der Podcast „Geteiltes Leid“, eine Besprechung in 4 Teilen

Transparenzhinweis: Dieser Text entstand unbeauftragt. Finanziell ermöglicht haben ihn Steady-Unterstützer_innen. Die im Podcast und diesem Text erwähnte Emanuel Stiftung hat sich 2019 mit einem kleinen Beitrag an der Realisierung meines ersten Buches „aufgeschrieben“ beteiligt.

„Der Podcast ‚Geteiltes Leid‘ entstand im Rahmen des Projekts ‚Hast du schon gehört‘, welches durch das Programm ‚Demokratie im Netz‘ der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und vom Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben umgesetzt wurde. Mit diesem Projekt setzt Arbeit und Leben ein klares Zeichen gegen Desinformation und für eine stärkere Demokratie.“

Ich musste lachen. Denn da saß ich nun nach einigen Tagen mit E-Mails und Gesprächen über diesen Podcast und der Desinformation, die damit verbreitet wird, und las diesen Abschnitt auf der Projektwebseite. Nachdem ich die vierteilige Podcastserie gehört habe, erscheint mir kaum erreicht, was man sich mit dem Projekt vorgenommen hat. „Kritisches Hinterfragen“, „ein eindrucksvolles Beispiel für investigativen Journalismus“, „die Politik auffordern, Verantwortung zu übernehmen“ – das habe ich nicht gehört. Aber dramatische Geschichten. Viele Annahmen und unvollständige Andeutungen. Viel Vermischtes. Und das alles ohne eine Perspektive der Menschen, um die es letztlich geht.

Teil 1 – „Der Fall Leonie“

In den ersten beiden Episoden wird die Kranken- und Leidensgeschichte von Leonie (Pseudonym) erzählt. Es wird aus ihrer Krankenakte vorgelesen. Ihre Medikation und andere Details geteilt, die normalerweise besonders geschützte persönliche Informationen sind. Die man als Journalist_in nicht ohne weiteres öffentlich zitieren darf, auch wenn einem die Eltern die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben.

Das alles passiert ohne Leonie. In meinen Augen der größte Makel an „Geteiltes Leid“.
Denn der Podcast entmenschlicht sie und verdeckt die Ausbeutung ihrer Geschichte. Sowohl dadurch, dass Hörende sich keinen eigenen Eindruck von ihrer Person machen können, als auch durch unkommentierte Aussagen ihrer Eltern. Zum Beispiel die von ihrem Vater in der ersten Folge: „Wenn die Leonie zu Hause war, dann war sie ein unheimlicher Zeitfresser.“, „Man konnte auch mit ihr praktisch kein Gespräch führen. Sie konnte ins Wohnzimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und schlechte Laune verbreiten, alleine durch das, wie sie sitzt und welche Ausstrahlung sie hat. Wie ein Scheißhaufen von einem Hund.“ Es ist entsetzlich und verantwortungslos, dass eine solche Aussage überhaupt oder zumindest nicht einordnend ausgespielt wird. Man könnte oder sollte bereits hier den Podcast einfach ausschalten.

Die Erzählung von Leonies Krankengeschichte passiert nicht, um über psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie die Auswirkungen auf ihre Familien zu sprechen. Selbst die lange Zeit der lebensbedrohlichen Behinderung eines Kindes und der strukturellen wie individuellen Kämpfe, Sorgen und Prozesse, die dadurch in der Familie entstehen, wird nur ansatzweise und gefiltert durch die Leidenserzählung der Mutter erahnbar. Etwa, als sie in Folge 4 über die wöchentlichen Besuche ihrer Tochter im Pflegeheim sagt: „Und das ist so, das ist der schlimmste Nachmittag in meiner Woche.“
Das Podcast-Team möchte vielmehr aufzeigen, dass Therapeut_innen an Verschwörungserzählungen glauben und ihre Patient_innen als Beweis dafür missbrauchen, um persönliche wie politische Ziele zu erreichen.

In allen Folgen wird Leonie, genauer gesagt ihre Kranken- und Leidensgeschichte, nun wiederum als Beweis dafür benutzt, dass eben jene Erzählung über missbräuchliche Therapeut_innen und einen vor diesem Unrecht und Leid der Opfer passiven Staat wahr ist. Das ist Objektifizierung.

Für mich besonders brisant daran: Leonie ist heute offenbar schwer beeinträchtigt. Die Beschreibung ihrer Eltern legt nahe, dass sie nicht oder nur eingeschränkt fähig ist, ihre Lage zu überschauen, zu gestalten und über sich selbst zu bestimmen. Es wird nicht offengelegt, wer sie rechtlich vertritt. Dass Eltern über ihre erwachsenen Kinder aber nicht ohne richterlichen Beschluss beziehungsweise ohne eine von den Kindern erteilte Vollmacht bestimmen dürfen, wissen viele Menschen nicht. Damit erscheint Zuhörenden wahrscheinlich auch legitim, dass Leonies Eltern und Journalist_innen ihre Geschichte erzählen. Der Gedanke ist möglicherweise: „Leonie kann das ja vielleicht gar nicht mehr – dann müssen es ja andere für sie machen.“

Weil es im Podcast nicht ausführlich begründet wird, frage ich mich: Kann Leonie aufgrund ihrer Behinderung nicht selbst im Podcast sprechen? Oder bedarf es Anstrengungen von Seiten der Journalist_innen, Eltern und anderen Menschen, ihr das zu ermöglichen? Anstrengungen, auf die von dieser Seite gern verzichtet wurde? Wenn das der Fall war, warum war das für alle Beteiligten in Ordnung?

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Einwilligung und einem Einverständnis. Einen Willen kann auch jemand haben, die_r kein Verständnis von der Gesamtlage hat. Hat Leonie ein Verständnis von dem Bild, das ihre Eltern in der Öffentlichkeit von ihr vermitteln? Ist sicher, dass sie das so will? Fragen wie diese ergeben sich ganz natürlich, wenn man es mit psychisch schwer erkrankten oder intellektuell („geistig“) behinderten Menschen zu tun hat. Es erfordert eine umfassende Auseinandersetzung damit, was es bedeutet, über statt mit behinderten/(chronisch) kranken Menschen über ihre Er.Lebenserfahrungen in öffentlich zugänglichen Medien zu berichten. Das ist alles andere als trivial.

Entsprechend tauchte für mich bei diesem Podcast bereits in der ersten Folge die Frage auf, warum man sich für Leonies Geschichte entschieden hat, wenn Leonie selbst gar nicht zu Wort kommen kann oder will oder möchte. Oder soll? Direkt von etwas betroffene Menschen sind sogenannte „unzuverlässige Erzähler_innen“ – man muss ihre Aussagen stets einordnen. Warum wurde darauf verzichtet?

Später, in Folge 4, kommt eine Person, die Amelie genannt wird, zu Wort. Sie wurde ebenfalls mit der falschen Annahme konfrontiert, sie könnte Rituelle Gewalt erlebt haben und hätte eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Warum nicht diese Geschichte? Weil diese Person weniger schwer geschädigt wurde? Weil ihr Leid entsprechend geringer ausfällt – sie konnte sich ja wehren oder schützen? Brauchen Menschen wie Leonie so eine (diese?) Plattform, weil sie den schwersten Schaden haben? Woran soll das gemessen werden? Oder weil schwer geschädigt zu werden eine große Angst aller Menschen in einer ableistischen Gesellschaft wie unserer ist, wo Behinderung nach wie vor in vielen Lebensbereichen gleichbedeutend ist mit „unwert sein“?
Wie schnell man sich im Nachdenken über diese Fragen doch in einer Dynamik findet, die von ableistischer Opferfeindlichkeit und der Vermeidung der Anerkennung von Gewalt als immer leidauslösend gekennzeichnet ist. Bei einem Format, das die Demokratie stärken will, finde ich das bemerkenswert.

Ich komme nicht umhin, anzunehmen, dass man sich mit dieser Geschichte die Emotionalisierung der Debatte sichern wollte. Als sei eine Fehldiagnose, eine Behandlung durch missbräuchliche Psychotherapeut_innen oder ganz allgemein eine psychotherapeutische oder psychiatrische Falsch- oder Nichtbehandlung nicht schon schlimm genug.

Boulevard-journalistisch mag das lauter sein – menschlich, moralisch, ist es in meinen Augen nieder. Niemand, wirklich niemand, dem eine Betroffenheit zugesprochen wird, die sie_r nicht hat, von einer_einem Therapeut_in missbraucht wurde oder eine falsche Diagnose hat, hat etwas von einer emotionalisierten oder ableistischen Debatte darüber.
Die Aufmerksamkeit dient ausschließlich dem Medium und im Verlauf den Journalist_innen. Diese Art der Aufmerksamkeit ist eine Währung, mit der man nur in ganz spezifischen Kontexten etwas anfangen kann. Marginalisierte Menschen, wie behinderte Menschen oder Opfer von Gewalt, finden nicht in diesen Kontexten statt. Auch wenn das Narrativ von Opferschaft als lukratives Mittel der Selbstdarstellung weiterhin viele Vertreter_innen findet. Opferfeindlichkeit ist einfach eine der Alltagsgewalten, der sich sehr viele Menschen bis heute nicht bewusst sind.
Bis sie selbst zum Opfer werden.

Über psychische Krankheiten reden

Wenn man möchte, dass sich viele Menschen für das Leid anderer Menschen interessieren, dann muss ein Bezug hergestellt werden. Man muss eine Geschichte aus einem Leben erzählen, das wie jedes andere auch sein könnte. Sonst können sich Menschen nicht reinfühlen. Nicht annehmen: Das könnte auch ich sein.
Deshalb beginnt fast jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit, und weil die meisten Menschen Krankheit als temporären Zustand erleben, endet auch jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit. Oder mindestens der zuversichtlichen Aussicht darauf.
Leonies Geschichte beginnt mit Krankheit und endet damit. Das gefällt mir sehr gut, denn das sind die Geschichten über psychische Krankheit, die so gut wie nie gehört werden. Egal, wie oft wir Betroffenen sie der Öffentlichkeit vermitteln. Es wird von vielen Redaktionen einfach als zu deprimierend eingeschätzt. Nicht sexy. Nicht uplifting. Nicht oder nur schwer vereinbar mit kommerziellen Interessen.

Unheilbare, tödliche psychische Krankheiten sind eine Realität, mit der sich die meisten Menschen nicht abfinden wollen. Auch Leonies Eltern nicht, die mit diesem Podcast schon das zweite Mal die Geschichte ihrer Tochter benutzen, um ihre für viele Menschen absolut nachvollziehbar inakzeptable Erfahrung in die Öffentlichkeit zu bringen. [1] Sie können sich darauf verlassen, dass die Gesellschaft behinderte, unheilbar kranke Menschen verhindern will und Mitleid mit diesen Eltern hat. Und dass eben jene Gesellschaft psychische Krankheiten überwiegend als individuelles Kampfgeschehen begreift, das man „quick and dirty“ mit nur genug Willen und Kraft beenden kann.

Anorexia nervosa, die Magersucht, an der Leonie bereits als Kind erkrankt (nachdem sie eine Kindheit mit Erstickungsgefahr durchs Essen erlebt hat), ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Laut Prof. Manfred Fichter von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee sterben 10 bis 15 Prozent der an Magersucht erkrankten Menschen. 7 Prozent der erkrankten Magersüchtigen sterben durch Suizid. Die durchschnittliche Zeit der Erkrankung liegt bei 15 Jahren. [2]
Das ist schlimm. Traurig. Bitter.
Was noch bitterer ist: die durchschnittliche Wartezeit für einen Klinikplatz zur Behandlung einer psychischen Krankheit außerhalb psychiatrischer Notfallversorgung. Vor allem, wenn der körperliche Zustand einer medizinischen Mitbehandlung und Überwachung bedarf. Und erst recht, wenn zusätzlich noch eine Behinderung oder weitere Erkrankungen wie eine stoffgebundene Sucht oder eine (komplexe) Traumafolgestörung dazu kommen und eine entsprechend spezialisierte Behandlung erforderlich ist. Wie bei Leonie.

Dieser Komplex – die bittere Krankheits- und Behandlungsrealität – wird in dieser Podcastreihe nicht beleuchtet, und das ist meiner Meinung nach desinformierend. Denn das Bild von Leonies Lage, aber auch das ihrer Eltern und aller Helfer_innen, Betreuer_innen und Psychotherapeut_innen, wird dadurch massiv verzerrt dargestellt.

Die Aussagen der Eltern, die durchgehend ihr eigenes Leiden unter Leonies Krankheit, Verhalten und Re.Agieren beschreiben, kommunizieren im Kern immer auch, niemand habe ihr geholfen, niemand habe ihnen geholfen, obwohl das doch möglich gewesen wäre. Mit genug Kompetenz. Und Strenge gegenüber Leonie vielleicht. Oder Autorität. Oder Zwang, wenn nötig. Tatsächlich aber darf niemandem geholfen werden, die_r es nicht will, und nicht jede Hilfe bedeutet ein Heilungsversprechen. Mal ganz davon abgesehen, dass niemand von Ärzt_innen, Pfleger_innen und Sozialarbeiter_innen in Krankenhäusern behandelt werden kann, die aufgrund des demographischen Wandels und des Wirtschaftlichkeitszwangs im deutschen Gesundheitswesen einfach gar nicht zur Verfügung stehen.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen jeder psychiatrischen, psychologischen oder auch pädagogischen Hilfe- und Therapiemaßnahme gehört immer auch, dass sie nicht hilft oder den Zustand sogar verschlimmern kann. Wie bei Medikamenten gilt: Alles, was wirkt, kann wirken. Auch im unerwünschten Sinne.
Das ist ein absolut grundlegendes Faktum über Maßnahmen dieser Art. Jede_r Behandler_in, jede_r Helfer_in muss das wissen und den Patient_innen, Betreuten, Begleiteten und deren Angehörigen mitteilen. Befremdlich, dass die Ärztin, die uns Hörende als Host durch diesen Fall führt, das nicht vermittelt.

Dass die Eltern offenbar bis heute glauben, sie wurden um eine geheilte Tochter betrogen, kann man in diesem Zusammenhang sogar verstehen. Die (psychotherapeutische) Versorgung und Unterstützung von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen ist nämlich noch viel schlechter und erfordert manchmal eine Psychodiagnose, die man sich als Beamte_r (als Lehrer_in oder Polizist_in zum Beispiel) nicht ohne Sorge um negative Konsequenzen geben lassen kann.
Akzeptieren zu müssen, dass das eigene Kind möglicherweise unheilbar krank ist und ein Leben mit Behinderung(en) führen muss, ist für manche Menschen unfassbar schwer. Und wenn man dabei nicht unterstützt wird, kann eine Vermeidungshaltung und die Anschuldigung Dritter eine naheliegend logische Entwicklung sein.

Schwierig, problematisch, ja im Grunde tragisch wird es, wenn Dritte solche Anschuldigungen benutzen, um eine eigene Geschichte zu erzählen.

Teil 2 – „eine Geschichte, alles zu erklären“

Am Ende der zweiten Folge passiert ein Sprung, den ich auch beim zweiten und dritten Mal Anhören nicht verstehe.
Bis dahin erfahren wir, dass Leonies Zustand immer schlechter wird. Und wir erfahren, dass ihr Vater, nachdem sie absolut unfähig zur Selbstbestimmung im Krankenhaus ist und keine rechtliche Betreuung mehr hat, ihre Sachen aus ihrer Unterkunft holt. Dabei findet er einen USB-Stick, auf dem ein Video gespeichert ist. Laut der Moderation zeigt das Video, wie Leonie getauft wird. An einem offenbar schönen Tag, an einem schönen Ort, umgeben von offenbar wohlgesonnenen Menschen. Obwohl aus den im Podcast abgespielten O-Tönen keinerlei Bedrohung oder soziale Beziehung der Leute zu einander ersichtlich ist, sagt die Sprecherin zu dräuender Musik, dieses Video mache dem Journalist_innen-Team klar, dass es in Leonies Fall um ein Netzwerk ginge. Das ist angesichts dessen, was wir hören, eine irritierende Schlussfolgerung.

Mit dieser Passage endet für mich nicht nur die erste Folge des Podcastes, sondern auch mein Wille, an eine ergebnisoffene, investigative und umfassend recherchierte Arbeit dieses Teams zu glauben. Denn welches Netzwerk kann nur hinter einer Taufe stecken? Die christliche Kirche. Ein globales, ideologisch verbundenes Netzwerk, das als Organ einer Weltreligion einen allgemein legitimierten Platz in der menschlichen Kulturgeschichte einnimmt.
Der Eindruck, der hier zu erwecken versucht wird, ist, dass diese (in Leonies Leben zweite) Taufe, dieses Ereignis, das ausschließlich religiösen Zwecken dient und in der Regel mit einer standesamtlich wie sozial anerkannten Gemeindezugehörigkeit einhergeht, in irgendeiner Weise aufgezwungen wurde. Von Leuten, die Leonies Leiden entweder nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten. Also von Leuten, die gar nicht das Beste für sie wollten, sondern im besten Falle religiöses Brauchtum, im schlechtesten Fall, dass sie leidet.

Die trotz gemeinschaftlicher Verbindung letztlich doch individuelle und in der Regel selbstbestimmte religiöse Widmung und Auseinandersetzung mit sich selbst in schweren Lebensphasen wird hier als gefährlich kommuniziert. Ob es Leonie gutgetan hat, sich ein zweites Mal taufen zu lassen, ob sie es gewollt hat, weil es ihr emotionale Kraft gegeben hat, erfahren wir nicht. Wir hören jedoch erneut ihren Vater, der sein Entsetzen über seine Annahme äußert, Leonie sei zu diesem Zeitpunkt auch körperlich nicht versorgt worden. Was niemand außer Leonie und ihren Begleiter_innen wissen kann.
Zuhörende werden mit dieser Darstellung in die Idee manipuliert, die freikirchliche Gemeinde, die Leonie damals Unterkunft und soziale Gemeinschaft gab, hätte lieber für sie gebetet und Unsinn geglaubt, als sie medizinischer Behandlung zuzuführen.

Diese Erzählung – „Ideologisch überzeugte Hokuspokus-Therapeut_innen und Helfer_innen enthalten kranken Menschen echte Hilfe vor“ – sehe ich seit über 20 Jahren in Veröffentlichungen, die ihrerseits wissenschaftlich widerlegte Aussagen über die „Fälschbarkeit von Erinnerungen“ und verschwörerisch anmutende Theorien über die Unterwanderung von Medizin und Forschung durch (feministische) Akteur_innen verbreiten.
FMS, ick hör dir trapsen.
Und tatsächlich. Im Interview mit podcast.de sagt Khesrau Behroz, Mitgründer von Undone und Produzent des Podcast „Geteiltes Leid“: „Auf die Protagonisten kamen wir durch Beratungsstellen, die sich um Opfer schädlicher Therapien und deren Angehörige kümmern. Eine davon ist False Memory Deutschland e. V..“[3]

Alles, was nun in „Geteiltes Leid“ erzählerisch skizziert und argumentiert wird, folgt der Argumentation und Logik der „False Memory-Erzählung“.
Einschließlich des extrem emotionalisierenden Schlagwortes „satanic panic“, der im Titel der dritten Folge steht. Ein Begriff, der – wie immer, wenn die Protagonist_innen oder die Meinung der Redaktion davon beeinflusst ist – in der Folge nicht umfassend und inhaltlich unzureichend erläutert wird, was dazu führt, dass ein weiteres Mal das Gesamtbild verzerrt, also ein weiteres Mal desinformiert wird. Eine Dynamik, die ebenfalls seit jeher zur Debattenführung von False Memory um Rituelle Gewalt gehört und als Strohmann-Strategie[4] bekannt ist.

Der Begriff „satanic panic“ wurde in den 80er Jahren im US-amerikanischen Sprachraum verwendet, um eine teilweise auch religiös gefärbte Massenhysterie der US-Gesellschaft zu beschreiben, nachdem ein Buch mit dem Titel „Michelle remembers“ erschienen war. Das Buch handelte von einer Frau, die berichtete, mittels Hypnose an verschüttete Erinnerungen an satanistischen Missbrauch gekommen zu sein. [5]
Die davon ausgelöste Debatte beeinflusste massiv auch die öffentliche Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren, das klären sollte, ob Betreiber_innen und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool ihre Schutzbefohlenen missbraucht und in satanistisch anmutenden Szenarien gequält haben. [6]
Es gab ein für diese Zeit, in der das Privat-Fernsehen gerade erst etabliert wurde und der Kampf um die Einschaltquoten praktisch entfesselt tobte, unfassbares Medieninteresse und eine Berichterstattung, die sich zügellos in Mutmaßungen und moralischer Raserei erging.

Anfang der 80er Jahre gab es praktisch keine Standards für die polizeiliche Vernehmung bzw. Befragung von Kindern. So kam es sowohl zu wiederholten als auch suggestiven Befragungen, die zu Falschaussagen der Kinder führten. Diese Falschaussagen und deren schiere Anzahl führten zu dem Eindruck eines begründeten Verdachtes, in dessen Folge es zu dem Verfahren gegen die Schulleitung und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool kam.
Auslöser der polizeilichen Befragungen der Vorschulkinder war die Meldung einer Mutter, ihr entfremdeter Ehemann und ein Lehrer (Enkel der Schulleitung) hätten ihr Kind missbraucht. Die Mutter hatte ihr Kind entsprechend suggestiv zu Bauchschmerzen befragt.
Das Verfahren lief in Etappen bis 1990, als letztlich sämtliche Vorwürfe fallengelassen wurden.

Die im Podcast „Geteiltes Leid“ genannte Sendung mit Geraldo Rivera lief 1988 und war eine der meistgesehenen Talk-Show-Sendungen ihrer Zeit. Ein kommerzieller Traum für den Sender. [7] Ein kommerzieller Traum, den sich sowohl vorher als auch nachher viele Sender erfüllen wollten. Obwohl bereits damals offensichtlich wurde, dass mit der Erzählung von rituell mordenden Satanist_innen, die Kinder sexuell missbrauchen, auch die Zahl von Anzeigen und Falschaussagen im ganzen Land stieg.
Mit einer „Panik über oder vor Satanist_innen“ hat das, was der Begriff „satanic panic“ beschreibt, weniger zu tun als mit einem kulturellen Wandel der US-Gesellschaft, der bestimmte moralische Grundwerte in Frage zu stellen schien und bekämpft werden sollte. Der Begriff, der soziologisch gesehen zutreffender für dieses Phänomen ist, lautet: „moral panic“ [8] und beschreibt die gesellschaftlich kontrollierende Wirkung dieser und ähnlicher Erzählungen.

Menschen eine irrationale, weil von Panik verzerrte Annahme, also gewissermaßen eine wahnhafte Überzeugung nahezulegen, wenn sie ideologisch motivierte oder legitimierte und sexualisierte Gewalt in jedwedem Kontext für möglich halten, ist DIE Strategie von False Memory seit Gründung der ersten Gruppe. Verrückt, also krank, verantwortungslos und egoistisch motiviert muss sein, wer glaubt, dass Inzest und andere Formen sexualisierter Gewalt ein regelhaftes Geschehen in praktisch jeder Gesellschaft sind. Das ist eine implizierte Folgerung dieser Gruppe, mit deren Ideologie und orchestrierten Strategien sich zuerst Jennifer Freyd, die Tochter des Gründer-Ehepaares, herumschlagen musste[9] und bis heute in gewissem Grad jedes einzelne Opfer sexualisierter Gewalt in jedem nur möglichen Zusammenhang. Diese Strategien lassen sich mit dem Akronym DARVO nachvollziehen: Deny (Leugnen), Attack (Attackieren) and Reverse Victim and Offender (Täter-Opfer-Umkehr).

Für einen investigativen Podcast, der „die Mechanismen hinter Verschwörungsideologien sichtbar zu machen und einen Beitrag zur politischen Aufklärung zu leisten“ zum Ziel hat, ist die Protagonisten- und Geschichten-Akquise aus diesem Umfeld das Ende für den eigenen Anspruch. Denn unter False Memory kommen Menschen unter der Prämisse zusammen, dass sexualisierte Gewalt sehr selten und regelhaft von Psychotherapeut_innen eingeredet sei, um unschuldigen Individuen zu schaden. Was in Bezug auf die Realität von sexualisierter Gewalt nicht stimmt und nicht objektiv belegbar ist in Bezug auf die Psychotherapeut_innen.
Das schließt False Memory und damit assoziierte Protagonist_innen für jegliche Zusammenarbeit, die Üb.Erlebenden von sexualisierter Gewalt und/oder Menschen mit psychischer Erkrankung nach Gewalterfahrungen nicht schaden soll, aus.

Ich stelle mir im Hinblick auf die Realität von sexuellem Missbrauch und einer Psycho- bzw. Traumatherapie, die inzwischen ganz anders arbeitet als in den 70er und 80er Jahren, auch die Frage, warum man sich für das Ziel der Aufklärung über Verschwörungstheorien und ihre Folgen nicht mit QAnon, Chemtrails oder Impfgegnern befasst hat. Die Recherche dazu stelle ich mir viel einfacher vor, weil sie viel weniger Risiko bietet, dass Einzelpersonen in ihrem persönlichen Leid zur Schau gestellt und letztlich ausgenutzt werden.

Aber vielleicht geht es bei der Wahl dieses Themenkomplexes ja tatsächlich um Menschen, die an schlechte Therapeut_innen geraten und so Opfer von Falschbehandlung geworden sind.
Diese Geschichten passieren und ihre Protagonist_innen lügen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber die Begründung dieser Geschichten mit einem einge.schworenen Netzwerk aus verschwörungsgläubigen (also irrationalen) Einzelpersonen mit Verbindungen bis „ganz nach oben“ und wissenschaftlich als falsch nachgewiesenen Annahmen[10], [11] über die Folgen und Auswirkungen von Psychotrauma muss einer Redaktion als einer Verschwörungstheorie nahekommend auffallen. Und in ihrer Folge ebenfalls als etwas erkennbar sein, das den Betroffenen nicht hilft.

Schrödingers Journalismus – investigativ und unfähig, das Naheliegende zu sehen

So ist der Verlauf der Podcastserie für mich wie ein Autounfall, bei dem ich nicht weghören kann. Man versucht, sich als Patientin für ein Erstgespräch getarnt bei der Psychotherapeutin von Leonie einzuschleichen, um sie zu etwas zu befragen, worüber sie überhaupt nicht sprechen darf, weil sie einer Schweigepflicht unterliegt.
Eine Zeit- und Ressourcenverschwendung, unter der die Journalist_innen nicht leiden – dafür aber die Patient_innen, die gerade in Not sind und ein Erstgespräch brauchen.

Man spricht mit einer Psychotherapeutin, die selbst für mich als halbwegs informierten Laien erkennbar nicht korrekt informiert ist über die ganz basalen Grundlagen der aktuellen Traumaforschung – und dazu noch irritierend überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns und Wirkens als Therapeutin und Ärztin. Aber man meldet sie offenbar nicht bei der Kammer, wie es die Eltern von Leonie damals bei einer anderen Behandlerin von Leonie ganz richtig gemacht haben. Wie es jede_r machen kann, wenn sie_r an eine_n Behandler_in gerät, an dessen_deren Kompetenz und Handlungsweise Zweifel bestehen. Für solche Situationen gibt es Strukturen. Verantwortliche. Handlungsoptionen für Patient_innen. Niemand muss in so einem Fall schweigen oder wird von irgendwem davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Ressourcen dazu habe ich in den Quellnachweisen dieses Betrages zusammengetragen.[12] Das journalistische Rechercheteam, das neben Politik und Wissenschaft auch die Zivilgesellschaft zur Verantwortungsübernahme aufrufen will, hätte diese Informationen ebenfalls teilen können.

Doch nein, man kreiselt sich immer weiter hinein in die ebenfalls kaum haltbare Erzählung von Unklarheit und fehlenden Belegen für Rituelle Gewalt.
So wird gesagt, die Polizei habe keinerlei Kenntnis über Fälle von Ritueller Gewalt. Auch das ist eine desinformierende, weil unvollständige Aussage.
Denn: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst keinerlei religiöse oder politische Motive für Straftaten. Es gibt eine Abteilung im Bundeskriminalamt, die „Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“ beobachtet, doch die konzentriert sich auf Islamismus und keine andere Religion oder Weltanschauung. [13]
Wenn also Journalist_innen die Polizei fragen, ob sie Fälle von Ritueller Gewalt kennen, dann antwortet diese: „Nein.“, weil Rituelle Gewalt kein erfasstes Kriterium für die Polizei ist. Mord im Namen einer Religion ist Mord, ideologisch motivierte Vergewaltigung ist Vergewaltigung.

Abgesehen davon gibt es allgemein bekannte Fälle Ritueller Gewalt. Eine einfache Google-Suche zu folgenden Fällen bzw. Gruppierungen hilft: Colonia Dignidad, Kwa Sizabantu, Niederbonner Schwestern, Zeugen Jehovas, Scientology, Orde der Transformanten.

Warum Fälle wie diese nicht als Rituelle Gewalt verstanden werden, kann anhand dieses Podcasts ganz gut illustriert werden:
Zum Einen bewegt man sich, wie gesagt, im Kontext eines Strohmann-Arguments.
Man will einfach, dass Rituelle Gewalt als von Satanisten ausgehend verstanden wird. Immer wieder wird in einen (von False Memory oder „Zweiflern“) selbst geschaffenen und selbst aufrechterhaltenen Diskursraum getragen, „die da“ (die unfähigen Hokuspokus-Therapeut_innen, die religiös wahnhaften Christenpriester und wer nicht noch alles) würden an satanistische Eliten glauben, die ihre sadistischen Phantasien an wehrlosen Kindern ausleben und alle Schichten der Gesellschaft damit beeinflussen – genauer gesagt: verrückt machen.

Während „die da“, welche forschend über Rituelle Gewalt sprechen, die jedwede ideologisch geprägte Weltanschauung zugrunde liegen haben kann und zunehmend als „Thema“ zur Vertuschung oder „inhaltliche Gestaltung“ von organisierter Gewalt verstanden wird. Weshalb es immer wieder auch die sprachliche Weiterentwicklung zur schärferen Abgrenzung dieser zu anderen Formen von Gewalt geben wird. So funktionieren Wissensentwicklung und Diskurs. Wer es genauer weiß, spricht nicht in einfachen Schlagworten. Und schon gar nicht in so übertrieben vereinfachten Worten, wie es für ein Strohmann-Argument notwendig ist.

Eine umfassende Entwicklung der Definition des Begriffs „Rituelle Gewalt“ ist öffentlich zugänglich einsehbar und zeigt, wie sich über die Jahre hinweg mehr und mehr Trennschärfe ergeben hat.[14]
Es ist desinformierend, in einem Podcast zu behaupten, es gäbe keine eindeutige Definition. Und in meinen Augen einfach unverschämt, Menschen um Begriffsklärung und Erläuterung der eigenen Arbeitsgrundlage zu bitten und ihnen dann „Schlagwort-Slalom“ vorzuwerfen.
Das passiert in Folge 3, nachdem Eva Lauer von Lüpke, Vorsitzende der Emanuel-Stiftung und Unterstützerin von Leonie. Lüpke wurde vom Podcast-Team zu einem allgemeinen Gespräch über ihre Stiftung eingeladen und hat offenbar viel Zeit und Mühe aufgebracht, so unmissverständlich wie möglich Definitionen und allgemein missverständliche Schlagworte zu klären. Eine Aufgabe, die im Hinblick auf eine über 45 Jahre andauernde Begriffsentwicklung mit erheblichem Anspruch einhergeht.

Das Verhalten des Podcast-Teams erscheint mir spätestens dann nur noch dreist, als Olga Herschel, die Journalistin, die uns als Sprecherin durch diesen Podcast führt, sagt: „Alles, wirklich alles an Ritueller Gewalt scheint heikel zu sein und dadurch bleibt vieles im Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke sehr schwammig. Aber es gibt einen Fall von Ritueller Gewalt, der ist sehr konkret und den hat Eva Lauer von Lüpke aus nächster Nähe erlebt: Leonie.“
Plötzlich haben sich also die Klarheiten gedreht. Leonie ist also doch ganz konkret Rituelle Gewalt geschehen und die, die es wissen muss, schließlich leitet sie eine Stiftung, die sich unter anderem für Opfer Ritueller Gewalt einsetzt, spricht schwammig.
Interessante Wendung.

Nach dem Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke spricht Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Zum zweiten Mal bekommt das Team sinngemäß vermittelt: „Hey, Leute, ‚satanistischer Missbrauch‘ – damit sind wir hier überhaupt nicht befasst. Niemand hier redet von dem, was ihr unterstellt. Es gibt gar nicht so viel Unklarheit, wie ihr annehmt. Hier, diese Zahlen konnten wir erarbeiten, das ist unser Stand der Auseinandersetzung, das ist unsere Datenlage.“
Und wieder wird einer klar erläuternden und daher wenig missverständlichen Interviewpartnerin „Schlagwort-Slalom“ vorgeworfen, weil diese nicht sagt, was das Team hören will, um die Argumentationslinie, der sie inhaltlich folgt, zu bestätigen. Hier sind wir schon weit von seriösem Journalismus entfernt.

Wer dieser Argumentationslinie zuletzt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefolgt ist und anschließend als mutiger Gegenpol dargestellt wurde, ist Jan Böhmermann mit einer Folge der Sendung „ZDF Royale“. Seine vom Podcast-Team sogenannte „Kritik“ an der Erzählung über Rituelle Gewalt wurde nach mehreren Beschwerden beim Fernsehrat vom ZDF depubliziert. Eine außergewöhnliche Situation, denn so schnell wird von einem Sender nichts depubliziert. Da müssen dann schon extreme Mängel zu finden sein.
In dieser Sendung jedoch, die als Satire-Sendung bekannt ist, wurde nicht, wie für Satire üblich, nach oben getreten. Also sich über Menschen oder Umstände lustig gemacht, die politisch oder gesellschaftlich verantwortlich sind für Dinge, die schieflaufen. Tatsächlich wurden Gewaltbetroffene und ihre Erfahrungen herabgewürdigt und sich über die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber als Einzelperson lustig gemacht. Eine Person, deren Einfluss auf Deutschland kaum zu vergleichen ist mit dem eines_r Politiker_in oder ähnlichen Verantwortungsträger_innen.

Eine Fernsehsendung, deren Witz nur dann funktioniert, wenn man annimmt, dass Menschen mit Traumafolgestörungen und/oder spezifischen Gewalterfahrungen lügen oder ihre Krankheit und die Überzeugung, bestimmte Gewalterfahrungen gemacht zu haben, von jemandem wie Michaela Huber eingeredet bekommen, ist keine Satire. Das ist nicht einmal Kritik. Das ist opferfeindlich und abwertend gegenüber Menschen mit psychischer Krankheit und gegenüber Michaela Huber möglicherweise auch üble Nachrede oder Verleumdung.[15]

Auch wenn – und darüber muss es einen gesellschaftlichen Konsens geben – es nötig ist, das Thema auch kritisch in der Öffentlichkeit zu besprechen, um Falschbehandlung und Falschanzeige oder Falschverdächtigungen zu verhindern oder aufzudecken – so wie es das ZDF Royale gemacht hat, ist es einfach nicht in Ordnung. Denn egal, wie man es dreht und wendet – es wird nie witzig oder gesellschaftlich anständig sein, darüber zu lachen, dass Menschen Gewalt erfahren haben. Sei es, weil sie ihnen tatsächlich passiert ist oder sei es, weil ein_e Therapeut_in sie davon überzeugt hat. In beiden Fällen ist den Menschen etwas passiert, das nicht in Ordnung war und ein soziales Umfeld erfordert, das diese Erfahrung ernst nimmt, in ihrer Bedeutung begreift und angemessen reagiert. „Hihi haha, Satan-Kostüm, guckt mal, die komische Frau und der Quatsch, den sie erzählt“, ist kein angemessener Umgang. Eine solche Sendung zu depublizieren und auch im Nachhinein nicht noch einmal neu produziert zu veröffentlichen, ist unter der Prämisse, nicht zu schaden oder zur Herabwürdigung von Menschengruppen beizutragen, nur richtig und hat mit umfassender Diskursverhinderung, wie es das Podcast-Team von Undone in Interviews und in der dritten Folge vermitteln, nichts zu tun.

Dass ein Rechtspsychologe wie Andreas Mokros den Schutz von Opfern durch Verhinderung solcher Sendungen erschreckend findet und eine universitäre Verantwortungsposition inne hat, finde ich nun wiederum erschreckend.
Jemand, der etwas für Menschen wie mich tun und erreichen möchte, sollte mir nicht vermitteln, ich müsse es aushalten, dass ganz Deutschland darüber lacht, was mir passiert ist oder passiert sein könnte. Die Konsequenz eines solchen Umgangs mit meinen Gewalterfahrungen – wie gesagt, entweder durch Therapeut_innen oder organisierte Straftäter_innen – ist eine Demütigung aufgrund meiner Erfahrung und meiner Erkrankung. Für mich ist das eine weitere Gewalterfahrung und in letzter Konsequenz auch offene Diskriminierung.

Bedauerlich ist zudem, dass mit ihm und seinem Beitrag die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu einem Streit verkommt, dessen Ziel nicht das Schaffen oder Erweitern des Wissensstandes zu ideologisch oder weltanschaulich motivierter Gewalt und ihren Folgen zu sein scheint, sondern – ja, was eigentlich?

Die intersektionale Forschung, also die Zusammenarbeit verschiedener Professionen zu einem gemeinsamen Thema, könnte enorm bereichernd sein und Betroffenen tatsächlich helfen. Warum ist es in der deutschen Wissenschaft so viel leichter, einander zu diskreditieren und in der Fachlichkeit in Frage zu stellen, als zusammenzuarbeiten? Vor allem, wenn es doch allen „nur um die Sache geht“?
Der Gedanke, der mir in Bezug darauf sehr naheliegend erscheint, ist, dass es eben nicht „nur um sie Sache geht“. Wäre dem so, würde meiner Ansicht nach über nicht über Rituelle Gewalt diskutiert oder darüber, dass andere Forschende den Herrn Mokros für einen „wadenbeißerischen Bösewicht“ halten, sondern über die Möglichkeiten und Grenzen unabhängiger Forschung zu Gewalt, die so selten von Täter_innen selbst angezeigt wird, dass es ganz zwangsläufig immer wieder zu „Aussage gegen Aussage-Situationen“ kommt und damit zu einer außerordentlich herausfordernden Zugangs- und Interpretationslage. Keine Seite wird schnell zu eindeutigen Ergebnissen kommen, solange sie sich im Streit mit der anderen befindet. Aber immer wird es Menschen geben, die davon profitieren, dass es noch unzureichend beantwortete Forschungsfragen und einen extrem schwierigen Zugang zum Forschungsfeld gibt: Menschen, die Gewalt ausüben und Menschen, die Täter_innen vor der Strafverfolgung schützen wollen.

Teil 3 – „und die Nebelkerze brennt“

Im Folgenden macht der Podcast inhaltlich einen breiten Bogen.
Er macht Aussagen über Studien- und Forschungsbetriebsarchitektur, die eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit kaum in ihrer Validität einschätzen kann, und ordnet sie zum nächsten emotionalisierenden Schlagwort zu, das diesmal jedoch von der UKASK kommt: „Memory Wars“.
Für mich ein irritierender Sprung, ging es bei den „Memory Wars“ doch um die Frage, ob und wenn ja, wie sehr Erinnerungen an traumatische Erfahrungen verdrängt werden können. Ob Verdrängung überhaupt ein Ding ist. Was eine Erinnerung ist. Wie man sich unter welchen Umständen erinnert. Was eine Erinnerung von einer Überzeugung unterscheidet.
Das wissenschaftliche Veröffentlichungs-Pingpong der 90er Jahre hat nicht darüber diskutiert, ob es Rituelle Gewalt gibt oder nicht, sondern ob man sich als Opfer in welcher Form und in welcher Zeitspanne wie konkret und bewusst erinnert.

Zu sagen: „Sowas kann doch keiner verdrängen oder vergessen!“, ist eine der Attacken, die False Memory von jeher fährt, nachdem Vertreter_innen dieser Bewegung sexualisierte Gewalt lange geleugnet hatten, indem sie äußerten: „Würde es sowas geben, gäbe es ja Beweise.“
Heute ist allgemein bekannt, dass es das gibt. Selbst in „Geteiltes Leid“ wird eingeräumt: „Natürlich gibt es organisierte Gewalt an Kindern, Menschenhandel und Ausbeutung. Das ist alles vielfach dokumentiert. Und es gibt Fälle, in denen organisierte Gewalt in einer Sekte stattfindet. Und ja, viele Opfer organisierter oder sexualisierter Gewalt berichten auch von Einschüchterungen, von Manipulationen. Das ist ein Grund, warum sich Betroffene lange nicht trauen, sich Hilfe zu holen.“ Heute kann sich wirklich niemand mehr in die Öffentlichkeit stellen und die Leugnung (Denial) über sexualisierte Gewalt aufrechterhalten.
Aber attackieren (Attack), wer Erfahrungen teilt, ohne objektive Beweise anzubringen, oder Menschen glaubt, die Erinnerungen oder Überzeugungen teilen, ohne Beweise dafür einzufordern oder auch nur dazu forscht, um vorliegende Hinweise zu untersuchen – das funktioniert noch heute. False Memory muss das auch machen, sonst würde die Argumentation aus der Opferrolle heraus (Reverse Victim and Offender) nicht funktionieren.

An diesem Punkt in der Serie wünscht man sich mehr Klarheit in all dem Nebelkerzenrauch.
Nachdem man nun vieles gehört hat, zu dem man selbst als nicht-wissenschaftliche_r Zuhörer_in kaum eine fundierte Meinung, ja, nicht einmal einen Einblick in die Arbeitsrealitäten haben kann – da ist man versucht, der Abgrenzung des Teams zu folgen. „Was es aber nicht gibt: Brutalste Folter und Morde, die unsichtbar im Untergrund passieren … “ – Ein Ausschluss, der bei einem Format mit journalistischem Anspruch irritiert. Etwas komplett ausschließen, das ist vollkommen unjournalistisch. Vielmehr ist es journalistisch, dort etwas zu finden, wo andere sagen, da sei nichts. Deshalb ein kleiner Realitätscheck: Guantánamo Bay, Colonia Dignidad, die Mafia, kalter Krieg – Zweifelsfrei gibt es Folter und Morde in Zusammenhängen, die dem Großteil der allgemeinen Bevölkerung verborgen sind. Das ist, was der Begriff „im Untergrund“ an dieser Stelle bedeutet.
„… und an die die Opfer jahrzehntelang keine Erinnerungen haben, weil ihre Persönlichkeiten zersplittert und programmiert sind.“
So ausgedrückt – ja. Kann ich zustimmen. Die „Zersplitterung“ einer Persönlichkeit ist nicht möglich, da die Persönlichkeit eines Menschen das Ergebnis seiner Interaktion und Kommunikation mit dessen Umwelt ist und kein fester Gegenstand, an dem mal hier, mal da was absplittern kann, wenn jemand draufschlägt. Dieses Bild von Persönlichkeit ist massiv überholt und führt zu falschen Annahmen über die Leistungsfähig- und Fertigkeiten der menschlichen Psyche und dem folgend ihre (neuro)biologischen Grundlagen.

Entsprechend redet heute kein wissenschaftlich fundiert arbeitender Mensch mehr von „verschütteten Erinnerungen, die in einer Therapie hervorgeholt werden“, sondern davon, wie ganz normale Prozesse der Reiz- und Informationsverarbeitung dafür sorgen, dass man sich sowohl banaler als auch ganz massiver Dinge teilweise oder auch ganz nicht (ich-)bewusst sein kann. „Sich der eigenen Erfahrungen (ich-)bewusst sein“ über Dinge oder (biografische) Erfahrungen ist etwas anderes, als „sich an Dinge erinnern“. Das eine kann erreicht werden mittels Datenauf- und -übernahme – das andere durch Erfahren bzw. erfahrungsbedingtes und kontextualisiertes Lernen.
Wenn mir jemand einredet, ich hätte Gewalt erlebt, kann ich dieses mir eingeredete Wissen jederzeit abrufen und wiedergeben.
Wenn ich Gewalt jedoch erfahren habe, gibt es bedingt dadurch, wie im Moment der Gewalterfahrung das Gehirn funktioniert, schwer vorhersehbare Grenzen der Reiz- und Informationsverarbeitung.[16] Das, was man im Nachhinein dann über die Erfahrung sagen kann, ist zwangsläufig lücken- und fehlerhaft und in manchen Fällen auch als ich-fremd erlebt. Die betroffenen Menschen erleben sich selbst und werden oft auch von anderen Menschen als „nach dem Ereignis nicht mehr die_rselbe“ wahrgenommen.
Ein Umstand, der relativ gut erforschte (Schutz-)Reaktionen der Betroffenen, aber auch ihrer Angehörigen fördern kann. Wie zum Beispiel Vermeidungsverhalten.

Im Fall der DIS kann man von extrem gut eingeübter traumabedingter Vermeidung (die durch Dissoziation ermöglicht und aufrechterhalten wird) sowohl vor sozialem Umfeld, als auch vor sich selbst ausgehen.[17] Wer sich selbst nicht umfassend mit einer oder mehreren traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang bringen kann, entwickelt ein Selbstbild, das damit einfach nichts zu tun hat und im gegebenen sozialen Alltag und Miteinander so angepasst wie möglich funktionieren kann, um diese Vermeidung bzw. das eigene Selbstbild nicht aufgeben zu müssen.
Die eigene Funktionsfähigkeit um jeden (auch langfristig schädigenden) Preis zu erhalten, ist in diesem Zusammenhang gesund, normal und ein zum Niederknien großartiges Ding, zu dem Menschen fähig sind. Alle Menschen. Nicht nur Überlebende oder Menschen in schweren Krisen.

Dissoziation ist ein natürliches Phänomen. Kein Mensch würde ohne durch den Tag kommen – übrigens der Grund, weshalb Amelie unter der Aufforderung, sich „immer auf jede noch so kleine Stimme im Kopf“ zu konzentrieren, so enorm gelitten hat, wie sie in der vierten Folge „Geteiltes Leid“ schildert. Es ist für das menschliche Gehirn biologisch überhaupt nicht vorgesehen, alles immer zu jedem Zeitpunkt bewusst und präsent im Denken zu haben. Wir brauchen nicht so zu tun, als wäre Dissoziation ein von windigen Therapeut_innen ausgedachtes Spezialfeature oder eine besondere Begabung von Opfern sexualisierter Gewalt, die sie zu etwas ganz Besonderem macht, nämlich einem Menschen mit DIS oder assoziierter dissoziativer Störung.

vom Besonderen zum Absurden – eine gefährliche Abkürzung

Diese „Besonderisierung“ (dieses Othering) von Menschen mit DIS bietet einen extrem isolierenden Nährboden für alle möglichen von mir so genannten „Multimythen“, die letztlich bis heute dafür sorgen, dass die Allgemeinheit entweder annimmt, diese Störung sei mit dem Leben nicht vereinbar, oder aber denkt: „DIS – ja ha Sybil, Split, Satanistische Elite, Quatschtherapeuten und Trauma-Opferbonus“ und entsprechend mit Betroffenen umgeht.

Zu den klassischen Multimythen gehört in meinen Augen die Erzählung von Medikamenten, die bei allen Anteilen unterschiedlich wirken. Anteile mit unterschiedlichen Augenfarben, extreme Fähigkeiten bei allen möglichen Anteilen gleich, zu 100 % komplett autonome Doppel-Dreifach-Vierfachleben und die „absichtlich gemachte DIS“, auch „künstliche DIS“ genannt in Abgrenzung zu „natürlicher DIS“.
Jede meiner Recherchen in den vergangenen 20 Jahren zu diesen und anderen Multimythen, von denen einige auch in den ersten Auflagen von Michaela Hubers Buch „Multiple Persönlichkeiten, Überlebende extremer Gewalt“ stehen, führten zu nichts. Keine Studien, nichtmal qualitative Befragungen, nur anekdotische Evidenz in den sozialen Medien und Veröffentlichungen von Betroffenen sowie eine praktisch quellenlose Beschreibung der Idee der „planvollen Spaltung“ von Gaby Breitenbach[18] habe ich bisher dazu gefunden – und das ist mir zu wenig.

Um diese kritische Haltung einzunehmen, brauche ich nicht zu negieren, dass die DIS eine valide und unterforschte Erkrankung ist, oder dass es für Täter_innen außerordentlich praktisch sein kann, es mit Menschen zu tun zu haben, die es gewohnt sind, Opfer zu sein und sich entsprechend leicht fügen oder sogar „aus freiem Willen“ für Gewalt zur Verfügung stellen.
Zu dieser kritischen Haltung komme ich, weil ich ein Mensch bin, wie andere Menschen mit einer anderen Diagnose auch. Wer heute in Epileptiker_innen noch jemanden mit direktem Draht zu G’tt sehen würde, würde zuverlässig vor dieser und ähnlichen längst überholten Fehlannahmen geschützt werden. Und zwar nicht nur von Professor Doktor_innen und den spezialisiertesten Fachärzt_innen, die es gibt, sondern auch von der Mehrheit der Menschen. Wer jedoch auch heute noch eine DIS-Diagnose bekommt, steht diesbezüglich praktisch allein auf weiter Flur. Wie allein, das wird in der vierten Folge des Podcasts gut illustriert.

Teil 4 – „Die Helfer_innen und die Hilfe“

Eine Diagnose ist etwas, das Beobachtungen von fachspezifisch geschulten Menschen zusammenfasst. Sie sehen etwas, erkennen etwas und gleichen ihre Beobachtungen ab.
Damit in Medizin und Psychologie Klarheit darüber besteht, welche Beobachtungen wie eingeordnet werden können und in jedem Land auf der Welt die gleiche Einordnung und Behandlung möglich ist, gibt es standardisierte Verzeichnisse. Diese Verzeichnisse sind das „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) und das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM).
Die World Health Organisation (WHO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat Aufgaben, deren Ergebnisse auf vielen Ebenen dazu führen sollen, dass überall auf der Welt das Recht jedes Menschen auf Gesundheit und medizinische Versorgung umgesetzt werden kann. Im Zuge dieser Aufgaben ist die WHO an der stetigen Aktualisierung des ICD beteiligt.

Eine Diagnose kommuniziert also eine Beschreibung des Bildes, das sich jemand von jemand anderem gemacht hat. Sie ist kein Messinstrument. Sie ist kein Werkzeug zur Bestätigung oder Bewertung individueller Lebenserfahrungen eines Menschen. Eine Diagnose kann nicht bestellt oder geliefert werden. Diagnostik hingegen kann beeinflusst werden, denn Menschen planen sie und führen sie durch.
Im Podcast „Geteiltes Leid“ geht man der Idee nach, dass Psychotherapeut_innen und Mediziner_innen von Verschwörungstheorien beeinflusst sind und deshalb nicht nur eine falsche Diagnose an schwer erkrankte Menschen vergeben, sondern diese Menschen auch noch so beeinflussen, dass diese die verschwörungsbedingten Überzeugungen ihrer Behandler_innen bestätigen. Ein Geschehen, das man ironischerweise als Rituelle Gewalt einordnen könnte.

The wheels on the bus go round and round and round and round

Beim Hören entsteht der Eindruck, die Beeinflussung durch den Verschwörungsglauben an satanistische Eliten wäre das Hauptproblem für falsche Behandlung und alleinige Grundlage für die Vergabe einer DIS-Diagnose. Würde man nicht daran glauben, dann würde man die Diagnose nicht vergeben und auch keine schädigende Behandlung machen.
Diese bis zum Schluss nicht falsifizierte Vorannahme der vierten und letzten Folge der Serie, wird deutlich im Gespräch zwischen der Sprecherin und Journalistin Olga Herschel, die in 5 Jahren an 3 verschiedenen Standpunkten als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, und ihrem Interviewpartner Stefan Röpke, der seit 22 Jahren Facharzt ist und an der Charité forscht.
Man kann sich aufgrund der Vorstellung seiner Person nicht erschließen, wie viele Patient_innen er pro Tag sieht, ob und wenn ja, wie er in Diagnostik und Behandlung eingebunden ist. Ja, nicht einmal, woran genau er in Bezug auf Traumafolgestörungen forscht. Sein Expertenprofil auf der Webseite der Charité zeigt lediglich, dass eines seiner größten Themen die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (BPS) ist.[19]

Die Diagnose der BPS hat viele Überschneidungsbereiche mit einer DIS-Diagnose. So können zum Beispiel auch Menschen mit BPS teils schwere dissoziative Symptome, Identitätsstörungen und suizidale Krisen haben. Suchterkrankungen und selbstverletzendes Verhalten unterschiedlicher Ausgestaltung sind keine Seltenheit in der Gruppe der Menschen mit dieser Störung, und viele von ihnen haben traumatische Erfahrungen in ihrer Biografie. Im Vordergrund steht jedoch häufig eine Affektregulationsstörung, die das soziale Miteinander mit anderen Menschen erheblich beeinflusst und zu wiederkehrenden Bindungskrisen durch Angst vor dem Verlassenwerden führt.[20]

Für mich erklärt sich mit diesem Hintergrundwissen zu Röpkes Expertise schnell, weshalb er noch nie eine DIS-Diagnose vergeben hat. Wer einen Hammer hat, sieht auch in einer Schraube einen Nagel und kriegt sie mit genug Kraft auch an die vorgesehene Stelle.
Ein verbreitetes Phänomen, das auch unter dem Stichwort „confirmation bias“ bekannt ist und nichts damit zu tun hat, ob man von einer Verschwörungserzählung überzeugt ist oder nicht.
Es ist eine natürliche Tendenz, sich selbst in dem zu versichern, was man kennt und entsprechend überwiegend den Fokus auf das zu legen, was man eindeutig erkennt. Man erkennt am sichersten, was man am häufigsten gesehen hat. Was man am häufigsten gesehen hat, hat man am häufigsten angesehen. Was man dabei alles nicht gesehen hat, hat man auch nie gesehen.

In einem Podcast, der zur Verantwortungsübernahme mahnt, muss man meiner Ansicht nach der Verantwortung nachkommen, diese Tendenz und die Folgen von selektiver Wahrnehmung auch im eigenen Projekt zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Das ist meiner Meinung nach nicht passiert.

der echte Teufelskreis

So verpasst das Podcast-Team im Abschnitt über die Dresdner Privatklinik „Waldschlösschen“, Amelies Behandlungserfahrung und die Aussagen von Martina Rudolf, der Leiterin der Klinik, das tatsächliche Hauptproblem – den für so manche Menschen mit DIS wahren Teufelskreis – zu erkennen: die ganz allgemein und für alle Menschen gleich unzureichende und entsprechend häufig auch mangelhafte psychotherapeutische, psychiatrische, medizinische, pädagogische und sozialarbeiterische Versorgung in Deutschland und sämtliche Konsequenzen für Patient_innen mit jedweder Diagnose daraus.

In diesem Abschnitt können wir anhand von Amelies Behandlungserfahrung sehr gut nachvollziehen, wie schädlich es ist, wenn eine ambulant gestellte Diagnose und die sich daraus ergebenden Behandlungsansätze im stationären Rahmen nicht umfassend überprüft, sondern offenbar einfach übernommen wird.
Zahlen kann ich für diese Praxis leider nicht anbringen, daher muss an dieser Stelle die anekdotische Evidenz ausreichen. Jeder, egal, ob psychisch oder physisch chronisch kranke Mensch, den ich kenne, hat zu einem oder mehreren Zeitpunkten im Leben eine Fehldiagnose in der Akte stehen gehabt, die noch mindestens eine weitere behandelnde Person ohne validierende Diagnostik einfach übernommen hat. Ein Grund dafür: „Husch husch – Zeit ist Geld.“ In Deutschland das typische Grundrauschen jedes medizinischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungsgeschehens.
Damit, dass jemand bestimmte Diagnosen stellen will, weil sie das eigene Weltbild bestätigen, wie im Podcast über die DIS und Rituelle Gewalt unterstellt, hat das nichts zu tun.

Am Ende des letzten Teils schrieb ich, dass man als Mensch, der diese Diagnose bekommen hat, allein auf weiter Flur ist. Und dass das ein Problem ist.
An Amelies Geschichte kann man sehr gut aufzeigen, inwiefern das so ist.
Da ist zum einen der Umstand, dass vor der DIS für die meisten Betroffenen viele andere Diagnosen, Klinikaufenthalte, Therapien und Hilfemaßnahmen kommen, die unterschiedlich hilfreich (heilend) oder zerstörerisch (verletzend) wirken und in jedem Fall mit dem Stigma und der Diskriminierung von psychischer Krankheit bzw. Behinderung einhergehen.
Viele Betroffene verlieren im Lauf ihrer „Psychokarriere“ nicht nur zeitweise ihre individuelle Freiheit, Würde und Selbstbestimmung (etwa durch Zwangsbehandlungen oder den Umstand, dass es gar nicht genug Einrichtungen mit passendem Behandlungskonzept gibt, sodass eine selbstbestimmte Wahl der Behandlungsart unmöglich ist), sondern auch den Kontakt zur eigenen Familie, den Anschluss an Schule, Arbeit und Freund_innen.
Je länger die Phase der psychischen Krankheit andauert, desto wahrscheinlicher ist eine solche Entwicklung. Und davor haben so gut wie alle Menschen Angst. Ob sie nun wissen, dass etwa 76 % der obdachlosen Menschen „auch psychisch krank sind“[21] oder nicht. Es ist absolut klar, dass, wer nicht gesund im Sinne von arbeitsmarktgerecht funktionstüchtig ist, ein echtes Problem hat und sich um Hilfe bemühen muss.
Ob welche da ist oder nicht. Und auch: Ob sie hilft oder nicht. Bevor man gar nichts macht und man für jemanden gehalten wird, die_r krank sein will, nehmen sehr viele Menschen auch Angebote an, die nicht für sie geeignet oder für Menschen mit ihrer Diagnose unerprobt sind. In so mancher Krisenphase ist „zu wenig oder nicht ganz richtig“ schnell mal „immerhin etwas und nicht ganz falsch“. Die Folgen solcher Kompromisse können verheerend sein und die Entscheidung darüber kann von niemandem in allen möglichen Konsequenzen vorhergesehen werden.

Eingegangen werden müssen diese Kompromisse dennoch. Für komplex traumatisierte Menschen mit mehreren assoziierten Erkrankungen gibt es de facto keine andere Wahl, denn „Traumatherapie“ ist kein geschützter Begriff. Als Psychotherapeut_in und Heilpraktiker_in für Psychotherapie kann man praktisch alles „Traumatherapie“ nennen, was dabei helfen soll, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Der Fort- und Weiterbildungsmarkt zur Thematik ist voll mit allen möglichen Akteur_innen, die viele verschiedene Methoden anbieten oder weiterentwickeln. Manche davon, wie zum Beispiel EMDR, sind umfassend erforscht, während anderen, wie der „(traumafokussierte) Familienaufstellung“, ganz klar ein Personenkult und damit verbunden eine esoterisch-autoritäre Weltanschauung zugrunde liegt.

Als Patient_in mit Traumafolgestörung ist eine umfassende Psychoedukation wichtig, um überhaupt zu verstehen, worum es bei der eigenen Erkrankung geht. Nur so gibt es eine Chance, Kompetenzen im Umgang damit zu entwickeln und sich vor Betrug und wirkungslosen Behandlungen zu schützen.
Auch um diesen ganz basalen Punkt der Aufklärung ist ein Abgleich mit der Realität wichtig. Man muss sich fragen: Wann und wozu erhalten Menschen eine Diagnose und wie wird sie ihnen erklärt? Sind Behandler_innen – egal ob sie medizinisch, psychiatrisch oder psychotherapeutisch arbeiten – immer in der Lage, ihre Patient_innen aufzuklären? Gibt es wirklich immer die Zeit und die Ruhe und die angemessenen Umstände, um sich auf jede_n einzelne_n Patient_in einzulassen? Auch die, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen? Die Leichte Sprache brauchen? Die gehörlos, taub oder taub-blind sind? Die temporär oder dauerhaft Probleme mit dem Gedächtnis haben? Die mental instabil oder sogar dekompensiert sind?

Gerade in Bezug auf Notfallbehandlungen können meiner Meinung nach die wenigsten Patient_innen davon ausgehen, eine Diagnose zu erhalten, die tatsächlich auch etwas mit ihnen zu tun hat. Viel eher werden hier schnelle und durchaus auch fachfremde Sichtdiagnosen gemacht und die Spezifizierung, wenn nötig auch Richtigstellung und Patient_innenaufklärung, den (weiter)behandelnden Kolleg_innen überlassen. Ob die Patient_innen einen Behandlungsplatz zur Weiterbehandlung haben oder nicht. Und ob die_r weiterbehandelnde Kolleg_in die Ressourcen dafür hat oder nicht.

Der hochproblematische „Doktor Google“ ist nicht der ständige Mitbehandler vieler Patient_innen geworden, weil diese hypochondrisch sind oder ihre Pathologie zelebrieren, sondern weil das Internet mit seinen massenhaften Informationen verfügbarer ist als ein_e kompetente_r Behandler_in mit ausreichend Zeit und angemessen spezifischem Wissen, um die Informationen, mit denen Patient_innen kommen, fachlich richtig einzuordnen.
Es ist die Folge eines strukturellen Problems im deutschen Gesundheitswesen, das alle Patient_innen und (Weiter)Behandler_innen gleich betrifft. Es sind jedoch marginalisierte Personengruppen ((darunter chronisch (psychisch) erkrankte Menschen)), die den größten Schaden davontragen. Denn sie sind es, die mit Diagnose A bei Behandler_in A sind, aber die Notaufnahme mit Diagnose B oder C oder D verlassen und damit zur Weiterbehandlung zu Behandler_in B müssen, weil Behandler_in A, Krankheit B, C oder D nicht behandeln kann. Es liegt an Behandler_in B, ob nun Krankheit A, B, C oder D behandelt wird und ob die_r Patient_in umfassend und für sie_ihn nachvollziehbar aufgeklärt werden kann.
Und ob Behandler_in B überhaupt weiter von der_dem Patient_in aufgesucht wird. Vielleicht ist die Praxis nicht barrierefrei. Vielleicht ist die Praxis zu weit weg. Vielleicht muss die Behandlung bei Behandler_in B anteilig selbst gezahlt werden. Vielleicht ist es Teil der Erkrankung, Termine nicht pünktlich wahrnehmen zu können oder sie gänzlich zu meiden, weil sie mit unerträglichen Inhalten konfrontieren könnten. Vielleicht ist eine Assistenz oder Betreuung notwendig für den Termin, das Budget der Fachleistungsstunden aber bereits ausgeschöpft. Oder Assistenz/Betreuung beeinflusst die_n Patient_in mit negativen Kommentaren oder anderem unangemessenem Verhalten.

Verschwörungsindoktrinierte Behandler_innen sind nicht der Grund für Patient_innen (und ihre Angehörigen), die Antworten in Selbsttests, windigen Artikeln oder laieninformierter Selbstdiagnose suchen – das Gesundheits- und Abrechnungssystem besorgt das schon von ganz allein und fördert es zuweilen sogar noch mit unmoderierten Selbsthilfegruppen, die lediglich eine Selbstauskunft erfordern oder dem sozialen Notausgang „Sie sind die_r Experte_in für sich selbst“.
Patient_innen jeder wie auch immer gelagerten Erkrankung sollen und müssen es am Ende immer selbst am besten wissen. Auch dann, wenn sie das gar nicht können, weil ihnen das Fachwissen nicht angemessen zugänglich gemacht wird oder sie initial fehldiagnostiziert wurden, was sie als Patient_innen ohne die entsprechenden Kompetenzen überhaupt nicht wissen oder an sich selbst auch nicht in allen Fällen überprüfen können. Sie sind auf ihre Behandler_innen und deren Behandlung, aber auch ihre Behandlungsempfehlung angewiesen.

Bei einer Erkrankung wie der DIS bewegt man sich im Fachbereich der dissoziativen Störungen und der Traumafolgestörungen. Das macht die DIS jedoch nicht zu einem juristischen Beweis oder wissenschaftlich eindeutigen Nachweis für Gewaltbetroffenheit und schon gar nicht zu einem Beweis für eine bestimmte Form von Gewaltbetroffenheit.

Ein Trauma ist kein Ereignis. Es ist die Folge eines oder mehrerer Ereignisse.
Eine Traumafolgestörung entsteht durch die unzureichende Verarbeitung der Folgen eines oder mehrerer Ereignisse. Aufgrund der unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Einschränkung und Veränderung der Reiz- und Informationsverarbeitung während eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse, ist es unmöglich, spezifischen Gewalttaten spezifische Traumafolgestörungen zuzuordnen.
Man kann jedoch in Wahrscheinlichkeiten denken. Wenn beispielsweise ein Berufssoldat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach einem Einsatz entwickelt und diese Erkrankung bei Berufssoldaten allgemein als „Berufskrankheit“ eingeordnet wird, dann ist es zwar nicht wissenschaftlich oder juristisch gesichert, dass der Einsatz eines Berufssoldaten zu dessen PTBS geführt hat – als medizinische_r oder psychologische_r Behandler_in die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch als hoch einzuschätzen, wird dadurch nicht automatisch falsch. Eine Überprüfung im zur Verfügung stehenden Rahmen (also das Gespräch mit jenem Soldaten und wenn vorliegend dessen Krankenakte) geschieht im Zusammenhang mit der Diagnostik.

Diese für viele Menschen so komplizierten Feinheiten, die zu verstehen und nachzuvollziehen so viel Wissen um wissenschaftliches Denken und Ordnen, Kategorisieren und Bewerten erfordert, sind die Teile, die dem Podcast „Geteiltes Leid“ fehlen, um die Situation von Amelie im Waldschlösschen, aber auch von Leonie und Thomas, dem Sohn von Herrn Bartel, dessen Geschichte in der dritten Folge erzählt wird, wirklich umfassend zu verstehen. Vielleicht hätte Thomas etwas davon erzählt, doch wir werden das nie erfahren, denn das Podcast-Team hat nur dem nach eigener Aussage fälschlicherweise des „knallharten Missbrauchs“ beschuldigten Vater ermöglicht, sich persönlich zu äußern.

Amelie hingegen kann sich äußern. Und was sie über die Klinik „Waldschlösschen“ in Dresden sagt, stimmt: Jede_r in der DIS-Bubble kennt diese Klinik.
Warum? Weil sie, soweit ich informiert bin, die einzige Klinik in Deutschland ist, die eine eigene Station für Frauen mit DIS hat und nicht nur allgemein „auch dissoziative Störungen und Traumafolgestörungen“ behandelt. Die Konkurrenz ist rar. Die Wartezeit unfassbar lang. Für Kassenpatient_innen nur mit enormem Aufwand überhaupt finanzierbar.

Das Hilfeversprechen wirkt nicht nur auf Patient_innen, sondern auch Behandler_innen. Besonders, weil praktisch allen Behandler_innen von Menschen mit komplexem Krankheitsbild klar ist, dass die Krankenkasse aufhört, die Therapie zu bezahlen, bevor die Krankheit geheilt bzw. das Leiden erheblich verringert oder weg ist. Eine Intervalltherapie in einem teil- oder vollstationären Rahmen wird daher von ambulanten Psychotherapeut_innen häufig als begleitende oder ersetzende Behandlung angestrebt bzw. der ambulanten Behandlung hinzugefügt, um ihrem Arbeitsauftrag weitestgehend nah zu kommen.
Eine Überprüfung der Behandlungsqualität von an Patient_innen empfohlenen Kliniken ist wünschenswert, aber auch nur im bestimmten Rahmen für Behandler_innen leistbar.
Die Patient_innen sollen und müssen selbst entscheiden. Leider ganz egal, ob sie das auch können oder nicht.

Die meisten können – egal, ob es bei ihrer Behandlung um eine DIS geht oder nicht – erst vor Ort und nach einer gewissen Behandlungszeit wissen, ob die Behandlung wirkt oder nicht und ob sie ihnen hilft oder nicht. Und wenn sie merken, dass sie Quatsch mitmachen sollen und mit ihnen Dinge passieren, die ihnen falsch oder verfälschend erscheinen, dann haben sie nicht nur ein Problem, sondern gleich einen ganzen Haufen.
Denn an wen können sie sich in so einem Fall wenden? Wer kann ihnen ganz sicher sagen, was ihnen wirklich hilft und was nicht? Worauf sollen und worauf können sie sich verlassen? Wie erfolgversprechend ist das Kontaktieren des Qualitätsmanagements? Wie viel von ihrer Würde und ihrer Privatsphäre müssen sie opfern, um ihre Lage klarzumachen? Wer muss alles involviert werden, um eine Klinik erfolgreich wegen Falschbehandlung oder Betrug, Versorgungsmängeln oder der Desinformation von Patient_innen dranzukriegen? Wer glaubt ihnen? Wer nimmt sie ernst, obwohl sie psychisch krank sind?

Und überhaupt – was ist denn danach? Wo ist die Heilbehandlung denn realistisch noch zu erwarten, wenn die spezielle Spezialklinik nicht in Frage kommt? Wo gehen von Helfer_innen verletzte Menschen hin, wenn sie Hilfe brauchen?

Die wenigsten Patient_innen in Amelies damaliger Lage sind Therapeut_innen hörig, die ihnen Verschwörungsstuss einreden. Die meisten kämpfen um ihr Leben und tun, was nötig ist: Mitmachen, bis ihnen kein (angenommener oder realer) Schaden mehr entsteht, wenn sie damit aufhören. Das ist eine Dynamik, die nicht speziell für das Waldschlösschen steht, aber im Podcast wird es so impliziert.

Außer Frage steht für mich, dass man über Handouts und andere Inhalte, die in einer Klinik vermittelt werden, auch kritisch sprechen können muss. Es ist äußerst problematisch, dass Patient_innen kein fundiertes Material zum Umgang mit ihrer Symptomatik gegeben wird. Das ist in meinen Augen ein erheblicher Mangel und bedarf mehr Erklärung als das, was wir dazu, gefiltert von der Podcast-Redaktion, von der Klinikleiterin erfahren.
Und es ist kaum zu fassen, dass Kliniken die Behandlung von Patient_innen deshalb finanziert bekommen, weil sie der Krankenkasse und anderen Kostenträgern gewissermaßen garantieren, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft oder nach höchstem fachlichen Standard zu behandeln, sich dies aber nicht durchgehend in Einzel- oder Gruppentherapien, der Unterbringung oder pflegerischen Versorgung zeigt. Würde das vorliegen, wäre dies in meinen Augen Betrug und ein Skandal – egal, ob es dabei um eine Klinik mit Schwerpunkt auf DIS geht oder nicht.
Eine Einordnung, die diesem Podcast nicht gelingt.

Und noch mehr Einordnungen passieren in diesem Podcast nicht.
Zum Beispiel die um den Komplex darum, ob es möglich ist, dass die WHO von einer nicht näher benannten Gruppe, die sich nicht im Rahmen der Satzung der WHO bewegte, getäuscht wurde, damit sie die Diagnose der DIS im ICD platziert und infolgedessen Rituelle Gewalt (als von satanistischen Eliten, die unbemerkt foltern und morden, ausgehend) als reales Geschehen anerkennt.

Für mich als Laien klingt genau das nach einem Element einer Verschwörungstheorie. Deshalb fütterte ich den VerschwörungsChecker[22] mit der Geschichte. Hier ist das Ergebnis:

Screenshot, das Ergebnis ist nahe an

Normalerweise bekomme ich ein besseres Bild von Zusammenhängen, wenn mir klar ist, was Quatsch ist und was nicht. Bei diesem Podcast hilft es mir nicht sonderlich, die einzelnen Abschnitte und Erzählungen so zu ordnen. Ich muss an die Bemerkung von Aurelia Bazekovic, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, zu diesem Podcast denken: „Lost in Amalgam“.[23]

Das Podcast-Team vermittelt, die WHO sei unfähig zur Analyse, Verifizierung und Falsifizierung wissenschaftlicher Daten, und wer sich auf ihre Veröffentlichung, also den ICD-11-Katalog, beziehe, würde Falschbehandlung gewissermaßen aus Überzeugung durchführen. Was diese Unterstellung für sämtliche anderen Diagnosen im ICD und entsprechend für Behandler_innen jeglicher Professionen bedeuten würde, bleibt den Zuhörenden und ihrer Vorstellung überlassen. Meiner Meinung nach ein grober Fehler und eine ungeheuerliche Unterstellung gegenüber allen Behandler_innen weltweit, da die WHO global agiert.

So einen großen Bezugspunkt medizinischen Konsenses anzugreifen und frühere Fehlannahmen wie die, dass auch Homosexualität lange von der WHO als Krankheit verstanden wurde, heranzuziehen, führt dazu, dass Patient_innen und Behandler_innen verunsichert werden. Wer unsicher ist, gibt bestimmte Grundhaltungen tendenziell schneller auf. Die Grundhaltung, um die es hier geht, ist die, wem man was unter welchen Bedingungen und warum glaubt.

Die Verpflichtung zu helfen

Eine Gesellschaft, die Gewalt an Menschen in unterschiedlichsten Formen für real, die Opfer von Gewalt für Individuen mit ganz eigenen Reaktionsfähig- und -fertigkeiten hält und die zwischenmenschliche Fürsorge auch in Form von medizinischer Behandlung für ein Grundrecht – so eine Gesellschaft kommt wohl kaum zu dem Schluss, zu sagen: „Wir könnten uns über Ausmaß und Gestaltung der Ursachen irren, deshalb glauben wir niemanden und haben entsprechend auch keine Grundlage zu helfen, wenn nötig.“
Letztlich ist doch aber das ein Kernstück des hippokratischen Eides und dessen Pendants in anderen helfenden Berufen: die Verpflichtung, zu helfen.

Aus dieser Verpflichtung ergeben sich unzählig viele Fragen und Ansätze darüber, was Hilfe eigentlich ist. Wer wie helfen kann und wer nicht. Was genau wem wann und warum hilft und was nicht.
Die Bundesregierung hat sich mit der Einrichtung des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM, derzeit besetzt von Kerstin Claus) und der Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) für einen pragmatischen Weg der Klärung und des Erkenntnisgewinns entschieden. Die staatliche Anerkennung der Realität aller Formen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie ihrer individuellen Folgen für die Betroffenen ist damit implizit erfolgt. Ein unvergleichlicher Meilenstein.

Die Anerkennung von offenen Fragen zum Themenkomplex „sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ und bisher wenig oder nur unzureichend beantworteten Fragen ist damit jedoch auch passiert. Daher wurden eindeutige Aufgaben und Ziele formuliert.
Die UKASK soll:

  • […] Tatsachen offenlegen, Verantwortlichkeiten identifizieren und Wege zur Anerkennung des Unrechts aufzeigen.
  • Sie soll einen geeigneten Rahmen bieten, um Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend sowie Zeitzeug*innen anzuhören und somit die Möglichkeit schaffen, auch verjährtes Unrecht mitzuteilen.
  • Daraus sollen Schlüsse zur besseren Versorgung heute erwachsener Betroffener sowie zur Prävention gezogen werden.
  • Sie soll Wege der Anerkennung des Unrechts und Leids durch Politik und Gesellschaft aufzeigen, sowie modellhaft Eckpunkte der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch entwickeln und empfehlen.
  • Sie soll institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitungsinitiativen anregen, Forschungsfragen zu relevanten Themen der Aufarbeitung identifizieren, Forschungsaufträge vergeben oder deren Vergabe anregen.
  • Sie soll regelmäßig öffentlich über ihre Tätigkeiten und Erkenntnisse informieren[24]

Die UKASK generell, aber speziell auch Silke Gahleitner, deren Thema Rituelle Gewalt in dem Zusammenhang ist, hat nicht den Auftrag, Vorfälle zu verfolgen, bei denen Ärzt_innen von Journalist_innen unterstellt wird, sie würden ihren Patient_innen die eigene Weltanschauung einreden und in der Folge falsch behandeln. Also Fälle wie jenem in der Schweiz rund um den Arzt Matthias Kollmann, der im Podcast unvollständig und damit desinformierend erwähnt wird.
Die UKASK soll sich mit Tatsachen befassen. Mediale Berichterstattung, die nicht primär den Erkenntnisgewinn um Rituelle Gewalt, sondern eine Debatte um die Frage von möglicher Falschbehandlung psychisch kranker Menschen zum Ziel hat, ist für die Arbeit der UKASK zum Thema Rituelle Gewalt nicht brauchbar. Gahleitners Distanzierung ist entsprechend überhaupt nicht „bemerkenswert“, sondern vielmehr logische Folge ihres Auftrages.

Bemerkenswert für Hörer_innen sollte meiner Ansicht nach sein, wie systematisch die Erzählung des Podcastes versucht, das Bild einer passiven UBSKM Kerstin Claus zu zeichnen, die dem Diktat von Betroffenenberichten unterworfen sei und deshalb dem Familienministerium nicht einfach vorgeben könne, dass Rituelle Gewalt durch Satanist_innen wahrscheinlich eine Verschwörungserzählung ist, denn wissenschaftlich lässt sie sich nicht belegen. Als wäre, dem Familienministerium zu sagen, was es machen soll, die Aufgabe der UBSKM. Was sie nicht ist. [25]

Auch dieses Interview mit einer Vertreterin einer für Betroffene von sexualisierter Gewalt wichtigen Institution bzw. Instanz bringt diesen Podcast inhaltlich überhaupt nicht weiter und wirkt seinem eigenen Anspruch als demokratiestärkend entgegen. Denn auch hier wird am Vertrauen in Institutionen, auf die man sich im Bedarfsfall verlassen können will, manipuliert – und wieder wird Unsicherheit bei den Zuhörer_innen in Kauf genommen.

Diese Unsicherheit wird zur Rampe in die letzten Passagen dieses Podcasts.
Da wird der Themenmixer nochmal ganz tief in das Sujet der Podcastreihe geschoben und abgedrückt, sodass man als Hörer_in nur allzu bereit ist, unkritisch hinzunehmen, was nachkommend noch erwähnt wird. Zum Beispiel die unbelegbare Behauptung, die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber habe die Verschwörungserzählung über Satanist_innen nach Deutschland gebracht. Oder die Aussage, ein nicht näher benanntes oder definiertes „Rituelle Gewalt Netzwerk“ hätte durch sein Wirken erheblich dazu beigetragen, dass QAnon und andere Verschwörungserzählungen in Deutschland überhaupt greifen konnten.

Komplett erwartbar ist das Ende von „Geteiltes Leid“ eines, das die ganz großen Gefühle wecken soll. Allem voran: Mitleid. Obwohl allgemein bekannt ist, dass man damit niemandem hilft.
Ein Impuls, die Zivilgesellschaft dahingehend zu aktivieren, die eigene Haltung, die eigene Meinung und Bewertung des Themas kritisch prüfend vorzunehmen – der wird nur in eine Richtung gesetzt. Und zwar gegen Opfer sexualisierter Gewalt und ihre Helfer_innen.

Mein Fazit

Ich halte diesen Podcast für eine verpasste Möglichkeit, ein relevantes Thema umfassend und für die Zivilgesellschaft verständlich aufzubereiten.
Mit Protagonist_innen wie Amelie und der Zeit, die das Podcast-Team in die Recherche investieren konnte, hätte ein Podcast entstehen können, der ein echtes Problem ganz grundsätzlich aufzeigt und in seinen Auswirkungen allgemein nachvollziehbar macht.

Stattdessen blieb man in dem bereits als solchem bekannten Strohmannargument, nämlich „Therapeut_innen/Helfer_innen glauben an Satanisten, die Kinder quälen und nennen das Rituelle Gewalt, um überall Opferbonus abzugreifen und schaden allen damit“, verfangen und vermischte alle Aspekte, die es berührt. Dabei ist eine ableistische Abwertung behinderter und (chronisch) kranker Menschen und umfassende Desinformation passiert.

Meiner Meinung nach hat das Podcast-Team von Undone mit „Geteiltes Leid“ eine Geschichte erzählt, die dazu dient, Opfern sexualisierter Gewalt und (chronisch) psychisch kranken Menschen die Glaubwürdigkeit und die Legitimität ihrer Selbstbestimmung in Frage zu stellen. Aber auch, um Behandler_innen und Helfer_innen verschiedener Professionen zu diskreditieren und allgemeines Misstrauen in Institutionen mit Versorgungs- und wissenschaftlichem Auftrag zu schüren.

Die Reihe begann mit etwas, das Laien überhaupt nicht beurteilen können und auch nicht können müssen, nämlich allen Fragen rund um die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung. Es entsteht der Eindruck, dass zum einen nur verschwörungsgläubige Therapeut_innen Falschdiagnosen und unwirksame bzw. schädigende Behandlungen machen, und zum anderen, dass die DIS deshalb keine valide Diagnose sei. Ein Eindruck, der in diesem Podcast zu keinem Zeitpunkt berichtigt wird.

Ebenfalls fehlt eine Angabe dazu, wie viele Psychotherapeut_innen der Glaube an Verschwörungstheorien allgemein und den an satanistische Eliten, die Kinder quälen, im Speziellen überhaupt beträfe. Ohne diese Informationen als faktischen Bezugspunkt, der Hörer_innen ermöglichen würde, eine Vorstellung vom Umfang des Problems zu entwickeln, wurde dann noch eingebracht, verschwörungsgläubige Therapeut_innen/Helfer_innen würden Institutionen unterwandern und damit der ganzen Welt schaden. Immerhin hätten sie es mit ihrer Erzählung bis in die WHO geschafft. Ein weiterer verstörender, allgemein verunsichernder Blick auf mögliche Mängel in Strukturen und Institutionen, die zweifellos real bestehen können, im Gesamten jedoch für die Mehrheit der Menschen nicht oder weit weniger schädlich oder gefährlich sind als in „Geteiltes Leid“ impliziert.

Inmitten dieses zuweilen nur schwer zu entwirrenden Gemischs fanden sich alte Bekannte der False-Memory-Rhetorik: die emotionalisierenden Schlagworte „satanic panic“, „memory wars“ und „Scheinerinnerungen“. Von denen nur einer – und zwar von einer Betroffenen – im richtigen Zusammenhang verwendet wurde: Amelie, der ich für ihren großen Mut und ihre Offenheit an dieser Stelle meinen tiefen Respekt und Dank ausspreche.

Meiner Ansicht nach führt die permanente Vermischung von Annahmen und unvollständig vermittelten Tatsachen dazu, dass die Hörer_innen, die nicht sonderlich tief oder lange mit der Thematik befasst sind, am Ende kaum mehr klar und eindeutig einordnen können, was sie da eigentlich für eine Geschichte gehört haben. Und das bei einem Podcast, der uns doch „investigativ recherchiert“ zeigen wollte, dass es ein krasses Problem gibt. Was von den vielen aufgebrachten Problemen nun genau das Problem, in welchem Ausmaß, für wen eigentlich genau ist, das wird nicht klar.

Das Problem für mich an dieser Podcastserie: Eine Er_Lebensrealität wie meine ist für Journalisten wie von diesem Podcast-Team von „Geteiltes Leid“ nicht mehr als eine krasse Story darüber, was so manche Leute für real halten. Für Showleute wie Jan Böhmermann nichts weiter als eine Witzvorlage. Für False Memory Deutschland e. V. ein traditionell benutztes Ziel in einem längst verlorenen Kampf und ein stets und ständig zu komplexer Fall für Wissenschaft und anders fachlich orientierte Hilfelandschaft.
An uns, den Menschen, die mit der Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung leben, haben alle ein Ding. Ein Thema, einen Konflikt, ein komplett eigenes, zuweilen fachliches, doch immer auch eigennütziges Interesse.

Unsere Stimmen fehlen in dieser Auseinandersetzung.

Text als PDF

Quellen:

[1] Rituelle Gewalt und Scheinerinnerungen: Wenn die Therapie destabilisiert | Y-Kollektiv https://youtu.be/o8AD5hz3s0Q?si=OcCSVPadRXkhC9Iw
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirbt-400121.html
[3] https://www.podcast.de/podcast-news/verschwoerung-und-missbrauch-khesrau-behroz-im-interview-zum-neuen-undone-podcast-geteiltes-leid
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Strohmann-Argument
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Satanic_panic
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/McMartin_preschool_trial
[7] https://gizmodo.com/when-geraldo-rivera-took-on-satanism-and-a-very-confus-5829171
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Moral_panic
[9] http://dissoc.de/02-05.html
[10] Dallam, S. J. (2002). Crisis or Creation: A systematic examination of false memory claims. Journal of Child Sexual Abuse,9 (3/4), 9-36.
[11] Dalenberg, Constance & Brand, Bethany & Gleaves, David & Dorahy, Martin & Loewenstein, Richard & Cardeña, Etzel & Frewen, Paul & Carlson, Eve & Spiegel, David. (2012) Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Psychological bulletin. 138.550-88.10.1037/a0027447.
[12] FAQ der Ärztekammer zu Fragen über die Meldung eines Arztes oder einer Ärztin und umfassender Artikel von ProPsychotherapie e. V. mit Link zu einer Liste von Anlaufstellen zur Beratung und Klärung von Fällen vor einer Meldung oder Anzeige
[13] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/PMKreligioes/PMKreligioes_node.html
[14] https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/
[15] https://www.juraforum.de/lexikon/satire
[16] https://www.scinexx.de/news/biowissen/gefahr-gehirn-ist-sofort-in-alarmbereitschaft/
[17] Denial and Dissociation: 10 things to consider https://www.youtube.com/watch?v=z4-y8SFpW-Y
[18] Gaby Breitenbach, „Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt, Ware Mensch – die planvolle Spaltung der Persönlichkeit“, erschienen bei Asanger, 2012
[19] https://forschungsdatenbank.charite.de/experts/expertenprofil.xhtml?id=35605da015d548ec9d1a1103398b0d31&type=ps&lang=de
[20] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/krankheitsbild/
[21] https://pmc-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/articles/PMC8423293/?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq
[22] https://verschwoerungschecker.org
[23] https://www.sueddeutsche.de/medien/geteiltes-leid-podcast-undone-kritik-lux.CNtKhRb3gB3Nkm6NihKz1X?reduced=true
[24] https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/beauftragung/
[25] https://beauftragte-missbrauch.de/ueber-uns/aufgaben-und-aktivitaeten

in Sachen „Weitermachen nach (re)traumatisierenden Klinikerfahrungen“

Nach dem letzten Text hat mich jemand gefragt, wie wir „das mit der Verarbeitung der Klinikerfahrung“ gemacht haben.
Die Person beschrieb, dass es für sie nicht händelbar sei, Traumawahrheiten bestätigt zu bekommen und das Gefühl zu haben, sich nicht schützen zu können. Etwas, das wir schon von vielen Betroffenen gehört haben.

Ich musste eine Weile darüber nachdenken, ob das auch meine Ausgangslage beim Klinik-GAU war.
War ich verletzlich oder nicht doch durch die Verletzungen (Traumatisierungen, die mich krank gemacht haben) schon sehr empfindsam, fragil, wenig belastbar und dadurch gewissermaßen doppelt verletzlich?
Für mich war es letzteres. Und darin befindet sich schon der Sitz einer meiner Traumawahrheiten: Wenn ich eine wehe Stelle habe, wird mich jemand genau dort wieder verletzen. Sie wird gesucht und gefunden werden. Sie wird benutzt werden, um mich unter Druck zu setzen. Sie wird benutzt werden, um mich zu demütigen. Sie wird nicht versorgt. Sie wird nicht beschützt. Es ist sicherer, sie nicht zu erwähnen oder zu zeigen.
So passiert es mir natürlich schnell Behandler_innen mit früheren Täter_innen zu verwechseln oder ihr Handeln als gezielt und planvoll verletzend anzunehmen – für mich ist die Ähnlichkeit einfach enorm. Es erfordert sehr viel Kraft und noch viel mehr Mut, einfach mal anzunehmen, dass diese Situation keine der Gewaltsituationen ist, die ich so gewohnt bin, dass ich sie sofort annehme.
Nun kann ich also entscheiden: „Okay, ich bin Opfer gewesen, ich sehe schnell mal was, was in Wahrheit nicht da ist. Wenn ich mich von anderen Menschen verletzt fühle, ist das schnell mal eine Verwechslung oder Unterstellung, die mich schützen oder beruhigen soll, das ist eben Teil der Traumafolge …“ Ich kann also die Verantwortung für die Situation übernehmen und die Menschen in meiner Umgebung davon befreien, irgendwas damit zu tun zu haben. Denn ich bin ja der Wirrkopf und niemand kann etwas für meine W.Irre in der Situation.

In institutionellen und professionalisierten Kontexten sehe ich das aber anders.
Wenn das Verhalten von Behandler_innen und Betreuenden dem Verhalten von Täter_innen so sehr ähnelt, ist das ein Problem für beide Seiten. Vor allem, wenn es als solches einfach verschwiegen werden soll oder aus strukturellen Gründen nicht verändert werden kann. Dann braucht es die Verantwortungsübernahme der Behandler_innen und Therapeut_innen dafür zu sorgen, dass sie alternativ handeln können und auch eine gewisse Offenheit und Ehrlichkeit bei der Vermittlung des eigenen Handelns an die Patient_innen. Denn nur so können diese ihre Wahrnehmung und Einordnung der Situation korrekt vornehmen und das Erlebte einordnen.
Oh – aber Vorsicht beim Anbringen so einer Ansicht.
Als Patient_in ist man nicht in der Position, den Behandler_innen zu sagen, dass sie Mist machen, wenn es um Mist geht, den sie nicht beeinflussen können, weil sie ihn machen wollen oder sollen. Vielleicht weil „das Team“ (die große Eminenz, die jede Verantwortung auf Station diffus werden lässt) ihn sehen will, vielleicht weil die_r Ober- oder Chefärzt_in ihn sehen will oder vielleicht einfach weil man nur für Mist bezahlt wird.
Hinzu kommt, dass in Klinikkontexten mit großer Selbstverständlichkeit eine Rollenzuweisung passiert, die behandlungssuchende Menschen ihrer Einflussmöglichkeiten generell beraubt: sie werden zu Patient_innen. Gewissermaßen zu pathologischer Masse, mit der gewisse Umgänge und Behandlungen gemacht werden. Dabei sind die Patient_innen in doppelter Hinsicht Auftraggebende und die Behandler_innen Arbeits.Leistende. Wir gehen dahin, um etwas zu bekommen, das uns und unserer Krankenkasse zugesichert wird, weil wir es allein nicht schaffen. Es ist überhaupt nichts falsch, krank, anmaßend daran, das auch bekommen zu wollen. Gar nichts.
Aber Patient_innen wird dieser Wunsch oft als Forderung oder auch persönlicher Angriff unterstellt. Und daraus entstehen Verstrickungen, Re_Inszenierungen und auch massive Verletzungen der allgemeinen Integrität. Alles nur, damit die Verantwortung allein bei den Patient_innen und nicht eben nicht auch bei den Behandelnden und Betreuenden bleibt. Was die machen, geht Patient_innen nichts an. Geschlossene Gesellschaft. Zum Wohle aller.

*

Ich musste auch darüber nachdenken, ob ich die Erfahrung, den Klinik-GAU, überhaupt verarbeitet habe.
Und muss sagen: Nein, habe ich nicht. Und so, wie ich das gerne hätte, werde ich sie vermutlich auch nie verarbeiten können.
Eine Erkenntnis, die so bitter ist, wie die, um jede andere Gewaltwahrheit meiner Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenenzeit. Es wird keinen Täter*in_Opfer-Ausgleich geben. Keine Mediation. Keine Wieder_Gutmachung. Keine Entschädigung. Gar nichts. Es ist passiert und niemand bedauert es.
Außer, dass ich nicht darüber schweige, in welchem Haus das war, wenn mich jemand fragt und welche Personalie in Verantwortung war, wenn es relevant ist, kann ich in der Sache überhaupt nichts weiter tun als sie zu er.tragen. Meine Gefühlsstürme spüren, den Auslösern nachempfinden, die Erfahrung so weit wie möglich zu objektivieren und immer darauf achten, dass ich meine Erfahrung von denen anderer abgrenze.
Ich muss darauf achten, mir nicht zu viele Klinikstories anzuhören, weil ich sonst von dem Meltdown oder schlimmeren Momenten des Kontrollverlusts in anderen Kliniken wie Fixierungen, den Missbrauch durch einen Pfleger oder soziale Schikanen in der Psychiatrie träume. Ich muss darauf achten, meine innere Brandrede an die damalige Therapeutin, die seit dem Klinik-GAU läuft, nicht in meine Argumentation für gute Traumatherapie-Richtlinien zu mischen. Wenn Behandler_innen mit mir sprechen, weil sie meine Arbeit interessant finden, verbiete ich mir, die aufkommenden Gefühle von Stolz, Gehörtwerden und Freude über den Kontakt zu bewerten. Ich nehme sie wahr und ordne sie weg wie ein Verwaltungsfachangestellter die Abrechnung. Nicht, dass ich wirklich irgendwann glaube, ich wäre irgendwie besonders oder in irgendeiner Weise gut in dem, was ich mache. Ich will diese Täterinnenperspektive über mich nicht bestätigen.
Der Schaden durch diese Erfahrung ist heute also dauerhaft schmerzlich schwelender Teil meines Lebens und entsprechend schwer überhaupt einzugrenzen.

Aber ich hatte vorher auch schon einen Schaden, der nie behoben werden, sondern gleichsam mehr oder weniger immer in Sanierung befindlich sein wird. Also was solls.
Vermutlich kommt man einfach nicht ohne Dellen durchs Leben. So entschmerze ich mir das manchmal, um meine Wahlmöglichkeiten bewusst zu halten. Denn auch wenn es total zynisch klingt, ist es so, dass man sich für den Schmerz entscheiden kann, wenn man sich für Vermeidung als okay und den Rest des Lebens als Option öffnet.

Ich dachte lange, ich dürfte im Leben nicht mehr vermeiden, weil ich das in Bezug auf viele traumabezogene Dinge bereits tue. Irgendwie hat sich bei mir die Überzeugung eingeschlichen, Vermeidung sei genauso schlecht wie meine PTBS-Symptomatik selbst. Vielleicht sogar eigentlich Teil der Krankheit, weil ich in der Therapie ja genau das Gegenteil tue und von mir erwartet wird. Ich soll mich widmen, ich muss mich konfrontieren, ich darf Trigger, Erinnerungen, traumabezogene Gefühle und Gedanken wahrzunehmen, nie mehr vermeiden – sonst funktioniert die Therapie nicht.
So stimmt das aber gar nicht. Jedenfalls nicht für mich.
Meine Therapieerfahrung ist, dass ich ohne bewusst zugelassene Vermeidungsstrategien überhaupt keine Kraft habe, um das zu verarbeiten, was ich mich traue, nicht mehr zu vermeiden.

In Bezug auf re.traumatisierende Klinikerfahrungen funktioniert das in etwa so:
Um mir von Behandler_innen und Pflegenden mitfühlend und verstehend anhören zu können, wie überarbeitet, überfordert, überlastet und strukturell niedergeworfen sie sind, muss ich vermeiden, an die Angewiesenheit von Patient_innen und meine Erfahrungen zu denken.
Um nicht in das Gefühl zu rutschen, mich selbst im Stich zu lassen, wenn ich „solchen Leuten“ gegenüber Mitgefühl und Solidarität ausdrücke, muss ich ganz bewusst wegschieben, dass es „solche Leute“ waren, die mich überlastet und strukturell ermächtigt, legitimiert, zuweilen gewissermaßen dazu beauftragt, verletzt haben. Wir können diesen Prozess auch gerne „Abgrenzung“ nennen, ich selbst nenne es aber „Vermeidung“, weil ich mich gegen meinen Schmerz und für die mitfühlende Fürsorge anderer entscheide. Ich bin lieber fürsorglich zu anderen als mir selbst, weil ich sonst meinen Schmerz fühlen müsste.
It’s a classic dance in the Vermeidungstanzdisco.

Und total okay für mich.
Ich habe nach dem Klinik-Gau beschlossen, erst dann wieder eine Klinik für Psychotherapie, Psychosomatik oder Psychiatrie als Hilfe in Betracht zu ziehen, wenn dieses Versorgungssystem so reformiert wurde, dass es in sich nicht mehr gewaltvoll ist.
Not so Fun Fact – aber wir sind ja bei Ähnlichkeiten: Das ist so ziemlich der gleiche Beschluss, den wir über unsere Herkunftsfamilie auch gefasst haben. Wir gehen wieder zurück, wenn sie sicher keine Gewalt mehr an uns ausüben.

Das ist kein „Nie“ – das würde viel zu viel Druck aufbauen und auch kein: Ich muss ganz allein irgendwas schaffen oder machen, damit das wieder geht. Es hängt nicht allein von mir ab, sondern bezieht beide Seiten mit ein.
Das kann ich gut er.tragen und halten, weil es mir auch Kraft dafür übrig lässt, mich um alternative Bedarfsbefriedigung zu kümmern.

Ich war immer sehr auf Kliniken und die Leute dort angewiesen, weil mich in meiner Jugend niemand haben bzw. behalten wollte. Als ich ein_e junge_r Erwachsene_r war, war die Klinik der einzige Ansatzpunkt für geschützte Tagesstruktur, Diagnoseverständnis und – verstörend eigentlich – Gemeinschaft. Ich war so allein in diesem Lebensabschnitt, dass Kliniken mehr Zuhause waren als meine eigene Wohnung und Behandler_innen mehr Familienersatz als zugegeben. Meine Angewiesenheit war so umfassend, dass ich mich den strukturellen und sozialen Gewalten dort praktisch rückhaltlos hingeworfen habe. Mit allen Konsequenzen.
Zum Beispiel der, dass ich nicht dachte, eine ambulante Therapie allein würde je für mich reichen, damit es mir besser geht. Oder der, dass ich Angst vor den Herausforderungen der Normalität was berufliche Bildung oder Arbeit bekam, weil ich dann ja nicht mehr im Intervall in die Klinik gehen könnte (und entsprechend allein und überfordert mit mir selbst und meiner Symptomatik bleiben würde, wenn der Funktionsmodus aus ist). Oder der, dass ich mich nicht getraut habe die Medikation abzusetzen, obwohl sie mich auch wesentlich daran gehindert hat, Fortschritte zu machen.
Das war so ein unfassbar hoher Preis, den ich für ein bisschen Bessergefühl, für einige stabile Stunden und hilfreiche Gesprächskontakte auf mich genommen habe. Heute würde ich den nicht mehr zahlen.
Und ich muss es auch nicht mehr. Zum Glück.

Ich konnte über das Bloggen und Twittern so viel mehr Kontakt und Austausch herstellen. Zusammen mit NakNak* hat das mein Gefühl der Einsamkeit gelöst. Durch ihre Ausbildung zur Assistenzhündin konnte ich lernen, dass viele der Dinge, die mich täglich belasten und ängstigen, beeinflussbar sind. Und zwar ganz direkt von mir. Ich muss es nur machen – und dafür sorgen, dass ich es auch durchgehend machen kann. So entstanden ganz konkrete Handlungsaufträge an mich, die über „fühlen sie mal rein, wer was dazu sagt“ und „16 Uhr Mandalas ausmalen zu Panflötenmusik“ hinausging und überhaupt ganz davon unbeeinflusst sind, ob und wie sehr ich gerade mit welchen Symptomen kämpfe.
Für mich ist das heute immer noch essenziell klar zu haben: Nichts von den Dingen, die ich benötige oder will, ist davon abhängig, ob ich Patient_in bin oder nicht, welche Diagnose ich habe oder nicht oder ob ich sie aufgrund eines Merkmals von mir verdient habe oder nicht. Dass ich das früher dachte, hat mich maximal dafür prädestiniert, meine Grenzen für Behandler_innen und Betreuende zu missachten und teils auch übergehen zu lassen. Und trotzdem war das weder meine Schuld noch Verantwortung.
Ich darf diese Situationen als man made trauma einordnen und für mich bearbeiten.

Es hilft mir auch, diese Arbeit schon zu anderen Traumatisierungen gemacht zu haben und dabei von einer Therapeut_in unterstützt zu werden, die mir das auch lässt, obwohl sie als Behandler_in ganz eigene Themen dazu haben könnte.

Und es hilft mir zu merken, wie lange ich inzwischen schon ohne Klinikanbindung zurechtkomme.
Und wie schnell ich WTF denke, wenn mir andere Viele von massiven Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten und gewaltvollen Verstrickungen mit Behandler_innen erzählen. Wenn ich früher anderen so etwas erzählt habe, hat nie jemand WTF dazu gesagt und mich daran erinnert, dass ich Menschenrechte habe und mit einem Auftrag, dem nachzukommen sich eine Klinik verpflichtet hat, dahingekommen bin. Nie.
Das kann ich heute für andere machen und mache das auch. Es tut mir gut, wenn ich in Austausch und Diskussion über Alternativen gehen kann. Es gefällt mir, zusammen mit anderen an theoretischen Grundlagen für Reformen und Richtlinien mitdenken zu dürfen.

Dass ich nicht hinnehmen muss, dass das für immer für so viele Patient_innen, Behandler_innen und Betreuende weitergeht, sondern aktiv Dinge versuchen und machen kann, gibt mir die Kraft, es eben so lange unverarbeitet zu lassen, wie nötig.
Manchmal ist einfach so: Wenn du es nicht loslassen kannst, musst es halt tragen.
Hauptsache, du bleibst nicht stehen. Es wird niemand kommen und es dir abnehmen.

Eine neue Versorgungsrealität erschaffen – es liegt bei uns!

Und wieder bin ich dabei, wie jemand mit DIS einen Therapieplatz sucht. Wie jemand mit 40 Psychotherapeut_innen telefoniert und 40 Mal hört: „Nein. Kein Platz.“ und oftmals auch: „DIS kann ich nicht, will ich nicht, mach ich nicht.“
Ich weiß, wie die Person jetzt da sitzt. Das Telefon in der Hand und voll mit dem Gefühl der Ablehnung, das unweigerlich und trotz aller erwachsenen Kompetenz, zu kindlicher Not führt. Wie die gegenwärtige Angewiesenheit auf Unterstützung in das Wiedererleben vergangener Ohnmacht hineinzieht und sich der Kampf um das eigene Leben verstetigt.

Und ich weiß, wie die Angerufenen da sitzen. Das Telefon in der Hand und mit Grenzen konfrontiert, die nicht noch weiter strapaziert werden dürfen, sollen, können. Vielleicht bemüht um Abgrenzung zu der Verantwortung, die mit jeder Anfrage herangetragen wird, weil es keinen anderen Punkt zum Hintragen gibt. Vielleicht irgendwann voll ohnmächtiger Wut auf Strukturen ohne verantwortlichen Menschen. Vielleicht auch ohne jedes Gefühl. Weil man sich an alles gewöhnen kann. Auch Unrecht, Not und Leid, dem keine Abhilfe geschaffen werden kann.

2015 haben wir von der Initiative Phoenix die Versorgungsrealität komplex traumatisierter Menschen in einer Studie (PDF) erfragt.
Aktuell fragen wir wieder. Denn es gab ja eine Reform. Dinge wurden verändert. Aber hat das geholfen? Wir werden sehen.
Was sicher ist: Die Versorgung von Menschen in psychischer Not ganz allgemein ist nicht gewährleistet.
Genauso wenig, wie die Versorgung von kranken Menschen gewährleistet ist. Die Medizin brennt, nachdem die Pflege verbrannt wurde.
Und alle wissen das.

In diesem Jahr gab es so viele kleine und große Aufrufe, etwas für psychisch leidende Menschen zu verändern, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Kampagne der deutschen Depressionsliga, #22WochenWarten, war mit 110.522 Unterschriften auf change.org eine der erfolgreichsten. Erfolgreich, weil sie so viel Reichweite hatte – nicht, weil sie etwa mehr erreicht hätte als jede Aktion vor ihr.
Als Aktivist_in frage ich: „Wie haben sie das geschafft?“ Und bin versucht anzunehmen, dass es daran liegt, dass Depressionen leichter sind als (komplexe) Traumafolgestörungen. Weniger stigmatisiert. Leichter zu behandeln. Pille rein, bisschen warten, bisschen Verhaltenstherapie, zur Not ein paar Stromstöße ins Hirn. Am Ende die Erkenntnis: Depressionen kann man überleben. Sehr lange. Sehr produktiv. Und auch sehr aktiv.
Auch aktivistisch.

Aber so einfach ist das nicht. Ist es nie und in diesem Kontext ganz besonders nicht.
Denn die meisten Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen sind depressiv. Ein erheblich großer Anteil in der Kindheit und Jugend sexualisiert misshandelter Menschen bekommt die Depression als erste Diagnose ins Fahrtenbuch ihrer Odyssee um die Rettung des eigenen Lebens. Viele dieser Menschen möchten aber keine Therapie wegen ihrer Depressionen machen. Sie suchen vielleicht einen Platz wegen der Depression – aber sie brauchen sie, weil die komplex traumatisiert sind. Weil sie einen sicheren Raum brauchen, in dem sie sich damit auseinandersetzen (lernen) können. Weil sie Ansprechpersonen brauchen, die einen sicheren Abstand zu ihnen herstellen und halten. Weil sie Sicherheiten brauchen, die ihnen in keinem anderen sozialen Kontext kontinuierlich, professionell fundiert und primär für sie allein angeboten werden. Können. Dürfen. Sollen.

In Deutschland wurde der Bedarf psychotherapeutischer Versorgung zuletzt in den 90er-Jahren … tja … festgelegt. Man könnte aber auch sagen: geschätzt, geraten, zurechtgelegt, angenommen. Denn schon damals war klar, dass man nicht allen Menschen jederzeit und mit jedem Problem gerecht werden würde. Und das hat man hingenommen.
Als behinderte Aktivist_in erkläre ich das mit dem Konzept des Ableismus. Nehme ich an, dass die Idee: „Wer das überleben kann, wird es schon überleben“ stark dabei geholfen hat, diese unzureichend versorgende Struktur zu legitimieren.  Weiß ich, dass Menschen, die nicht(s) (mehr) können, häufig (unbewusst) nicht (mehr) als Menschen gedacht werden, sondern in moderner Manier der weißen Gewalt, als zu verwaltende Masse. „Weiße Gewalt“, damit meine ich das Töten durch Strukturen. Das Morden durch unterlassene Hilfeleistung. Die Folter durch Verwaltungsakte.

Eine Realität, der wir als Gesellschaft nicht genug Rechnung tragen ist, dass am liebsten geholfen wird, wem einem*r am nächsten ist. Am gleichsten. Wir lügen einander darüber an, weil es moralisch falsch ist, so zu handeln. Und wir vermeiden die Auseinandersetzung damit, indem wir Strukturen produzieren, die diese Unmoral an unserer statt durchsetzen. Weil wir denken, wir würden nie brauchen, was andere brauchen. Und schon gar nicht, was DIE brauchen. Die Kranken, die Behinderten, die Anderen.
Und weil wir fürchten, wir würden irgendwann brauchen, was DIE brauchen. Besser irgendwie mangelhafte Strukturen als gar keine, denn auf einander können wir uns ja nicht verlassen. Sollen wir ja auch gar nicht. Müssen wir ja auch gar nicht. Es gibt ja die Möglichkeit, auf professionelle Dienste zurückzugreifen.

Als öffentlich zum Thema DIS, Trauma und Gewalt sprechende Person, werde ich oft gefragt, welche Klinik gut ist. Wie man einen Psychotherapieplatz bekommt. Erlebe oft mit, wie schlimm, schwer, frustrierend, zerstörerisch und auch wie verstörend dieser Prozess ist. Wie elend es Menschen geht, die aus Kliniken kommen, die nicht im Ansatz das eigene Therapiekonzept erfüllen können, weil der Krankenstand hoch oder der Aus- oder Fort- oder Weiterbildungsstand der Behandler_innen und Pfleger_innen zu niedrig ist. Aus Kliniken, in die sie überhaupt nur deshalb gehen mussten, weil sie ambulant keinen Platz bekommen haben. Oder weil die Psychiatrie sie nicht mehr aufnimmt. Ohne Beschluss. Weil niemand sonst sie betreut. Wegen Mangel.
Diese Menschen, die meine Diagnose und in vielen Aspekten auch mein Leben teilen, werden teilweise seit Jahren durch die Mühlen einer Zuständigkeit gedreht, die niemand übernehmen will. Aus meiner Perspektive werden sie gefoltert. Sie sollen aufgeben. Sie sollen sterben. Und können gleichzeitig nichts anderes tun, als sich immer wieder in diese Mühlen zu begeben, wenn sie nicht sterben wollen. Und wer will das schon? Außer nach so einer (erneuten) Folter- und also Gewalterfahrung.

Dies mitzuerleben ist belastend für mich. Manchmal extrem belastend.
Denn die Grenzen, die ich ziehen kann, sind durchsichtig. Ich bin die andere, die versorgte Person. Die das schlechte Gewissen, wegen des Belegens eines Therapieplatzes beiseiteschieben muss und sich in das Versprechen gezwungen hat, etwas mit der durch die Therapie gewonnen Stärke für andere Betroffene in die Welt zu bringen. Etwas mit.zubewegen.
Ich bin die_r Freund_in, die_r durch das viele Wissen um diese Situation, weiß, dass sie_r mit nichts trösten kann. Und manchmal auch will, dass die Untröstlichkeit in dieser Situation als real erkannt wird. Denn es gibt einfach nichts und niemanden, die_r trösten kann, wenn die ganze Welt dein Leiden in Ordnung, weil so normal findet. Niemand sollte darüber jemals getröstet werden können. Niemand. Jemals.

Aktiviert werden sollen sie. Wir. Alle.
Anders machen sollen wir. Raus aus der Blase von Gewaltsicherheiten, rein in die gesamtgesellschaftliche Verantwortungsübernahme. Wer nicht helfen will, muss aufhören, für Hilfebedarf zu sorgen. Das ist die einzige Alternative, die wir haben. Das ist, was wir alle miteinander unabhängig von Strukturen machen können: Verantwortung dafür übernehmen, dass es den Menschen in unserem Leben gut (mit uns) geht. Egal, welche Diagnose sie haben. Egal, wie fähig sie sind. Egal, wie viel wir glauben, davon zu haben.

Die Entscheidung liegt bei uns.
Treffen wir sie!

Reichtum bekämpfen | note on: #IchBinArmutsbetroffen

Gestern habe ich mich zum ersten Mal an #IchBinArmutsbetroffen beteiligt. Als Beitraggeber_in in einem Space, der das Thema „Wishlists in Tweets mit Aktionshastag“ hatte. Zufällig, spontan, weil der Partner die Leute unterstützt, die versuchen die Aktion so lange wie möglich in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten. Von mir aus hätte ich mir den Space nicht angehört. Ich kenne solche Debatten als den Anfang vom Ende. Das waren sie bei #NudelnMitKetchup, das sind sie in jeder Gruppe, die im Wachstumsrausch verpasst, dass Community mehr als Macht durch Masse ist. Aber nun lief die Veranstaltung und ich beteiligte mich. Bis ich abgewürgt wurde, wegen des Zeitlimits. Und dann nicht auf die Reaktion des Moderators antworten konnte, weil so viele andere auch noch sprechen wollten.

Hier habe ich dieses Limit nicht. Hier also der Rest dessen, was ich sagen wollte. Und meine Gegenrede auf die Antwort.

Ich bin nicht mehr arm, weil ich einen gut verdienenden Partner habe. Meine Arbeit allein würde mich in einem städtischen Umfeld ohne unterstützende Community, ehrenamtliche Helfer_innen und alternative Konsumoptionen (second hand shops, Tausch- und Leihzirkel etc.) gerade so über Wasser halten.
Für mich bedeutet das: Armut ist relativ auf allen Achsen – und die wenigsten davon sind von „der Politik“ abhängig. Was soll das überhaupt bedeuten: „Die Politik“? „Die Politik muss da was machen“, „Millionen arme Menschen sind ein Zeichen für das Versagen der Politik“
Die Politik ist euer Ziel, ihr wollt, dass „die Politik“ sich dem Thema annimmt – aber was, wenn sie das schon längst tut? Wenn „die Politik“ schon längst richtig dick dabei ist, Armut zu bekämpfen?

Für mich geht in dem ganzen Bewegungsversuch völlig unter, dass die Armut in Deutschland auch politisch gewollt – in einigen Bereichen sogar gebraucht wird, um Reichtum und Macht zu erhalten bzw. zu steigern.
Denn wer Armut bekämpfen will, hat generell zwei Optionen.
Erstens: Arme Menschen werden getötet, denn in ihnen verkörpert sich die Armut. Das ist effizient und passiert in jedem kapitalistischen Land und Deutschland ist da keine Ausnahme.
Die zweite Option ist, Reichtum zu bekämpfen. Doch das wird „die Politik“, wer oder was auch immer sie nun ist, nicht für euch machen.

Man muss schon ein sehr naives Verständnis von Demokratie in einem kapitalistischen Land haben, wenn man annimmt, dass arme Menschen einfach nur genug politisches Gehör brauchen, um bedarfsgerecht versorgt und abgesichert zu werden. Und ein noch naiveres Verständnis von politischer Macht, wenn man annimmt, dass wenn man nur richtig auftritt, das Anliegen richtig aufbereitet, die Not klarmacht – die Ungerechtigkeit, die Unmoral, den Rechtsbruch, die persönlichen Schicksale – dass dann schon das richtige passieren wird.
Als hätten all die Leute, die schon vorher (politisch) gegen Armut gearbeitet haben, einfach verkackt. Als wären die einfach nicht so geil gewesen wie ihr.

Mir erschließt sich auch nicht, warum vom Erfolg des Hashtags allein auf ein politisches Gewicht geschlossen wird, sind es doch Individuen der Twittercommunity, die diesen Erfolg gewissermaßen „erarbeitet haben“. Und zwar mit den klassischen Mitteln einer sozialen Bewegung: (einander) Zuhören, Mitfühlen, Teilen, Austauschen, Mit_gestalten
Soziale Bewegungen lassen häufig unterstützende Communitys entstehen – man sieht doch, wie viele Menschen sich unter diesem Hashtag zusammen tun, welche Verbindungen entstehen, wer wen kennenlernt und so, wenn nicht zu finanziellem, so doch sozialem Kapital kommt. Warum schützt ihr das nicht? Warum macht ihr einen Space zum autoritärem policing eurer eigenen Hashtagnutzer_innen – eurer Community! – statt einen zur Frage, wie ihr euch als bewegte Gruppe stabilisieren könnt? Wie man sich institutionalisieren kann. Wie man Aktionen wie „eine Sorge weniger“ größer machen kann. Wie man Leute, die wegen ihrer Wishlist von Trollen, Hatern und Sozialneidern angegriffen werden, als Community schützen und unterstützen kann.

In meinen Hartzjahren war es das Fehlen einer solchen Community, das mich unter meiner Armut hat leiden lassen. Mit dem wenigen Geld, der fehlenden Perspektive, der Not bin ich immer irgendwie klargekommen. Mit vielen Tränen, unfassbar viel Selbsthass, enormer Wut, doch es ging. Aber das Gefühl, dass alle um mich herum okay damit sind – das hat immer wieder neu etwas in mir gebrochen. Und dabei war mir die politische Aufmerksamkeit auf Leute wie mich irgendwann völlig egal. Mir ging es um meine Nachbar_innen. Die Leute in der Straßenbahn. Meine Ärzt_innen, Therapeut_innen, die Leute, die ich im Park gesehen habe. Die Leute, die im Fernsehen vom „Abrutschen ins Hartz 4“ gesprochen haben, als würde mein Leben am Grunde eines Brunnens stattfinden. Die Leute, die hier von meinem Leben und Denken lesen. Denn das war mein Bezugsrahmen und ist es noch heute.
Es waren nie Fremde, die mir etwas geschenkt oder in der Not geholfen haben – aber es waren und blieben für immer Fremde, die die Hartzgesetze schrieben, die die Sozialgesetzbücher füllen, die Stempel auf meine Anträge knallten.

Ich will nicht darauf hinaus, dass wir Armut nicht als politisches Problem behandeln sollen. Das muss auf jeden Fall passieren – aber die armen Menschen davon zu trennen, halte ich für essenziell.

Alle Menschen können allen Menschen alles geben – wenn alle alles geben. Dafür brauchen wir keine Gesetze und auch kein Rumgeschraube an bestehender Gesetzgebung. Es gibt kein Verbot einander zu helfen oder Wünsche zu erfüllen, keine Strafen für bedingungslose Zuwendung und Fürsorge. Es gibt nur Angst, dass keine_r da ist, wenn man selbst was braucht. Und die wird man nicht los, wenn man sich auf politische Lösungen verlässt.

Oder damit rechnen muss, dass man als „Saboteur_in der Bewegung“ gilt (und ausgeschlossen wird), wenn man die eigene Wishlist da teilt, wo sie von den meisten Menschen gefunden wird.

Rache wäre leichter

Ich hatte keinen Anlass zu glauben, dass R. jemals etwas anderes wollen könnte als Rache. Vielleicht sogar blutige Rache. Zerstörerische, giftige Rache ohne Bewusstsein für ihre Folgen, ohne Willen zur Anerkennung von Ursachen oder der eigenen Verortung in Zeit und Raum.
In den letzten 18 Jahren hatte ich vor allem Hartes, Unnachgiebiges gespürt. Die generalisierte Ablehnung von Erwachsenen, die Abwehr von Nähe, die Vermeidung von allen, die nach ihr zu greifen versuchten, um ein eigenes Ziel zu erreichen. In ihrer Härte war sie nie Godzilla, der durch die Einrichtungen stampft, die sie zerstampft haben – aber schon ein Mädchen mit Todesblick und undurchdringlichem Geist. Ein Dorn, dessen Stich so wehtun sollte, dass er nicht ignoriert werden würde.

Und dann antwortet sie der Therapeutin, dass sie eine Entschuldigung will. Und das Versprechen, dass etwas dafür getan wird, dass sich ihre Geschichte nicht im Leben anderer Jugendlicher wiederholt.
Am Abend zuvor hatte ich schon die Idee in mir bewegt, den Brief zu schreiben, den R. nie schreiben konnte. Dann aber erinnerte ich mich daran, wie es mir nach dem Klinik-GAU ging. Wie unfassbar bitter mich die Erkenntnis traf, dass es den Menschen leider so unendlich egal ist, wie es mir ging, was ich dachte und wie ich gelitten habe, weil sie mich zur alleinverantwortlichen Quelle dieser Gefühle erklären können – und vielleicht auch müssen.

Denn das Schlimme an sogenanntem „institutional betrayal“ ist nie nur, dass Institutionen (Kliniken, (Wohn-)Einrichtungen, Firmen…) manchmal ihre Versprechen brechen, sondern auch, dass sie keine Verantwortung dafür übernehmen. Und dass es niemand von ihnen erwartet. Dass sie nichts und niemand dazu zwingt, wenn ihr eigenes Gewissen, ihre eigenen Werte, ihre Mitarbeiter_innen und Verantwortlichen es schon nicht tun.
Und dass das nur in bestimmten Aspekten problematisiert wird. Gibt es Blutvergießen oder systematische Vernachlässigung, Abrechnungs- oder Steuerbetrug, Etikettenschwindel oder Zwangsüberarbeitung, kann geklagt werden. Gibt es psychische Gewalt, autoritär begründeten Zwang oder Handlungen aufgrund von etwa Sexismus oder anderen *ismen, gibt es diese Möglichkeit einfach nicht. Denn das Wort der Opfer ist weder den Täter_innen noch dem Staat etwas wert, um Unrecht an_zu_erkennen und (Wieder-)Gutmachung zu bieten.
Das verkleinert das Leiden der Opfer nicht. Im Gegenteil kommt dadurch eine Ebene hinzu, die nichts mehr nur mit den konkret Beteiligten zu tun hat, sondern mit dem gesamten sozialen Kosmos. So hätte ich natürlich nach dem Klinik-GAU die Ärztin anzeigen können und mich in ein entwürdigendes – und mich voraussichtlich weiter demütigendes – Justizgemetzel stürzen können, aber die Falschbehandlung passierte durch ein Team unterstützt und von einer Struktur geschützt. Und die wären nicht auch zur Verantwortung gezogen worden, weil Verantwortung in solchen Häusern bis zur Nichtigkeit diffundiert ist. Am Ende kann in diesen Institutionen niemand Verantwortung übernehmen, weil sie niemand alleinig hat oder übernimmt und die kollektive Anerkennung einen Gesichtsverlust bedeuten könnte. Welcher in der Regel deshalb als ehrverletzend empfunden wird, weil man Patient_innen/Kund_innen/Nutzer_innen nicht als gleichwertig anerkennt.

Wir, R., ich und alle, die vor mir von und in Institutionen verletzt wurden, haben Entschuldigungen verdient, da bin ich mir sicher. Aber gewollt habe ich nie eine.
Wirklich aufrichtige Entschuldigungen haben etwas mit Frieden in allen Facetten zu tun. Mit Befriedung von Konfliktgräben, mit Befriedigung von sozialen Grundbedürfnissen und der Wiederherstellung eines friedlichen Miteinanders. Ihre Funktion ist also vorrangig die Veränderung der Qualität des Miteinanders.
Ich aber will nie wieder irgendetwas mit diesen Einrichtungen und ihren Vollstrecker_innen Mitarbeiter_innen zu tun haben. Ich brauche sie nicht, um meine Punkte zu validieren, ich will nicht hören, was sie über meine Punkte zu sagen haben. Ich sehe sie als gesellschaftlich gewollte Werkzeuge der Gewalt und Ausgrenzung, als Zubringer des Kapitalismus und gescheiterten Versuch einer Utopie, die sich ihrer eigenen Ableismen nie bewusst werden wollte. Sie sind Abgrenzungsgegenstand meiner heutigen Lebensrealität geworden und als nichts anderes will ich sie je wieder sehen.

Aber R.s Unnachgiebigkeit betrifft keine Psychiatrie oder Klinik für Psychosomatik. Sie betrifft keine Individuen und zieht keine Grenzen an sich selbst.
R. geht es ums Prinzip. Um eine Ungerechtigkeit, die weder sie noch andere verdient haben und von der sie weiß, dass sie niemandem gewünscht wird.
Das ist so viel schwieriger als Rache, weil es zwei Dinge bedeutet:
Erstens: Kontakt und den Wunsch zum Miteinander
Zweitens: Eine Arbeit, deren Ergebnis nur schwer messbar ist und also in der Regel kaum als Wert geschätzt wird. Was letztlich dazu führen kann, dass schon der erste Punkt nicht zustande kommt.

Unabhängig davon, wie ich es schaffen kann zur Erfüllung ihres Wunsches beitragen, hat er mich berührt. Denn dahinter kann ja kaum mehr als die Annahme stehen, dass man einander grundsätzlich friedlich gegenüber stehen will und dies ein gemeinsamer Wert ist.
Vielleicht war sie nie unnachgiebig uneinsichtig, sondern hatte ganz schlicht – völlig banal und logisch nachvollziehbar – nie die Chance auf ein Miteinander, in dem ihre „untragbare“ Frustration als in einem realen Sachstand begründet anerkannt wurde.
Sie hat Recht und sie weiß das. Sie ist wütend darüber, dass diesem Recht keine Wirkung folgt und weiß, dass ihre Wut abgelehnt wird. Wie sollte sie je nicht für immer und ewig todesfrustriert sein?

Ich weiß noch nicht, was wir jetzt machen. Hab selber Angst vor ihrer Wut, ihrem Frust, weiß ja selbst, dass es mich gibt, weil es sie gab und passierte, was passierte. Frage mich, ob es den Versuch wert ist oder der Sache nötig.

Ein Wunsch nach Rache wär jedenfalls irgendwie leichter. 😅

Hartzjahre

Unsere Betreuerin rief am Dienstag an, um uns zu sagen, dass es noch nichts Neues vom Jobcenter gibt.
Das ist, was sie uns seit August bei jedem unserer Termine sagt. “Ich habe den Antrag, die Anfrage, die Nachfrage, die Forderung geschickt – es gab noch keine Rückmeldung.”

So kennen wir das. Diese boden- wie himmellose Weite des Kontaktes mit der Behörde, die uns die Existenz finanziert. Das Gefühl, mit einer Maschine ohne Ohren zu sprechen. Der Eindruck von Haltlosigkeit, der zur Fassungslosigkeit wird, wann immer dann doch eine Antwort kommt, weil es darin nie um uns, sondern um das System Hartz 4 geht.

Wir beziehen seit bald 15 Jahren Hartz 4. Noch nie waren wir mit Untätigkeitsverhalten der Behörde konfrontiert. Der Schweigestrafe. Danach fühlt sich das für uns an und löst Erinnern an traumatische Erfahrungen aus. Die Bodenlosigkeit wird unendlich. Die Haltlosigkeit zu dissoziativem Erleben. Irgendwann geht es nicht mehr um das Geld, mit dem unsere Existenz finanziert wird, sondern um alles. Leben oder Tod.

Trotz der langen Bezugszeit leben wir nicht prekär. Wir sind arm, ja. Aber wir sind gebildet. Und wir kommen nicht aus der Armut. Unser Habitus ist bürgerlich, typisch für die Mittelklasse. Und wir sind weiß.
Unsere Hartzjahre sind für die meisten weißen Mittelklassenleute Unfairjahre. Realhorror. Boah-das-könnt-ich-nicht-Jahre. Und deshalb könnten unsere Hartzjahre gut in ein Buch passen, das im Feuilleton besprochen wird.

Wir Langzeitarbeitslosen, die dem Klischee vom dummen Ekelfaulenzer nicht entsprechen, sind oft diejenigen, die in Zeitungen zu sehen sind. Deshalb sind wir die, mit denen sich “die Leute” noch am ehesten identifizieren können.

Diese Identifikation stellt sich für uns als hinderlich dar.
Denn wir sind nicht durch einen unfairen Schicksalsschlag, durch Nichtanerkennung unserer ausländischen Bildungsabschlüsse oder bereits chancenlose Eltern im Leistungsbezug. Wir sind Opfer von Gewalt gewesen und schwerbehindert.

2005 waren wir 19 Jahre alt und noch 2 Jahre vom Ausstieg entfernt.
Wir wurden ausgebeutet und verletzt. Betreut, behandelt und so davor bewahrt, uns das Leben zu nehmen. Der Antrag auf Hartz 4 wurde nötig, weil Hartz 4 gerade eingeführt worden war. Wir waren noch in der Jugendhilfe, später in der Eingliederungshilfe. Dass wir kaum lebensfähig waren, das war so überdeutlich klar, aber dieses System hatte schon damals keinerlei andere Vorgänge für Leute wie mich, als den der permanenten Prüfung auf Arbeitsfähigkeit.

Immer wieder waren wir damit konfrontiert, keinerlei Wert für diese Behörde zu haben, weil wir keinerlei Arbeitsfähigkeit vorweisen konnten. “Sie arbeiten weiterhin an ihrer Stabilisierung”, sagten meine ständig wechselnden und dadurch zunehmend gesichtslos werdenden Sachbearbeiter_innen für die aktiven Leistungen.

Und wir stabilisierten uns. Stiegen aus. Begannen zu heilen. Wuchsen aus der Opferrolle in die Überlebendenrolle in die Selbstbestimmung hinein, die unsere Kontexte gewähren können.
Arbeitsfähigkeit war und ist immer ein Teil dessen, worauf wir hingearbeitet haben.
Wir erwarten von unserer Umwelt nicht, dass sie einfach alles für uns bezahlt. Dass wir in irgendeiner Form von der Gesellschaft, die zugelassen hat, dass unsere ersten 21 Lebensjahre so passieren konnten, wie sie es taten, aufgefangen und aus_gehalten werden. Wir empfangen keine Leistungen und danken dem Sozialstaat. Wir bekommen Geld und manchmal fühlt es sich wie damals an, als uns die Leute, die uns verletzten und benutzten Geld dafür auf den Tisch legten. “Mach damit was du willst, Fickstück.”

Unsere Hartzjahre waren noch nie wie in unserer Kindheit. Immer nur wie die Ausbeutungskontexte danach.
Einfach ins Leere zu fassen wie jetzt, ist ganz eindeutig Kindheitstrauma_wieder.er.leben. Keine Ansprechpartner_in zu haben, die irgendetwas verändern kann. Zuständig, ja sogar in der Pflicht ist, zu antworten und sich zu kümmern. Keine Macht zu haben, selbst etwas an der Lage zu verändern, weil die Abhängigkeit so groß ist. Und einzig die Wahl zu haben, sich vom Wohl und Wehe einer weiteren Instanz, nämlich der Justiz, abhängig zu machen, um eventuell vielleicht – mit ungewissem Ausgang, keinerlei Garantie und möglicherweise unangenehmen sozialen Folgen – zu erwirken, dass da etwas passiert.

Man sagt uns, dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Erinnert uns daran, dass wir betreut werden, dass wir versorgt sind, auch wenn die Behörde versagt. Versucht, uns die Unterschiede klar zu machen.
Aber darum geht es gar nicht. Das ist nie der Kern unserer Traumatisierungen gewesen. Es ging nie darum, dass uns Menschen verletzt haben oder passiert ist, was passiert ist.
Es geht immer um diese Stille. Diese Leere. Dieses Moment, in dem nichts mehr gespürt werden kann, weil es insgesamt zuviel zu spüren gibt.

Von “unseren Hartzjahren” zu sprechen, bedeutet auch von “unseren Jahren in struktureller Gewalt, die von allen gleichermaßen mitgemacht wird” zu sprechen.
Hartz 4 wird vom Staat finanziert. Wir alle bezahlen Hartz 4. Wir alle bezahlen für die Ausübung struktureller Gewalt durch Jobcenter, Sozial- und Versorgungsämter. Niemand ist unschuldig. Alle sind schuld daran.
Und es ist die gleiche Schuld, wie die an unserem Bluten als Kind, unserer Ausbeutung als Jugendliche_r, der Lebensgefahr, mit der wir bis heute umgehen.

Und, na klar, könnten wir das alles bequemer formulieren. Könnten die Gewalt an uns individualisieren und sagen, dass nur unsere Herkunftsfamilie und Fremde uns verletzt haben. Aber so war es einfach nicht. So ist es einfach nicht.
Gewalt wird gemacht. Auch durch stumme Zeug_innen, die glauben, sie hätten nichts damit zu tun, weil sie weder uns noch die, die an uns zu Täter_innen wurden, kennen.
Das zu benennen, haben wir uns zum Auftrag gemacht. Auch, weil die Menschen in unserem Leben nicht müde werden uns zu sagen, dass sie sehen, wie schlimm das alles ist. Wie unfassbar brutal und ängstigend.
Wir brauchen sie aber nicht nur als mitfühlende Zeug_innen. Die hatten wir schon als Kind. Als Jugendliche. Als junge Erwachsene. Als von-der-Gewalt-Übrige. Und es ist trotzdem passiert. Mit allen Schmerzen, allen körperlichen, wie seelischen Folgen.

Wir brauchen Unterstützer_innen. Brauchen politisches Handeln.
Brauchen, dass die Gewalt an sich anerkannt und in der Konsequenz beendet wird.
Und zwar nicht auf dem leichten Weg durch Reformen mit einem freundlichen Namen, sondern durch die harte, unnachgiebige Debatte um den Wert von Menschenleben, Würde und die Sicherstellung von bedingungsloser Versorgung aller Menschen, mit denen wir zusammenleben. Sei es in unserer Stadt, unserem Bundesland, unserem Land, unserem Staat, unserer Welt.

Wenn es uns wirklich ernst damit ist, niemanden verletzen, demütigen oder sterben lassen zu wollen, dann wird es Wege und Mittel geben, das auch ohne Gewalt zu schaffen. Wenn nicht, dann muss das Grundgesetz umgeschrieben werden. Dann muss sich von der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte distanziert werden. Dann braucht es das Bekenntnis zur Täter_innenschaft. Zur Gewalt, zur Zerstörung.

An dieser Stelle darf es kein Spektrum mehr geben, in dem man sich mit Feigenblatt und 3-Affen-Ignoranz positionieren kann. Denn aufgrund genau dieser Optionen entstehen Leben wie unseres. Erfahrungen und Kontexte, in denen normal ist, was wir überlebt haben und so viele andere Menschen Tag für Tag nicht überleben können. Aus genau diesem Umstand heraus, gibt es überhaupt nur die Chance zu glauben, es wäre genug, vor allem auch Langzeit-Hartz4-Überlebenden, zu sagen, dass man sieht und glaubt, wie schlimm das alles ist.
Dass es reicht Kinderschutzkonzepte zu etablieren. Dass es reicht, Seenotrettung nicht zu illegalisieren. Dass es reicht, sich daran zu erinnern, dass wir alle Menschen sind. Dass es reicht, wenn wir nicht die AfD wählen. Dass es reicht, ein Mal am Tag die Tagesschau zu gucken. Dass es reicht, ein absolut zu bewahrendes Existenzminimum für jede_n Einzelne_n zu definieren. Dass es reicht gegen Kapitalismus zu sein.

Das tut es nämlich einfach nicht.
Man muss sich fragen, was man statt der Gewalt will.
Wenn wir unsere Menschen fragen, was sie sich für uns statt Hartz 4 wünschen, dann antworten sie, dass sie uns einen Job wünschen. Geld. Sicherheit. Autonomie. Dass wir leben können wie sie.
Und wir fühlen uns schlecht dabei. Denn wir wollen Sicherheit und Autonomie – aber ohne jede Bedingung dafür erfüllen zu müssen. Wir wollen, was wir schon als Kind so unbedingt gewollt und gebraucht haben – was alle Kinder so unbedingt wollen und für ihr Überleben brauchen: bedingungsloses Miteinander. Fürsorge, Versorgung, Stimulation.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der es das nicht gibt. In der alle jeden Tag in dem Wunsch nach Bedingungslosigkeit enttäuscht werden und manchmal so sehr, dass man sich über kleinste Stückchen davon so sehr freut, dass es eine Welt wird.
Wir finden das traurig. Denken, dass Menschen das besser hinkriegen könnten.
Wenn sie wollten.

Und wenn sie könnten, wie sie wollten.
Bedingungslosigkeit geht aber nur mit Bedingungslosigkeit.
Und genau die gibt es in unserer Kultur, unserem Miteinander gerade nicht.

Wir sind am Arsch.

Hello and thanks for coming to my TedTalk

Lesung aus „aufgeschrieben“ und Austausch zu Gewalt, Strafe und Gerechtigkeit

 

Wir waren am 17. Oktober nach Wien eingeladen worden, um dort im schönen Café „Fett und Zucker“ aus unserem Buch „aufgeschrieben“ zu lesen und in einem Austausch über Gewalt und die Beziehungen zu Täter_innen zu sprechen.

Geworden ist daraus dann auch ein Austausch zu Ideen von Gerechtigkeit nach Gewalt, der begleitet von Kühlschränken, Geschirrspülern und anderen kompressorbetriebenen Gerätschaften, einen reichhaltigen Debattenbeitrag leisten kann.

 

shownotes:

 

 


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Fundstücke #31

“Ich bin es so müde, leid und weh.”, denke ich und öffne ein anderes Fenster auf meinem Laptop, als das des Mailprogramms, um der Idee der Therapeutin nachzukommen, eine Nachricht an die gesetzliche Betreuerin zu schreiben.

Ich bin so nah dran die Kontrolle zu verlieren. Mich zu verlieren. Den Plan zu verlieren. Die Linie, für die wir uns vor so vielen Monaten entschieden haben und trotz alle dem und alle dem nicht abgewichen sind, aus den Augen zu verlieren und zu vergessen, warum wir uns gegen den Tod entschieden haben. Warum wir uns für die Therapie, die Forschungsreise in unseren inneren Kosmos hinein entschieden haben.

Es ist August und wir sind keine Hartz 4 –Empfängerin mehr.
In 3 Wochen startet die schulische Berufsausbildung und wir haben noch keinen positiven Bafög-Bescheid erhalten.

Wir haben kein Geld und der Antrag für Geld liegt in der Stadt der Herkunftsfamilie. Wo man sich um Datenschutz bemüht, wie man unserer gesetzlichen Betreuerin versichert. Die das glaubt, denn sie hatte ja noch nie einen Fall in dem so obskure Dinge wie bei uns gelaufen sind.
Nun hat sie diesen Fall und weiß es nicht einmal. Weiß nicht, wie greifbar das für uns ist. Weiß nicht, was es für uns bedeutet, wenn sie uns erzählt, was man ja alles erstmal noch mit den Eltern besprechen muss, damit dieser Antrag durchgeht – obwohl wir absichtlich einen Antrag auf elternunabhängiges Bafög gestellt haben. Absichtlich in unserer Stadt. Absichtlich mit genau den Begründungen, die wir hinzugefügt haben.

Ich bin es so müde immer wieder die Erste zu sein, die man ans Messer liefert, um zu prüfen, wie scharf es denn tatsächlich ist. Wie weh es denn tatsächlich tut. Wie leid es hinterher tun muss, diesen Fehler begangen zu haben.

Nach 15 Jahren Verwaltungsobjekt-sein wissen wir, wie Behörden funktionieren. Wie einfach und simpel das System dieses Gewaltausübungsapparats gestrickt ist.
Man kann uns nicht mehr betreuen oder verwalten, ohne, dass wir wissen und fühlen, dass und in welchem Ausmaß wir entmenschlicht werden.
Man kann uns nicht mehr sagen, dass manche Dinge einfach nicht passieren können.
Man kann an uns keinen schlechten Job mehr machen, ohne, dass wir das merken und entsprechend beantworten.

Ich bin es so weh, mich für meinen Selbsterhalt schämen zu müssen, damit andere ihre Vorgehens- und Umgangsweisen mit uns und vielen anderen Menschen als natürlicher, gerechtfertigter, richtiger und wichtiger sehen können.

Es tut mir leid um mich, um uns, um das, was wir geschafft haben, wenn ich den Krieg gegen die Zweifel an der Richtigkeit des Kontaktabbruchs, des Ausstiegs, all den ausgetragenen Kämpfen miteinander, zu verlieren drohe, weil es mehr Anlass dazu gibt (Mit-)Täter_innenwahrheiten bestätigt zu sehen, als eigene.

Ich will die Verwaltungsvorgänge, die die Schutzbelange von Menschen, die zu Opfern von Gewalt in der Herkunftsfamilie wurden, umfänglich berücksichtigen.
Ich will die generelle Erlaubnis zur Einzelfallentscheidung für Menschen, die zu Opfern von Gewalt in der Herkunftsfamilie wurden.
Ich will das komplette, permanent aktualisierte Handbuch mit dem Leitfaden für Menschen, die zu Opfern von Gewalt in ihrer Herkunfts- oder eigenen Familie wurden, um sich an jedem Ort und in jeder – wirklich jeder! – Notlage sichern und versorgen zu können.

Ich bin es müde – ich bin es leid – ich bin es weh, immer wieder aus eigener Betroffenheit heraus solche Forderungen zu stellen, als sei ich die Einzige, für die das relevant ist. Als sei ich die Einzige, in deren Leben geschehen ist, was geschehen ist und überlebt wurde.

Ich bin es müde, leid und weh so hilflos, ausgeliefert und ohnmächtig darauf hoffen zu müssen, dass uns niemand aus Versehen umbringt, nachdem wir so hart um so viel Lebenszeit für uns gekämpft haben.

Ich bin es müde, leid und weh, als immerwährend letzten Schluss zu haben, dass man eine Existenz, wie meine, tot einfach unkomplizierter verwalten kann.

“nur”

Vielleicht war es eine Frage der Zeit. Vielleicht war es ein logischer Zwang. Vielleicht ist es ausgleichende Gerechtigkeit.

Nach ein paar Tagen, in denen wir uns NakNak* wieder und einander im Innen in kleinen Sprossen angenähert haben und alles danach aussah, als müssten wir nur warten, verwässerten mir Zeit, Raum und Lauf der Dinge.
Wir waren verabredet, hatten einen Plan und das Letzte was ich sicher weiß ist, dass wir einkaufen gegangen waren.
Dann starb ich einen Tod bei dem mir alle Luft aus dem Brustkorb gestoßen wurde und schaue 21 Stunden später einem Zug am Bahnhof Leer hinterher. Ich bin und bin nicht. Alles ist okay, es ist nur weit weg, seltsam schmerzlich und außerhalb von Zeit und Raum. Dann öffne ich unseren Briefkasten. Weil wir so nach Hause kommen. Immer. NakNak* ausziehen, schütteln lassen, Keks, aufschließen, Briefkasten prüfen, Treppen hoch, Leine und Geschirr an den Haken hängen, Wohnung aufschließen, NakNak* trinkt was und geht auf ihren Platz, während wir die Schuhe ausziehen und ins Regal stellen.
Wenn die Tür hinter uns zu ist, dann sind wir da.

Wenn die Tür hinter uns zu geht, sind wir sicher.
So dachten wir jedenfalls in den letzten paar Jahren. Beziehungsweise – dachten wir irgendwann nicht mehr, denn so läuft das, wenn man sich sicher fühlt. Man hat nicht mehr die Angst, die eine_n dazu bringt, sich zu vergegenwärtigen wie gefährdet man tatsächlich ist.

Ich öffnete die Post von unserer gesetzlichen Betreuerin und spürte direkt, wie sich meine Ränder erneut aufzuweichen begannen.
Unser Bafög-Antrag entwickelt sich derzeit in einen unsere Sicherheit massiv gefährdenden Selbstläufer, während unsere gesetzliche Betreuerin in ihrem Schreiben klingt, als hätten wir ihr nie jemals irgendwas von unserer Ausstiegszeit, unseren Versuchen so abgetrennt wie möglich zu unserer Herkunftsfamilie* zu sein oder den Wünschen in den nächsten Jahren eine komplette Anonymisierung vornehmen zu lassen. (Es klingt aber nur so – im Kontakt ist ihr der Umfang des Problems durchaus klar)
Der geänderte Klinikbericht lässt eine Einstellung uns gegenüber durchblicken, die uns an einer Stelle erschreckt und an einer anderen Stelle angewidert abstößt.

Erneut stehe ich nach einem Tag, der für viele andere Menschen nicht einmal im Ansatz nachfühlbar ist, mit einem Stoß Papier in der Hand und fühle mich maximal ausgeliefert, allein, ohnmächtig und schutzlos. Erneut. Schon wieder. Again. Again. Again.
Obwohl OBWOHL und trotz alle dem und alle dem

Ich spreche der Therapeutin auf die Mailbox. Schreibe ihr später, dass sie nicht anrufen braucht und merke noch später, dass ich auf meinen Standardsatz zurückgegriffen habe: “Ich komme schon klar.”.
Ich rufe den Begleitermenschen an und versuche mich in eine Form zu bringen, bis er zurückrufen kann.

Mit dem Begleitermenschen über unsere bürokratische Hölle of the doom zu reden ist neu und ok. Wir verabschieden uns und ich habe einen Handlungsablaufplan für den nächsten Tag. Und das Gefühl, dass jemand mein Drama daran auf der allgemeinen Ebene verstanden hat.
Wie das ist, die Person zu sein, die alles wissen soll, weil sie alles wissen muss, denn es geht ja um sie, doch genau das nicht tut, weil ihre Situation so komplex, so vereinzelfallt und unklar ist, dass es nicht geht.
Am Ende glaube ich sogar, dass er der Einzige ist, der verstanden hat, dass wir uns genau deshalb für eine gesetzliche Betreuung entschieden haben. Während unsere gesetzliche Betreuerin von sich sagt, sie sähe sich nur als bessere Sekretärin für uns und damit erneut das Kernproblem und seine Aufbereitung bei uns lässt, dessentwegen wir sie brauchen.

Gegen Mitternacht liege ich in einer Lavendelwolke im Bett und merke, dass ich weine, ohne zu weinen.
Da ist kein Gedanke daran wie ungerecht doch die Welt zu uns ist, oder wie gemein das ist, dass es für uns erneut so scheint, als ginge es für uns einfach nie ohne Extraschleifen, missachtete Kommunikationsprobleme und diesen einen Schmerz – da ist einfach nur der Gedanke: “Aber ich hab doch gesagt…”

Ich habe gesagt, was gefährlich für uns ist und warum.
Ich habe gesagt, was in der Klinik schwierig ist und warum.
Ich habe gesagt, was genau ich von Menschen, die mir ihre Hilfe anbieten, möchte und warum.
Ich habe gesagt, was wir leisten können und warum wir was brauchen, um das auch zu können.
Ich habe gesagt, was ich denke und warum.
Ich habe gesagt, was ich fühle und warum.

Ich suche die Verantwortung für das Versagen der Kommunikation zwischen mir und anderen Menschen nachwievor bei uns allein und komme in einen Zwiespalt, sobald mir andere Menschen, wie der Begleitermensch sagen, dass zu einem Gespräch immer mindestens zwei Personen gehören. Dass andere Personen andere Dinge verstehen können, als die die man sagt und, dass es immer wieder darum geht zueinander zu finden, wenn eine Person sagt, dass sie missverstanden wurde.
Der Knaller ist, dass er das für jedes Gespräch meint. Auch für Gespräche zwischen “kranken” und “behandelnden” Menschen und Gespräche zwischen Menschen, die einen Hilfsauftrag an andere Menschen haben.

Wieder berühre ich das Moment, in dem ich darauf beharren will, dass die Behandler_innen in der Klinik ein bereits vor unserer Aufnahme bestehendes Mindset von uns hatten (und haben) und wir hätten sagen, machen, sein können, was und wie auch immer, um das Ergebnis zu kriegen, mit dem wir jetzt, mit all seinen inneren und äußeren Konsequenzen, die wir für uns im Leben haben, zurecht kommen müssen.
In diesem Moment geht es nicht um Schuld – es geht um Gewalt im Sinne einer Macht-Ohnmacht-Dynamik, aus der wir nicht können, weil wir ohnmächtig sind und diese Menschen nicht müssen (nicht einmal müssen wollen), weil sie bereits (definitions- und deutungs)mächtig sind.

Wieder sehe ich uns in einem Moment, in dem ich darüber verzweifle, dass es für die Gefahrenlage von Menschen, die Opfer organsierter Gewalt wurden, weder Gespür noch Sinn noch Gedanken gibt. Wie wenig es braucht, um jemandem mit einem einzigen Beschluss, einer einzigen Fehleinschätzung, von “den Umständen entsprechend sicher” zu “Gefahr für Leib und Leben” zu schubsen.
Es brauchte in unserem Fall nur zu wenig Kapazitäten und den Wunsch nach weniger Arbeit, weniger Aufwand, weniger Beunruhigung. Mehr nicht.

In unserem Fall hat es übrigens auch nie mehr als das gebraucht. Die Verwaltung unseres Lebens war einfach immer schon ein bürokratischer Höllenschlund aus Zuständigkeiten, Einzelfallentscheidung und special Überschneidungen und nie hatte jemand genug Kapazitäten sich Klarheit zu beschaffen. Durch die Bank weg hat man in den letzten 15 Jahren das Gießkannenprinzip angewandt und einzig uns damit immer wieder vom Regen in die Traufe geschickt.
Trotz der Einblicke, die wir bisher in die Arbeit von in einer Behörde arbeitenden, sozialpädagogisch betreuenden und psycho_therapeutisch behandelnden Menschen haben durften, sind wir nicht bereit, die immer wieder eingenommene und uns vermittelte Opfer-der-Bürokratie/des Konzepts/der Klinik/Einrichtungs(hierarchie/geschichte/teams)-Position anzuerkennen.

Und seit dem Erlebnis in der Klinik gehen wir auch davon aus, dass an vielen Stellen von reaktivem Nihilismus ausgegangen werden muss, wo man auf den ersten Blick Unwissenheit oder Unbewusstheit vermutet oder eine Entwicklung zum Negativen™ aufgrund gleichsam schwerwiegenden Erfahrungen (mit dem bürokratischen/konzeptionellen/zwischenmenschlichen (Team) System).
“Reaktiver Nihilismus” meint an dieser Stelle nichts weiter als: “Nee – also XY machen wir jetzt hier nicht – weil wir darin keinen Nutzen (für uns) sehen (egal, ob die Klient_innen oder deren Angehörige oder Helfer_innen davon profitieren könnten).”, nachdem es Schwierigkeiten, Kränkungen, mehr Aufwand als sonst gab.
(Im Schreiben denke ich gerade, dass die Annahme eines reaktivem Nihilismus noch halbwegs moderat ist – ich könnte schließlich auch von absurd irrationaler Ignoranz, Selbstherrlichkeit oder NARZISSMUS ^^ ausgehen. Aber da endet dann doch der Einblick und das Verstehen der Umstände und entsprechend pfeifen wir uns davon zurück, um fair zu bleiben.)

Das Ding ist: Bürokratie und Konzept ist kein Körper und kein eigener Geist
Weder das Eine noch das Andere, ist in der Lage sich weiterzuentwickeln oder anzupassen, wenn nicht Menschen sie weiterentwickeln und anpassen. Dazu gehört nervenaufreibendes Prozessieren, schwere Arbeit, harte Entscheidungen und selbstlose Reflektion – also richtig unbequeme Tätigkeiten, die weh tun, für die sich niemand bedankt und die einem im Fall des Falls nicht einmal selbst irgendwann oder jemals selbst etwas nutzt oder einbringt.

Wir sind die Letzten, die Menschen dafür verurteilen das nicht leisten zu können oder zu wollen. Aber wir sind auch die Letzten geworden, die Menschen, die uns damit schaden und gefährden, die Hand auf die Schulter legen und sagen: “Ist schon okay so.”.
Diese Zeiten sind vorbei.

Sie sind vorbei, weil wir selbst das immer wieder bei Helfer_innen gemacht haben. Wir schluckten unsere Not runter und sagten ihnen: “Ist schon okay so. Ich bin einfach ein schwerer/komplexer Fall. Schonen Sie ruhig ihre Kräfte für sich und jemand, di_er Ihren Einsatz wirklich wert erscheint. Ja, Sie müssen nicht für mich leiden, indem Sie irgendwas machen, das ihrer Haltung zu mir/dem Konzept der Klinik/den Richtlinien ihrer Institution widerspricht – bitte nein – Sie müssen Ihren Job nicht zu 100 unbefriedigenden unbeliebt machenden Prozenten machen – 40 für Sie erfüllende, sie beliebt lassende und auch noch gut schlafen lassende Prozent sind immerhin auch Anlass immer weiter zu machen und noch ganz vielen mehr Menschen als mir zu helfen.”.

Wir haben heute die Haltung, dass wir anerkennen, dass so ein Job als Psychotherapeutin in einer Klinik oder als Sozialpädagogin in einer Einrichtung oder als Behörden-Johnny irgendwo Anträge abzustempeln, kein einfacher Job ist, der seine spezifischen Spuren in den Seelen der Menschen, die sie machen hinterlässt. Aber es ist ein Job, der gewählt wurde. Ein Job, der bezahlt wird. Ein Job, der gewisse Leistungen schlicht mal abverlangt. Ein Job, der auch Teil des Systems ist, unter dem man leiden kann, vor dem man sich ohnmächtig fühlt und das dennoch nie so unabänderlich ist, wie es erscheint, weil man verdammt noch mal selbst das System mitgestalten kann und meiner Ansicht nach auch sollte.

Auch ein Grund von uns die ambulante Betreuung aufzuhören – ständig hat man sich mit uns über die Bedingungen gesprochen, die ach so nervig, ach so umständlich, ach so irre an den Realitäten vorbei gingen. In den letzten zwei Betreuungsjahren verging kein Termin, an dem wir nicht da standen und die Hand auf die Schulter einer Betreuer_in gelegt haben, um zu sagen: “Ist schon okay so (kannst früher aus dem Termin mit mir, um mal mehr Zeit mit deinem Kind zu haben/brauchst dich nicht tiefer mit mir befassen/brauchst dich nicht mit meinem Kram belasten…)”

Um einem Missverstandenwerden vorzubeugen: Wir glauben nicht, dass solche Gesten und Handlungen falsch sind. Für uns war es mitunter sogar hilfreich und wertvoll zu merken, dass unsere Betreuer_innen und Helfer_innen auch Kram haben und wir nur einen Anteil ihres Lebens mit ihnen teilen – aber:
Wir waren im frei gewählten, bezahlten, leistungsbezogenen Anteil ihres Lebens.
Wir hatten nur deshalb miteinander zu tun, weil sie an und mit uns eine Leistung erbringen sollten und dieser Aspekt ging nach und nach völlig unter. Zum Einen, weil wir Probleme damit haben Hilfen anzunehmen und zum Anderen, weil es anstrengend, problematisch und was weiß ich nicht noch alles war und ist, uns passende und ausreichende Hilfen zu organisieren.

Es ist leicht für diese Menschen den Kopf zu senken und zu vertreten, dass wir einfach einer dieser Fälle sind, für die es kein Netz gibt. Schulterzucken, Demut spielen und exakt was nicht tun? Genau: ein Netz machen oder helfen ein Netz zu stricken
Passivität und demütige Systemkonformität wird belohnt. Entlohnt sogar. Aktivität im Sinne derer, denen man Hilfe zugesichert hat, nicht, denn dafür gibts keine Abrechnungsnummer, keine Hast-fein-gemacht-Kekse vom System und am Ende hat man da vielleicht nicht mal irgendwas special super mega Gutes für eine_n Klient_in erschaffen, sondern “nur” das gleiche Niveau wie das, auf dem alle anderen™ sind. “Nur” eine kleine Entlastung. “Nur” eine kleine Insel des Okayen. “Nur” ein Moment des Durchatmens. Etwas, wovon “nur” diese Klient_innen etwas haben.

Gestern Abend hatte ich auch den Gedanken, dass unsere Lage auch deshalb immer wieder so ist, wie sie ist, weil in unserer Gesellschaft, in unserer Kultur vieles limitiert ist – obwohl es keinerlei praktischen Nutzen außer Machtausübung hat.
Das ist, was mich an “mein Arzt glaubt nicht an rituelle Gewalt”, an “der OEG-Gutachter glaubt nicht an organisierte Gewalt”, an “meine Krankenkassengutachterin glaubt nicht an komplexe Traumatisierungen” schon immer so kirre macht, weil es verdammt nochmal nicht darum geht, was jemand glaubt oder nicht glaubt, sondern darum, dass diese Leute ihren Job beschissen machen, weil sie ihre Annahmen nicht zu überprüfen und evtl. zu revidieren bereit sind (genauso wie Behandler_innen, Verbündete und Helfer_innen mitunter nicht dazu bereit sind, weil ihnen Ideen von großen weltweiten Netzen des organisierten Horrors besser ins Weltbild passen, als selbstunsichere Klient_innen, die Gewaltgeschichten erfinden oder fantasieren, um sich der Behandlung sicherer zu fühlen – gibts selten – gibt es aber und ist wichtig zu prüfen, so schmerzhaft, kränkend und verunsichernd das nun einmal ist).

Die Limitierung beginnt oft schon der Frage, wer was wann wie viel haben darf und endet in der vorweggenommenen Prävention von Gültigkeit für alle.
Begrenzt wird wer wann wie geschützt wird. Begrenzt wird Hilfe, genauso wie die Definition dessen, was Hilfe letztlich ist.
Nicht, dass plötzlich alle kommen und das Gleiche wollen. Nicht, dass plötzlich ALLE kommen. Wer soll das denn bezahlen? Wer soll das denn leisten? Was würde denn dann passieren?

Ja – was genau würde passieren, wenn es uns einfach gut geht?
Was würde passieren, wenn wir einfach nur kriegen, was wir uns wünschen und es uns einfach nur gut geht. Oder sagen wir: besser als jetzt?
Würde es irgendwas beweisen oder für andere verändern, was schlecht oder falsch ist? Würde das automatisch bedeuten, dass dann “alle kommen” und verlangen, dass es ihnen gut oder besser als jetzt geht? Was genau wäre daran schlimm oder falsch oder schlecht für alle, wenn es allen gut oder besser als jetzt geht?
WAS
ZUM
FICK
sollte denn daran so schlimm, schlecht, falsch sein, dass man es mit aller Macht verhindern muss?

Bling bling – da ist der Grund auch schon: Macht
Jene, die darüber bestimmen, wer was wann wie viel erhält, würden nicht mehr mit der Gießkanne umher gehen können, wenn tausende Leute um Wasser bitten (weil es völlig okay ist, sowas Basales wie Wasser zu wollen, weil  man Wasser zum Leben braucht) – sie müssten Wasserhähne, Swimmingpools, Strandzugänge freigeben, die es gibt, jedoch nur limitiert zugänglich sind.

Vor Behörden, die unser Leben verwalten haben wir diese Haltung inzwischen auf jeden Fall. Wir haben Hartz 4 nicht gewählt und haben nie aufgehört nach Wegen in eine Ausbildung oder passende Arbeitsstellen zu suchen. Wir haben nie um mehr gebeten als darum, dem Mindeststandard entsprechend versorgt und abgesichert zu sein und haben selbst darum immer wieder kämpfen müssen. Einfach nur, weil man über Bürokratie schlicht alles limitieren kann, was einen Menschen und sein Leben betrifft. Aus keinem anderen Grund haben wir die letzten paar Jahre so unter Geldnot und Armut gelitten, obwohl wir immer wieder weit über unsere Grenzen hinaus gearbeitet haben.
Deshalb haben wir unseren Sachbearbeiter_innen nie auf den Tisch gekackt, wenn mal wieder was gestrichen, gekürzt, ein- oder abgezogen wurde – sondern immer nur dann, wenn sie so getan haben, als wäre das ein Naturgesetz und keine strukturelle Gewalt, die sie da als ganz neutral objektive Figuren an uns weiterleiten.

Genauso machen wir das jetzt mit den Menschen in der Klinik und der gesetzlichen Betreuung.
Es gibt keinen Grund, sich nicht zu reflektieren, sich auf Voreingenommenheit und falsche Annahmen uns gegenüber zu prüfen – keinen einzigen, außer den, fest davon überzeugt zu sein, im Recht und unfehlbar zu sein, aufgrund einer eigenen Objektivität, Professionalität, Berufs- und Lebenserfahrung, was eine doch zweifelhafte Grundlage darstellen dürfte, da auch diese nur beinhaltet sich selbst die Macht über die Situation zu sichern, indem man sich selbst zum Maßstab macht.

Ich habe dazu neulich erst einen guten TED-Talk gesehen.

Irgendwann heute morgen dachte ich, dass ich vielleicht genau deshalb weinte. Weil es so viel mehr für sich zu erhalten und zu gewinnen gibt, wenn man uns ausgrenzt, unsere Worte ignoriert, den Wahrheitsgehalt dessen, was wir äußern, negiert und uns irgendwie einfach möglichst irgendwohin los wird, als wenn man sich wirklich ernsthaft und offen mit dem auseinandersetzt, wer wir sind und was wir mitbringen.

Das ist so ein Moment in dem sich eine innere Wahrheit bestätigt, nach der wir und alles, was von uns kommt = schlecht und wertlos ist und eine Logik des Geschehens eröffnet, wonach es auch nur so für uns laufen kann, wie es im Moment läuft: absurd, irre, schlimm, schmerzhaft, aufreibend, überfordernd und wir uns nur so fühlen können, wie wir uns fühlen: ausgeliefert, ohnmächtig, wütend, verständnislos, in Todesangst

obwohl es nur ein paar Seiten Papier,  ein paar fremde Personen und unser kleines Leben ist, um das es hier geht.

“Nur”.
Weil ich schon damit klar komme.
Klarkommen muss, egal, ob es wahr ist, oder nicht.

das elternunabhängige Kind

Ich komme gerade vom Jobcenter und habe eine Telefonnummer vom BAföG-Amt im Rucksack. Wenn wir eine Berufsausbildung anfangen, werden wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie wir unseren Lebensunterhalt bestreiten. Ohne die Familie*.
Wie immer in Sachen “Auseinandersetzung mit der Verwaltung unseres Lebens” erlebe ich den Umstand einer noch lebenden und wirtschaftenden Herkunftsfamilie als Fallstrick.

Wir kennen die Optionen des elternunabhängigen BAföG und wir kennen all die anderen Möglichkeiten.
Auf der formalen Ebene ist alles klar.
Wir sind sicher. Wir bleiben sicher.

Aber der Gedanke. Die Erinnerung, dass es sie noch gibt. Viele Kilometer weg von hier. Ohne mich und trotzdem noch “meine Familie*”.
Ganz ehrlich: ich möchte lieber in den Bauch geboxt werden, als diesen Gedanken zu haben. Diese Erinnerung.

Und daneben wieder die Erfahrung in strukturellen Versorgungsoptionen nie ohne die Herkunftsfamilie auftauchen zu können.
Das Jobcenter schaute was von den Eltern zu holen ist. Das BAföG-Amt würde danach schauen wollen. Wenn es um Leistungen vom Landschaftsverband wegen des betreuten Wohnens in Familien geht, wird vielleicht auch danach geschaut.
Für die deutsche Behördenlandschaft sind wir das Kind unserer Eltern.
Das behinderte Kind unserer Eltern.

Wir sind nicht und können auch nirgendwo zur Anerkennung einfordern, dass wir auch das von den Eltern traumatisierte und behindert gemachte Kind waren. Und heute erwachsen sind. Mit dem Wunsch selbstbestimmt, autark und eigenverantwortlich zu leben und zu wirtschaften.

In den letzten Tagen bewegen wir auch unseren Antrag an den FSM in unseren Gedanken und der Wohnung hin und her. Lassen hier was liegen und verstecken dort etwas. Kratzen den ganzen getrockneten Frustschleim von unseren Herzen und registrieren am Ende doch erschreckt das Ausmaß der Verletzung, die all die bürokratischen, allgemein formalen Bezüge unserer Gewalterfahrungen im familiären Bereich hinterlassen (haben).
Geld aus so einem Fond ist nicht, was wir wirklich brauchen. Ist auch nicht, was wir wollen. Obwohl es so viel erleichtern würde, was sonst wiederum nur über mühsam langwierige Ritte auf Amtsschimmeln möglich wäre.

Es ist eine Abkürzung und zwar eine, die uns flauscht und die den Staat flauscht. Wir kommen an wichtiges Zeug – der Staat kommt aus der peinlichen Lage heraus ehemalige Opfer von Gewalt in der Familie strukturell und darüber insgesamt zu benachteiligen, denn da kann ja nun auch immer darauf verwiesen werden: “Wir haben ja Hilfe angeboten, aber irgendwie haben sich nur ein paar gemeldet und das ist ja dann auch nicht unsere Schuld, sondern liegt sicher am Bedarf…”.

Seit Jahren stemmen wir uns mit viel Kraftaufwand dagegen in sogenanntes “parent shaming” zu verfallen, um unserer Herkunftsfamilie nicht so viel Einfluss auf unser Leiden und Kämpfen zuzugestehen. Das ist zu einfach so zu reden. Jedenfalls in unserem Fall. Und dem unserer Geschwister.
Wir hatten noch jede Menge andere Menschen in unserem Kinder- und Jugendleben, die wir verantwortlich machen für das, was uns passiert ist. Und jede Menge beschissene Strukturen mit Auswirkungen, die uns nicht früh genug in gute und bedarfsgerechte Hilfekontexte brachte.

Und ich merke, wie es das System selbst ist, das gerne hätte, dass ich am Ende meine Familie bzw. mein familiäres Umfeld dafür verantwortlich mache, dass es mir heute so geht, wie es mir geht. Damit wir uns nicht umdrehen und das System fragen, warum es denn nicht einfach mehr für Menschen in Abhängigkeitssituationen ermöglicht.
Vielleicht.

Keine Ahnung.
“Das System” ist ja auch ein schwammiges Ding. Es ist ja nicht eine Behörde, oder ein Gesetz.
Es ist ja verboten Menschen zu verletzen. Es ist ja verboten Menschen auszubeuten. Es ist ja verboten geschehen zu lassen, was uns geschehen ist.

Aber Unrecht ist es erst, wenn das System davon weiß. Beziehungsweise: es anerkennt.
Und das geht erst, wenn man hingeht und etwas sagt. Und zwar so, wie es das System einordnen kann.

Auch, wenn man nicht in diese Ordnung passt. Auch, wenn man lieber Schmerzen haben will, als sich den Gedanken und dem Erinnern zu widmen, weil es mit jedem vergehenden Moment darin weniger normal wird und die Welt umstülpt.