussuchen, noch prüfen, noch sicher mit der aktuellen Kommunikation und Situation in Einklang bringen.
Ich bin im Moment überwiegend wieder auf dem Stand der selbstleeren Reflexantworten aus der allgemeinen Satzbausteinkiste, sobald ein bislang nicht näher definierter Punkt überschritten ist. Und wann der überschritten ist, entscheidet der Punkt von sich aus.
Wieder prozessiere ich die Situationen und Gespräche des Tages mit stundenlanger, manchmal tagelanger Verspätung.

Ich kann keine Probleme lösen, weil ich die geistige Zusammenstellung der dazugehörenden Komponenten und Möglichkeiten nicht hinbekomme. Stellt mir jemand eine Wie-Frage, leert sich mein Denken, statt dass sich das für mich eher übliche Gedankengebäude aufbaut, in dem ich mich sonst bewege. Je nach Dringlichkeit der Frage breitet sich die Leere bis ins Sprechenkönnen aus und ich komme nicht einmal mehr an meine Phrasenkiste heran. Da ist einfach nichts mehr.

Skill Regression kenne ich bisher nur aus massiven depressiven Episoden.
So empfinde ich mich aber gerade nicht. Ich fühle mich nicht erschöpft und auch nicht depressiv.
Eher verwirrt und ängstlich. Isoliert auch. Mir ist oft langweilig, aber meine offenen Arbeiten sind zu schwer.

Mein Auto ist schon seit Wochen in der Werkstatt. Schwimmen oder ausgedehnte Spaziergänge sind entsprechend abhängig davon, wie ich das Angebot meines Partners mich immer zu fahren, in Einklang bringen kann mit seinem Wunsch nach Ausschlafen und nicht lange auf ich warten müssen. Das ist eine Wie-Frage. Ich schaffe es nicht, sie zu lösen. Mein Partner gibt mir keine Vorgaben, um meine Freiheit nicht einzugrenzen. Also passiert gar nichts. Die Häute in unserem Haushalt sind zu dünn für Streit darüber, wie belastend Strukturlosigkeit für mich ist. Und jedem Streit folgt eine Wie-Frage.

Ich würde gern den Begleitermenschen kontaktieren. Aber mit dem bin ich im Konflikt, weil wir immer nur Kontakt haben, wenn es mir schlecht geht und es sich zunehmend, wie ein Mitleidskontakt anfühlt. Auch wenn er vielleicht keins empfindet. Für mich entsteht dennoch die immer empfangende Rolle und die möchte ich nicht haben.
Jetzt wäre es gut, wenn ich einfach nur empfangen müsste. Aber es würde auch diese Rolle stärken.
Wie-Frage von the horizon, also passiert gar nichts.

Ich versuche mich selber damit zu trösten, dass es noch nicht so schlimm ist, dass ich nicht ständig nach außen so zerfalle, wie ich es innerlich bin. Als die neue Fahrlehrerin zum Beispiel dachte, es wäre eine gute Idee mich mit einem anderen Auto als sonst üben zu lassen. Als die neue Fahrlehrerin in dem neuen Auto passiv-aggressiv auf ihre Enttäuschung über mein schlechtes Fahren reagierte. Als ich in der Fahrstunde eine Panikattacke bekam, weil ich tatsächlich schon vor mir sah, dass sie mir wehtun würde. Als mein Partner nach dieser Fahrstunde sagte, ich sollte es abhaken. Als ich nach Hause kam und Sookie tatsächlich immer noch tot war.

Es ist ein Trost, von dem ich weiß, dass er mich nicht wirklich tröstet, sondern nur versichert.
Aber hey – wenigstens das?

Prozess

Der Lauf der Dinge.
Eine Bewegung. Prozess aus Prozessen für Prozesse, mit bei an in und um Prozesse herum. Ich könnte ihn „das Leben“ nennen, doch dieses Wort erscheint mir oft zu aufgeladen. Das Leben geht weiter – der Lauf der Dinge mäandert und hat das Leben in sich. Er wandelt, schlängelt, drückt, zieht, trägt, hält, wiegt, entwickelt und vergeht. Und mehr. Es ist immer mehr.

Als wir uns für das Leben entschieden, entschieden wir uns auch für die Hingabe zum Lauf der Dinge. Ich finde oft Trost in der Vorstellung, dass meine Existenz wie eine kleine Luftblase in diesem großen, universellen Strom fließt. Egal, wie einsam ich mich fühle – ich weiß, dass ich ins Universum gehöre. In die große weltliche Gemeinschaft all dessen, was lebt.
Aber Sookie lebt jetzt nicht mehr. Ihre Reise im großen Strom hat sie an einen Punkt getragen, den ich noch nicht erreicht habe – obwohl wir beide einander so nah waren. Ab jetzt ist nichts von dem, womit ich mich in der Welt bewege, womit ich sie erfahre und einschätze, anwendbar, wenn es um Sookie geht. Und das verunsichert mich.

In den letzten Wochen hatte ich oft Gedanken und Fragen, die nicht sicher zu beantworten sind. So etwas ist für mich immer sehr ungünstig, weil ich nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Nach einem Weg für eine Antwort zu suchen. Über mögliche Lösungen aus den Konflikten, die dabei entstehen, auszusteigen oder sie zu befrieden.
Und jeden Tag gibt es Dinge, die ich zum ersten Mal ohne Sookie mache. Jeden Tag werde ich daran erinnert, dass ich diese Fragen noch nicht sicher beantwortet habe. Weil sie nicht zu beantworten sind. Jeden Moment bewege ich mich in einem Zweig des Laufs der Dinge, der ganz grundsätzlich neu ist. Fremd. Verunsichernd. Während alles unbeirrt weiterströmt, weil auch dieser Prozess, der gerade mit mir passiert, dazugehört.

Ich bringe gerade viel Kraft dafür auf, in dieser meiner Transformation niemanden zu stören. Die Menschen, mit denen ich heute überwiegend zu tun habe, kennen mich nicht ohne den Boden unter den Füßen, den Sookies Anwesenheit mir gegeben hat. Sie sollen nicht merken, wie viel größer, wie viel unsicherer, wie viel anstrengender jeder meiner Schritte jetzt ist. Sie sollen nicht wissen, dass ich sie nicht als meinen Boden, meine erste feste Basis im Leben empfinde, sondern eher wie günstig liegende Trittsteine. Haltestangen. Lose Taue, deren Enden mich unvorhergesehen streifen und aus schierem Glück in der Lage sind, mich dann und wann in Kontakt zu bringen.

Ich versuche mich nicht mit Arbeit zu betäuben. Und auch nicht mit dem ständigen Input aus Podcasts, wissenschaftlichen Artikeln und Instagram-Reels, der mich üblicherweise im Kontakttraining hält. Das fällt mir im Moment sogar ganz leicht, denn es gibt gerade nicht viel, das hängenbleibt, umfassend verarbeitet wird oder mich mit dem Gefühl von tieferem Sinn erfüllt.
Ich bin sehr verlangsamt in der Reizverarbeitung, muss länger als sonst darüber nachdenken, wie ich fühle oder welche Gedanken ich in bestimmten Situationen hatte. Sehr ungünstig in einer Fahrschulstunde. Problematisch für eine Partnerschaft. Unpraktisch in der ersten Woche am neuen Arbeitsplatz. Nachteilig für Gruppenprojekte, den Podcast, meine Ehrenämter. Gefährlich für meinen Schutzmantel aus So-tun-als-ob.

 

der Meltdown in der Fahrstunde

„Eine schwierige Seite von Selbsterkenntnis ist, dass sie nicht alle teilen. Nur weil man selbst etwas über sich verstanden hat, haben das nicht auch alle anderen.“ Mit diesem Gedanken verließ ich die Schwimmhalle und lief zum Auto. Darin hatte ich anderthalb Stunden zuvor mit meiner Therapeutin telefoniert, nachdem ich meinen ersten öffentlichen Meltdown seit 2016 hatte. Während meiner vorletzten Fahrschulstunde vor der Prüfung.

*

Es ist schwierig offen damit zu sein, dass ich „so etwas“ habe. Meltdowns. Oder, wie es andere Menschen nennen: Ausraster. Nervenzusammenbrüche. Durchdrehen. Keine Beherrschung über mich. Es gibt viele Aspekte in meinem Leben, in denen Kontrollverlust eine Rolle spielt und jeder davon ist belegt mit Scham und einer sich darunter kristallisierenden Schicht Selbsthass.

Ein Meltdown ist scheiße. Es ist scheiße für alle um mich herum, wenn er passiert, weil er passiert – nicht wegen all der Dinge, die dazu führen, dass er passiert. Die sind nämlich immer mein Problem. Mein ganz persönliches, mein hochindividuelles Problem. So wird es mir jedenfalls oft von den direkt Betroffenen gerahmt. Klar, die hatten ja Angst. Vor mir. Vor dem Unbekannten. Die waren ja überfordert. Mit mir. Dem Unbekannten. Den Konsequenzen. Den unbekannten. Sie erleben sich nicht als Teil der Umstände, die zum Meltdown geführt haben, warum sollten sie also annehmen, sie hätten etwas damit zu tun?

Im schlimmsten Fall wollten sie mir nichts Böses, wollten nur helfen. Das ist für mich wirklich der allerschlimmste aller Fälle. Denn Menschen, die aus guten Absichten heraus handeln, können manchmal nicht annehmen, dass ihre Handlung vielleicht nicht gut ist.
Menschen können ihre guten Absichten nur mit viel Nähe vermitteln. Man muss einander sehr nahe stehen, um sich gegenseitig so wahrzunehmen und zu erleben, dass die Absichten eine relevante Rolle spielen. Menschen, die davon ausgehen, dass ich erkennen könnte, wie gut sie mir gegenüber eingestellt sind, gehen auch von dieser Nähe aus. Dieser gegenseitigen Perspektive, diesem gegenseitigen Verstehen. So nah komme ich Menschen in der Regel aber nicht, denn es kostet mich enorm viel Kraft. Die ich auch nicht lange aufbringen und halten kann. Die Absichten anderer Menschen werden dadurch zu Anmerkungen zur Übersetzung – nicht zum Rahmen der Grundhandlung, bildlich gesagt. Eine Lebensrealität, die die meisten Menschen einfach nicht teilen. Nicht verstehen.

Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich der einzige Mensch, der sich diese Annahmen aktiv denkt, aktiv im Bewusstsein hält, aktiv in die möglichen Antworten, Reaktionen und Optionen der Interaktion einarbeitet. Der einzige Mensch mit einem inneren Regal voller Skriptphrasen für Menschen, die es gut mit mir meinen und von mir via Sprache vermittelt bekommen müssen: „Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst.“ Gerade nach einem Meltdown im sozialen Nahraum denke ich das und muss aufpassen, nicht in die Strudel jugendlicher Verzweiflungspaniken zu geraten. Dadrin denke ich nämlich auch, dass das nie aufhört. Dass ich gefährlich bin, mich fernhalten sollte. Dieses Vorhaben von Kontakt lassen sollte. Dass ich es nicht verdient habe, nach all den Chancen zuvor. Dass es ich es in Wahrheit vielleicht auch nie verdient, sondern immer nur geklaut habe. Dass ich nie genug bin und immer zu viel.

Dass ein Meltdown mir passiert wie ihnen, erleben die von mir oft überraschend und schmerzlich getroffenen Menschen nicht. Dass ich erst im Nachhinein und das nach einigen Stunden Analyse und Durcherzählen der Situation, selbst weiß, was die Anzeichen waren (und das eigentlich nur, wenn es um Situationen geht, die nicht zu weit von meinem Alltagsgeschehen weg sind) – und dies nicht bedeutet, dass ich den nächsten Meltdown abwenden kann – entspricht einfach nicht der Er_Lebensrealität der meisten Menschen.
Weil ich die Quelle ihrer Überforderung bin, weil ich ihre Wahrnehmung der Situation bestimmt habe, nehmen sie an, ich hätte über mich bestimmen können. Das ist ein Irrtum. Aber den Täter*innen Tätigen spricht man so etwas nicht gern zu. Ohnmacht. Angst. Hilflosigkeit. Vor sich selbst. Denn würde man das tun, dann würde das Schuldkonzept nicht mehr funktionieren. Verantwortung wäre schwieriger zu klären. Wieder.Gutmachung und Reparation müsste ein gegenseitiger Prozess sein. Alle wären Teil des Vorhers, des Geschehens und des Nachhers.

Ich habe zuletzt als Jugendliche auch andere Menschen im Meltdown verletzt. Bevor sich mehrere Erwachsene auf mich draufgeworfen haben, um mich mein Verhalten zu unter.brechen.
Inzwischen passieren die meisten meiner Meltdowns unsichtbar. Vor dem Computer, bei der Arbeit, manchmal im Laden, manchmal am Bahnhof. Deswegen unterscheide ich zwischen dem „öffentlichen Meltdown“ und „den anderen“.
Heute verletze ich mich nur noch selbst, denn eine erwachsene Person, die schreit, wird nicht angefasst. Ich kann mich selbst regulieren. Auch mit Selbstverletzung. Eine erwachsene Person, die man abstoßend, gruselig, gewaltvoll, ängstigend findet, lässt man alleine, um sich selbst zu schützen. Auch wenn es bedeutet, mich in einem schlimmen Zustand gewissermaßen zu verlassen, ist das für mich das Beste.
Wer mich in so einem Moment anders einordnet – sagen wir frech, enttäuschend unvernünftig, uneinsichtig, „in Wahrheit ganz kontrolliert/ganz bewusst um die Umstände“, narzisstisch motiviert, den eigenen Vorteil abzuringen – redet in der Regel weiter auf mich ein, kommt möglicherweise noch körperlich auf mich zu und/oder begrenzt meine Möglichkeiten mich zu bewegen oder die Situation zu beeinflussen. Diese Menschen merken nicht, dass sie mich in dem Moment sensorisch fluten und so gewissermaßen foltern. Meine Grenzen nicht nur berühren, sondern komplett ignorieren. Dass sie mir eine Einsicht abzwingen wollen, die ich nicht habe oder falsch finde. Dass sie ein Verhalten von mir fordern verlangen, das meinem Willen und mir zuwiderläuft. Sie meinen es nur gut. Oder haben Recht. In ihrer Logik, ihrer Wahrnehmung des Moments bin ich das Problem, weil ich ihre Hilfe, ihre Annäherung abwehre, mit der doch wieder alles gut werden könnte.

*

Es fällt mir schwer, aber ich habe einen aushaltbaren Punkt gefunden, seit ich meine „Zusammenbruch-Symptomatik“ als „Not-Aus“, das aktiviert wird, weil ich mich zu lange nicht traue, das „Stopp-Aus“ oder gar das „Ich fühle mich nicht mehr gut-Aus“ zu aktivieren, einordne. Niemand hat die Kontrolle, über das körpereigene „Not-Aus“. Darin bin ich anderen Menschen gleich. Alle Menschen haben so einen Punkt. Nur die Wege dahin sind unterschiedlich und unterschiedlich beeinflussbar.

Mein Wissen um mich und meine „Not-Aus“-Symptomatik hilft mir, eine Grenze zu anderen Menschen zu ziehen. Ob „nicht sprechen“, „nicht fühlen“, Krampfanfälle, Shutdowns oder Meltdowns – sie haben nichts mit den Personen um mich herum zu tun. Ich erlebe diese Symptome nicht, wegen der Leute und deren reiner Personality. Die Symptome sind keine sozialen Botschaften. Sie sind Körperreaktionen auf extremen Stress. Die Leute können es mir nur leichter oder schwerer machen, damit umzugehen. Und leider machen es sich Menschen, die einander nicht gut (genug) verstehen, ziemlich zuverlässig schwerer.
Und je älter ich werde, desto schwerer fällt es anderen Menschen, überhaupt in Betracht zu ziehen, dass ich mich nicht immer „zusammenhalten kann“. Die Lebenserfahrung ist ja eigentlich, dass man immer weniger von Dingen überrascht, erschreckt, erfreut, aufgeregt, empört, überanstrengt, überreizt … wird. Bei mir ist das scheinbar nicht so. Nicht wirklich. Eher habe ich manchmal den Eindruck, dass ich nach wie vor viele Situationen wie ganz neue Situationen erlebe. So, als ob ich sie noch nie zuvor erlebt hätte. Was ich ja – außer in dem äußert unwahrscheinlichen Fall, dass ich in einer Zeitschleife festhänge, in der doch alles exakt gleich wiederholt wird – auch wirklich so nie zuvor erlebt habe. Die wenigsten Situationen sind genau gleich. Es ist immer etwas anders. Entsprechend ist mein Stresslevel einfach immer etwas erhöht. Denn wo eine Abweichung ist, ist die zweite, dritte, vierte in der Regel nicht weit. Und auf jede reagiere ich gewissermaßen.

Seit Jahrzehnten lasse ich Menschen mit der Aufzählung von Abweichungen in Ruhe. Ich teile meine Beobachtungen nicht mehr. Lasse mir nicht anmerken, ob sie mich beunruhigen oder erfreuen. Ich habe in Kliniken trainiert, sie passieren und ohne Urteil ziehen zu lassen – bis ich gemerkt habe, dass ich das nur kann, wenn ich depersonalisiert bin. Ich habe verstanden, dass die meisten nicht-autistischen Menschen Abweichungen nicht von Unterschieden trennen und generell einfach mit sehr viel mehr Unschärfe zurechtkommen können als ich.
Ich schaffe viel Anpassungsleistung durch die Hinnahme und Kompensation dieser Umstände. Aber auch ein Gefühl falscher Sicherheit bei anderen im Kontakt mit mir. Ein Grund, weshalb Menschen von meinen Meltdowns und anderen Kontrollverlusten überrascht werden. Sie kommen für sie unerwartet. Aus heiterem Himmel. Sie haben keine Chance auf meine Selbsteinsicht und so auch nie auf mein Verständnis für die Dinge, die ich erlebe.
Andererseits wollen sie sie auch gar nicht haben. Sie können damit ja im überwiegenden Teil ihres Lebens gar nichts anfangen. Wozu also drum bemühen? Ich würde sie andersherum vermutlich auch nicht haben wollen, wäre ich nicht ständig und in allen Aspekten mit ihnen konfrontiert.

*

Zwei Dinge waren in dem Gespräch im Auto vor der Schwimmhalle passiert. Zwei hilfreiche Dinge.

Meine Therapeutin hat uns zu unserer Verletzung befragt. Ich war aus dem Fahrschulauto gestiegen und hatte mit der flachen Hand gegen eine Metallkonstruktion geschlagen. Das Hämatom ist etwa 2 2-Euro-Stücke groß und drückt auf die Sehnen vom kleinen und dem Ringfinger der Hand. Es tat immer noch weh und wurde im Inneren vor allem als Strafe gerahmt.
Das Interesse meiner Therapeutin hat das beendet. Eine Strafwunde wird nicht beachtet. Eine verdiente Verletzung nicht ver.sorgt. Böse Mädchen werden nicht gefragt, obs (noch) wehtut.

Außerdem hat sie jemandem, die_r es hören musste, gesagt, dass sie nicht glaubt, dass diese Situation mit mehr Anstrengung abzuwenden gewesen sei.
Für mich war das im Kontakt mit ihr versichernd – für das Innen erlösend. Mit diesem Gefühl von sozialer Klarheit in dem Kontakt, entstand genug Kraft und Sicherheitsgefühl bei mir, um mich in die lösungsorientierte Kommunikation mit der Fahrschule einzubringen. Ich konnte von missachteten Grenzen und verlorenem Vertrauen in den Fahrlehrer sprechen und akzeptieren, dass er um sich selbst kreist in seiner Überraschung und Überforderung. Durch die Versicherung meiner Therapeutin wurde der Kontakt zum Fahrlehrer (und der Fahrschulchefin) nicht zur einzigen Quelle von Wahrheit über die Situation. Ich wurde auch von jemandem gehört und das verlief nicht im Stummen, Uneindeutigen ohne jede Bedeutung.
Die Grenze zwischen den anderen Menschen und mir war wieder hergestellt, es entstand ein Gefühl von Ordnung und Klarheit. Wir haben eine Lösung gefunden, wie wir die letzte Fahrstunde vor der Prüfung machen und wann der Fahrlehrer und ich uns wiedersehen, um darüber zu sprechen. Wir werden uns vermutlich beide entschuldigen, ein Eis essen und wieder versichert darüber sein, dass wir einander wirklich nie Böses wollten. Und mit dieser Feststellung von Offensichtlichkeiten werden wir, befriedigt über die Bestätigung unserer Wünsche an die soziale Umwelt, auseinandergehen.

Feierabende sind echt

Der Tag beginnt still. Ich halte mein Gesicht ganz weich vom Schlaf in das cremige Beige der Morgensonne und bilde mir ein, dass ich ihre Wärme fühlen könnte. Die Schritte der Hunde knirschen über das gefrorene Gras. Mein Atem schwebt weiß in der Luft.

Ein weiterer Tag allein zu Hause.
Ich schüttle NakNak*s Morgentablette aus der Tüte und stecke mir die Frückstücksäpfel für die Hunde in den Pulli. Ich trage sie rauf in mein Büro. Sie fressen, ich stelle mich ins Rauschen des Wasserkochers. Kaffee, Computer und los. Klick, klick, klick, tipp tipp tipp, klick. Die Geräusche meiner Arbeit sind wie kleine Wellen um mich herum in einem Meer von Stille in einem unendlich freundlichen Ist. Draußen ein Wintertraum in Pastell.

Irgendwann muss ich sprechen und die Schönheit des Seins ist zerstört. Alles, was bis eben einfach nur da war, ist plötzlich belebt und unvorhersehbar. Jetzt erfordert es Adjektive. Wachsamkeit. Schein.
Als wäre ein Schalter umgelegt, bin ich ein Fremdkörper.
Ich versuche, eine Form zu finden. Wandle und handle mich in die neue Situation hinein, versuche mich anzupassen. Anzugleichen. Alles im Fluss unter einer festen Schicht Freundlichkeit. Aufmerksamkeit. Wachsamkeit.

Die ersten Trigger mischen sich in mich hinein. Meine Muskeln verhärten sich und reißen an den Gelenken. Ich atme sie raus, schüttle sie weg. Schaue in den weichblauen Himmel und finde Trost in den Erinnerungen an die Realität ohne Andere.
Die Zeit vergeht, irgendwann ist es okay. Ich bin okay. Bin drin. Kann gut mitgehen. Schaffe alles, will noch mehr. Dann ist die Arbeit zu Ende. Nichts mehr zu wollen. Der Arm tut weh, die Luft ist verbraucht, Bubi schiebt seinen Kopf an mich. Zeit für eine Hunderunde.

Als ich einfach loswill, schießt mir etwas Schmerzliches durch den Kopf. Ich schaue nicht hin. Als ich NakNak* runtertrage, denke ich daran, wie ich vielleicht bald irgendwann ein Kind hier runtertrage, das genauso schwer und warm ist wie sie. Ich ziehe sie an und hoffe, dass mein Auto fährt, als wir in den schneeeisweißharten Garten gehen.
Es klappt, wir fahren. Im Rauschen der Heizung sitzend überlege ich, ob ich mir das vielleicht doch mal angucke. Wie schmerzhaft kanns sein. So in echt. Ich mach ja alles, was ich will. Obwohl das immer wieder hochkommt. Es wird mir zu dicht in mir. Ich fange an, irgendwas zu fühlen, das nicht zum Autofahren passt und breche die Überlegung ab. Ich habe nächste Woche einen Therapietermin. Klappe zu. Thema erstmal wieder erledigt.

NakNak* stakst aus dem Auto, Bubi verfolgt sofort eine unsichtbare Linie auf dem Waldboden. Ich höre einen Podcast und beobachte die Hunde bei ihrer Wanderung von Marke zu Marke. Langsam komme ich wieder da an, wo der Tag begonnen hatte. Präsenz inmitten aller Dinge. Die eigenen Veräußerlichkeiten als Zone zwischen Gegenwart und Zukunft. Irgendwann bin ich so zufrieden, dass ich damit spiele.
Dann fahren wir nach Hause. Vorbei an flauschigen Kühen und dampfenden Häusern.

Wieder zu Hause könnte ich so viel machen, aber mache gar nichts davon. Ich sitze auf der Couch und streichle Bubis großen Kopf auf meinem Schoß. Ich will es ganz in mich einsinken lassen, wie ich gerade nichts mache und niemand von denen, die darauf warten, etwas dagegen tun kann. Denn ich bin hier und sie nicht. Selbst wenn sie mich sehen würden – selbst wenn sie wüssten, dass ich hier gerade gar nichts tue – sie müssten sich etwas überlegen. Ich nicht.
Ich segle auf einer kruden Überheblichkeitswelle, fühle mich mächtig und stark – obwohl ich genau weiß, dass ich hier gerade Traumarealitäten mit Realitätswahrheiten mische. Ich werde nicht beobachtet. Feierabende sind echt.

die Absichten der anderen

Vor kurzem wurde die Frage an mich gerichtet: „Was brauchen Betroffene (organisierter, Ritueller) Gewalt, um sich sicher zu fühlen?“
Sie erschien mir banal und ich antwortete sinngemäß, dass es Sicherheit braucht. Wenn man Angst hat, braucht man Sicherheit.
Das Gespräch ging noch lange und am Ende fragte ich mich, ob die fragende Seite selbst zu unsicher war, um anderen Sicherheit zu bieten. Im Nachhinein wurde mir klar, dass es bei der Frage im Kern nicht um die Bedarfe gewaltbetroffener Menschen ging, sondern um Dinge, die nicht ausgesprochen wurden. Mein Punkt loszulassen und aus dem Kontakt zu gehen – um nicht noch mehr Angst zu bekommen.

Es war klar, es ging um etwas anderes und mir war klar, dass ich es nicht erraten können würde. Zu wenige Informationen, zu wenig naher Kontakt, zu wenig Relevanz meiner Sicht auf die Dinge, um darauf zu beharren, sie gesagt zu bekommen.
Und – die Kluft.

Die gleiche Kluft, mit der ich mich in den letzten Tagen auch befasse.
Ich bin verbundener mit einem jugendlichen Funktionssystem in mir. Mein Bild von meinem jugendlichen Lebensalltag wird umfassender. Meine Möglichkeiten, die eigene kindjugendliche Perspektive auf die Gewalt in der Herkunftsfamilie zu erinnern, vermehren sich.
Es sind existenzielle Leiden und Fragen, auf die ich auch heute keine Antwort finde und kaum Linderung einbringen kann. Und es sind schwerwiegende Entscheidungen, die in einer Einsamkeit getroffen wurden, die ich zuweilen passender als „Isolation“ bezeichnen muss.

Denn schon früher konnten wir die Absichten anderer Menschen nicht erkennen. Ein autistisches Feature. Für mich das Element, das meinen Autismus zu einer sozialen Behinderung macht.
Denn wenn man nichts voraussetzen kann, ist immer alles möglich.
Im Guten wie im Schlechten.

Menschen können wirklich sehr nett, sehr liebevoll, sehr fürsorglich, sehr hilfsbereit sein – vor allem, wenn man sie selbst ohne Vorannahmen über sie anspricht und im Gespräch alles erzählen lässt, was sie erzählen wollen. Die allermeisten Menschen fühlen sich wohl, wenn sie mir ihr Bild von sich gestalten können und je wohler sie sich fühlen, desto sicherer fühle ich mich im Kontakt mit ihnen.
Und da ist die Falle.
Denn manche Menschen lügen. Und obwohl ich weiß, dass es Menschen gibt, die das tun, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es merke, gering. Das hat nichts mit Vertrauensseligkeit zu tun oder Naivität oder Dummheit. Es hat damit zu tun, dass die Lüge ein Handeln mit einer Absicht ist, die ich nicht wissen kann, wenn ich der Person weder nah noch verbunden, noch ähnlich bin, was den Status angeht. Niemand kann das – aber die meisten Menschen können sich intuitiv in andere Menschen hineinversetzen und Annahmen machen, mit denen sie sich sicher fühlen, weil sie in der Regel zutreffen oder (in Bezug auf die Sache) irrelevant sind. Die meisten Menschen erkennen sich selbst in anderen Menschen. Das ist der Trick, das Ding, die Fähigkeit. Ich erkenne mich oft nicht einmal in mir selbst.

So bleiben mir im Kontakt mit anderen Menschen nur zwei Optionen:
Entweder es ist immer wahr (richtig), was andere Menschen mir mitteilen oder es ist immer gelogen (falsch). Mit diesen Optionen habe ich mich schon als Kind befasst. Die grüne, mit Kunststoff überzogene Wäscheleine in der Hand, mit der ich mich erhängen wollte, nachdem mich meine einzige ~„Freundin“~ schon wieder belogen hatte, um mich vor anderen Kindern bloßzustellen. Nachdem ich meine Lehrerin damit enttäuscht hatte, nicht zu wissen, was sie von mir wollte, nachdem die Horterzieherin sich laut gefragt hat, ob ich denn nie mal richtig zuhöre, wenn sie etwas sagt. Während ich meine eigenen Eltern nie verstand, nie zufrieden machte.
Ich wusste einfach nie, was sie wollen und erst recht nicht warum.

Damals habe ich für mich entschieden, dass immer alles wahr ist, was andere Menschen mir sagen. Auch, weil das mit dem Erhängen nicht geklappt hat. Denn das wäre die Alternative gewesen: Menschen für immer meiden. Einfach nie wieder jemals mit irgendwem in Kontakt gehen. Nie wieder für immer. Auf ewig ganz allein sein. Solch ein Vorhaben lässt sich nur tot umsetzen.
Und das hatte nun einmal nicht geklappt. Und ich hatte Angst bekommen. Auch irgendwie nachvollziehbar.
Woher dann der Mut kam sich für ein Leben in Option „alles ist wahr“ zu entscheiden, weiß ich noch nicht. Vielleicht ging es auch nicht um Mut. Aber mutig erscheint es mir heute. Mutig und vielleicht nur möglich, weil ich bereits eine dissoziative Identitätsstruktur hatte.

Viele Menschen erwarten von mir, heute sehr misstrauisch zu sein. Auch, weil ich nicht vertraue. Für mich sind „Misstrauen“ und „Vertrauen“ aber kein Gegensatzpaar und ich bin nicht misstrauisch – ich bin absolut trauisch. Ich traue allen alles zu und kann mich in der Folge der Logik anderer Menschen einigermaßen anpassen.
Sie tun mir schreckliche Dinge an und begründen sie mit Lügen, die ich nicht durchschauen kann? – Sie haben Gründe, die schrecklichen Dinge ergeben Sinn, ich kann sie rationalisieren und zumindest so verpacken, dass ich handlungsfähig bleibe. Solange sie mir ihre Gründe sagen, kann ich mich in ihrer Logik sicher fühlen.
Sie sagen mir schöne Dinge und sind nett zu mir, belassen es aber bei mir, herauszufinden oder „einfach zu wissen“ wieso oder, genauer gesagt, mit welcher Absicht? – Stress pur. Angst, Unsicherheit, Unwohlsein.

Sobald ich keine äußere Wahrheit vermittelt bekomme, bin ich mit dem Nichtvorhandensein einer eigenen Wahrheit aufgrund von tausenden möglichen Wahrheiten konfrontiert. Und ich bin gezwungen zu raten. Oder viel zu fragen – was üblicherweise zur Folge hat, dass mich die Leute für dumm, naiv, ignorant, desinteressiert oder empathielos halten – oder außergewöhnlich einfühlsam und interessiert an ihnen. In jedem Fall sehen sie nicht, in was für einer prekären Situation ich bin. Wie anstrengend es für mich ist. Mit was für einem Ausmaß an Unsicherheit – und also praktisch grenzenloser Angst – ich gerade im Kontakt bin. Für mich gibt es in solchen Momenten keinerlei Sicherheiten und das ist der einzige Fakt, dessen ich mir sicher sein kann.

Meine Kompensation in solchen Momenten ist ein parallel zum Kontakt ablaufender Abgleichprozess. Denn ich kann zwar das Verhalten und die Absichten anderer Menschen nicht gut vorhersehen, aber ich bin gut in Mustererkennung. Einige Geschichten wiederholen sich – manchmal erkenne ich sie wieder und kann zeitgerecht reagieren. Zum Beispiel in der Situation am Anfang dieses Textes.

Ich denke außerdem viel über Gespräche nach und gehe dabei wie ein_e Forensiker_in vor. Logiken und Motivationen lassen sich in der Regel gut zurückverfolgen bzw. herleiten, wenn man das Ergebnis kennt. Im Nachhinein komme ich also oft noch dahinter, wer mir was warum erzählt hat und auch Lügen kann ich dann erkennen oder zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausschließen oder annehmen.

Ein weiterer kompensierender Akt ist die Dissoziation. Dieser ist allerdings nicht willkürlich von mir einsetzbar, sondern stellt sich ein, wenn ich erschöpft oder auch zusätzlich zu meiner „normalen Alltagsangst“ mit getriggertem Erinnern an traumatische Erfahrungen belastet bin.
An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass es nicht der Stress durch die Vielzahl an möglichen Wahrheiten ist, der die Dissoziation auslöst. Häufig ist es eher die Notwendigkeit oder der traumareaktiv von mir angenommene Zwang zur absoluten Wahrheit, obwohl ich keine Ahnung, Meinung, Idee, kein Wünschen, keinen Willen dazu habe. Da greifen Traumalogiken, die ich in dem Moment selbst nicht bemerke – weil sie ja sehr logisch sind und scheinbar zur (fehlinterpretieren) Situation passen.
Die Dissoziation greift in dem Moment, in dem ich Angst davor habe, der falschen Annahme zu folgen und damit andere Menschen zu enttäuschen, zu verletzen, zu beleidigen, zu kränken, zu irritieren … und also nicht zu bestätigen, zu erfreuen, zu befriedigen … auf, dass sie mich nicht zerstören wollen, sondern heil lassen. Vielleicht sogar okay finden. Kontakt zu und mit mir wollen.

Dieser Fokus – dieses Kreisen um die Absichten und Gefühle anderer Menschen ist typisch für komplex traumatisierte Menschen. Das Leben vieler Menschen hing und hängt davon ab, zu wissen, wann jene, die an ihnen zu Täter_innen werden, nicht zufrieden mit ihnen sind. Wann Gefahr droht, weil diese Menschen nicht bekommen, was sie wollen. Welche Fehler und Handlungen man besser lässt, weil sie gefährlich für eine_n sein könnten.

Ich habe, was das angeht, nie Glanzleistungen vollbracht und bin heute geteilter Meinung darüber. Denn einerseits weiß ich, dass die Gewalt an mir nichts mit meinem Verhalten und mir zu tun hatte, sondern mit den Entscheidungen, die die Täter_innen getroffen haben. Andererseits gibt es Erfahrungen, die für mich erst dann überhaupt nur eine Chance auf Logik durch forensische Spurensuche bekommen, wenn ich eine gewisse Kohärenz darin schaffe. Die Erinnerungen daran also zusammensetze und dann Stück für Stück auf Hinweise für die Motivationslage untersuche.

Das wiederum bedeutet für mich eine Unsicherheitslage. Ein ständiges Abwägen darüber, welche Erinnerungen wie valide sind und wovon in welcher Art verzerrt oder falsch sein könnten. Es bleibt immer das Risiko der Unterstellung, da ich natürlich die Perspektive der anderen Person substituiere. Ich lebe damit, dass meine eigene Geschichte, meine eigene Wahrheit über meine Erfahrungen und mich nur zu einem unbestimmbaren, niemals fest und eindeutig definierbaren Grad „wahr“ (richtig) ist.
Für mich ist das identisch mit meinem Alltagsgefühl im Kontakt mit anderen Menschen und dadurch – nicht immer und nie leicht – beruhigend. Es passt in mein Lebens- und Ichgefühl.

Das ist nicht toll und oft würde ich gerne mehr Sicherheit empfinden können. Ich würde auch gerne jemand sein, die_r sich versichern lassen kann von den Handlungen anderer Menschen, weil sie_r die guten Intentionen wahrnehmen kann.
Ich bin aber nicht so jemand. Ich muss es gesagt bekommen und nachvollziehen können. Sonst wird das nichts. Außer enttäuschend. Verwirrend. Belastend. Komisch.
Isolierend.

#1 „Ich bin da“

Die Präsenz anderer Menschen ist für mich schwierig.
Einerseits war oft niemand da, wenn ich es gebraucht und zutiefst gewünscht habe – andererseits kann mich die Anwesenheit anderer Menschen sensorisch überwältigen.
Ein Dilemma.

Denn natürlich habe ich auch mit den klassischen Bindungsthemen zu tun. Ich möchte Kontakt mit anderen Menschen. Ich möchte Nähe, Liebe, Geborgenheit, Gehaltensein, Miteinander und was wir Menschen nicht noch alles füreinander herstellen können.
Aber. Meine Er_Lebensrealität war lange: Ich kann mich nicht drauf verlassen. Es tut weh. Es schadet mir. Ich habe wenig bis gar keine Kontrolle über die Natur, die Ausgestaltung, den Einfluss des Kontaktes auf mich. Ich muss bei jedem Kontakt mit allen Kanälen offen sein, um mich zu schützen. Ich muss mich immer an andere Menschen anpassen (Ich darf nicht ich sein). Jeder Kontakt ist irgendwie unangenehm, anstrengend und auf die eigene Art schwierig.

Im Kontakt mit professionell helfenden, begleitenden, unterstützenden, behandelnden Menschen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich selbst von allem Unangenehmen frei sehen wollen. Manche sind gekränkt oder unangenehm berührt, wenn ihnen klar wird, dass ich sie auf eine Art nicht viel anders empfinde als Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden. Oder generell nicht nur allgemeine Gefühle von „Okay, wir sind jetzt hier miteinander“ mit ihnen verbinde.
Sie fühlen sich dann in ihren Taten gleichgesetzt und als Mensch abgewertet, weil sie Täter_innen abwerten und die eigenen Taten nicht als gewaltvoll denken können, wollen, sollen.

Erst mal ist jeder Mensch eine diffuse Reizmasse für mich. Eine Lärmquelle, die nur mit viel Konzentration, Willen zum Verstehen und Kraftaufwand zu einer menschlichen Stimme, Körpergeräuschen und Ort von Körper-Umwelt-Interaktion wird. Eine Masse, die ich mir in Abgrenzung zur Umgebung definieren muss. Ein Etwas, das ich mir erst dann als Jemanden verständlich machen kann, wenn ich Zeit und Raum hatte, alle ihm_r eigenen Muster zu erfassen, zu erkennen und verlässlich wiederzuerkennen.
Und selbst dann bin ich noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich das Handeln einer Person und ihrer Wirkung auf mich einordnen, begreifen oder beurteilen kann.

Auf eine Art ist meine Wahrnehmung anderer Menschen also immer sehr gegenwärtig und konkret – zeitgleich aber auch diffus. Denn wenn ich mich nicht konzentrieren kann, bekomme ich kein Bild von der Person und unser Kontakt bleibt gewissermaßen virtuell oder auch hypothetisch in meinem Kopf. Ich rate, intellektualisiere, stelle Thesen auf und verfolge sie. Aber die Person ist für mich dann nicht präsent. Ich weiß zwar, dass sie da ist – dass es sie gibt – aber sie ist nicht mit mir da. Nicht wie ich präsent.
Nicht in meinem Raum, meiner Zeit, meiner Ein.ordnung des Ist da.

Ich betrachte meine sensorischen Quirks als erste Hürde für den Kontakt. Die zweite Hürde ist traumabedingt. Auch ein Flashback kann mich in meiner Ein.ordnung von Menschen verwirren und verunsichern. Und natürlich sind meine Vermeidungsstrategien für sowohl Flashbacks als auch sensorische Überwältigung und soziale Schwierigkeiten hauptsächlich deshalb effektiv, weil sie beinhalten, keinen Kontakt mit Menschen zu haben.

Aber auch die professionelle Abstinenz (oder ihre berufsspezifischen Pendants), die so oft so wichtig im professionellen Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext ist, kann eine solche Hürde darstellen.
Das Abstinenzgebot ist eine Schutzmaßnahme für Patient/Klient_innen. Danach darf das spezielle Vertrauensverhältnis nicht für eigene Ziele und Zwecke ausgenutzt werden. Private (wie sexuelle) Kontakte sind untersagt. Auch mit nahestehenden Personen der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.

Um so einem Gebot zu entsprechen, ist eine gewisse emotionale Entfernung wichtig und auch eine bewusst gestaltete Grenze bezüglich persönlicher Involviertheit. Zumindest im Ausdruck gegenüber der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.
Man darf sich also im professionellen Kontext verbinden – aber irgendwie auch nicht. Nicht so jedenfalls. Wie Freund_innen. Familie. Arbeitskolleg_innen. Hobby-Kumpels. Eher so wie … Ja – wie eigentlich?
Kompliziert.

Ich hatte schon Therapeut_innen, die nie irgendeine emotionale Reaktion gezeigt haben. Das hat einerseits erleichtert – und gleichzeitig unangenehme Erinnerungen ausgelöst.
Ich hatte aber auch schon mit Betreuer_innen und Therapeut_innen zu tun, die sich mir praktisch grenzenlos geöffnet haben. Das hat mich überfordert und an vielen ungünstigen Strategien festhalten lassen, weil ich daraus Verantwortung abgeleitet habe, die nicht meine war.

Inzwischen bin ich in mir selbst so weit orientiert und versichert, dass ich weiß, welche Art der Verbindung im professionellen Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungskontext für mich am zuverlässigsten funktioniert, nämlich die sachbezogene. Eine klar definierte und eindeutige abgesteckte Kontaktregelung, ein klarer Arbeitsauftrag, ein eindeutiges Ziel sowie eine kontinuierliche und vorhersehbare Herangehensweise entlastet mich davon, meine Behandler-/Helfer-/Unterstützer-/Begleiter_innen als Jemanden zu erkennen (und in der Folge dazu passend zu interagieren). Sie werden zu den Operatoren, wie es ihr Beruf (auf dem Papier) vorschreibt: „Für mich (im Sinne von ‚für mein Therapie-/Ziel‘) da“ – aber nicht „mit mir da“.

In 99 % der Zeit, die ich mit professionell begleitenden, helfenden, unterstützenden oder behandelnden Personen zu tun habe, will ich nicht mehr, brauche ich nicht mehr und würde verwirrt oder überfordert, wenn mir mehr gegeben werden würde.
Das eine andere Prozent der Zeit bin ich so tief in traumatischen Gefühlen von Verlassenheit verstrickt, dass es mir hilft, wenn mir jemand sagt: „Ich bin da“.
Nicht: „Ich bin ((für) immer) für dich da.“
Und auch nicht: „Ich bin da.“

Sondern: „Ich bin da.“, oder „Ich bin hier.“
Auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt – früher oder später werde ich mich fragen, wo „da“ oder „hier“ eigentlich ist und eine erste wichtige Stufe zur Re-Orientierung darin finden.
Denn dieses Verlassenheitsgefühl, diese „Ich werde jetzt sterben, weil niemand da ist“-Empfindung ist so global, dass sie Zeit und Raum für mich zu praktisch irrelevanten Faktoren machen. Datumsangaben, sensorischer Input, der ganze daily Skillkrempel ist in dem Moment nutzlos, weil ich sie nicht mit irgendetwas verbinden kann. Mir fehlt ein Anfang. Ein first contact mit dem Hier und Jetzt, sozusagen. Eine erste Berührung, eine erste Verbindung angebahnt von jemandem, die_r es für diesen Zeitraum professionell, im Sinne von abstinent, er.tragen und halten kann, mein erster Bezugspunkt zu sein. Nicht nur mit der Stimme und den Worten „Ich bin da“, sondern auch mit der eigenen körperlichen Präsenz (und ihrer Wirkung auf mich).

Ich habe lange gedacht, dass ich mich dafür schämen muss, dass es mir so gut nutzt, wenn mir dieser Satz gesagt wird. Ich wusste nicht, welches Bedürfnis von mir damit befriedigt wird, aber die Tatsache, dass es da war, hat bereits gereicht, um in mir praktisch alles zu aktivieren, was mich früher sicher gehalten hat.
– die Gewaltwahrheit, dass ich keine Bedürfnisse haben darf
– die Traumawahrheit, dass meine Bedürfnisse schlecht, falsch, krank sind, weil es meine sind
– die Gewaltwahrheit, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter (undurchschaubar, unkontrollierbar, willkürlich aufgestellten oder auch realistisch gar nicht erfüllbaren) Bedingungen erfolgen darf
– die Traumawahrheit, dass befriedigte Bedürfnisse mich gegenüber anderen Menschen verpflichten

Heute weiß ich, dass meine Bedürfnisse zu meiner Lebendigkeit gehören. Es also tatsächlich und nicht nur abstrakt oder im übertragenden Sinne mein Leben gefährdend ist, sie zu unterdrücken, missachten oder schlicht nicht zu erfüllen. Und, dass es mein Bindungsbedürfnis ist, das mit dem Satz „Ich bin da“ befriedigt wird. Etwas, das im professionellen Setting in der Regel nicht von irgendjemand anderem erfüllt werden kann als von der Person, die dann gerade anwesend ist.
Und etwas, das Menschen haben, um ihren anderen Bedürfnissen einen höheren Zweck als sich selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte man denn essen, trinken, schlafen, sich warm und sauber halten, wenn da niemand ist, mit dem man am Leben sein kann? Familie leben, gestalten, machen kann? Dinge erforschen, Abenteuer erleben und was sonst noch so viel geiler ist, wenn man sie mit anderen teilen kann?

Kein Bedürfnis ergibt Sinn ohne die anderen – kein Bedürfnis entsteht ohne Lebendigkeit.

Ein Kernaspekt meiner komplexen Traumatisierung und vieler Gewalterfahrungen im Leben spielt sich genau an dem Punkt ab. Ich wurde in vielen verschiedenen Kontexten beschämt, bestraft, verletzt und ausgenutzt, weil ich lebe.
Die Erfahrung zu machen, dass ich lebe, etwas brauche und es bekomme – ohne, dass es jemand ausnutzt – war und ist eine essenziell wichtige Erfahrung in meiner Traumatherapie. Nicht nur früher, sondern auch heute noch. Ich brauche diese Erinnerung und diese Versicherung immer wieder mal und zum Glück habe ich heute eine Therapeutin, die ein gutes Gespür dafür hat, wann das der Fall ist.

Und eine Therapeutin, die seit nun bald 11 Jahren da ist.
Auch das ist von Relevanz für mich. Ich habe in ihr einen Bezugspunkt im Leben, der kontinuierlich da ist. Und eben nicht nur so lange, wie es die Krankenkasse bezahlt, die Klinikregeln zulassen, der Träger das Konzept hält, die Projektförderung besteht, die persönliche Erfüllung/der Spaß an der Arbeit mit mir besteht. Sondern so lange, wie unsere gemeinsame Arbeit hilfreich und nützlich für mich ist. Ich schätze meine Chancen darauf, selbst bestimmen zu können, wann ich die Therapie nicht mehr brauche, als hoch ein und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit durch Kontrolle. Ich kann wirklich gehen, wenn ich möchte. Ich kann wirklich bleiben, wenn ich möchte. Sie ist da.

#2 „Ich höre zu“

„Ich fühle mich ungehört“, „Ich fühle mich nicht gesehen“, „Beachte mich.“ – sehr schwierige Sätze.
Ich kann mich erinnern, wie ich mit 14 ein Mal vor einigen Psychologiestudent_innen vorgeführt wurde und etwas in der Richtung gesagt habe. Stand damals war ich in der Uni-Psychiatrie „wegen Ritzen“. Denn so bleibt es bei den Kindern und Jugendlichen hängen. Sie sind nie in der Psychiatrie, „wegen Personalmangel“, „wegen Zufluchtsplatzmangel“, „wegen Fehlern, die ihre Eltern und andere Bezugspersonen gemacht haben“, sondern wegen „Verhalten XY“. Ich hatte damals gesagt, dass ich nicht mehr wusste, wie ich sagen könnte, was in mir vorgeht.

Für mich beginnt die Schwierigkeit der Sätze vom Einstieg genau dort: An dem Missverständnis von Verhalten in Zusammenhängen, als Verhalten von Personen. Also der Person, genauer ihrer Persönlichkeit, als Quelle von Verhalten.
Sagt man „Ich fühle mich ungehört“ wird das oft nicht als Hinweis an das Umfeld verstanden, dass man sich ausgeschlossen, unverbunden, missverstanden oder missachtet fühlt, sondern, dass man denkt, man habe ein Anrecht darauf, gehört zu werden. Was in gewaltvollen Kontexten als eine grobe Frechheit, eine dreiste Anmaßung, eine narzisstische Selbstüberhöhung, eine unberechtigte Forderung, ein Gewalt legitimierender Selbstausdruck einer unwerten kranken abweichenden falschen Person verstanden wird. Mit allen Konsequenzen.

Diese Erfahrung machen leider sehr viele Menschen in ihrem Leben. Die most casual Alltagsgewalt, die viele Kinder erfahren, ist der Satz. „Du willst doch nur Aufmerksamkeit“ und damit genau diese Verdrehung der Bedeutung ihrer Äußerung. Statt, dass sich ein Umfeld den Auswirkungen seiner Umgangsgestaltung widmet, stellt es die natürlichen Ansprüche einer Person infrage und macht sie damit illegitim. Kinder lernen so, dass ihre Bedürfnisse zu erfüllen eine Frage von Legitimation ist – also erst ein Mal alle damit einverstanden sein müssen, dass sie Bedürfnisse haben, damit sich darum gekümmert wird, sie zu erfüllen.

Gehört zu werden, ist so ein Bedürfnis. Für Kinder ist es sogar die Grundlage ihrer Überlebensstrategie. Sie können sich auf Distanz – bei fehlender Nähe also! – nur hörbar machen, um hoffentlich von denen wahrgenommen zu werden, die ihnen nichts Schlechtes tun. Kurios, dass wir in unserer Gesellschaft denken, irgendwann höre das auf. Dieser Drang, dieses Agieren zum Überleben. Obwohl doch alles, was wir tun, 24/7, von Anfang bis Ende unseres Lebens genau darum kreist.
Aber so funktioniert Ableismus. Die Verdrängung des Bewusstseins um unsere Sterblichkeit ist so umfassend, dass wir jede Schwäche, jedes gefährdende (Noch)Nichtkönnen und jede Bezugnahme darauf abwehren müssen. Auch, wenn sie von unseren Kindern kommen.

*

Für mich war der Satz „Ich höre zu“ immer wieder wichtig im professionalisierten Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext. Auch heute noch.
Eine Erzieherin im Kinder- und Jugendnotdienst hat ihn mir gesagt, nachdem wir mein nasses Bett ab und neu bezogen hatten. Als wir eine neue Wohngruppe für mich gesucht haben. Bevor ich ihr gesagt habe, dass ich misshandelt worden war. Eva. K. Ich werds nie vergessen.
Eva hat mir damals einen Grundstein dafür gelegt, glauben zu können, dass „Ich höre zu“ einen Zauber einleitet und mich vom ewig unnötig rumnöhlenden Nervkotzbrocken zu jemandem verwandelt, die_r etwas zu sagen hat, das relevant für die Situation ist. Nicht, weil ich das sage, sondern weil ich Teil dieser Situation bin. Sie sich also auf mich auswirkt.

*

Zu „Ich höre zu“ gehört Aufmerksamkeit jedoch auch dazu. Und die ist tricky.
Denn einerseits ist Aufmerksamkeit eine natürliche Notwendigkeit zum Überleben in Gemeinschaft bzw. Gesellschaft – andererseits ist sie eine gestaltbare Folge von Wahrnehmung. Wir können entscheiden, wie wir reagieren, wenn wir jemanden wahrnehmen. Und wir haben wenig Kontrolle darüber, für welche Reaktion sich andere Menschen entscheiden.
Ich habe in meiner Herkunftsfamilie, aber auch später in Psychiatrien und anderen Gewaltkontexten immer versucht so unsichtbar wie möglich zu sein. Bitte nicht beachten. Nicht angucken. Denn immer, wenn mich jemand sah, war das ein Problem oder das, was ich als Auslöser für Gewalt an mir einordnete. Man kann nicht gleichzeitig gehört und nicht gehört werden.
Ein schreckliches Dilemma – wie sollte ich denn überleben?

Auch als jemand, die_r nicht gut darin ist, soziale Situationen zu lesen.
Ich war nie unauffällig. Nie das durchsichtig farblose Steinchen am Wegesrand oder das klitzekleine Insekt mit Tarnfarben, das ich sein wollte. Ich war das beste Spielzeug, das sich ein_e Sadist_in wünschen kann.

„Ich höre zu“ ist deshalb heute ein Satz, in dessen Zauber ich erst vertraue, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind:

  • „Ich höre zu“ bedeutet genau das: Mir wird zugehört – ohne eine weiterführende Agenda
  • es wird gehört, was ich sage – nicht wie, wo oder wann ich es sage
  • es wird (für) wahr.genommen, was ich sage und nicht ohne meine Mitwirkung in Bezug gesetzt oder bewertet

Ich weiß, dass es für viele Menschen schwierig ist „einfach nur zuzuhören“. Vor allem, wenn man beruflich zuhört und darauf trainiert ist, im Gehörten alles Mögliche zu suchen, zu finden oder zu bemerken. Aber es ist genau dieses Training, das zu Automatismen führt, die wiederum zu Fehlern führen. Auch zu Wahrnehmungsfehlern. Zu gravierenden, sich sehr schlimm auswirkenden Einordnungsfehlern. Die man manchmal nicht einmal merkt. Oder auch nicht so gern merken möchte. Wenn man etwas zu verlieren hat, wenn man Fehler gemacht hat. Zum Beispiel.

Aber ich als Patient_in, Klient_in, Hilfe empfangende Person habe im professionalisierten Kontakt gar keine andere Wahl, als zu sprechen. Wir treffen uns in konkret abgesteckten Zeiträumen, mit ganz klar abgesteckten Grenzen des Miteinanders. Mehr als sagen, was ist, bleibt da nicht übrig.
Um so wichtiger ist es für mich, dass mir professionalisierte Helfer-Begleiter-Unterstützer- und Behandler_innen sagen, dass sie zuhören, wenn es das ist, was sie gerade tun.

#3: „Ich weiß, dass Sie tun, was Sie tun können.“

Ich musste 19 Jahre alt werden, bis mir meine damalige Kliniktherapeutin gesagt hat, dass ihr völlig klar ist, dass ich alles tue, was ich kann, um klarzukommen.
Dass „noch mehr anstrengen“, „noch mehr wollen“, „noch mehr Motivation“ überhaupt nicht dabei helfen würde „vorwärtszukommen“.

Ich glaube, dass man bereits vorher versucht hat, mir das zu vermitteln. Mich das fühlen zu lassen. Ich war zu dem Zeitpunkt bereits seit 4 Jahren im Hilfe- und Heilbehandlungskontext unterwegs und nirgendwo hatte ich es ausschließlich mit Menschen zu tun, die schlecht gearbeitet oder mich ignoriert haben. Man war mir oft sehr zugeneigt, weil man sich mit mir „vernünftig unterhalten“ konnte. Tiefgründige Gespräche führen, Politik und Nachrichten diskutieren, mich für Kleinigkeiten begeistern konnte. Meine Unreife wurde davon häufig verschleiert. Dass ich häufig nur sehr abstraktes Verständnis von abstrakten Themen und Zusammenhängen habe, ebenfalls.

So kann ich mich zum Beispiel sehr gut und auch elaboriert zu großen Themen wie Gewalt, Strukturen und Dynamiken von Macht ausdrücken – kann es aber nicht gut aushalten, mich lange mit konkreten Einzelteilen dessen zu befassen. Ähnliches bei politischen Themen und Debatten. Ich bin sehr gut darin zu erkennen, wer welche Strategie fährt und warum und was sie zur Folge hat, aber die einzelnen Argumente inhaltlich auseinanderzunehmen und ihre persönlichen Bezugspunkte zu finden, ist für mich über.fordernd.
In Bezug auf solche Dinge – Themen und Dynamiken – bin ich ein „big picture“-Mensch und fühle mich darin auch sehr wohl.

Meine konkrete Sinneswahrnehmung hingegen funktioniert andersherum. Mir drängen sich viele konkrete Details auf und ich muss mich mühsam zur Verallgemeinerung – Abstraktion – bringen. Verallgemeinerung ist für mich in vielen Alltagssituationen das, was mich am meisten auslaugt. Denn natürlich gibt es „das allgemeine Leben“, aber „Leben“ ist unfassbar vielfältig und wird aus Gründen, die ich vermutlich wirklich nie nie nie nie NIEMALS verstehen werde, von den meisten Menschen auch jeden Tag anders gestaltet. Abwechslungsreich sozusagen. Das bedeutet für mich, dass ich bestimmte Dinge tatsächlich jeden Tag als neu oder verändert erlebe und mir aktiv als neu oder verändert einprägen muss. Denn sonst erkenne ich sie nicht wieder, kann sie also auch keinem bekannten Muster oder Struktur zuordnen und in der Folge auch nicht korrekt abstrahieren und als Teil des „big pictures“ begreifen.

Heute als erwachsene Person habe ich diesen Vorgang für die meisten Alltagssituationen schon so oft durchgearbeitet, dass ich ihn in vielen Bereichen zwar immer noch mit erheblichem Kraftaufwand, aber einer Fehlerquote wie die meisten Menschen auch durchlaufen kann. Als Kind und Jugendliche hat es mich enorme Kraft gekostet und mir sind sehr viele Fehler passiert.
Plus: mein kleines Dissoziationsproblem.
Es war für mich doppelt nicht immer möglich mich selbst und meine Umwelt als zusammenhängend zu erleben. Häufig nicht, weil ich nicht die Möglichkeiten hatte, meine Eindrücke so bewusst zu verarbeiten, wie ich es brauchte. Aber auch, weil ich es in der Regel mit Eindrücken zu tun hatte, die mir nicht eindeutig real oder mit mir zu tun habend oder sogar absolut fragmentiert erschienen.

Um ein „big picture“ zu entwickeln, braucht man mindestens ein Konzept dieses Bildes. Man braucht das Substantiv zu den Verben. Eine Abbildung, ein Modell, eine Vorstellung davon. Und um die eigenen Eindrücke von sich und der Mitwelt zusammenzufügen, muss man sie kohärent zusammenbringen können. Man muss wissen, aus welchen Handlungen eine Tätigkeit in welcher Reihenfolge, in welcher Art durchgeführt besteht. Aus welchen Komponenten bestimmte Situationen bestehen. Als Kind und Jugendliche_r übt man genau das ein bis man nicht mehr darüber nachdenkt, sondern es einfach weiß. Ich kann an zwei Händen abzählen, bei welchen Tätigkeiten es mir so geht. Ich habe meine „Alltags-big-pictures“ erst mit Anfang/Mitte 20 einigermaßen stabil beieinander gehabt und kam auch erst dann in die Lage, sie als von mir aus gestaltbar zu begreifen.

Dass ich das jetzt beschrieben habe, wirkt vielleicht erst einmal wie ein unnötig selbstdarstellerisches Element.
In Bezug auf den Satz, den ich hören musste, aber ist es wichtiges Vorwissen.
Denn diese „bottom to top“-Wahrnehmungsverarbeitung(sstörung) in Kombination mit einer „big picture“-Kommunikation führt zu widersprüchlichen Signalen von mir. Das klassische Hochbegabten-Ding: Erklärt die Welt, aber kann nicht unfallfrei essen.
Wirkt enorm reif – ist tatsächlich aber hilflos.

Ich konnte es mir nie leisten, so hilflos zu sein, wie ich war. Und zwar nicht nur, weil meine Herkunftsfamilie Hilflosigkeit verachtete und bestrafte, sondern, weil wir in einer ableistischen Gesellschaft leben und es gefährlich ist, hilflos zu sein. Was ich gelernt habe, ist zu maskieren. Nicht zu zeigen, wenn ich verwirrt war. Ich habe meine Angst durch und vor Verwirrung dissoziiert. Habe mich immer wieder davon anspornen lassen, dass ich kann, was ich will, wenn ich nur genug will und mache und tue. Und je älter ich wurde, wurde aus diesem Ansporn eine Bedingung. Ich kann keine Hilfe annehmen, bevor ich mich nicht in Grund und Boden gewollt und gekämpft und ausgelaugt habe. Nicht mal dran denken. Nicht mal wollen! Erst muss ich (mir) beweisen, dass ich wirklich nicht (mehr) kann.

Hilfe als Konzept ist tricky.
Denn manchmal ist Hilfe einfach Hilfe. Jemand springt für dich ein, wenn du nicht mehr kannst. Jemand macht etwas für dich, an deiner Stelle.
Manchmal wird aber auch Unterstützung als Hilfe bezeichnet. Jemand gibt dir ein Podest, verkürzt oder vereinfacht deinen Arbeitsweg, zeigt dir Methoden zur Effizienzsteigerung deines Handelns, damit du machen kannst, was du musst, möchtest, willst, brauchst.

Für beides ist es unerlässlich, dass die helfende oder unterstützende Person weiß, was die unterstützte, geholfene Person kann und was nicht, warum sie etwas kann oder nicht kann – und entlang welcher Parameter sie ihr Können oder Nichtkönnen definiert. Sie braucht ein „big picture“ ihrer Klient_innen.

In den Hilfekontexten, in denen ich mich bewegte, traf ich immer wieder auf Personen, die sich dieses „big picture“ von mir zu machen versucht haben, soweit sie konnten – ohne jedoch in der Lage zu sein, darauf angemessen zu reagieren. Viele Helfer-, Unterstützer, Behandler_innen operieren mit unfassbar kleinen Zeit- und Ressourcenrahmen. Einige haben den Widerspruch meiner Kommunikation nicht verstanden. Manche fanden ihn auch einfach witzig und haben ihn als Vorlage zur Beschämung vor der Gruppe zum Gruppenspaß benutzt. Oder natürlich, um mich von einer so wahrgenommenen Arroganz oder Hochmütigkeit zu kurieren zu demütigen.
Andere konnten das Ausmaß einfach nicht glauben.
Was ich aus all dem jedoch immer mitgenommen und als Konstante in mein „big picture“ von mir eingearbeitet habe, war: „Ich kann nicht genug. Ich kann nicht, was die anderen können. Ich kann weder im quantitativen noch im qualitativen Sinne genug richtig.“

Als ich 19 war und mit der Therapeutin arbeitete, dachte ich noch, dass ich vor allem deshalb in Therapie sei, weil ich mich als Viele erlebe. Und das falsch ist. Weil es ja eine Krankheit ist. Aus Sicht der inneren Jugendlichen: Die Krankheit, die mir meine Familie, meine Schule, mein Zimmer, meine Sachen genommen hat. Und deshalb geheilt werden muss. Mit Therapie. Was auch immer das genau ist. Und macht. Und machen soll. Hauptsache, ich streng mich an. Reiß mich richtig krass zusammen und stecke alles, was ich habe, da hinein. Sonst darf ich die nicht haben. Und dann bleibe ich für immer krank. Und dann werde ich sterben. Weil das einfach nicht zu ertragen ist.
Ich habe erst mit 30 wirklich verstanden, was „Traumatherapie“ ist. Was ich da eigentlich genau mache, im Therapiezimmer. Was es bewirken soll. Welche Rolle der Kontakt zu meiner Therapeutin dabei spielt. Was passen muss, um zu funktionieren. Wie ich was machen muss, damit sich übermittelt, was ich übermitteln will.
Da war ich schon die Hälfte meines Lebens in Traumatherapie.
Niemals hat sich jemand mit mir hingesetzt und mir das erklärt. Stück für Stück. Aspekt für Aspekt. Damit ich eine Chance auf ein Bild davon bekomme, was ich da eigentlich mache. Meine Krankheit wurde mir ausgiebig erklärt. Meine Dysfunktionalität. Aber die Therapie nie.

*

Ich musste mit 19 hören, dass meine Kliniktherapeutin weiß, dass ich schon alles tue, was ich kann, damit ich aufhören kann, von mir selbst zu denken, ich würde nicht genug tun, um mich am Leben zu erhalten. Denn da ich nicht wusste, wie ich es hätte richtig machen können, habe ich 24/7 alles für die Therapie und die Betreuung gemacht. Nicht für mich. Mein Leben. Meine Gegenwart. Sondern immer für eine Zukunft, von der ich aufgrund des fehlenden Zeit-, Raum- und Selbstbezuges überhaupt keine Vorstellung haben konnte.

Ich musste es mit 30 vom Begleitermenschen hören, damit ich aufhören kann zu glauben, ich sei die Arbeit all der Menschen, die mich bis dahin therapeutisch, betreuerisch, begleiterisch am und immer mehr auch im Leben gehalten haben, nicht wert.
Ich musste hören, dass mein autistisches, komplex traumatisiertes Machen auf Strukturen und Konzepte traf und trifft, die meine Vorarbeit zum Können, gar nicht erst zum „big picture“ über mein Können hinzufügen. Und mich deshalb immer wieder mit dem Eindruck zurücklassen, ich würde nicht genug oder nicht richtig können. Nicht, weil sie das so wollen oder für richtig halten oder allesamt ignorante Arschlöcher sind, sondern, weil es einfach nicht vorgesehen ist. Nicht mitbedacht. Nicht im Script.

*

Es hat mich sehr entlastet, das zu hören. Auch weil ich ein Stück Verantwortung ablegen konnte, das ich nie hätte übernehmen müssen.

Hilfe, echte Hilfe, erfordert kein Können auf Seiten der Geholfenen.
Unterstützung, echte Unterstützung, erfordert ein korrektes Einordnen und Kommunizieren können auf beiden Seiten.
Ich bin autistisch und lebe mit einer komplexen dissoziativen (in diesem Kontext) Störung. Meine Möglichkeiten zur Kommunikation sind (zum Teil extrem) eingeschränkt und fußen auf einer Selbst- und Umweltwahrnehmung, mit der sich die meisten Menschen in meiner Umwelt nicht identifizieren können.
Um kommunizieren zu können, ist es erforderlich, sich und seiner Umgebung bewusst zu sein. Um dieses Bewusstsein zu etablieren, zu stabilisieren und aufrechtzuerhalten, ist es wichtig[1]:

sich orientieren zu können

  • zum Körper
  • zur Person
  • in räumlicher Hinsicht
  • in zeitlicher Hinsicht

sich erinnern zu können

  • kurzfristig (Kurzzeitgedächtnis)
  • langfristig (Langzeitgedächtnis)

sich und die Umgebung wahrnehmen und verstehen können

Unabhängigkeit und Wohlbefinden werden hier beeinflusst von Fähigkeiten wie

  • zur Wahrnehmung des Körperschemas und des Körperbildes
  • zu riechen und zu schmecken
  • zu tasten und zu fühlen
  • zu hören
  • zu sehen und zu erkennen (einschließlich Gesichtsfeld)
  • zu lesen
  • sich zu konzentrieren

sich verbal mitteilen können

Dies wird beeinflusst von verbalen Fähigkeiten in der mündlichen und/oder schriftlichen Kommunikation

  • zur Wortfindung
  • zur Satzbildung
  • zur klaren und verständlichen Ausdrucksweise

sich nonverbal mitteilen zu können

Das Ausmaß und die Qualität nonverbaler Kommunikation werden beeinflusst von Fähigkeiten

  • in der Mimik und Gestik
  • zur Berührung

In jedem dieser Bereiche kompensiere ich Einschränkungen. Das ist, was mein Autismus, wie meine Traumafolgestörung auch, in unserer Gesellschaft zu einer Behinderung und jede Art der Hilfe und Unterstützung für mich zu einem komplexen Unterfangen macht.

Ich brauche mehr als die bloße Anwesenheit von Helfenden, Unterstützenden oder Behandler_innen und Kenntnis von ihrem Auftrag, um wissen, was ich jetzt eigentlich können muss. Was mein Auftrag ist. Wie ich richtig sein könnte.
Es reicht absolut nicht, mir Dinge zu sagen, die mir ein gutes Gefühl vermitteln sollen. In der Regel generiere ich mir das gute Gefühl im Kontakt durch die Gutheit des Kontaktes. – Hilfe-, Unterstützungs- und Behandlungskontexte, in denen ich mir nie Sicherheit darüber generieren kann, ob ich (hier) richtig bin, ob ich genug richtig mache, um drinbleiben zu können, sind weder hilfreich noch zielführend. Tendenziell wirken sie eher als Wiederholung der Gewalt, die ich bereits überstehen musste oder als Faktor, der mich hilfloser macht, als ich sowieso schon bin. Auch wenn ich nicht so wirke.