Eine neue Versorgungsrealität erschaffen – es liegt bei uns!

Und wieder bin ich dabei, wie jemand mit DIS einen Therapieplatz sucht. Wie jemand mit 40 Psychotherapeut_innen telefoniert und 40 Mal hört: „Nein. Kein Platz.“ und oftmals auch: „DIS kann ich nicht, will ich nicht, mach ich nicht.“
Ich weiß, wie die Person jetzt da sitzt. Das Telefon in der Hand und voll mit dem Gefühl der Ablehnung, das unweigerlich und trotz aller erwachsenen Kompetenz, zu kindlicher Not führt. Wie die gegenwärtige Angewiesenheit auf Unterstützung in das Wiedererleben vergangener Ohnmacht hineinzieht und sich der Kampf um das eigene Leben verstetigt.

Und ich weiß, wie die Angerufenen da sitzen. Das Telefon in der Hand und mit Grenzen konfrontiert, die nicht noch weiter strapaziert werden dürfen, sollen, können. Vielleicht bemüht um Abgrenzung zu der Verantwortung, die mit jeder Anfrage herangetragen wird, weil es keinen anderen Punkt zum Hintragen gibt. Vielleicht irgendwann voll ohnmächtiger Wut auf Strukturen ohne verantwortlichen Menschen. Vielleicht auch ohne jedes Gefühl. Weil man sich an alles gewöhnen kann. Auch Unrecht, Not und Leid, dem keine Abhilfe geschaffen werden kann.

2015 haben wir von der Initiative Phoenix die Versorgungsrealität komplex traumatisierter Menschen in einer Studie (PDF) erfragt.
Aktuell fragen wir wieder. Denn es gab ja eine Reform. Dinge wurden verändert. Aber hat das geholfen? Wir werden sehen.
Was sicher ist: Die Versorgung von Menschen in psychischer Not ganz allgemein ist nicht gewährleistet.
Genauso wenig, wie die Versorgung von kranken Menschen gewährleistet ist. Die Medizin brennt, nachdem die Pflege verbrannt wurde.
Und alle wissen das.

In diesem Jahr gab es so viele kleine und große Aufrufe, etwas für psychisch leidende Menschen zu verändern, wie ich es noch nie erlebt habe. Die Kampagne der deutschen Depressionsliga, #22WochenWarten, war mit 110.522 Unterschriften auf change.org eine der erfolgreichsten. Erfolgreich, weil sie so viel Reichweite hatte – nicht, weil sie etwa mehr erreicht hätte als jede Aktion vor ihr.
Als Aktivist_in frage ich: „Wie haben sie das geschafft?“ Und bin versucht anzunehmen, dass es daran liegt, dass Depressionen leichter sind als (komplexe) Traumafolgestörungen. Weniger stigmatisiert. Leichter zu behandeln. Pille rein, bisschen warten, bisschen Verhaltenstherapie, zur Not ein paar Stromstöße ins Hirn. Am Ende die Erkenntnis: Depressionen kann man überleben. Sehr lange. Sehr produktiv. Und auch sehr aktiv.
Auch aktivistisch.

Aber so einfach ist das nicht. Ist es nie und in diesem Kontext ganz besonders nicht.
Denn die meisten Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen sind depressiv. Ein erheblich großer Anteil in der Kindheit und Jugend sexualisiert misshandelter Menschen bekommt die Depression als erste Diagnose ins Fahrtenbuch ihrer Odyssee um die Rettung des eigenen Lebens. Viele dieser Menschen möchten aber keine Therapie wegen ihrer Depressionen machen. Sie suchen vielleicht einen Platz wegen der Depression – aber sie brauchen sie, weil die komplex traumatisiert sind. Weil sie einen sicheren Raum brauchen, in dem sie sich damit auseinandersetzen (lernen) können. Weil sie Ansprechpersonen brauchen, die einen sicheren Abstand zu ihnen herstellen und halten. Weil sie Sicherheiten brauchen, die ihnen in keinem anderen sozialen Kontext kontinuierlich, professionell fundiert und primär für sie allein angeboten werden. Können. Dürfen. Sollen.

In Deutschland wurde der Bedarf psychotherapeutischer Versorgung zuletzt in den 90er-Jahren … tja … festgelegt. Man könnte aber auch sagen: geschätzt, geraten, zurechtgelegt, angenommen. Denn schon damals war klar, dass man nicht allen Menschen jederzeit und mit jedem Problem gerecht werden würde. Und das hat man hingenommen.
Als behinderte Aktivist_in erkläre ich das mit dem Konzept des Ableismus. Nehme ich an, dass die Idee: „Wer das überleben kann, wird es schon überleben“ stark dabei geholfen hat, diese unzureichend versorgende Struktur zu legitimieren.  Weiß ich, dass Menschen, die nicht(s) (mehr) können, häufig (unbewusst) nicht (mehr) als Menschen gedacht werden, sondern in moderner Manier der weißen Gewalt, als zu verwaltende Masse. „Weiße Gewalt“, damit meine ich das Töten durch Strukturen. Das Morden durch unterlassene Hilfeleistung. Die Folter durch Verwaltungsakte.

Eine Realität, der wir als Gesellschaft nicht genug Rechnung tragen ist, dass am liebsten geholfen wird, wem einem*r am nächsten ist. Am gleichsten. Wir lügen einander darüber an, weil es moralisch falsch ist, so zu handeln. Und wir vermeiden die Auseinandersetzung damit, indem wir Strukturen produzieren, die diese Unmoral an unserer statt durchsetzen. Weil wir denken, wir würden nie brauchen, was andere brauchen. Und schon gar nicht, was DIE brauchen. Die Kranken, die Behinderten, die Anderen.
Und weil wir fürchten, wir würden irgendwann brauchen, was DIE brauchen. Besser irgendwie mangelhafte Strukturen als gar keine, denn auf einander können wir uns ja nicht verlassen. Sollen wir ja auch gar nicht. Müssen wir ja auch gar nicht. Es gibt ja die Möglichkeit, auf professionelle Dienste zurückzugreifen.

Als öffentlich zum Thema DIS, Trauma und Gewalt sprechende Person, werde ich oft gefragt, welche Klinik gut ist. Wie man einen Psychotherapieplatz bekommt. Erlebe oft mit, wie schlimm, schwer, frustrierend, zerstörerisch und auch wie verstörend dieser Prozess ist. Wie elend es Menschen geht, die aus Kliniken kommen, die nicht im Ansatz das eigene Therapiekonzept erfüllen können, weil der Krankenstand hoch oder der Aus- oder Fort- oder Weiterbildungsstand der Behandler_innen und Pfleger_innen zu niedrig ist. Aus Kliniken, in die sie überhaupt nur deshalb gehen mussten, weil sie ambulant keinen Platz bekommen haben. Oder weil die Psychiatrie sie nicht mehr aufnimmt. Ohne Beschluss. Weil niemand sonst sie betreut. Wegen Mangel.
Diese Menschen, die meine Diagnose und in vielen Aspekten auch mein Leben teilen, werden teilweise seit Jahren durch die Mühlen einer Zuständigkeit gedreht, die niemand übernehmen will. Aus meiner Perspektive werden sie gefoltert. Sie sollen aufgeben. Sie sollen sterben. Und können gleichzeitig nichts anderes tun, als sich immer wieder in diese Mühlen zu begeben, wenn sie nicht sterben wollen. Und wer will das schon? Außer nach so einer (erneuten) Folter- und also Gewalterfahrung.

Dies mitzuerleben ist belastend für mich. Manchmal extrem belastend.
Denn die Grenzen, die ich ziehen kann, sind durchsichtig. Ich bin die andere, die versorgte Person. Die das schlechte Gewissen, wegen des Belegens eines Therapieplatzes beiseiteschieben muss und sich in das Versprechen gezwungen hat, etwas mit der durch die Therapie gewonnen Stärke für andere Betroffene in die Welt zu bringen. Etwas mit.zubewegen.
Ich bin die_r Freund_in, die_r durch das viele Wissen um diese Situation, weiß, dass sie_r mit nichts trösten kann. Und manchmal auch will, dass die Untröstlichkeit in dieser Situation als real erkannt wird. Denn es gibt einfach nichts und niemanden, die_r trösten kann, wenn die ganze Welt dein Leiden in Ordnung, weil so normal findet. Niemand sollte darüber jemals getröstet werden können. Niemand. Jemals.

Aktiviert werden sollen sie. Wir. Alle.
Anders machen sollen wir. Raus aus der Blase von Gewaltsicherheiten, rein in die gesamtgesellschaftliche Verantwortungsübernahme. Wer nicht helfen will, muss aufhören, für Hilfebedarf zu sorgen. Das ist die einzige Alternative, die wir haben. Das ist, was wir alle miteinander unabhängig von Strukturen machen können: Verantwortung dafür übernehmen, dass es den Menschen in unserem Leben gut (mit uns) geht. Egal, welche Diagnose sie haben. Egal, wie fähig sie sind. Egal, wie viel wir glauben, davon zu haben.

Die Entscheidung liegt bei uns.
Treffen wir sie!

Reichtum bekämpfen | note on: #IchBinArmutsbetroffen

Gestern habe ich mich zum ersten Mal an #IchBinArmutsbetroffen beteiligt. Als Beitraggeber_in in einem Space, der das Thema „Wishlists in Tweets mit Aktionshastag“ hatte. Zufällig, spontan, weil der Partner die Leute unterstützt, die versuchen die Aktion so lange wie möglich in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu halten. Von mir aus hätte ich mir den Space nicht angehört. Ich kenne solche Debatten als den Anfang vom Ende. Das waren sie bei #NudelnMitKetchup, das sind sie in jeder Gruppe, die im Wachstumsrausch verpasst, dass Community mehr als Macht durch Masse ist. Aber nun lief die Veranstaltung und ich beteiligte mich. Bis ich abgewürgt wurde, wegen des Zeitlimits. Und dann nicht auf die Reaktion des Moderators antworten konnte, weil so viele andere auch noch sprechen wollten.

Hier habe ich dieses Limit nicht. Hier also der Rest dessen, was ich sagen wollte. Und meine Gegenrede auf die Antwort.

Ich bin nicht mehr arm, weil ich einen gut verdienenden Partner habe. Meine Arbeit allein würde mich in einem städtischen Umfeld ohne unterstützende Community, ehrenamtliche Helfer_innen und alternative Konsumoptionen (second hand shops, Tausch- und Leihzirkel etc.) gerade so über Wasser halten.
Für mich bedeutet das: Armut ist relativ auf allen Achsen – und die wenigsten davon sind von „der Politik“ abhängig. Was soll das überhaupt bedeuten: „Die Politik“? „Die Politik muss da was machen“, „Millionen arme Menschen sind ein Zeichen für das Versagen der Politik“
Die Politik ist euer Ziel, ihr wollt, dass „die Politik“ sich dem Thema annimmt – aber was, wenn sie das schon längst tut? Wenn „die Politik“ schon längst richtig dick dabei ist, Armut zu bekämpfen?

Für mich geht in dem ganzen Bewegungsversuch völlig unter, dass die Armut in Deutschland auch politisch gewollt – in einigen Bereichen sogar gebraucht wird, um Reichtum und Macht zu erhalten bzw. zu steigern.
Denn wer Armut bekämpfen will, hat generell zwei Optionen.
Erstens: Arme Menschen werden getötet, denn in ihnen verkörpert sich die Armut. Das ist effizient und passiert in jedem kapitalistischen Land und Deutschland ist da keine Ausnahme.
Die zweite Option ist, Reichtum zu bekämpfen. Doch das wird „die Politik“, wer oder was auch immer sie nun ist, nicht für euch machen.

Man muss schon ein sehr naives Verständnis von Demokratie in einem kapitalistischen Land haben, wenn man annimmt, dass arme Menschen einfach nur genug politisches Gehör brauchen, um bedarfsgerecht versorgt und abgesichert zu werden. Und ein noch naiveres Verständnis von politischer Macht, wenn man annimmt, dass wenn man nur richtig auftritt, das Anliegen richtig aufbereitet, die Not klarmacht – die Ungerechtigkeit, die Unmoral, den Rechtsbruch, die persönlichen Schicksale – dass dann schon das richtige passieren wird.
Als hätten all die Leute, die schon vorher (politisch) gegen Armut gearbeitet haben, einfach verkackt. Als wären die einfach nicht so geil gewesen wie ihr.

Mir erschließt sich auch nicht, warum vom Erfolg des Hashtags allein auf ein politisches Gewicht geschlossen wird, sind es doch Individuen der Twittercommunity, die diesen Erfolg gewissermaßen „erarbeitet haben“. Und zwar mit den klassischen Mitteln einer sozialen Bewegung: (einander) Zuhören, Mitfühlen, Teilen, Austauschen, Mit_gestalten
Soziale Bewegungen lassen häufig unterstützende Communitys entstehen – man sieht doch, wie viele Menschen sich unter diesem Hashtag zusammen tun, welche Verbindungen entstehen, wer wen kennenlernt und so, wenn nicht zu finanziellem, so doch sozialem Kapital kommt. Warum schützt ihr das nicht? Warum macht ihr einen Space zum autoritärem policing eurer eigenen Hashtagnutzer_innen – eurer Community! – statt einen zur Frage, wie ihr euch als bewegte Gruppe stabilisieren könnt? Wie man sich institutionalisieren kann. Wie man Aktionen wie „eine Sorge weniger“ größer machen kann. Wie man Leute, die wegen ihrer Wishlist von Trollen, Hatern und Sozialneidern angegriffen werden, als Community schützen und unterstützen kann.

In meinen Hartzjahren war es das Fehlen einer solchen Community, das mich unter meiner Armut hat leiden lassen. Mit dem wenigen Geld, der fehlenden Perspektive, der Not bin ich immer irgendwie klargekommen. Mit vielen Tränen, unfassbar viel Selbsthass, enormer Wut, doch es ging. Aber das Gefühl, dass alle um mich herum okay damit sind – das hat immer wieder neu etwas in mir gebrochen. Und dabei war mir die politische Aufmerksamkeit auf Leute wie mich irgendwann völlig egal. Mir ging es um meine Nachbar_innen. Die Leute in der Straßenbahn. Meine Ärzt_innen, Therapeut_innen, die Leute, die ich im Park gesehen habe. Die Leute, die im Fernsehen vom „Abrutschen ins Hartz 4“ gesprochen haben, als würde mein Leben am Grunde eines Brunnens stattfinden. Die Leute, die hier von meinem Leben und Denken lesen. Denn das war mein Bezugsrahmen und ist es noch heute.
Es waren nie Fremde, die mir etwas geschenkt oder in der Not geholfen haben – aber es waren und blieben für immer Fremde, die die Hartzgesetze schrieben, die die Sozialgesetzbücher füllen, die Stempel auf meine Anträge knallten.

Ich will nicht darauf hinaus, dass wir Armut nicht als politisches Problem behandeln sollen. Das muss auf jeden Fall passieren – aber die armen Menschen davon zu trennen, halte ich für essenziell.

Alle Menschen können allen Menschen alles geben – wenn alle alles geben. Dafür brauchen wir keine Gesetze und auch kein Rumgeschraube an bestehender Gesetzgebung. Es gibt kein Verbot einander zu helfen oder Wünsche zu erfüllen, keine Strafen für bedingungslose Zuwendung und Fürsorge. Es gibt nur Angst, dass keine_r da ist, wenn man selbst was braucht. Und die wird man nicht los, wenn man sich auf politische Lösungen verlässt.

Oder damit rechnen muss, dass man als „Saboteur_in der Bewegung“ gilt (und ausgeschlossen wird), wenn man die eigene Wishlist da teilt, wo sie von den meisten Menschen gefunden wird.

Rache wäre leichter

Ich hatte keinen Anlass zu glauben, dass R. jemals etwas anderes wollen könnte als Rache. Vielleicht sogar blutige Rache. Zerstörerische, giftige Rache ohne Bewusstsein für ihre Folgen, ohne Willen zur Anerkennung von Ursachen oder der eigenen Verortung in Zeit und Raum.
In den letzten 18 Jahren hatte ich vor allem Hartes, Unnachgiebiges gespürt. Die generalisierte Ablehnung von Erwachsenen, die Abwehr von Nähe, die Vermeidung von allen, die nach ihr zu greifen versuchten, um ein eigenes Ziel zu erreichen. In ihrer Härte war sie nie Godzilla, der durch die Einrichtungen stampft, die sie zerstampft haben – aber schon ein Mädchen mit Todesblick und undurchdringlichem Geist. Ein Dorn, dessen Stich so wehtun sollte, dass er nicht ignoriert werden würde.

Und dann antwortet sie der Therapeutin, dass sie eine Entschuldigung will. Und das Versprechen, dass etwas dafür getan wird, dass sich ihre Geschichte nicht im Leben anderer Jugendlicher wiederholt.
Am Abend zuvor hatte ich schon die Idee in mir bewegt, den Brief zu schreiben, den R. nie schreiben konnte. Dann aber erinnerte ich mich daran, wie es mir nach dem Klinik-GAU ging. Wie unfassbar bitter mich die Erkenntnis traf, dass es den Menschen leider so unendlich egal ist, wie es mir ging, was ich dachte und wie ich gelitten habe, weil sie mich zur alleinverantwortlichen Quelle dieser Gefühle erklären können – und vielleicht auch müssen.

Denn das Schlimme an sogenanntem „institutional betrayal“ ist nie nur, dass Institutionen (Kliniken, (Wohn-)Einrichtungen, Firmen…) manchmal ihre Versprechen brechen, sondern auch, dass sie keine Verantwortung dafür übernehmen. Und dass es niemand von ihnen erwartet. Dass sie nichts und niemand dazu zwingt, wenn ihr eigenes Gewissen, ihre eigenen Werte, ihre Mitarbeiter_innen und Verantwortlichen es schon nicht tun.
Und dass das nur in bestimmten Aspekten problematisiert wird. Gibt es Blutvergießen oder systematische Vernachlässigung, Abrechnungs- oder Steuerbetrug, Etikettenschwindel oder Zwangsüberarbeitung, kann geklagt werden. Gibt es psychische Gewalt, autoritär begründeten Zwang oder Handlungen aufgrund von etwa Sexismus oder anderen *ismen, gibt es diese Möglichkeit einfach nicht. Denn das Wort der Opfer ist weder den Täter_innen noch dem Staat etwas wert, um Unrecht an_zu_erkennen und (Wieder-)Gutmachung zu bieten.
Das verkleinert das Leiden der Opfer nicht. Im Gegenteil kommt dadurch eine Ebene hinzu, die nichts mehr nur mit den konkret Beteiligten zu tun hat, sondern mit dem gesamten sozialen Kosmos. So hätte ich natürlich nach dem Klinik-GAU die Ärztin anzeigen können und mich in ein entwürdigendes – und mich voraussichtlich weiter demütigendes – Justizgemetzel stürzen können, aber die Falschbehandlung passierte durch ein Team unterstützt und von einer Struktur geschützt. Und die wären nicht auch zur Verantwortung gezogen worden, weil Verantwortung in solchen Häusern bis zur Nichtigkeit diffundiert ist. Am Ende kann in diesen Institutionen niemand Verantwortung übernehmen, weil sie niemand alleinig hat oder übernimmt und die kollektive Anerkennung einen Gesichtsverlust bedeuten könnte. Welcher in der Regel deshalb als ehrverletzend empfunden wird, weil man Patient_innen/Kund_innen/Nutzer_innen nicht als gleichwertig anerkennt.

Wir, R., ich und alle, die vor mir von und in Institutionen verletzt wurden, haben Entschuldigungen verdient, da bin ich mir sicher. Aber gewollt habe ich nie eine.
Wirklich aufrichtige Entschuldigungen haben etwas mit Frieden in allen Facetten zu tun. Mit Befriedung von Konfliktgräben, mit Befriedigung von sozialen Grundbedürfnissen und der Wiederherstellung eines friedlichen Miteinanders. Ihre Funktion ist also vorrangig die Veränderung der Qualität des Miteinanders.
Ich aber will nie wieder irgendetwas mit diesen Einrichtungen und ihren Vollstrecker_innen Mitarbeiter_innen zu tun haben. Ich brauche sie nicht, um meine Punkte zu validieren, ich will nicht hören, was sie über meine Punkte zu sagen haben. Ich sehe sie als gesellschaftlich gewollte Werkzeuge der Gewalt und Ausgrenzung, als Zubringer des Kapitalismus und gescheiterten Versuch einer Utopie, die sich ihrer eigenen Ableismen nie bewusst werden wollte. Sie sind Abgrenzungsgegenstand meiner heutigen Lebensrealität geworden und als nichts anderes will ich sie je wieder sehen.

Aber R.s Unnachgiebigkeit betrifft keine Psychiatrie oder Klinik für Psychosomatik. Sie betrifft keine Individuen und zieht keine Grenzen an sich selbst.
R. geht es ums Prinzip. Um eine Ungerechtigkeit, die weder sie noch andere verdient haben und von der sie weiß, dass sie niemandem gewünscht wird.
Das ist so viel schwieriger als Rache, weil es zwei Dinge bedeutet:
Erstens: Kontakt und den Wunsch zum Miteinander
Zweitens: Eine Arbeit, deren Ergebnis nur schwer messbar ist und also in der Regel kaum als Wert geschätzt wird. Was letztlich dazu führen kann, dass schon der erste Punkt nicht zustande kommt.

Unabhängig davon, wie ich es schaffen kann zur Erfüllung ihres Wunsches beitragen, hat er mich berührt. Denn dahinter kann ja kaum mehr als die Annahme stehen, dass man einander grundsätzlich friedlich gegenüber stehen will und dies ein gemeinsamer Wert ist.
Vielleicht war sie nie unnachgiebig uneinsichtig, sondern hatte ganz schlicht – völlig banal und logisch nachvollziehbar – nie die Chance auf ein Miteinander, in dem ihre „untragbare“ Frustration als in einem realen Sachstand begründet anerkannt wurde.
Sie hat Recht und sie weiß das. Sie ist wütend darüber, dass diesem Recht keine Wirkung folgt und weiß, dass ihre Wut abgelehnt wird. Wie sollte sie je nicht für immer und ewig todesfrustriert sein?

Ich weiß noch nicht, was wir jetzt machen. Hab selber Angst vor ihrer Wut, ihrem Frust, weiß ja selbst, dass es mich gibt, weil es sie gab und passierte, was passierte. Frage mich, ob es den Versuch wert ist oder der Sache nötig.

Ein Wunsch nach Rache wär jedenfalls irgendwie leichter. 😅

Hartzjahre

Unsere Betreuerin rief am Dienstag an, um uns zu sagen, dass es noch nichts Neues vom Jobcenter gibt.
Das ist, was sie uns seit August bei jedem unserer Termine sagt. “Ich habe den Antrag, die Anfrage, die Nachfrage, die Forderung geschickt – es gab noch keine Rückmeldung.”

So kennen wir das. Diese boden- wie himmellose Weite des Kontaktes mit der Behörde, die uns die Existenz finanziert. Das Gefühl, mit einer Maschine ohne Ohren zu sprechen. Der Eindruck von Haltlosigkeit, der zur Fassungslosigkeit wird, wann immer dann doch eine Antwort kommt, weil es darin nie um uns, sondern um das System Hartz 4 geht.

Wir beziehen seit bald 15 Jahren Hartz 4. Noch nie waren wir mit Untätigkeitsverhalten der Behörde konfrontiert. Der Schweigestrafe. Danach fühlt sich das für uns an und löst Erinnern an traumatische Erfahrungen aus. Die Bodenlosigkeit wird unendlich. Die Haltlosigkeit zu dissoziativem Erleben. Irgendwann geht es nicht mehr um das Geld, mit dem unsere Existenz finanziert wird, sondern um alles. Leben oder Tod.

Trotz der langen Bezugszeit leben wir nicht prekär. Wir sind arm, ja. Aber wir sind gebildet. Und wir kommen nicht aus der Armut. Unser Habitus ist bürgerlich, typisch für die Mittelklasse. Und wir sind weiß.
Unsere Hartzjahre sind für die meisten weißen Mittelklassenleute Unfairjahre. Realhorror. Boah-das-könnt-ich-nicht-Jahre. Und deshalb könnten unsere Hartzjahre gut in ein Buch passen, das im Feuilleton besprochen wird.

Wir Langzeitarbeitslosen, die dem Klischee vom dummen Ekelfaulenzer nicht entsprechen, sind oft diejenigen, die in Zeitungen zu sehen sind. Deshalb sind wir die, mit denen sich “die Leute” noch am ehesten identifizieren können.

Diese Identifikation stellt sich für uns als hinderlich dar.
Denn wir sind nicht durch einen unfairen Schicksalsschlag, durch Nichtanerkennung unserer ausländischen Bildungsabschlüsse oder bereits chancenlose Eltern im Leistungsbezug. Wir sind Opfer von Gewalt gewesen und schwerbehindert.

2005 waren wir 19 Jahre alt und noch 2 Jahre vom Ausstieg entfernt.
Wir wurden ausgebeutet und verletzt. Betreut, behandelt und so davor bewahrt, uns das Leben zu nehmen. Der Antrag auf Hartz 4 wurde nötig, weil Hartz 4 gerade eingeführt worden war. Wir waren noch in der Jugendhilfe, später in der Eingliederungshilfe. Dass wir kaum lebensfähig waren, das war so überdeutlich klar, aber dieses System hatte schon damals keinerlei andere Vorgänge für Leute wie mich, als den der permanenten Prüfung auf Arbeitsfähigkeit.

Immer wieder waren wir damit konfrontiert, keinerlei Wert für diese Behörde zu haben, weil wir keinerlei Arbeitsfähigkeit vorweisen konnten. “Sie arbeiten weiterhin an ihrer Stabilisierung”, sagten meine ständig wechselnden und dadurch zunehmend gesichtslos werdenden Sachbearbeiter_innen für die aktiven Leistungen.

Und wir stabilisierten uns. Stiegen aus. Begannen zu heilen. Wuchsen aus der Opferrolle in die Überlebendenrolle in die Selbstbestimmung hinein, die unsere Kontexte gewähren können.
Arbeitsfähigkeit war und ist immer ein Teil dessen, worauf wir hingearbeitet haben.
Wir erwarten von unserer Umwelt nicht, dass sie einfach alles für uns bezahlt. Dass wir in irgendeiner Form von der Gesellschaft, die zugelassen hat, dass unsere ersten 21 Lebensjahre so passieren konnten, wie sie es taten, aufgefangen und aus_gehalten werden. Wir empfangen keine Leistungen und danken dem Sozialstaat. Wir bekommen Geld und manchmal fühlt es sich wie damals an, als uns die Leute, die uns verletzten und benutzten Geld dafür auf den Tisch legten. “Mach damit was du willst, Fickstück.”

Unsere Hartzjahre waren noch nie wie in unserer Kindheit. Immer nur wie die Ausbeutungskontexte danach.
Einfach ins Leere zu fassen wie jetzt, ist ganz eindeutig Kindheitstrauma_wieder.er.leben. Keine Ansprechpartner_in zu haben, die irgendetwas verändern kann. Zuständig, ja sogar in der Pflicht ist, zu antworten und sich zu kümmern. Keine Macht zu haben, selbst etwas an der Lage zu verändern, weil die Abhängigkeit so groß ist. Und einzig die Wahl zu haben, sich vom Wohl und Wehe einer weiteren Instanz, nämlich der Justiz, abhängig zu machen, um eventuell vielleicht – mit ungewissem Ausgang, keinerlei Garantie und möglicherweise unangenehmen sozialen Folgen – zu erwirken, dass da etwas passiert.

Man sagt uns, dass das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Erinnert uns daran, dass wir betreut werden, dass wir versorgt sind, auch wenn die Behörde versagt. Versucht, uns die Unterschiede klar zu machen.
Aber darum geht es gar nicht. Das ist nie der Kern unserer Traumatisierungen gewesen. Es ging nie darum, dass uns Menschen verletzt haben oder passiert ist, was passiert ist.
Es geht immer um diese Stille. Diese Leere. Dieses Moment, in dem nichts mehr gespürt werden kann, weil es insgesamt zuviel zu spüren gibt.

Von “unseren Hartzjahren” zu sprechen, bedeutet auch von “unseren Jahren in struktureller Gewalt, die von allen gleichermaßen mitgemacht wird” zu sprechen.
Hartz 4 wird vom Staat finanziert. Wir alle bezahlen Hartz 4. Wir alle bezahlen für die Ausübung struktureller Gewalt durch Jobcenter, Sozial- und Versorgungsämter. Niemand ist unschuldig. Alle sind schuld daran.
Und es ist die gleiche Schuld, wie die an unserem Bluten als Kind, unserer Ausbeutung als Jugendliche_r, der Lebensgefahr, mit der wir bis heute umgehen.

Und, na klar, könnten wir das alles bequemer formulieren. Könnten die Gewalt an uns individualisieren und sagen, dass nur unsere Herkunftsfamilie und Fremde uns verletzt haben. Aber so war es einfach nicht. So ist es einfach nicht.
Gewalt wird gemacht. Auch durch stumme Zeug_innen, die glauben, sie hätten nichts damit zu tun, weil sie weder uns noch die, die an uns zu Täter_innen wurden, kennen.
Das zu benennen, haben wir uns zum Auftrag gemacht. Auch, weil die Menschen in unserem Leben nicht müde werden uns zu sagen, dass sie sehen, wie schlimm das alles ist. Wie unfassbar brutal und ängstigend.
Wir brauchen sie aber nicht nur als mitfühlende Zeug_innen. Die hatten wir schon als Kind. Als Jugendliche. Als junge Erwachsene. Als von-der-Gewalt-Übrige. Und es ist trotzdem passiert. Mit allen Schmerzen, allen körperlichen, wie seelischen Folgen.

Wir brauchen Unterstützer_innen. Brauchen politisches Handeln.
Brauchen, dass die Gewalt an sich anerkannt und in der Konsequenz beendet wird.
Und zwar nicht auf dem leichten Weg durch Reformen mit einem freundlichen Namen, sondern durch die harte, unnachgiebige Debatte um den Wert von Menschenleben, Würde und die Sicherstellung von bedingungsloser Versorgung aller Menschen, mit denen wir zusammenleben. Sei es in unserer Stadt, unserem Bundesland, unserem Land, unserem Staat, unserer Welt.

Wenn es uns wirklich ernst damit ist, niemanden verletzen, demütigen oder sterben lassen zu wollen, dann wird es Wege und Mittel geben, das auch ohne Gewalt zu schaffen. Wenn nicht, dann muss das Grundgesetz umgeschrieben werden. Dann muss sich von der Erklärung der allgemeinen Menschenrechte distanziert werden. Dann braucht es das Bekenntnis zur Täter_innenschaft. Zur Gewalt, zur Zerstörung.

An dieser Stelle darf es kein Spektrum mehr geben, in dem man sich mit Feigenblatt und 3-Affen-Ignoranz positionieren kann. Denn aufgrund genau dieser Optionen entstehen Leben wie unseres. Erfahrungen und Kontexte, in denen normal ist, was wir überlebt haben und so viele andere Menschen Tag für Tag nicht überleben können. Aus genau diesem Umstand heraus, gibt es überhaupt nur die Chance zu glauben, es wäre genug, vor allem auch Langzeit-Hartz4-Überlebenden, zu sagen, dass man sieht und glaubt, wie schlimm das alles ist.
Dass es reicht Kinderschutzkonzepte zu etablieren. Dass es reicht, Seenotrettung nicht zu illegalisieren. Dass es reicht, sich daran zu erinnern, dass wir alle Menschen sind. Dass es reicht, wenn wir nicht die AfD wählen. Dass es reicht, ein Mal am Tag die Tagesschau zu gucken. Dass es reicht, ein absolut zu bewahrendes Existenzminimum für jede_n Einzelne_n zu definieren. Dass es reicht gegen Kapitalismus zu sein.

Das tut es nämlich einfach nicht.
Man muss sich fragen, was man statt der Gewalt will.
Wenn wir unsere Menschen fragen, was sie sich für uns statt Hartz 4 wünschen, dann antworten sie, dass sie uns einen Job wünschen. Geld. Sicherheit. Autonomie. Dass wir leben können wie sie.
Und wir fühlen uns schlecht dabei. Denn wir wollen Sicherheit und Autonomie – aber ohne jede Bedingung dafür erfüllen zu müssen. Wir wollen, was wir schon als Kind so unbedingt gewollt und gebraucht haben – was alle Kinder so unbedingt wollen und für ihr Überleben brauchen: bedingungsloses Miteinander. Fürsorge, Versorgung, Stimulation.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der es das nicht gibt. In der alle jeden Tag in dem Wunsch nach Bedingungslosigkeit enttäuscht werden und manchmal so sehr, dass man sich über kleinste Stückchen davon so sehr freut, dass es eine Welt wird.
Wir finden das traurig. Denken, dass Menschen das besser hinkriegen könnten.
Wenn sie wollten.

Und wenn sie könnten, wie sie wollten.
Bedingungslosigkeit geht aber nur mit Bedingungslosigkeit.
Und genau die gibt es in unserer Kultur, unserem Miteinander gerade nicht.

Wir sind am Arsch.

Hello and thanks for coming to my TedTalk

Lesung aus „aufgeschrieben“ und Austausch zu Gewalt, Strafe und Gerechtigkeit

 

Wir waren am 17. Oktober nach Wien eingeladen worden, um dort im schönen Café „Fett und Zucker“ aus unserem Buch „aufgeschrieben“ zu lesen und in einem Austausch über Gewalt und die Beziehungen zu Täter_innen zu sprechen.

Geworden ist daraus dann auch ein Austausch zu Ideen von Gerechtigkeit nach Gewalt, der begleitet von Kühlschränken, Geschirrspülern und anderen kompressorbetriebenen Gerätschaften, einen reichhaltigen Debattenbeitrag leisten kann.

 

shownotes:

 

 


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Fundstücke #31

“Ich bin es so müde, leid und weh.”, denke ich und öffne ein anderes Fenster auf meinem Laptop, als das des Mailprogramms, um der Idee der Therapeutin nachzukommen, eine Nachricht an die gesetzliche Betreuerin zu schreiben.

Ich bin so nah dran die Kontrolle zu verlieren. Mich zu verlieren. Den Plan zu verlieren. Die Linie, für die wir uns vor so vielen Monaten entschieden haben und trotz alle dem und alle dem nicht abgewichen sind, aus den Augen zu verlieren und zu vergessen, warum wir uns gegen den Tod entschieden haben. Warum wir uns für die Therapie, die Forschungsreise in unseren inneren Kosmos hinein entschieden haben.

Es ist August und wir sind keine Hartz 4 –Empfängerin mehr.
In 3 Wochen startet die schulische Berufsausbildung und wir haben noch keinen positiven Bafög-Bescheid erhalten.

Wir haben kein Geld und der Antrag für Geld liegt in der Stadt der Herkunftsfamilie. Wo man sich um Datenschutz bemüht, wie man unserer gesetzlichen Betreuerin versichert. Die das glaubt, denn sie hatte ja noch nie einen Fall in dem so obskure Dinge wie bei uns gelaufen sind.
Nun hat sie diesen Fall und weiß es nicht einmal. Weiß nicht, wie greifbar das für uns ist. Weiß nicht, was es für uns bedeutet, wenn sie uns erzählt, was man ja alles erstmal noch mit den Eltern besprechen muss, damit dieser Antrag durchgeht – obwohl wir absichtlich einen Antrag auf elternunabhängiges Bafög gestellt haben. Absichtlich in unserer Stadt. Absichtlich mit genau den Begründungen, die wir hinzugefügt haben.

Ich bin es so müde immer wieder die Erste zu sein, die man ans Messer liefert, um zu prüfen, wie scharf es denn tatsächlich ist. Wie weh es denn tatsächlich tut. Wie leid es hinterher tun muss, diesen Fehler begangen zu haben.

Nach 15 Jahren Verwaltungsobjekt-sein wissen wir, wie Behörden funktionieren. Wie einfach und simpel das System dieses Gewaltausübungsapparats gestrickt ist.
Man kann uns nicht mehr betreuen oder verwalten, ohne, dass wir wissen und fühlen, dass und in welchem Ausmaß wir entmenschlicht werden.
Man kann uns nicht mehr sagen, dass manche Dinge einfach nicht passieren können.
Man kann an uns keinen schlechten Job mehr machen, ohne, dass wir das merken und entsprechend beantworten.

Ich bin es so weh, mich für meinen Selbsterhalt schämen zu müssen, damit andere ihre Vorgehens- und Umgangsweisen mit uns und vielen anderen Menschen als natürlicher, gerechtfertigter, richtiger und wichtiger sehen können.

Es tut mir leid um mich, um uns, um das, was wir geschafft haben, wenn ich den Krieg gegen die Zweifel an der Richtigkeit des Kontaktabbruchs, des Ausstiegs, all den ausgetragenen Kämpfen miteinander, zu verlieren drohe, weil es mehr Anlass dazu gibt (Mit-)Täter_innenwahrheiten bestätigt zu sehen, als eigene.

Ich will die Verwaltungsvorgänge, die die Schutzbelange von Menschen, die zu Opfern von Gewalt in der Herkunftsfamilie wurden, umfänglich berücksichtigen.
Ich will die generelle Erlaubnis zur Einzelfallentscheidung für Menschen, die zu Opfern von Gewalt in der Herkunftsfamilie wurden.
Ich will das komplette, permanent aktualisierte Handbuch mit dem Leitfaden für Menschen, die zu Opfern von Gewalt in ihrer Herkunfts- oder eigenen Familie wurden, um sich an jedem Ort und in jeder – wirklich jeder! – Notlage sichern und versorgen zu können.

Ich bin es müde – ich bin es leid – ich bin es weh, immer wieder aus eigener Betroffenheit heraus solche Forderungen zu stellen, als sei ich die Einzige, für die das relevant ist. Als sei ich die Einzige, in deren Leben geschehen ist, was geschehen ist und überlebt wurde.

Ich bin es müde, leid und weh so hilflos, ausgeliefert und ohnmächtig darauf hoffen zu müssen, dass uns niemand aus Versehen umbringt, nachdem wir so hart um so viel Lebenszeit für uns gekämpft haben.

Ich bin es müde, leid und weh, als immerwährend letzten Schluss zu haben, dass man eine Existenz, wie meine, tot einfach unkomplizierter verwalten kann.

“nur”

Vielleicht war es eine Frage der Zeit. Vielleicht war es ein logischer Zwang. Vielleicht ist es ausgleichende Gerechtigkeit.

Nach ein paar Tagen, in denen wir uns NakNak* wieder und einander im Innen in kleinen Sprossen angenähert haben und alles danach aussah, als müssten wir nur warten, verwässerten mir Zeit, Raum und Lauf der Dinge.
Wir waren verabredet, hatten einen Plan und das Letzte was ich sicher weiß ist, dass wir einkaufen gegangen waren.
Dann starb ich einen Tod bei dem mir alle Luft aus dem Brustkorb gestoßen wurde und schaue 21 Stunden später einem Zug am Bahnhof Leer hinterher. Ich bin und bin nicht. Alles ist okay, es ist nur weit weg, seltsam schmerzlich und außerhalb von Zeit und Raum. Dann öffne ich unseren Briefkasten. Weil wir so nach Hause kommen. Immer. NakNak* ausziehen, schütteln lassen, Keks, aufschließen, Briefkasten prüfen, Treppen hoch, Leine und Geschirr an den Haken hängen, Wohnung aufschließen, NakNak* trinkt was und geht auf ihren Platz, während wir die Schuhe ausziehen und ins Regal stellen.
Wenn die Tür hinter uns zu ist, dann sind wir da.

Wenn die Tür hinter uns zu geht, sind wir sicher.
So dachten wir jedenfalls in den letzten paar Jahren. Beziehungsweise – dachten wir irgendwann nicht mehr, denn so läuft das, wenn man sich sicher fühlt. Man hat nicht mehr die Angst, die eine_n dazu bringt, sich zu vergegenwärtigen wie gefährdet man tatsächlich ist.

Ich öffnete die Post von unserer gesetzlichen Betreuerin und spürte direkt, wie sich meine Ränder erneut aufzuweichen begannen.
Unser Bafög-Antrag entwickelt sich derzeit in einen unsere Sicherheit massiv gefährdenden Selbstläufer, während unsere gesetzliche Betreuerin in ihrem Schreiben klingt, als hätten wir ihr nie jemals irgendwas von unserer Ausstiegszeit, unseren Versuchen so abgetrennt wie möglich zu unserer Herkunftsfamilie* zu sein oder den Wünschen in den nächsten Jahren eine komplette Anonymisierung vornehmen zu lassen. (Es klingt aber nur so – im Kontakt ist ihr der Umfang des Problems durchaus klar)
Der geänderte Klinikbericht lässt eine Einstellung uns gegenüber durchblicken, die uns an einer Stelle erschreckt und an einer anderen Stelle angewidert abstößt.

Erneut stehe ich nach einem Tag, der für viele andere Menschen nicht einmal im Ansatz nachfühlbar ist, mit einem Stoß Papier in der Hand und fühle mich maximal ausgeliefert, allein, ohnmächtig und schutzlos. Erneut. Schon wieder. Again. Again. Again.
Obwohl OBWOHL und trotz alle dem und alle dem

Ich spreche der Therapeutin auf die Mailbox. Schreibe ihr später, dass sie nicht anrufen braucht und merke noch später, dass ich auf meinen Standardsatz zurückgegriffen habe: “Ich komme schon klar.”.
Ich rufe den Begleitermenschen an und versuche mich in eine Form zu bringen, bis er zurückrufen kann.

Mit dem Begleitermenschen über unsere bürokratische Hölle of the doom zu reden ist neu und ok. Wir verabschieden uns und ich habe einen Handlungsablaufplan für den nächsten Tag. Und das Gefühl, dass jemand mein Drama daran auf der allgemeinen Ebene verstanden hat.
Wie das ist, die Person zu sein, die alles wissen soll, weil sie alles wissen muss, denn es geht ja um sie, doch genau das nicht tut, weil ihre Situation so komplex, so vereinzelfallt und unklar ist, dass es nicht geht.
Am Ende glaube ich sogar, dass er der Einzige ist, der verstanden hat, dass wir uns genau deshalb für eine gesetzliche Betreuung entschieden haben. Während unsere gesetzliche Betreuerin von sich sagt, sie sähe sich nur als bessere Sekretärin für uns und damit erneut das Kernproblem und seine Aufbereitung bei uns lässt, dessentwegen wir sie brauchen.

Gegen Mitternacht liege ich in einer Lavendelwolke im Bett und merke, dass ich weine, ohne zu weinen.
Da ist kein Gedanke daran wie ungerecht doch die Welt zu uns ist, oder wie gemein das ist, dass es für uns erneut so scheint, als ginge es für uns einfach nie ohne Extraschleifen, missachtete Kommunikationsprobleme und diesen einen Schmerz – da ist einfach nur der Gedanke: “Aber ich hab doch gesagt…”

Ich habe gesagt, was gefährlich für uns ist und warum.
Ich habe gesagt, was in der Klinik schwierig ist und warum.
Ich habe gesagt, was genau ich von Menschen, die mir ihre Hilfe anbieten, möchte und warum.
Ich habe gesagt, was wir leisten können und warum wir was brauchen, um das auch zu können.
Ich habe gesagt, was ich denke und warum.
Ich habe gesagt, was ich fühle und warum.

Ich suche die Verantwortung für das Versagen der Kommunikation zwischen mir und anderen Menschen nachwievor bei uns allein und komme in einen Zwiespalt, sobald mir andere Menschen, wie der Begleitermensch sagen, dass zu einem Gespräch immer mindestens zwei Personen gehören. Dass andere Personen andere Dinge verstehen können, als die die man sagt und, dass es immer wieder darum geht zueinander zu finden, wenn eine Person sagt, dass sie missverstanden wurde.
Der Knaller ist, dass er das für jedes Gespräch meint. Auch für Gespräche zwischen “kranken” und “behandelnden” Menschen und Gespräche zwischen Menschen, die einen Hilfsauftrag an andere Menschen haben.

Wieder berühre ich das Moment, in dem ich darauf beharren will, dass die Behandler_innen in der Klinik ein bereits vor unserer Aufnahme bestehendes Mindset von uns hatten (und haben) und wir hätten sagen, machen, sein können, was und wie auch immer, um das Ergebnis zu kriegen, mit dem wir jetzt, mit all seinen inneren und äußeren Konsequenzen, die wir für uns im Leben haben, zurecht kommen müssen.
In diesem Moment geht es nicht um Schuld – es geht um Gewalt im Sinne einer Macht-Ohnmacht-Dynamik, aus der wir nicht können, weil wir ohnmächtig sind und diese Menschen nicht müssen (nicht einmal müssen wollen), weil sie bereits (definitions- und deutungs)mächtig sind.

Wieder sehe ich uns in einem Moment, in dem ich darüber verzweifle, dass es für die Gefahrenlage von Menschen, die Opfer organsierter Gewalt wurden, weder Gespür noch Sinn noch Gedanken gibt. Wie wenig es braucht, um jemandem mit einem einzigen Beschluss, einer einzigen Fehleinschätzung, von “den Umständen entsprechend sicher” zu “Gefahr für Leib und Leben” zu schubsen.
Es brauchte in unserem Fall nur zu wenig Kapazitäten und den Wunsch nach weniger Arbeit, weniger Aufwand, weniger Beunruhigung. Mehr nicht.

In unserem Fall hat es übrigens auch nie mehr als das gebraucht. Die Verwaltung unseres Lebens war einfach immer schon ein bürokratischer Höllenschlund aus Zuständigkeiten, Einzelfallentscheidung und special Überschneidungen und nie hatte jemand genug Kapazitäten sich Klarheit zu beschaffen. Durch die Bank weg hat man in den letzten 15 Jahren das Gießkannenprinzip angewandt und einzig uns damit immer wieder vom Regen in die Traufe geschickt.
Trotz der Einblicke, die wir bisher in die Arbeit von in einer Behörde arbeitenden, sozialpädagogisch betreuenden und psycho_therapeutisch behandelnden Menschen haben durften, sind wir nicht bereit, die immer wieder eingenommene und uns vermittelte Opfer-der-Bürokratie/des Konzepts/der Klinik/Einrichtungs(hierarchie/geschichte/teams)-Position anzuerkennen.

Und seit dem Erlebnis in der Klinik gehen wir auch davon aus, dass an vielen Stellen von reaktivem Nihilismus ausgegangen werden muss, wo man auf den ersten Blick Unwissenheit oder Unbewusstheit vermutet oder eine Entwicklung zum Negativen™ aufgrund gleichsam schwerwiegenden Erfahrungen (mit dem bürokratischen/konzeptionellen/zwischenmenschlichen (Team) System).
“Reaktiver Nihilismus” meint an dieser Stelle nichts weiter als: “Nee – also XY machen wir jetzt hier nicht – weil wir darin keinen Nutzen (für uns) sehen (egal, ob die Klient_innen oder deren Angehörige oder Helfer_innen davon profitieren könnten).”, nachdem es Schwierigkeiten, Kränkungen, mehr Aufwand als sonst gab.
(Im Schreiben denke ich gerade, dass die Annahme eines reaktivem Nihilismus noch halbwegs moderat ist – ich könnte schließlich auch von absurd irrationaler Ignoranz, Selbstherrlichkeit oder NARZISSMUS ^^ ausgehen. Aber da endet dann doch der Einblick und das Verstehen der Umstände und entsprechend pfeifen wir uns davon zurück, um fair zu bleiben.)

Das Ding ist: Bürokratie und Konzept ist kein Körper und kein eigener Geist
Weder das Eine noch das Andere, ist in der Lage sich weiterzuentwickeln oder anzupassen, wenn nicht Menschen sie weiterentwickeln und anpassen. Dazu gehört nervenaufreibendes Prozessieren, schwere Arbeit, harte Entscheidungen und selbstlose Reflektion – also richtig unbequeme Tätigkeiten, die weh tun, für die sich niemand bedankt und die einem im Fall des Falls nicht einmal selbst irgendwann oder jemals selbst etwas nutzt oder einbringt.

Wir sind die Letzten, die Menschen dafür verurteilen das nicht leisten zu können oder zu wollen. Aber wir sind auch die Letzten geworden, die Menschen, die uns damit schaden und gefährden, die Hand auf die Schulter legen und sagen: “Ist schon okay so.”.
Diese Zeiten sind vorbei.

Sie sind vorbei, weil wir selbst das immer wieder bei Helfer_innen gemacht haben. Wir schluckten unsere Not runter und sagten ihnen: “Ist schon okay so. Ich bin einfach ein schwerer/komplexer Fall. Schonen Sie ruhig ihre Kräfte für sich und jemand, di_er Ihren Einsatz wirklich wert erscheint. Ja, Sie müssen nicht für mich leiden, indem Sie irgendwas machen, das ihrer Haltung zu mir/dem Konzept der Klinik/den Richtlinien ihrer Institution widerspricht – bitte nein – Sie müssen Ihren Job nicht zu 100 unbefriedigenden unbeliebt machenden Prozenten machen – 40 für Sie erfüllende, sie beliebt lassende und auch noch gut schlafen lassende Prozent sind immerhin auch Anlass immer weiter zu machen und noch ganz vielen mehr Menschen als mir zu helfen.”.

Wir haben heute die Haltung, dass wir anerkennen, dass so ein Job als Psychotherapeutin in einer Klinik oder als Sozialpädagogin in einer Einrichtung oder als Behörden-Johnny irgendwo Anträge abzustempeln, kein einfacher Job ist, der seine spezifischen Spuren in den Seelen der Menschen, die sie machen hinterlässt. Aber es ist ein Job, der gewählt wurde. Ein Job, der bezahlt wird. Ein Job, der gewisse Leistungen schlicht mal abverlangt. Ein Job, der auch Teil des Systems ist, unter dem man leiden kann, vor dem man sich ohnmächtig fühlt und das dennoch nie so unabänderlich ist, wie es erscheint, weil man verdammt noch mal selbst das System mitgestalten kann und meiner Ansicht nach auch sollte.

Auch ein Grund von uns die ambulante Betreuung aufzuhören – ständig hat man sich mit uns über die Bedingungen gesprochen, die ach so nervig, ach so umständlich, ach so irre an den Realitäten vorbei gingen. In den letzten zwei Betreuungsjahren verging kein Termin, an dem wir nicht da standen und die Hand auf die Schulter einer Betreuer_in gelegt haben, um zu sagen: “Ist schon okay so (kannst früher aus dem Termin mit mir, um mal mehr Zeit mit deinem Kind zu haben/brauchst dich nicht tiefer mit mir befassen/brauchst dich nicht mit meinem Kram belasten…)”

Um einem Missverstandenwerden vorzubeugen: Wir glauben nicht, dass solche Gesten und Handlungen falsch sind. Für uns war es mitunter sogar hilfreich und wertvoll zu merken, dass unsere Betreuer_innen und Helfer_innen auch Kram haben und wir nur einen Anteil ihres Lebens mit ihnen teilen – aber:
Wir waren im frei gewählten, bezahlten, leistungsbezogenen Anteil ihres Lebens.
Wir hatten nur deshalb miteinander zu tun, weil sie an und mit uns eine Leistung erbringen sollten und dieser Aspekt ging nach und nach völlig unter. Zum Einen, weil wir Probleme damit haben Hilfen anzunehmen und zum Anderen, weil es anstrengend, problematisch und was weiß ich nicht noch alles war und ist, uns passende und ausreichende Hilfen zu organisieren.

Es ist leicht für diese Menschen den Kopf zu senken und zu vertreten, dass wir einfach einer dieser Fälle sind, für die es kein Netz gibt. Schulterzucken, Demut spielen und exakt was nicht tun? Genau: ein Netz machen oder helfen ein Netz zu stricken
Passivität und demütige Systemkonformität wird belohnt. Entlohnt sogar. Aktivität im Sinne derer, denen man Hilfe zugesichert hat, nicht, denn dafür gibts keine Abrechnungsnummer, keine Hast-fein-gemacht-Kekse vom System und am Ende hat man da vielleicht nicht mal irgendwas special super mega Gutes für eine_n Klient_in erschaffen, sondern “nur” das gleiche Niveau wie das, auf dem alle anderen™ sind. “Nur” eine kleine Entlastung. “Nur” eine kleine Insel des Okayen. “Nur” ein Moment des Durchatmens. Etwas, wovon “nur” diese Klient_innen etwas haben.

Gestern Abend hatte ich auch den Gedanken, dass unsere Lage auch deshalb immer wieder so ist, wie sie ist, weil in unserer Gesellschaft, in unserer Kultur vieles limitiert ist – obwohl es keinerlei praktischen Nutzen außer Machtausübung hat.
Das ist, was mich an “mein Arzt glaubt nicht an rituelle Gewalt”, an “der OEG-Gutachter glaubt nicht an organisierte Gewalt”, an “meine Krankenkassengutachterin glaubt nicht an komplexe Traumatisierungen” schon immer so kirre macht, weil es verdammt nochmal nicht darum geht, was jemand glaubt oder nicht glaubt, sondern darum, dass diese Leute ihren Job beschissen machen, weil sie ihre Annahmen nicht zu überprüfen und evtl. zu revidieren bereit sind (genauso wie Behandler_innen, Verbündete und Helfer_innen mitunter nicht dazu bereit sind, weil ihnen Ideen von großen weltweiten Netzen des organisierten Horrors besser ins Weltbild passen, als selbstunsichere Klient_innen, die Gewaltgeschichten erfinden oder fantasieren, um sich der Behandlung sicherer zu fühlen – gibts selten – gibt es aber und ist wichtig zu prüfen, so schmerzhaft, kränkend und verunsichernd das nun einmal ist).

Die Limitierung beginnt oft schon der Frage, wer was wann wie viel haben darf und endet in der vorweggenommenen Prävention von Gültigkeit für alle.
Begrenzt wird wer wann wie geschützt wird. Begrenzt wird Hilfe, genauso wie die Definition dessen, was Hilfe letztlich ist.
Nicht, dass plötzlich alle kommen und das Gleiche wollen. Nicht, dass plötzlich ALLE kommen. Wer soll das denn bezahlen? Wer soll das denn leisten? Was würde denn dann passieren?

Ja – was genau würde passieren, wenn es uns einfach gut geht?
Was würde passieren, wenn wir einfach nur kriegen, was wir uns wünschen und es uns einfach nur gut geht. Oder sagen wir: besser als jetzt?
Würde es irgendwas beweisen oder für andere verändern, was schlecht oder falsch ist? Würde das automatisch bedeuten, dass dann “alle kommen” und verlangen, dass es ihnen gut oder besser als jetzt geht? Was genau wäre daran schlimm oder falsch oder schlecht für alle, wenn es allen gut oder besser als jetzt geht?
WAS
ZUM
FICK
sollte denn daran so schlimm, schlecht, falsch sein, dass man es mit aller Macht verhindern muss?

Bling bling – da ist der Grund auch schon: Macht
Jene, die darüber bestimmen, wer was wann wie viel erhält, würden nicht mehr mit der Gießkanne umher gehen können, wenn tausende Leute um Wasser bitten (weil es völlig okay ist, sowas Basales wie Wasser zu wollen, weil  man Wasser zum Leben braucht) – sie müssten Wasserhähne, Swimmingpools, Strandzugänge freigeben, die es gibt, jedoch nur limitiert zugänglich sind.

Vor Behörden, die unser Leben verwalten haben wir diese Haltung inzwischen auf jeden Fall. Wir haben Hartz 4 nicht gewählt und haben nie aufgehört nach Wegen in eine Ausbildung oder passende Arbeitsstellen zu suchen. Wir haben nie um mehr gebeten als darum, dem Mindeststandard entsprechend versorgt und abgesichert zu sein und haben selbst darum immer wieder kämpfen müssen. Einfach nur, weil man über Bürokratie schlicht alles limitieren kann, was einen Menschen und sein Leben betrifft. Aus keinem anderen Grund haben wir die letzten paar Jahre so unter Geldnot und Armut gelitten, obwohl wir immer wieder weit über unsere Grenzen hinaus gearbeitet haben.
Deshalb haben wir unseren Sachbearbeiter_innen nie auf den Tisch gekackt, wenn mal wieder was gestrichen, gekürzt, ein- oder abgezogen wurde – sondern immer nur dann, wenn sie so getan haben, als wäre das ein Naturgesetz und keine strukturelle Gewalt, die sie da als ganz neutral objektive Figuren an uns weiterleiten.

Genauso machen wir das jetzt mit den Menschen in der Klinik und der gesetzlichen Betreuung.
Es gibt keinen Grund, sich nicht zu reflektieren, sich auf Voreingenommenheit und falsche Annahmen uns gegenüber zu prüfen – keinen einzigen, außer den, fest davon überzeugt zu sein, im Recht und unfehlbar zu sein, aufgrund einer eigenen Objektivität, Professionalität, Berufs- und Lebenserfahrung, was eine doch zweifelhafte Grundlage darstellen dürfte, da auch diese nur beinhaltet sich selbst die Macht über die Situation zu sichern, indem man sich selbst zum Maßstab macht.

Ich habe dazu neulich erst einen guten TED-Talk gesehen.

Irgendwann heute morgen dachte ich, dass ich vielleicht genau deshalb weinte. Weil es so viel mehr für sich zu erhalten und zu gewinnen gibt, wenn man uns ausgrenzt, unsere Worte ignoriert, den Wahrheitsgehalt dessen, was wir äußern, negiert und uns irgendwie einfach möglichst irgendwohin los wird, als wenn man sich wirklich ernsthaft und offen mit dem auseinandersetzt, wer wir sind und was wir mitbringen.

Das ist so ein Moment in dem sich eine innere Wahrheit bestätigt, nach der wir und alles, was von uns kommt = schlecht und wertlos ist und eine Logik des Geschehens eröffnet, wonach es auch nur so für uns laufen kann, wie es im Moment läuft: absurd, irre, schlimm, schmerzhaft, aufreibend, überfordernd und wir uns nur so fühlen können, wie wir uns fühlen: ausgeliefert, ohnmächtig, wütend, verständnislos, in Todesangst

obwohl es nur ein paar Seiten Papier,  ein paar fremde Personen und unser kleines Leben ist, um das es hier geht.

“Nur”.
Weil ich schon damit klar komme.
Klarkommen muss, egal, ob es wahr ist, oder nicht.

das elternunabhängige Kind

Ich komme gerade vom Jobcenter und habe eine Telefonnummer vom BAföG-Amt im Rucksack. Wenn wir eine Berufsausbildung anfangen, werden wir uns damit auseinandersetzen müssen, wie wir unseren Lebensunterhalt bestreiten. Ohne die Familie*.
Wie immer in Sachen “Auseinandersetzung mit der Verwaltung unseres Lebens” erlebe ich den Umstand einer noch lebenden und wirtschaftenden Herkunftsfamilie als Fallstrick.

Wir kennen die Optionen des elternunabhängigen BAföG und wir kennen all die anderen Möglichkeiten.
Auf der formalen Ebene ist alles klar.
Wir sind sicher. Wir bleiben sicher.

Aber der Gedanke. Die Erinnerung, dass es sie noch gibt. Viele Kilometer weg von hier. Ohne mich und trotzdem noch “meine Familie*”.
Ganz ehrlich: ich möchte lieber in den Bauch geboxt werden, als diesen Gedanken zu haben. Diese Erinnerung.

Und daneben wieder die Erfahrung in strukturellen Versorgungsoptionen nie ohne die Herkunftsfamilie auftauchen zu können.
Das Jobcenter schaute was von den Eltern zu holen ist. Das BAföG-Amt würde danach schauen wollen. Wenn es um Leistungen vom Landschaftsverband wegen des betreuten Wohnens in Familien geht, wird vielleicht auch danach geschaut.
Für die deutsche Behördenlandschaft sind wir das Kind unserer Eltern.
Das behinderte Kind unserer Eltern.

Wir sind nicht und können auch nirgendwo zur Anerkennung einfordern, dass wir auch das von den Eltern traumatisierte und behindert gemachte Kind waren. Und heute erwachsen sind. Mit dem Wunsch selbstbestimmt, autark und eigenverantwortlich zu leben und zu wirtschaften.

In den letzten Tagen bewegen wir auch unseren Antrag an den FSM in unseren Gedanken und der Wohnung hin und her. Lassen hier was liegen und verstecken dort etwas. Kratzen den ganzen getrockneten Frustschleim von unseren Herzen und registrieren am Ende doch erschreckt das Ausmaß der Verletzung, die all die bürokratischen, allgemein formalen Bezüge unserer Gewalterfahrungen im familiären Bereich hinterlassen (haben).
Geld aus so einem Fond ist nicht, was wir wirklich brauchen. Ist auch nicht, was wir wollen. Obwohl es so viel erleichtern würde, was sonst wiederum nur über mühsam langwierige Ritte auf Amtsschimmeln möglich wäre.

Es ist eine Abkürzung und zwar eine, die uns flauscht und die den Staat flauscht. Wir kommen an wichtiges Zeug – der Staat kommt aus der peinlichen Lage heraus ehemalige Opfer von Gewalt in der Familie strukturell und darüber insgesamt zu benachteiligen, denn da kann ja nun auch immer darauf verwiesen werden: “Wir haben ja Hilfe angeboten, aber irgendwie haben sich nur ein paar gemeldet und das ist ja dann auch nicht unsere Schuld, sondern liegt sicher am Bedarf…”.

Seit Jahren stemmen wir uns mit viel Kraftaufwand dagegen in sogenanntes “parent shaming” zu verfallen, um unserer Herkunftsfamilie nicht so viel Einfluss auf unser Leiden und Kämpfen zuzugestehen. Das ist zu einfach so zu reden. Jedenfalls in unserem Fall. Und dem unserer Geschwister.
Wir hatten noch jede Menge andere Menschen in unserem Kinder- und Jugendleben, die wir verantwortlich machen für das, was uns passiert ist. Und jede Menge beschissene Strukturen mit Auswirkungen, die uns nicht früh genug in gute und bedarfsgerechte Hilfekontexte brachte.

Und ich merke, wie es das System selbst ist, das gerne hätte, dass ich am Ende meine Familie bzw. mein familiäres Umfeld dafür verantwortlich mache, dass es mir heute so geht, wie es mir geht. Damit wir uns nicht umdrehen und das System fragen, warum es denn nicht einfach mehr für Menschen in Abhängigkeitssituationen ermöglicht.
Vielleicht.

Keine Ahnung.
“Das System” ist ja auch ein schwammiges Ding. Es ist ja nicht eine Behörde, oder ein Gesetz.
Es ist ja verboten Menschen zu verletzen. Es ist ja verboten Menschen auszubeuten. Es ist ja verboten geschehen zu lassen, was uns geschehen ist.

Aber Unrecht ist es erst, wenn das System davon weiß. Beziehungsweise: es anerkennt.
Und das geht erst, wenn man hingeht und etwas sagt. Und zwar so, wie es das System einordnen kann.

Auch, wenn man nicht in diese Ordnung passt. Auch, wenn man lieber Schmerzen haben will, als sich den Gedanken und dem Erinnern zu widmen, weil es mit jedem vergehenden Moment darin weniger normal wird und die Welt umstülpt.

betroffene Profis #1

2001 war ich eine 14 jährige, die aus der kinder- und jugendpsychiatrischen Station eines Uniklinikums in eine Wohngruppe für Jugendliche mit psychiatrischer Diagnose entlassen wurde und darüber nachdachte, ob Psychologin zu werden, vielleicht etwas für sie wäre.
Viele meiner damaligen Mitpatient_innen hatten nach ihrer Entlassung diese Idee. Und vermutlich haben sie alle spätestens in der Zeit der Reintegration in ihre Schul- und andere Alltage gemerkt, dass Lebensabschnitte mit stationärer Behandlung in der Psychiatrie und/oder Psychosomatik exakt die Lebensabschnitte sind, die so ziemlich alle Berufe in Frage stellen, die in irgendeiner Form mit hilfs- und unterstützungsbedürftigen Menschen zu tun haben.
This is called “Stigmatisierung”, Baby!

Man geht dazu über in seinen Lebenslauf zu schreiben, das man “mal krank war” oder schreibt von einer chronischen Erkrankung, die einer regelmäßigen Behandlung bedarf, seit man jugendlich war.
Dann gilt man wenigstens nur als krank und nicht auch noch als unzurechnungsfähig oder gefährlich. Krankheiten können ja auch geheilt werden und bei einer Krankheit stellt sich eine Ursachen- aber keine Schuldfrage. Beziehungsweise: nicht sofort.

Krank sein ist okay, so lange sie nichts mit anderen Menschen zu tun hat, weil man sich sonst Umgangsfragen stellen müsste, die bestehende Strukturen nicht entsprechen können.

2001 wurde ich eine 15 jährige, die von ihrem Therapeuten misshandelt wurde und verstand, dass ihre Idee davon Psychologin zu werden viel mehr mit einem Wunsch nach der sozial und kulturell legitimierten  Macht Menschen beeinflussen zu können und zu dürfen zu tun hatte, als damit, was ich als eigene Fähig- und Fertigkeit perfektionieren möchte, um anderen Menschen, wie Nichtmenschen, Hilfe und Unterstützung, aber auch Raum zur Veränderung der Gesellschaft zu ermöglichen.

Ich weiß nicht, ob wir uns aus Versehen zu einer linksautonomen Radikaloweltveränderin mit Hang zum kommunistisch nachhaltigen Ökosozialkapitalismus sozialisiert haben, als wir so durch die Pubertät gingen und irgendwann in das Erwachsensein außerhalb der organisierten Gewalt an uns hineinwuchsen. Vielleicht.
Ich fände das schön, weil ich darüber merke, das in uns viel Eigenes entstanden und entwickelt ist, das das Außen nur brauchte, um sich selbst entstehen zu lassen. Ich habe einen Machtbegriff, habe Theorien und Ideen wie Macht und ihr Einfluss was wo wie bewirkt und mir im Laufe darüber die Chance erarbeitet in kleinen Schritten zu sortieren, welche Lebensabschnitte wo und wie miteinander zu tun haben und welche Rolle ich selbst dabei tatsächlich erfülle und zu erfüllen keine andere Wahl hatte. Es ist eine rein intellektuelle Auseinandersetzung, die die Möglichkeit birgt emotionale Inhalte nur schwer anzuerkennen und zu integrieren, aber es ist die Auseinandersetzung, die unseren Fähig- und Fertigkeiten entspricht.

Natürlich habe ich keine Zahl dazu wie Menschen ihre Psychiatrie- und Helfergewalterfahrungen für sich einsortieren. Doch der Grund dafür ist nicht, weil die Gewalt so selten passiert oder die meisten Menschen ihre Erfahrungen für den Rest ihres Lebens eben nicht einsortieren, sondern, dass es der weniger leicht über bestehende Stigmatisierungen in ihrer Stimme zu unterdrückenden Machtmasse unserer Gesellschaft egal ist – und egal sein muss! – was mit den Menschen passiert, wenn ES und DAS DA passiert ist.

Ich will die bestehende Spaltung zwischen Menschen, die zu Opfern wurden und nur “die guten Opfer”, “die schlechten Opfer” und “die Opfer, die nicht wissen, dass die Opfer sind” kennt, nicht mittragen.
Zum Einen, weil man nur so lange ein Opfer ist, wie die konkrete Unterwerfung geschieht und danach eine zum Opfer gewordene (oder auch: eine Opfer gewesene) Person ist und zum Anderen, weil eben jene Spaltung nur aufgrund bestehender Gewalt (hier synonym mit “Macht”) verhältnisse überhaupt ent- und bestehen kann – ergo: weitere Opfer produziert bzw. Opferschaften aufrecht erhält und damit die individuelle Weiterentwicklung negiert.

Da gelten die “guten Opfer” als jene, die es schaffen ihre Gewalterfahrungen zu beweisen und ergo im Machtbereich Justiz zu bestehen.
Da gelten die “guten Opfer” als jene, die es schaffen ihre von Gewalterfahrungen ausgelösten Krankheiten innerhalb der Richtlinien entsprechenden Therapiestundenanzahl zu überwinden (sic!).
Da gelten die “die guten Opfer” als jene, die ihre Gewalterfahrungen als individuelles Einzelschicksal zu akzeptieren.

Da gelten die “schlechten Opfer” als jene, die an der Beweispflicht scheitern, zu krank, zu alt, zu schwach, zu sehr im Muster dessen, was die unreflektierte rape culture wahrnehmen lässt, sind oder zu viel Angst vor einer erneuten Unterwerfung innerhalb eines weiteren Macht (und Gewalt) bereiches haben.
Da gelten die “schlechten Opfer” als jene, die “das Falsche” sagen, wenn sie öffentlich ihre Erfahrungen mit_teilen.
Da gelten die “schlechten Opfer” als jene, die ihre Gewalterfahrungen zum Teil des Laufs der Dinge in der Gesellschaft machen, als die sie sie begreifen.

Da gelten Personen als “Opfer, die das aber noch nicht wissen”, die sich nicht als Personen begreifen, die gerettet werden müssen.
Da gelten Personen als “Opfer, die das aber noch nicht wissen”, die nicht auf klassisch übergriffige Hilfsinterventionsversuche anspringen.
Da gelten Personen als “Opfer, die das aber noch nicht wissen”, die nicht den gleichen Gewalt- und Unrechtsbegriff haben, wie jene, die sich Menschen einzuordnen anmaßen.

All das sind Urteile, die in Momentaufnahmen gefällt werden, was schon schlimm genug ist, weil auch das Entwicklung als bestehende Dimension ignoriert.

Gewalterfahrungen können vieles in einem Menschen zerstören und so verrücken, dass eine neue Form der Stabilität und auch der Stabilisierungsmaßnahmen etabliert werden (müssen).
Dafür gibt es gute und immer weiter in Verbesserungsprozessen befindliche Instrumente aus unterschiedlichen Professionen, seien es Psychologie, Psychiatrie, Medizin oder Pädagogik.
Die individuelle Profession in der Nutzung und Wahrung eigener Resilienzen wird daneben leider oft zu etwas, das wie ein Zierdeckchen in der Begegnung als existent aber lediglich schmückend seinen Platz und Berechtigung eingeräumt bekommt.

arm

Man kann uns über die Abwertung von Armut gut verletzen.
Das geht richtig tief. Rührt an Scham und Minderwertigkeitsgefühle, erinnert an die Verzweiflung, die mit unserem Kämpfen der letzten 10 Jahre um eine Berufsausbildung und bezahlte Jobs einhergehen.

Die Verletzung hat drei Stränge, die uns so bewusst sind, weil wir es uns in unserer Lebenslage nicht leisten können sie auszublenden, wie Menschen, die es für angemessen halten uns über die Abwertung unserer Armut zu verletzen.
Strang eins ist in der Person verortet, die uns damit verletzt. Da gibt es Gründe, da gibt es Willen zur Verletzung, Demütigung und Selbsterhebung, der nichts mit uns zu tun hat.
Strang zwei ist in dem Kontext, der unsere Armut begründet und aufrecht erhält, verankert und hat ebenfalls nichts mit uns als Person zu tun.
Strang drei ist in der Gesellschaft verankert, die in sich Strang eins und zwei vereint, ohne dies an sich zu reflektieren, weil die eigene Haut als bedroht eingestuft wird, wenn es um Armut geht. Da gibt es eine Ahnung vor der sich geschützt werden muss, da gibt es *ismen, die die Welt erklären und Menschenleben niedermähen, wie ein Kornfeld. Am Ende bin ich nur Teil der niedergemähten Masse. Wieder geht es nicht um mich.

An allen drei Strängen bin ich nicht konkret beteiligt, aufgrund meiner Armut. An allen drei Strängen kann ich allein nichts verändern, gerade weil ich allein nicht beteiligt bin. Und doch gibt es Menschen, die mir unterstellen, ich würde an meiner Lage nichts verändern wollen und deshalb nichts tun.
Ich nenne das “die Teilhabeblindheit”, die vor allem Menschen befällt, für die Teilhabe allein über einen Aspekt der ökonomischen Unabhängigkeit bzw. weniger stark eingegrenzten Möglichkeiten ein erfahrungsgemäß kleineres Problem darstellt (und etwas anderes, als Ignoranz (m)einer Lebensrealität ist).
Wer die Anschaffung eines Lexikons weniger als 3 Monate im Voraus planen muss, weil das Sparen auf ein Bildungsgut bedeutet, währenddessen und darüber hinaus an Kleidung, Kultur, Gaststättenleistungen, Instandhaltungskosten der Unterkunft und anderem ebenfalls zu sparen, der kann sich auch eher auf eine Weise vor dem Verlust an Teilhabe durch Bildung, durch Kultur, durch öffentliches Leben schützen, als ein Mensch, bei dem das nicht so ist.

Bei allen Diskriminierungen, die über Armut durch Hartz 4 bestehen, bin ich daneben dann doch auch froh, dass ich als davon betroffene Person auf eine Art sichtbar bin. Es gibt Menschen, die in Frührente gehen mussten, Menschen, die mit Krankengeld über die Runden kommen müssen, deren Armut noch überhaupt gar nicht diskutiert und sichtbar gemacht wurde. Diese Menschen müssen häufig Kosten stemmen, als wären sie nicht arm, haben aber Ende oft sogar noch weniger für ihren Lebensunterhalt als eine Person, die den vollen Hartz 4 Satz bekommt.

Die Sichtbarkeit, der Menschen, die auf Hartz 4 angewiesen sind, hat allerdings wiederum oft nicht benannte Negativeffekte.
Weil ich in meiner Armut sichtbar bin, bin ich leicht in frage zu stellen. “Sie hat ein Smartphone, sie ist nicht abgemagert, sie fährt in der Gegend herum, sie hat ein ausgefallenes (also teures) Hobby – dann kann die Armut ja nicht schlimm sein. Soll sie halt nicht so viel Scheiß kaufen/nicht aktiv sein/keine Hobbys haben – soll sie halt sparen. Soll sie sich halt zurücknehmen.  … Soll sie halt weggehen. Soll sie halt nicht da sein.”

Niemand meint das so. Aber alle sagen es mit ihrer Abwertung und das ist unreflektierte Gewaltausübung an unterdrückten Personen, die oft auch einen sadistischen Touch bekommt, wenn diesen Personen unterstellt wird, sie würden ihre Armut wählen, weil es bequemer ist Menschen um finanzielle Unterstützung zu bitten (statt sie sich anders selbst zu beschaffen).

Wir haben in 10 Jahren Hartz 4,  4 oder 5 Mal um Geld nur allein für uns gebeten. Das waren Situationen, in denen wir unsere Pfandflaschenvorräte schon getauscht haben, die Trockenvorräte aufgebraucht hatten, dem Hund das Fleisch hätten wegfressen müssen, während wir im Dunkeln sitzen, weil der Strom abgeschaltet wurde.
Was uns oft passiert ist, dass wir in Geldnot kommen, weil unsere Non-Budget – und Non –Profit – Projekte, wie jetzt zum Beispiel das Podcast oder auch das Nachwachshaus, oder Vorträge und Workshops, für die wir kein Honorar erhalten und für die wir die Fahrtkosten vorstrecken müssen, immer und immer an unserem Hartz 4 Budget fressen und auch durch regelmäßige Unterstützungen nicht abgemildert werden können.
Es gibt Menschen, die schütteln den Kopf darüber und fragen uns, warum wir das denn auch machen. Wieso lassen wir uns nicht immer für alles bezahlen. Wieso lassen wir uns denn so gnadenlos ausbeuten.

In solchen Momenten bin ich oft erst mal baff, weil es mir gleichsam nicht den Kopf will, wie man unsere Gründe denn einfach so übersehen kann. Wie kann man denn nicht sehen, wie isoliert wir zu leben gezwungen sind? Wie kann man denn nicht sehen, dass es exakt diesen Bereich der Selbstwirksamkeit gibt, den wir uns über unser Handeln erarbeiten. Wie kann man denn nicht sehen, was für einen großen Bereich von sozialer, intellektueller und kultureller Teilhabe wir uns über unsere Tätigkeiten selbst und so eigenständig, wie es in unserer Lage nur geht, erschlossen haben?

Was uns oft passiert ist, dass wir deshalb zu jemandem gemacht werden, der als eine Art “Ausnahmehartzi” betrachtet wird. Wir gelten nicht als faul, wir gelten nicht als hoffnungslos dumm/ungebildet/assi – wir gelten dann als jemand, der einfach Pech hatte oder als bedauerlicher Einzelfall, der in diesem System einfach keine Chance hat.
Für uns ist diese Haltung uns gegenüber ein Vermeidungstanz um Bedingungslosigkeit herum, die man uns zugestehen möchte – aber nicht allen anderen, die abhängig von Grundsicherung sind.

Bedingungslosigkeit gilt in manchen Kreisen als gefährlich und falsch. Dort muss sich der Mensch alles verdienen, sonst hat nichts mehr Wert.

Das ist nicht meine Logik, weil ich sie als menschenverachtend erlebe. Für mich muss sich niemand verdienen am Leben zu sein und dieses für sich zu sichern und zu gestalten. Ich kann nicht “Freiheit für alle” rufen und aber nur die meinen, die sich dieser Freiheit als verdient erwiesen haben.
Das ist widerwärtig und verabscheuungswürdig.

Arm zu sein ist keine Entscheidung. Für manche ist sie ein Schicksalsschlag. Für manche ist sie eine Notlösung für eine gewisse Zeit. Und für manche ist es einfach Realität, weil das Ende der Armut mit Bedingungen belegt wird, die (noch und vielleicht auch: für immer) unerfüllbar sind.

Arm und ohne Teilhabe (teilnahmslos) zu sein ist hingegen eine Entscheidung und diese stellt Bedingungen, die nur dann erfüllbar sind, wenn es zum Einen entsprechende Reflektion über die eigene Selbstunwirksamkeit gibt und zum Anderen, wenn man bereit ist, sich auf eine Art auch darum zu bemühen, den eigenen Begriff von Würde, Selbstwert und allgemeinen Werten zu definieren und in sich zu etablieren.

Mir macht es keinen Spaß um Geld für das Podcast zu bitten. Aber ich weiß, wofür wir das tun und wer, außer mir auch noch davon profitieren kann. Es ist für mich nicht würdelos und peinlich Menschen um Unterstützung für meine Projekte zu bitten.
Peinlich finde ich, privilegierten Menschen sagen zu müssen, dass sie gewaltvoll handeln, weil sie selbst es nicht bemerken. Würdelos erlebe ich Menschen, die mich erniedrigen müssen, um sich selbst zu spüren und ihrer selbst zu versichern.

Meine Armut hat nichts mit mir zu tun und das ist mir ein wichtiger Punkt in jeder Debatte um Hartz 4.
Meine Armut ist strukturell bedingt, gesamtgesellschaftlich benutzt und in der Folge irgendwo auch gebraucht.

Sagt mir also lieber nicht, ich solle lieber gar nicht da sein.
Denn wäre ich nicht, dann hättet ihr niemanden außer euch selbst, den ihr als letzten Dreck bezeichnen könntet.