15 Jahre nach dem Ausstieg

Der Krieg hat etwas in mir verschoben.
Erst kam die Starre, dann die Bilder, die Albträume, die Schmerzen. Seit Monaten gehören Schmerztabletten zu meinen Mahlzeiten wie eine unverzichtbare Zutat.
Es ist das 15. Jahr nach meinem Ausstieg und ich bin auf eine Art mit Überzeugungen und Ängsten geflutet, wie noch nie zuvor.
Was auch immer sich verschoben hat, es hat rohes Fleisch offengelegt.

Situationen wie diese gehören dazu. Zum Leben und besonders zum Leben nach dem Ausstieg. Zumindest habe ich es so oft bei anderen Vielen mit_erlebt, dass ich es kaum getrennt voneinander denken kann.
Bei mir ist es einfach nicht so gewesen. Vor 5 Jahren nicht und auch nicht in den Jahren davor.

Ich hatte immer nur die BÄÄMS. Die Schreihälse, die mir ihren Hass entgegenbrüllen oder subtil ins Denken injizieren. Die immer wissen, was ich falsch mache, was ich nicht darf und was einfach nicht mein Ernst sein kann. Wegen der Lächerlichkeit.
Die Dunkelbunten sind nur Theorie. Irgendwie bis heute. Obwohl ich merke, was sie da machen. Was sie in mir bewirken und an wem. Jetzt, wo so viel frei liegt, dass es weh tut. Obwohl ich weiß, dass täter_innenloyale und täter_innenidentifizierte Innens nicht das gleiche wie „destruktive Innens“ sind. Jedenfalls nicht in unserem Systemkomplex.

15 Jahre nach dem Ausstieg wollte ich einen super inspirierenden Beitrag schreiben, der Kraft gibt, Hoffnung schöpfen lässt, der andere Betroffene in ihrem Ausgestiegensein bestärkt.
Und jetzt sitze ich hier, muss anerkennen, dass wir weiterhin nicht den inneren Ausstieg geschafft haben und mit Schwierigkeiten kämpfen, die in unserer heutigen Situation doch eigentlich leicht zu bewältigen sein müssten. Wir haben alles, was man dazu braucht -Therapie, sichere Bindung, stabiles Leben, Arbeit, Selbst_Bewusstsein, viele Skills und noch mehr Prozesserfahrung – und trotzdem. Nein, es ist nicht leicht. Es ist kein Zustand aktiven Tuns, sondern einer von Aus_Halten und hoffen, dass die Therapeutin weiß (und mir sagt), was ich jetzt wie tun oder überlegen könnte, um zu verstehen. Oder so.
Vielleicht gibt es nichts zu verstehen. Ich habe keine Ahnung.

Ich bin frustriert darüber, dass ich nur meine Therapeutin habe – und also nur diese anderthalb Stunden alle zwei Wochen – um die Möglichkeit des Versuchs etwas von all dem mitzu.teilen überhaupt anbahnen zu können. So wütend, ungeduldig, manchmal grenzenlos hasserfüllt darüber, dass ich nicht einfach damit rauskomme. Obwohl ich mir doch alles genau dafür vorbereitet habe. Doch alles frei ist. Da ist kein Hindernis, gar nichts. ES bleibt wortlos. DAS DA Emotion ohne Kanal. Meistens das weiße Nichts, das ich als „das Inmitten“ (in mir) kenne. Ein zentrierter Punkt, in dem alles so krass ist, dass es nichts, alles, einfach nur ist.

Neu ist das Gefühl der Enttäuschung.
Vor 20 Jahren hat sich nur meine Ärztin getraut überhaupt anzunehmen, dass ich organisierte Gewalt erfuhr, vor 15 Jahren musste ich den Ausstieg alleine machen, weil niemand verstanden (oder geglaubt) hat und heute gibt es immer noch weder (bedarfsgerechte) Ausstiegshilfen, noch geschützte Räume zur aktiven Auseinandersetzung für Menschen in meiner Situation.
Da haben sich Behandler_innen jahrelang den Mund fusselig geredet, wurden Konferenzen und Fachtagungen gemacht, haben sich Betroffene bei YouTube präsentiert und in Blogs offenbart – da wurden „wir“ vom Staat gehört, der eine fancy Broschüre hat drucken lassen und, was ist davon jetzt hier und heute wirklich nutzbar? Es gibt weiter keine Kliniken, weiter keine Hilfsangebote, die über oberflächliche Beratung und allgemeines Eiei hinausgehen. Ausstieg ist ein individueller Prozess, der direkt und persönlich begleitet werden muss. Lange. Oft. Bedingungslos. Bedarfsgerecht.
Was es jetzt gibt, ist nicht genug und das ist eine bittere Erkenntnis, wenn man wie ich einen großen Zeitraum zu Vergleich hat, in dem bereits so viel mehr als vorher passiert ist.

Dass es mich enttäuscht, ist neu. Vielleicht, weil ich heute überhaupt erwarte. Vielleicht, weil ich nicht durchschauen kann, warum sich da einfach nicht mehr, nichts Konkreteres tut. Warum ist diese Gesellschaft einfach so grundsätzlich ok damit, dass Menschen leiden?
Sind wir selber schuld? Ist es die Idee von Sichtbarkeit, die sich als irrig entpuppt? Sagen was ist und drauf verlassen, dass es niemand so belassen will – scheinbar wollen es genug Leute doch so belassen. Was bedeutet das in Bezug auf den Stellenwert meines Leidens? Vielleicht leide ich gar nicht.

15 Jahre danach wollte ich weiter sein. Klarer.
Aber nein. Nichts ist klar. Ich bin nur weiter.
Wo, das muss ich noch mehr verstehen.

Wofür

Kleben blieb, dass sie sagte „Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, wofür sie da raus sind“.
Weil es ein wunder Punkt ist. Etwas, das mir lange das Gefühl gab, ich könne meine Situation nicht mit der von Menschen vergleichen, die aus komplett abgeschlossenen Gemeinschaften oder Gruppen ausgestiegen sind.

Ich bin da nicht raus, weil ich einen Vergleich angestellt habe und fand: „Ja, nee, draußen ist schon besser für mich. Da bin ich frei, Freiheit ist cool, ich will coole Freiheit.“ Am Anfang meines Lebens „draußen“ stand keine Möglichkeit mir aufzuzählen, was ich jetzt alles darf und vorher nicht. Ich durfte immer alles tun oder nicht tun. Die Grenzen unter denen viele Aussteiger_innen aus „high controlling groups“ gelitten haben, habe ich gesucht, habe ich verlangt – ziehe ich mir heute in mein Leben um Halt und Orientierung zu haben. Mein Leben im Kontext organisierter Gewalt war nicht die Hölle und hat sich, was den täglichen Energieaufwand, die Zermürbung, die seelenzerquetschende Inkongruenz zwischen mir und dem Rest der Welt betrifft, ehrlich gesagt nur im Framing des Leidens darunter unterschieden. Jedenfalls soweit ich mich daran erinnere.

Viele sprechen von ihrem Ausstieg als eine Art Ausbruch aus einem Kerker – ich habe viele Jahre nur in einem Hundekäfig schlafen können, weil es der Rahmen war, in dem ich überhaupt Entspannung finden konnte. Ruhe im Kopf, Orientierung in meiner Körperlichkeit, Pause vom ständigen Greifen nach Dingen außerhalb von mir, um mein eigenes Ende zu fühlen.
Ich litt nie unter der Todesangst anderer Aussteiger_innen, die sich mit freiem Willen oder freien Entscheidungen eingestellt hat. Mir hat nie jemand verboten frei zu denken oder frei zu wollen – ich wurde immer nur für falsches Handeln, falsches Wollen umgebracht. Das ist ein Unterschied. Und ja, ich sehe, wie perfide das ist. Wie elaboriert bösartig das ist, gerade weil das außerhalb solcher Kontexte auch passiert.

Ich bin nicht für irgendetwas ausgestiegen und bleibe auch nicht für irgendetwas ausgestiegen. Ich bin wegen etwas ausgestiegen und das ist im Moment ein Problem, weil es sich bedroht anfühlt.

Vor einigen Jahren formulierte ich, dass das Leben immer nur sich selbst für sich selbst will. Weil das so ist.
Mir war klar, dass viele Menschen diese Formulierung nicht verstehen würden, weil sie sich selten, manche auch nie, mit solcherlei in sich geschlossenen, sich selbst brauchenden, selbst befriedigenden, selbst erschaffenden Systemen befassen. Dabei ist daran überhaupt nichts geheimnisvoll oder kompliziert zu verstehen – es ist nicht einmal besonders, sondern vielleicht einfach viel zu naheliegend, um es zu bemerken. Oder auch zu sehr im Widerspruch mit der Norm, in der alles Sinn und Zweck über sich selbst hinaus haben muss, um als etwas behandelt zu werden. Ein Menschenleben zum Beispiel. Oder ein Lebensziel.

Ich wusste, dass ich sterben würde, würde ich in diesen Kontexten bleiben. Entweder durch jemanden, die_r sich nicht genug im Griff hat oder durch mich selbst, weil ich mich nicht genug unter Kontrolle hatte, um mein eigenes Nicht_Handeln vorherzusehen oder zu beeinflussen. Und ich wusste, dass ich lebe. Dass das ein eigener Wert ist. Eine eigene Ressource. Dass ich, um zu leben, am Leben sein muss.
Und dass ich diesem Kontext nicht geben können würde, was er von mir braucht, fordert, erzwingt, wenn ich tot bin.

Mein Ausstieg war also nie die totale Abgrenzung von diesen Leuten und dem, was sie tun oder glauben, sondern das einzige Mittel, dass ich noch hatte, um zu tun, was sie von mir wollten. Es war eine täter_innen- eine kontextloyale Entscheidung.
Keine Umarmung meiner individuellen Freiheit. Keine Selbstermächtigung. Keine heroische Selbstrettung. Keine Entscheidung aus einem wundersam erhalten gebliebenem Körnchen Selbstwert. Ich hatte einfach nur Glück, mit meinen Überlegungen zufällig die eine logische Lücke in dem ganzen Gebilde gefunden zu haben und damit keinen Grund anzunehmen, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte.

Ich habe die Intentionen dieser Menschen nie verstanden. Selbst heute, wenn mir außenstehende Menschen erzählen, ich sei so sehr angelogen worden, sie hätten immer nur ihre eigenen Ziele verfolgt – ich verstehe es nicht. Für mich handelten sie logisch im eigenen Bezugsrahmen. Sie haben mich also nie angelogen. Sie wollen eine bessere Welt möglich machen. Das wollen viele andere Menschen mit anderen Mitteln auch tun. Wo ist also die Lüge? – In jedem anderen Bezugsrahmen, außer dem, in dem es passiert ist.
Zu welchem Bezugsrahmen gehöre ich? In welchem Kontext hat mein Leben nur eine Bedeutung für sich selbst? – Bis jetzt nur in meinem eigenen. Und in dem sind die Bezugsrahmen anderer Menschen und Gruppen für mich eher Räume, die ich vereinzelt betreten darf. Mal nur kurz und für den Zeitraum einer Arbeit oder gemeinsamen Tätigkeit – und mal über Jahre hinweg, sodass ich das Gefühl habe, ich gehöre dazu, dürfte Wurzeln schlagen und mich verbinden, obwohl ich weiß, dass Verbindung nicht das gleiche wie Verschmelzung ist.

Und das ist das einzige, das mich heute trägt. Dass ich weiß, dass selbst, wenn wir wieder zurückgehen, um das im Moment praktisch 24/7 in mir hallende Schreien, die Todesangst, die Albträume, dieses fahrig zittrige Greifen nach Halt zu beenden, es nicht bedeuten würde, einen Bezugsrahmen zu betreten, mit dem wir 1 zu 1 verschmelzen würden.

Es wäre alles anders und alles gleich.
Wozu also der Aufwand.

Niemand ist frei.

Es war der stillste Moment in meinem Leben, als ich damals aus dem Haus trat und meinen Haustürschlüssel in den Briefkasten warf.

Ich ging also. Ich ging einfach weg. Nicht obwohl ich wusste, dass nichts und niemand da draußen auf mich wartete, sondern weil ich mir sicher war, dass ich sterben würde, bliebe ich. Nicht, weil meine Eltern es drauf angelegt hätten. Nicht, weil mich die ganze Welt hasste. Nur, weil ich es nicht aushalten würde, so weiterzuleben.

In den folgenden Tagen strolchte ich in der Gegend herum. Ernährte mich von halbvollen Tabletts in der McDonalds-Abgabe, von Zigaretten und Angst. Ich dachte nicht an die Familie, dachte nicht an mich. Zukunft, Vergangenheit, das war alles ein dichter, kloßiger Brei, der mich in eine Gegenwart betonierte, in der ich ausschließlich reagieren konnte.
Ich habs mir nicht leicht gemacht. Es wurde mir nicht leicht gemacht in den Jahren darauf.

Die eigene Familie zu verlassen ist kein Akt der Erleichterung. Kann es gar nicht sein. Vor allem dann nicht, wenn es um Befreiung geht. Freiheit ist nicht leicht. Freiheit ist nicht einfach. Freiheit ist eine Anforderung, eine Aufgabe, der gerecht zu werden sehr viel Zeit, Kraft und Selbst_Bewusstsein abverlangt.
Vielen Menschen ist das nicht bewusst. Vielleicht wird Freiheit deshalb bis heute als Gegenstück von Gefangenschaft gedacht und verhandelt. Tatsächlich aber ist wer Gefangene macht nicht frei, sondern mächtig. Das ist etwas völlig anderes.

Als ich damals ging, wollte ich über meinen Tod bestimmen. Ich war mir sicher, dass ich bald sterben würde. Ich hab mich nie als den Überlebenskämpfer gesehen, zu dem ich in späteren Traumatherapien konstruiert werden sollte, um den anderen meine Funktion leichter integrierbar zu machen. Aber ich war frei. Ich war nicht gefangen in einer Familienideologie, nicht ein.gebunden in schulische Kontexte, in gesellschaftliche Erwartungen (ein Junge im „Mädchenkörper“ ha, damit rechnet doch niemand, also kann auch niemand irgendwas erwarten!), ja, nicht einmal in das allgemeine, lineare, Verständnis von Zeit und Raum.
Hier schlug mich ein Mann, der größer und schwerer war als ich, da hörte ich Männern zu, die von Sozialismus und Globalisierung sprachen. Dazwischen Punk- und Ska-Musik, Rauchen, Kaffee und Radikalisierung zum Babyanarchisten. Ich hatte keinen Anlass, je auf die Uhr zu gucken. Mich anzugucken und zu verstehen, wen oder was ich da sah. Ich hab nie mehr als bloße Freiheitspraxis gemacht, also gelebt. Und so, wie ich lebte, wollte ich auch sterben. So will ich bis heute sterben. Nicht durch irgendeinen Affekt, durch irgendeinen banalen Moment, in dem das Ego von jemandem eine Kränkung in Schläge, eine Machteuphorie in meine Vernichtung umwandelt. Wenn es enden sollte, dann weil ich einfach nicht mehr lebe.

Heute erscheint mir dieser so umfassend dissoziierte Zustand ultimativ einsam und ich kann verstehen, warum wir in den Jahren danach so willig in verschiedene Kontexte der Unfreiheit gingen. Auch ich.
Ohne das Andere gibt es einfach nicht genug Wahrnehmung des Eigenen. Ohne Wahrnehmung des Eigenen gibt es kein Empfinden von Freiheit oder Unfreiheit. Für das Leben in Freiheit braucht es Frieden. Für Frieden braucht es gleich ermächtigtes Miteinander.
Kein Mensch auf dieser Welt lebt in Frieden. Niemand ist frei. Freiheit ist eine Phantasie.
Jedenfalls jetzt.

Dissoziation ist kein One-Size-Pullover – Ostern, 13 Jahre später

Im ersten Jahr, war es, als würde ich wie eine Fliege gegen die Fensterscheiben dotzen, ohne wissen, wieso überhaupt. Wieso ich so viel Energie aufbrachte, wo ich hinwollte, was ich erwartete. Erst einige Zeit später bemerkte ich überhaupt, dass ich das getan hatte.
Wir lebten damals in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Es gab Schokoeier und mehr ruhige Alleinzeit mit den Pflegepersonen. Alles Dunkelbunte brummte von innen gegen meine Haut an.

Nach unserem Entschluss, es nicht „Ausstieg“ zu nennen, sondern „nicht hingehen – nicht mitmachen – DAS DA stumm schalten und weggucken“ zu machen, war es in den ganzen letzten Jahren auch immer genau so. Als liefe ein stumm geschalteter Fernseher in unserem Rücken. Dunkelbunt-TV, wenn man so will. Und mit jeder Distanzierungsübung ihrer Inhalte, rückten auch sie weiter weg. Und weiter. Und weiter. Bis wir sie auch nicht mehr als etwas fühlten, auf das man wirklich mal achten muss, anstatt es als irreal platt zu machen, zu bügeln und in einen Schrank am Anfang des Nirgendwo zu stecken.

In Wahrheit gibt es sie, aber in Wahrheit kann und will niemand etwas mit ihnen zu tun haben. In Wahrheit haben sie unsere Solidarität, unsere Kraft und alle Ressourcen der Welt verdient, aber in Wahrheit brauchen sie sie überhaupt nicht. In Wahrheit brauchen wir endlich wirkliche Ausstiegsbegleitung, aber in Wahrheit sind wir schon seit inzwischen 13 Jahren ausgestiegen.

Durch die aktuelle Situation können wir gut erkennen, dass es wirklich so ist, dass man immer der jeweiligen Situation angepasst dissoziiert. Die Dissoziation funktioniert bei uns nicht wie ein One-Size-Pullover. Hier einmal um die Dunkelbunten rum und fertig ist der Lack für immer und ewig. Es ist mehr wie eine Kaugummiblase, die man sich dann und wann wieder von der Haut puhlen muss, um eine noch größere zu machen, damit alles reinpasst.
Denn, es ist ja auch nicht so, dass diejenigen in der Blase sich nicht bewegen. Dass sie nicht reagieren.
Es ist ja so, dass wir diejenigen sind, die gelernt haben, dass sie und ihre Reaktionen in dieser unserer jetzigen Lebensrealität weder für uns, noch für andere okay sind. Dass sie uns gefährden und dass das, was sie mitbringen so etwas wie das goldene Ticket ins Balla-Land ist.
Wir sind die, die seit 13 Jahren Kaugummi fressen und schon längst automatisiert haben, Löcher zu stopfen, bevor sie die Blase zum Platzen bringen.

Und jetzt? Jetzt brummt es nicht. Jetzt bewegt sich nichts. Es schneit panische Schreie wie Pollenschirmchen ins Innere.
Was machen wir jetzt Was mache ich jetzt Was ist jetzt los Was bedeutet das jetzt Was mach ich jetzt Was machen wir jetzt Was bedeutet das jetzt Was machen wir jetzt Was mache ich jetzt Was ist jetzt los Was bedeutet das jetzt Was mach ich jetzt Was machen wir jetzt Was bedeutet das jetzt

Und ich pflanze Radieschen. Und ich baue einen Schutzwall für die Radieschen, damit die Spatzen sie nicht fressen, wie sie die Salatpflänzchen gefressen haben.
Was machen wir jetzt Jetzt pflanze ich kleine Kräuterpflanzen ein. Was ist jetzt los Jetzt pflanze ich das Bäumchen ein. Was bedeutet das jetzt Ich kann einen Käfer sehen, der durch die Blütendolde krabbelt. Was mache ich jetzt Jetzt rolle ich 50 Meter verknörgelten Gartenschlauch auf, um ihn morgen wieder abzuwickeln, denn ich habe ein Anschlussstück zu kaufen vergessen. Kaugummi Kaugummi Kaugummi

Es ist keine Verankerung im Außen oder in der Gegenwart, es ist die konsequente Verankerung in mir, die_r das Früher, das Alte überhaupt nicht kennt und Zeit spürt, statt sie zu berühren. In Wahrheit mache ich das hier also eigentlich konsequent falsch, in Wahrheit ist es das Einzige, das funktioniert und Funktion wird belohnt.

Was bedeutet das jetzt
Es ist und wird.
Heute säe ich Erbsen aus.

29

Heute gab es die Frage, wie man es geschafft hat, sich von Täter_innen zu distanzieren.
Ich hab überlegt, ob wir das haben. Und wenn ja, wie.

Wenn es keinen Tag im Leben gibt, in denen diese Leute nicht irgendwie Thema sind – ist dann da Distanz? Irgendwie nicht. Aber irgendwie doch. Denn es geht nie um die Leute, sondern um die Folgen ihres Handelns an uns und deren Auswirkungen auf unser Leben.
Speziell, wenn es um die Herkunftsfamilie geht, geht es vor allem um diese Distanz. Aber schafft das Sprechen über den Wunsch nach Distanz nicht irgendwie auch Nähe? In der Herkunftsfamilie wird sicher nicht jeden Tag über uns und unsere Abwesenheit gesprochen, wohl aber (Achtung jetzt kommt eine Homeproduction aus unserem Hirnkino) werden wir oft als schlechtes Beispiel und Quelle verschiedenster Ungemache beschrieben, wann immer nötig oder schlicht hilfreich.
Wir sind für sie das böse, kranke, fehlgeleitete Mädchen, das wir mit 15/16 sein mussten und werden sicher niemals die erwachsene, weitgehend selbstbestimmte und völlig okaye Person sein, die wir sind.
Gleichzeitig sind die Eltern und Geschwister für uns auch nie gealtert. Wir wissen absolut nichts über sie, haben sie nie anders als denn als Jugendliche_r erlebt.
Das ist doch auch unglaublich viel Distanz.

Ich glaube als Person, die Gewalt in einer Familie oder Partner_innenschaft erlebt, beginnt die Distanzierung oft mit der Erkenntnis, dass etwas schief läuft und, dass eigene Erwartungen regelmäßig enttäuscht werden.
Besonders das ist wichtig für uns gewesen. Erwartungen, die enttäuscht werden.
Denn es ist ja so: verletzt zu werden, passiert. Es ist die Rahmung, die das Bewusstsein und die persönliche Einordnung fördert oder hemmt. Wer verletzt wird und das als logische Konsequenz, g’ttlichen Willen oder natürliche Ordnung erklärt bekommt, muss mit viel mehr von der Welt und dem eigenen Bild davon hadern, als jemand die_r weiß: „Ich wurde verletzt, weil jemand sich dazu entschieden hat, mich zu verletzen.“
Und das ist das Problem. Viele Gewalt.üb.erlebende hadern mit der ganzen Welt und sich selbst als Teil davon, weil sie sich als festen Bestandteil dessen einordnen, was da irgendwie schräg ist. Die Ordnung und damit die Macht bleibt bei denen, die die Gewalt ausüben – um diese Menschen werden feste Grenzen gezogen. Sie werden sowohl als Versuch der Kontrolle über die Gewalt zu erlangen (z.B. durch ständiges Hervorheben von ihren Eigenschaften, Triggerpunkten und Wünschen), als auch als allgemeiner (im Fall von Kindern und Jugendlichen lebenswichtiger) sozialer Bezugspunkt der Macht, quasi ins Leben zementiert.

Es gibt auch Täter_innen, die das gezielt abverlangen und Täter_innen, die erst im Laufe der Gewaltbeziehung verstehen und ausnutzen, dass das passiert. In jedem Fall aber passiert es und für ihre Opfer gibt es nur schmerzhafte Wege da heraus. – Obwohl der Weg da hinein auch schon schmerzhaft war. Das ist die erste enttäuschte Erwartung gewesen, die man sich bewusst machen muss, aber oft nicht kann. Besonders nicht, wenn man als Kind von den eigenen Eltern verletzt wurde. Kinder haben keine andere Wahl, als zu erwarten oder entlang der Erwartung aufzuwachsen, dass sie nicht verletzt werden, weil das jemand so will und sich dafür entscheidet, das zu tun.
So funktionieren wir Menschen. Wir erwarten nicht verletzt zu werden, wenn wir es mit Lebewesen zu tun haben, denen Verletzungen auf die gleiche Art weh tun, wie uns. Das ist eine unglaublich wertvolle Erwartung und sie ist grundgut. Vielleicht der beste Teil an Menschlichkeit, denn darin liegt doch etwas, das ganz wunderbar ist: die Möglichkeit, dass Menschen alle miteinander gut sein könnten, wenn sie wollten.

Wir haben als Jugendliche_r ein Leben gelebt, in dem wir nicht wussten, dass unsere Grundannahmen von zwischenmenschlicher Interaktion und Kommunikation auf autistischer wie dissoziierter Selbst- und Umweltwahrnehmung fußen. Wir wurden ständig enttäuscht. Freund_innen waren eigentlich keine Freund_innen; Was uns gefiel, was wir für wichtig hielten, das war irgendwie nie richtig mit.teilbar. Zeit und Raum, sozialer Kontext, das eigene Wünschen, Wollen und Werden – nichts, aber auch gar nichts davon war für uns  sicher vorhersehbar, erklärbar, kontrollierbar und mit am schlimmsten: irgendwie auch nie „unsers“, aber immer in unserer Verantwortung.

Die Distanz mit der wir in der Herkunftsfamilie gelebt haben, war immer schon groß und sie hat sich in der Pubertät vermutlich einfach nur in einer weiteren Facette gezeigt. Wir haben uns für den Suizid entschieden und das war die Art von Distanz, die für uns nur logisch war. „Alles ist falsch, alles ist schlecht, krank, nicht okay und dann kann man es noch nicht einmal verstehen, weil von allen Seiten unterschiedliche Impulse und Zwänge auf uns einwirken, die in alle Richtungen widersprüchlich sind.“ Uns ist damals der Bezugspunkt verloren gegangen und wir haben auch noch lange danach keine solche Bezüge hergestellt.

Ich erzähle das deshalb, weil ich glaube, dass man sich klar machen muss, wozu oder auch worin man Distanz zu Täter_innen einnehmen möchte.
Wir wollten Distanz zum Unaushaltbaren – das wir in unserem Amlebensein verortet haben und nicht in dem, was uns von anderen Menschen angetan wurde. Für uns war es entsprechend gar nicht so der krasse Akt von der Familie wegzugehen (es war ein krasser Akt – aber eben doch keiner, der mit Tränen, Schuldgefühlen oder schwerer Last auf dem Herzen verbunden war, sondern eher vom Willen getragen bitte nicht so zu sterben, wie es sich damals für uns abzeichnete).
Uns war klar, dass wir bald sterben würden und keine Kontrolle darüber haben würden, würden wir da bleiben. Keine Ahnung, wo das Entitlement zum selbstbestimmten Sterben in der Situation herkam, aber es war da und es hat uns ironischerweise das Leben gerettet. Und es ist die maximale Distanz, die man einnehmen kann ohne irgendetwas zu fordern oder zu wünschen. Man erwartet nur noch das Ende und wenn diese Erwartung enttäuscht wird, dann lebt man weiter, was durch den instinktiven Überlebenstrieb dann gar nicht mal so eine schlimme Enttäuschung ist.

Und ganz ehrlich: Insgesamt nicht ansatzweise so sehr weh tut, wie die Enttäuschung über Eltern, die sich dazu entschieden haben zu verletzen und obendrauf keinerlei Bewusstsein für die Tiefe und die Auswirkungen dafür haben bzw. zeigen.
Und die Enttäuschung der Hoffnung, dass sich das durch irgendetwas verändert, was man selbst tut.
Und die Enttäuschung, dass es Dinge auf der Welt gibt, die so sind. So unveränderbar, so schmerzhaft, so – weit weg vom eigenen Kontrollbereich, obwohl sie doch so nah gehen.

Ich glaube, weil wir uns dieser Enttäuschungen heute bewusst sind, können wir die Distanz einnehmen, aufrecht- aber auch aus_halten, die es braucht, um weitere Verletzungen an uns zu verhindern.
Wir haben eine okaye Routine um Gefühle, die damit zu tun haben, können uns selbst viel erklären und rahmen, was wir fühlen und denken und was Kinder- und jugendliche Innens fühlen und denken – wir können heute ganz andere Erwartungen an uns und die Umwelt entwickeln und ganz unterschiedliche Distanzbedarfe erforschen.
Und auch beobachten, was sich daraus so ergibt.

Aus manchen Distanzbedarfen ergibt sich eine Vermeidungsdynamik, aus anderen wiederum ein Weg in die Gewalt zurück, zum Beispiel wenn Kinderinnens denken, es wäre wichtig, nochmal zu versuchen, sich mit den Eltern lieb zu machen. Daraus ergeben sich Anlässe zu innerem Kontakt, woraus wieder Zugang zu Erinnerungen wird, woraus wieder etwas werden kann, das hilft zu verstehen, was da passiert ist.

Das ist Prozess. Entwicklung.
Wir wollen Prozess. Das ist eine der aktuellen Erwartungen an uns selbst in diesem Leben.
Prozessieren, Verstehen – und dann gucken, was sich daraus entwickelt, was zu prozessieren ist… was verstanden werden muss …
Da wollten wir nicht unbedingt hin und das ist auch nicht der Grund, der uns Kraft für alles gibt, aber es ist nah an uns dran und da wollten wir auf jeden Fall hin.

Es liegt nicht an deiner Intelligenz

dass du Schmerzen fühlen kannst.
Es liegt nicht an deiner Intelligenz, dass du Angst fühlen, Loyalitätskonflikte haben kannst, dich vor Gewalt und Lebensgefahr schützen willst.

Es liegt daran, dass du ein Mensch bist.

Kannst du dir mal einrahmen und an die Wand hängen, wenn du das nächste Mal mit Zitaten wie dem, das Paulines neulich geteilt haben konfrontiert bist.
Auch Menschen einem IQ von 30 sind „programmierbar“. Auch sogenannt „geistig behinderte“ Menschen sind traumatisierbar, sind fähig aus Gewalt, Schmerz, Todesangst heraus zu reagieren und ja, auch zu lernen bzw. zu anscheinend reflexhaftem Verhalten trainierbar. Ihre Traumafolgen sind auch Traumafolgen.

Nur bekommen diese Menschen sehr viel seltener die Chance zu Traumatherapie, werden praktisch aus der (neurologischen) Traumaforschung ausgeschlossen und aus Gründen gesellschaftlich akzeptierter ableistischer Normen als Opfer jeder Form der Gewalt praktisch hingenommen, als sei es ein Naturgesetz und deshalb etwas anderes, als bei anderen – „intelligente(re)n“ Menschen.

Wenn du heute, genau jetzt in dieser Zeit, etwas brauchst, das dir hilft gegen deine Traumawahrheiten, deine sogenannten „Programme“ anzugehen, dann mach das nicht mit einem Twist, der dich an einer Stelle aufrichtet, weil du dir einen schmeichelhaften Grund dafür geben und dir sagen kannst, dass du „immerhin nicht völlig gaga in der Birne bist“.
Denn dann musst du immer Angst haben, dass du es irgendwann mal wirst.
Du kannst dich damit über Feiertage retten, aber nicht durch ein Leben nach, sagen wir einem Schlaganfall oder einer Hirnblutung. Denn dann bist du erstmal augenscheinlich „gaga“ und hast obendrauf auch noch Feiertage und eine weitere innere Wahrheit, die deinem Wunsch nach Unabhängigkeit, geistiger Freiheit und Loslösung des Traumas direkt entgegensteht und dich der Lüge straft. „Hähä du kannst ja gar nix haben, du hast ja nur Matsch im Kopf“.

Das Leben nach der Gewalt bedeutet nicht, dass du dir die Gewalt der Gesellschaft, in der die Gewalt an dir passiert ist, annehmen und mittragen musst. Es gibt keinen Grund aufzuhören, sich mit anderen Gewaltgruppenmitgliedern zu vergleichen, sich gegenseitig zu verraten, runterzumachen, im Wert anzuzweifeln, weil es nicht mehr zum Überleben nötig ist – nur um dann im Leben danach, die nächsten vermeintlich Schwächsten zum Vergleich heranzuziehen, niederzumachen und damit dazu beizutragen, dass sie weiterhin als die schwächsten Menschen gelten.

Du darfst Menschlichkeit annehmen.
Du darfst Miteinander sein.
Du darfst dich darüber informieren, was für ein problematisches, ingesamt defizitäres Konzept Intelligenz ist.

Du darfst anerkennen, dass es schwierig ist, Antworten auf Traumawahrheiten, sogenannte „Programme“ in sich allein zu finden, ohne sich auf Äußeres zu stützen.
Das ist schwierig. Das ist brutal. Das ist, was man dir nie beigebracht hat, egal wo und wie du aufgewachsen bist.

Jetzt auf dem Weg der Loslösung zu sein, ist deine Chance. Jetzt hast du die Möglichkeit etwas neu zu lernen, anders zu machen. Vielleicht sogar besser zu machen als vorher.
Mach es.

 

Schon 12 Jahre erst

Erst 12 Jahre schon.
Ein Gedankenkreisel, der sich in mir festsetzte, als ich in der Nacht von Sonntag auf Montag durch die Innenstadt radelte. Ich wollte meinen, unseren Abschied machen, habe den schon in den letzten Wochen immer mal wieder, mal hier und mal da gemacht, nur nicht so. Damit. Mit DEM DA. Irgendwie.

Wir sind 2005 in diese Stadt und ihre Umkreise gezogen. 2007 sind wir ausgestiegen.
Für uns war dieser Ort nie gewaltneutral. Wir waren nie frei in der Wahl unseres Aufenthalts. Waren nie so postausstiegsfrei, wie man uns das gewünscht, manchmal auch von uns gefordert hat.
Trotzdem hat uns das mit den Jahren immer weniger belastet. Es ist immer weiter weggerückt. Zu etwas geworden, das woanders ist als wir und dem zu begegnen wir wählen müssten, um ihm erneut ausgesetzt zu sein.
Das ist viel und je mehr Betroffene organisierter Gewalt wir kennenlernen, desto mehr wird mir das auch klar.

Wir haben in den 12 Jahren nie konkret über über DAS DA gesprochen.
Wenn wir hätten können, konnten wir nicht und gemusst haben wir nie. Nicht, weil es niemanden interessiert, nur weil es unzählbar viele andere Dinge gibt, über die zu sprechen konstruktiver, schöner, fruchtbarer, weicher, wärmer, angenehmer ist. Auch aus_halt_barer für mich, für uns.

In der Nacht schrieb ich einen Thread bei Twitter mit meinen Gedanken dazu.
Darin beschrieb ich, dass unser Schweigen zu der Gewalt mehr Halt vermittelt, als es das Sprechen, “Aufdecken”, “d.rüber_reden” kann. Es geht dabei nicht um Sicherheit, Schweigebote, Redeverbote oder irgendwas in der Richtung. Es geht um Worte, Reihenfolgen, Logik, die deutlich spürbare Unfähigkeit DEM DA mehr Form als das des überkrassen HIERJETZT der Gewalt und der Fragmentierung des Ichseins geben zu können.
Ich weiß, schnarch, das haben wir hier schon oft so beschrieben, aber ist es nachwievor so und ich weiß nicht mehr, wie ich mich dazu positioniere.

Während meiner Rundfahrt fuhr ich an Standorten vorbei, die heute völlig anders aussehen. Teilweise ist dort heute auch etwas völlig anderes als damals. Der freundlichen Baustelle am Teutoburger Wald ist es gelungen sehr viel von dem zu verstoffwechseln, was mir vielleicht irgendwann als Denkmaldran begegnet wäre. Wunderbar ist das. Aber das, was da passiert ist, passiert weiter. Daran werde ich vielleicht immer denken.

Auch hier, wo wir jetzt wohnen.
Unsere Erfahrungen haben uns sensibilisiert. Wir kennen die Orte an denen DAS passiert und wir wissen, dass sie genauso hübsche Vorgärten und schicke Vorhänge wie vergesse Fixerbestecke und Pissflecken auf dem Boden haben können. Es ist egal. Gewalt ist sowas scheißegal. Sie passiert überall und wir werden sie vermutlich öfter sehen als andere Menschen.

Was interessant ist, ist das Grundgefühl, dass wir hier haben.
Wir können hier rausgehen und grundsätzlich erst mal überall hingehen. Raus, geradeaus, nach links, dann nach rechts und immer weiter, wir werden erst einmal nirgends landen, wo wir vor 12 und mehr Jahren schon mal waren und nie wieder hinwollen. Wie heftig ist das.

Wenn wir jetzt zurück in die Stadt unserer letzten ziemlich genau 14 Jahre fahren, dann gehen wir in etwas hinein, was wir wieder verlassen. Es entsteht ein Abstand, der vorher nicht da war.

Vielleicht einer, der etwas verändert, was sich in den letzten 12 Jahren nicht verändern konnte.

Schritte

Wieder ist es ein Jahr länger her und wieder ist eine neue Schicht der Wahrnehmung entstanden.
Vielleicht auch Selbst_Bewusstsein.

Diesmal hat es sich nicht nach feiern wollen angefühlt. Oder danach, sich durch andere Menschen darin zu vergewissern, dass es eine gute Entscheidung war.
Diesmal ging es darum uns zu spüren. Heuteuns zu spüren und dabei so weit, so frei, so sicher und losgelöst von dem zu sein, was unser Heutehierundjetztalltag ist.

Nachwievor sind da 12, 13, 14 … 3, 4, 5 jährige Innens, die wirklich glauben, wir hätten es noch länger „probieren“ sollen. MÜSSEN. Können. Junge Erwachsene, die auf die Löcher, die wir mit unseren Unterstützer_innen zu umflicken versuchen, deuten und sagen: Guck dir das an – hierfür sind Eltern gut. Hierfür braucht man eine Familie. Siehste und auch das hier gibt es nicht für Leute, die keine Familie mehr haben.

Sie sind nicht orientiert, ihr Heutebegriff ist Früher.
Und in unserer Differenz ist Jetzt.
Wo sie sind und wir leben und wachsen und werden. Immer weiter.

In diesem Jahr dachte ich zum ersten Mal, dass es vielleicht auch wichtig ist, dem Gefühl, dass es okay ist, wie es jetzt ist, Raum zu lassen. Dass nach dem Weggehen noch ganz viele Dinge passiert sind. Dass die Zeit damals wie heute ganz von allein vergeht und das an sich nichts weiter bedeutet, als dass alles und alles immer in Bewegung ist, Entwicklung macht, Dynamiken entstehen, Prozess passiert.

Unser Weggehen damals war nur ein ganz kleiner Schritt.
Und der war nicht einmal relevant. Relevant war die Richtung.

Das war, was wir heute und in den letzten Tagen während unseres Besuchs bei J. bis heute wahr.ge.nommen haben. Dass wir uns für Richtungen entscheiden können und dann nichts weiter machen müssen, als einen Schritt nach dem anderen.

Die Zweifel sind im Lauf des Tages leiser geworden. Die Trauer um ein verlorenes, unwiederbringliches Familienleben, das es so oder so nie gegeben hat oder hätte geben können, ist wieder das feine weiße Rauschen, in dem wir uns verlieren wie wieder.finden können.

Wir sind erwachsen und tun Dinge.
Dinge wie Autofahren auf einem Verkehrsübungsplatz, Frühstücken mit Aufstrichverkostung, große schwarze Hunde streicheln und Gespräche führen, an denen man wächst und neue Stücke der Welt versteht.

Leben ist so viele Schritte.
Sie mit den richtigen Menschen machen zu können, das größte Glück.

Zweifel

Es begann mit dem Zeitungsartikel, in dem vom Insektensterben berichtet wurde.
Heute gibt es 75% weniger Insekten im Vergleich zu einem Zeitraum, der noch gar nicht so lange her ist.

Es ging weiter mit Artikeln zum Klimawandel. Nicht als “könnte eventuell vielleicht”-Blablabla, wie ich es als Jugendliche in den 2000ern noch lesen durfte, sondern als “HALLO WERDET AKTIV”- Ausrufezeichen mitten in meine Gefühle der Ohnmacht.
Dazu kam ein Atomstörfall in Russland, eine Regierung, die es gar nicht gibt, weil – ja warum eigentlich? Haben die Leute da vergessen, dass sie mit einem Job beauftragt wurden, oder was? – Puerto Rico hat noch immer keinen Strom überall, Flint kein sauberes Wasser, ständig brennt eine Unterkunft für Geflüchtete und immer noch gibt es Menschen, die anderen Menschen grundlegende Rechte nicht zugestehen wollen.

Ich saß unserer Therapeutin gegenüber und versuchte mich auszudrücken, obwohl ich gleichzeitig von der inneren Gewissheit eingenommen war, dass es sinnlos sein würde, darüber zu sprechen.
Mein Angefasstsein von solchen Dingen gehört einfach in mein kleines Kämmerlein, weil drüber heulen nur genau dort Sinn hat. Außerhalb dessen muss man den Arsch hoch kriegen, weiter machen, immer wieder ansprechen, bewusst machen, wo Verschwendung passiert und wie es anders besser funktionieren könnte sollte müsste.
Müllvermeidung, aufhören Tiere zu essen, Bus- und Bahn statt Auto fahren, solidarisch sein und bleiben, Gefallenen beim Aufstehen helfen – immer weiter immer weiter machen. Nicht aufhören, nicht ergeben, nicht fallen lassen, denn irgendwann bleibt man liegen und wofür hat mans dann überhaupt je gemacht?

Seit dem Klinikding, denke ich dauernd, ich müsse meine Motivationen und Gedanken rechtfertigen. Muss unterstreichen, dass ich wirklich und in echt nicht meinetwegen darüber verzweifle, nicht mehr tun zu können, als meinen Müll zu vermeiden, nachhaltig gewirtschaftet zu konsumieren und andere Leute damit zu nerven, dass sie die x-te Petition gegen Regenwaldzerstörung, Ölbohrungen im Meer, Monsanto und Glyphosat unterstützen sollen.
Jedes Mal drehe ich mich aus dem Gefühl nicht ernst genommen zu werden, weil man sich meine Worte zurechtdreht und in ihrer Wichtigkeit abtut. Jedes Mal unterdrücke ich den Wunsch Leute zu schütteln oder anzuheulen, wenn sie mir sagen, dass das doch eh alles gar nicht reicht oder genug ist. Noch mehr, wenn sie mir in ankumpelnden Ton sagen, sie halten Weltverbesserer für selbstsüchtige Gutmenschen und würden deshalb extra einfach gar nichts verändern.

Jedes Mal, wenn wieder sowas war und ich am Ende doch wieder in meinem Kämmerlein darüber heule, denke ich, dass das eigentlich alles ist, was das mit mir zu tun hat: dass es mich fertig macht und so viele andere nicht.
Vielleicht, eventuell, denn was weiß ich über die Kämmerlein anderer Leute.

Während der Therapiestunde kam noch eine weitere Komponente für mich über uns dazu.
Nämlich die des Dramas von Menschen, die an Dinge glauben und deshalb Dinge tun. Auch in anderen Kontexten.

Es ist ein Thema von uns, Dinge dafür zu tun oder wollen oder zu machen, weil wir davon überzeugt sind, dass sie das Richtige und Wichtige sind, um die Welt zu einem guten Ort für alles und alle zu machen. Dafür mache ich heute viel und dafür haben andere Innens früher viele Dinge getan. Und: an sich tun lassen.
Und zwar nicht, um selbst etwas davon zu haben oder deshalb für sich einzufordern, sondern, weil man ihnen sagte, dass es um den Fortbestand der Welt als eine bessere geht.

Natürlich kann man sich der Erzählung vom Sozialmärchen des Altruismus und der Selbstlosigkeit hingeben. Kann zynisch auf Gruppen wie die, in der wir über_gelebt haben schauen und sehen: “Ja ha genauso läuft das nämlich – mächtige Leute bringen dumme kleine Würstchen dazu zu denken, sie würden etwas für ein höheres Wohl tun, aber in Wahrheit…”
Man kann sich aber natürlich aber auch fragen, warum man selbst kein solches “höheres Wohl” im Kopf hat. Warum man so bereitwillig aufgibt, daran zu glauben, dass es mehr geben kann, als Unterdrückung, Zerstörung und Überlebenskampf. Oder warum man auf Menschen herabschaut, die das nicht tun.

Man kann sich fragen, warum manche Menschen so viel bereitwilliger Verantwortung für den Bockmist anderer einstehen und sich bemühen, Dinge besser zu machen und manche nicht. Warum manche Menschen im Grunde die ganze Zeit damit beschäftigt sind, sich nicht einzumischen, über Macher_innen zu lästern und selbst nichts anderes als Eskapismus zu zelebrieren und warum das für manch andere die schlimmste Form der Kapitulation vor den herrschenden Verhältnissen ist. (Selbst dann, wenn man erkannt hat, dass Eskapismus als solcher auch eine Protestform sein kann!)

Nach der Sitzung schrieb ich bei Twitter, dass ich festgestellt hatte, dass für mich die Apokalypse schon da ist.
Und zwar nicht, weil ich denke, dass jetzt schon alles kaputt ist, sondern weil ich bemerkt hatte, dass ich dieser unserer Gesellschaft nicht (mehr) zutraue, dass sie den Arsch hochkriegt, weil sie begreift, was hier gerade jetzt in dieser unserer gemeinsamen Lebenszeit passiert.
Zu einfach ist es, die Tage mit Dingen zu verbringen, die unser Klima negativ beeinflussen und Ausbeutung fördern, ohne es überhaupt zu bemerken. Zu leicht ist es, sich selbst nicht als Teil dessen zu empfinden, was alles krepiert, wenn Flora und Fauna, Klima und Planet abkratzen.

Und warum fasst mich das so an?

Weil ich dafür nicht überlebt haben will.
Weil ich die Enttäuschung darüber, dass es kein echtes “besser als früher” gibt, nicht einfach so akzeptieren will.

Es war für mich, für uns, damals schon schlimm genug zu merken, dass nach dem Ausstieg nichts aber auch wirklich gar nichts kam, das irgendwie “gut” war. Dass wir uns jedes und es sei es ein noch so kleines “besser” oder “okay” alleine erkämpfen und erbetteln mussten und selbst bei Erfolg nicht einmal davon ausgehen konnten, dass das für immer bleiben würde.
Es ist mir schlimm genug, bis heute diesen de facto unausgleichlichen Mangel im Leben zu haben und zu wissen, dass das niemand nachvollziehen kann, die_r das nicht genauso auch üb_erlebt (hat).

Wir haben in unserer Therapie noch nie viel darüber geredet. Über dieses Gefühl von Beschiss von beiden Seiten. Den “Guten” wie den “Bösen”.
Geschweige denn über das Gefühl, das auch nirgends wirklich genauso ausdrücken zu können, ohne diesen Touch von “Die glaubt wohl sie hätte was besseres verdient” oder “Undankbares Miststück, die Rosenblatt” oder “Das Leben ist kein Ponyhof – deal with it” als Reaktion miterwarten zu müssen.

Denn: ja klar haben wir was Besseres erwartet. Warum sonst hat man uns denn jahrelang damit unter Druck gesetzt auszusteigen und angebotene Hilfen anzunehmen, wenn nicht dafür, dass es uns besser er_gehen soll? (Vielleicht eventuell etwa doch, weil man uns etwas glauben lassen wollte, damit wir etwas tun, was wir aus uns selbst heraus gar nicht getan hätten, wenn wir es nicht geglaubt hätten…?)

Sicher erscheinen wir undankbar, wenn wir sagen, dass es uns nicht reicht so zu leben, wie wir gerade gezwungen sind zu leben. Gerade dann, wenn man sich schwer tut uns zu glauben, dass unser Leben ein unfreies und trotz vieler Fortschritte nachwievor scheiße nochmal schmerz_volles ist. Obwohl wir nicht mehr ausgebeutet und konkret verletzt werden. Und, obwohl es Millionen von Menschen noch ganz viel schlechter geht.

Es ist die Parallele, die es so unaushaltbar macht.
Für mich, weil ich zwar nicht genau weiß, was wir konkret nicht mehr erleben, aber sehr wohl weiß, was es bedeutet, keine Familie, keine gänzlich bewusste Geschichte und keine strukturelle Einbettung zu haben.
Und für uns als Person, die sich in einen Kontext einzubinden versucht, der von Trennung dominiert ist.

In jedem Fall geben wir viel uns weg, strengen uns an, verzichten, nehmen uns Verantwortungen an, auf die andere ganz gezielt scheißen – und bleiben mit nichts weiter da stehen, als dem Wissen, dass wir damit zwar nicht allein, aber auch nicht in einer Masse gemeinsam sind, die genau das verändern kann.
Manche Aktivist_innen beschreiben genau das Gefühl mit dem Begriff “activist burn out”. Das “sich aufrauchen” an einer Herausforderung, die überfordern muss, weil sie weit über das Individuum hinausgeht.

Vielleicht will ich am Ende einfach nur nicht akzeptieren, dass das Leben in dieser Zeit, dieser Gesellschaft, diesem Lauf der Dinge nun einmal so ist und wir einfach reingefallen sind. Vielleicht will ich es am Ende doch aus ganz eigennützigen Gründen nicht akzeptieren, für so eine Scheiße so gelitten und verzichtet zu haben, aber bedeutet das denn zeitgleich, dass meine Bemühungen nie um etwas anderes als mich selbst gekreist sind?

Immer wieder muss ich an den Grabstein denken, von dem H. uns mal erzählt hatte. “Ihr Leben war Last und Müh’ “ hatte da drauf gestanden.
Sowas nicht zu wollen – nicht akzeptieren zu wollen, dass es eventuell sein kann, dass dieses ganze Gekämpfe niemals aufhört, ganz egal was man warum und für wen und für welches Ziel auch immer – Himmel ja das ist egoistisch hoch zehn. Aber ist das nicht auch eine Hoffnung, die man braucht, um neugierig auf das zu sein, was man stattdessen tun könnte?

Als wir uns damals gegen die Familie* und alles entschieden haben, dachten wir, wir könnten ja vielleicht irgendetwas anderes lernen. Irgendwas machen, was für andere hilfreich ist. Irgendwas erschaffen, was das, was danach kommt, zu einem guten Zeit_Raum macht. Sowohl für uns, als auch für andere. Weil wir ja nicht mehr allein sein würden. Weil wir ja nicht mehr so seltsam fern und fremd von dem sein würden, was uns umgibt.
Ich hatte mir das so gut ausgemalt.

Vielleicht zu gut?
Vielleicht hätte ich das nie machen sollen? Würde es dann heute weniger weh tun?

10 Jahre später

10 Jahre sind seit unserem Ausstieg vergangen.
10 Jahre, die ein Drittel unseres Lebens sind.

Manchmal denke ich: “Ach das ist doch wie ein Rezept. Ein Teil Freiheit, ein Teil Gewalt und ein Teil Lauf der Dinge…” und stelle mir uns und unser heute-am-leben-sein, wie einen Hefeteig vor, der wächst und reift und sich entwickelt und … zu etwas wird, das man anders benennen kann.
Kuchen, Keks, Butterbrot – mir egal. Hauptsache irgendwie fertig.
Fertiger als jetzt.

Als wir uns damals dazu entschieden haben, der Selbstverständlichkeit unserer Verfügbarkeit etwas entgegenzusetzen, taten wir das ohne konkrete Vorstellungen oder Ideen davon, was dann so passieren würde.
Wir taten es nicht, wie es in zahlreichen Büchern zum Thema vorgeschlagen oder angeraten wird. Wir taten es nicht getragen von einer großen inneren Übereinkunft, dass der Ausstieg das Beste für uns sei. Wir taten es nicht einmal im Bewusstsein aller Innens.

Wir haben diesen neuen Lebensabschnitt angefangen, wie wir alle neuen Lebensabschnitte angefangen haben.
Überfordert, dissoziativ und letztlich: allein.

Das macht unseren Ausstieg nicht zu einem falschen Ausstieg oder zu einem, der nicht echt ist.
Es ist nur einer, der die Kluft zwischen außen und innen verstärkt hat.

Ausstieg, das klingt, als würde man eine Tür öffnen und von einem Raum in einen anderen treten.
Tatsächlich sind wir einfach in irgendeine Richtung gelaufen und merkten erst viele Jahre später, dass wir nicht mehr “im Ausstieg” waren, sondern mitten in einem Niemandsland aus Therapie, Selbstreflektion, klar kommen, wachsen, schrumpfen, verzerren, zerfallen, sich sammeln, erstarken, Hoffnung schöpfen, doch Bitterkeit schmecken.

Für uns war das eine Zeit, in der Stabilisierung wichtig war. In alle Richtungen.
Essen, trinken, schlafen, ausscheiden, interagieren, sicher sein – um nicht viel anderes haben sich diese ersten Jahre gedreht, denn nichts davon hat normgerecht funktioniert.

Wir haben nicht über das, was vor dem Ausstieg war, gesprochen.
Die, die vor dem Ausstieg waren, haben bis heute nicht gesprochen.

Aber gefunden haben wir sie. Wir sind uns ihrer inzwischen bewusst.
Haben verstanden, dass wir nur ihre Schutzschicht, ihr Beiwerk, eine Art funktionaler Alltagsschmuck sind.
Verstehen uns als ihre Dissoziation auf das Trauma, das unser Ausstieg für sie war.
Denn unser Ausstieg – unser ach so gutes uns selbst retten, war ihr Kontrollverlust, ihre Todesangst, ihre Vernichtungserfahrung ohne Hilfe oder Rettung von außen.

10 Jahre, das kann man so lesen und denken: “Boa das ist aber ganz schön viel Zeit.”.
Das kann man denken, wenn man erlebt, wie Tag und Nacht einander abwechseln, wie sich eine Woche in Tage hacken und hintereinander wegleben lässt und Zeiträume zwischen “Anfang” und “Ende” klemmen kann.
Wenn es diese Eindrücke des Selbst- und Umwelterlebens jedoch nicht gibt, sind 10 Jahre eine bloße Zahl in einem irrelevanten Kontext.

Gestern hatten wir Anlass darüber nachzudenken, ob es ein Zurück geben könnte.
Könnte man heute noch so auf uns zugreifen, wie vor 10 Jahren?
Könnten wir heute noch so funktionieren, wie es vor 10 Jahren wichtig war?
Was, wenn die letzten 10 Jahre nur eine Pause, ein Spiel, Teil eines Plans sind und das überbordende Gefühl der Innens, denen unser Ausstieg passiert ist, dass das alles einfach gar nicht wahr ist, stimmt?

Wir sind heute nicht mehr so allein wie vor 10 Jahren.
Wir sind heute auch nicht mehr so einsam und insgesamt dysfunktional wie damals.
In den Jahren seit dem Ausstieg haben wir uns so viel Bewusstsein erarbeitet, so viele dissoziative Brüche verschlossen – haben uns eingebracht und die Welt angefasst.
Aber ist das ein Schutzschild?

Wir wissen noch immer nicht, woraus wir da eigentlich ausgestiegen sind. Wissen nur, dass wir ausgestiegen sind, weil wir dachten, dass das unsere Aufgabe ist. Dass man so Therapie macht, wenn man viele ist und andere Menschen das ausnutzen.
Wir haben das nicht für uns gemacht.

Wir konnten es aber auch nie für uns machen.
Wir wussten damals noch gar nicht wer wir sind, was wir können und wollen.
Was wir wünschen und was wir empfinden.
Wovor wir Angst haben und was das überhaupt sein soll: Leben

Das hat sich inzwischen verändert.
Wir wissen umeinander. Wir wissen um unsere Vorstellungen und Ideen. Haben Ziele, die über akute Bedürfnisbefriedigung hinausgehen.
Wir haben ein Bild von uns als Körper, der re_agiert und auf den hin re_agiert wird.
Nichts davon ist in jeder Situation sicher abrufbar – aber es ist da und wird mal schneller, mal erst nach einiger Zeit als fehlend erkannt, wenn es nicht da ist.

Realistisch gesehen ist das kein Schutz vor Täter_innenzugriff. Wir wissen, dass wir als inneres System nur dann funktionieren, wenn wir auch “an” sind. Wird ein anderes System angesprochen, funktioniert dieses System. Das ist nachwievor so und wir würden uns bescheißen, würden wir das ausblenden.
Aber unsere Funktion und unsere Arbeit bisher ist ein Schutzfaktor.

Bewusstsein ist keine Einbahnstraße. Therapeutische Arbeit keine Punktlandung. Interaktion mit anderen Menschen keine Einzelaktion.
Wir können nicht wissen, was es mit bisher noch gar nicht oder wenig für das Heute bewussten Innens macht, wenn wir mehr von ihnen oder über uns verstehen. Wir können nie ausschließen, dass die Entwicklungsschritte, die wir machen, nicht auch die Entwicklungsoptionen der anderen Innensysteme begrenzen oder erweitern oder in ihrer Form modifizieren.

Aber das Risiko erneuter Übergriffe müssen wir als immer bestehend anerkennen und akzeptieren.
Das ist, was einfach nicht in unserer Verantwortung liegt.

Vielleicht liest sich das ernüchternd für andere (Viele), die im Ausstieg sind oder auf ihren Ausstieg, der schon eine Weile zurückliegt, schauen.
Vielleicht gibt es die Idee, dass 10 Jahre später ALLES vorbei ist, das Leben gut, alles verarbeitet – insgesamt einfach: alles tutti paletti – und dann schreiben wir so einen Text und alles steht wieder in Frage.

Dazu möchten wir Folgendes sagen: Herzlichen Glückwunsch zu der Idee an sich.
Es ist gut eine zu haben und wichtig sie sich zu bewahren – ganz egal, als wie realistisch umsetzbar sie sich später entpuppt.
Es gut alles verarbeiten zu wollen.
Es ist gut, eine Idee davon zu haben, wie “alles tutti palletti” konkret aussehen könnte.

Wir haben ungefähr 7-8 Jahre bis zu dieser Idee gebraucht. Und 9 bis wir verstanden haben, dass es weder falsch noch böse, noch zu viel verlangt, noch etwas, wofür man eine Erlaubnis braucht, ist, sie zu verfolgen und ihre Umsetzung im eigenen Leben zu wünschen. (Und wer weiß, wie lange wir noch brauchen, bis wir dieses Verstehen in eine echte innere Wahrheit, die für alle Innens passt, transformieren können.)

Aus Kontexten jeder Art auszusteigen (und das gilt für die, die gut tun genauso wie für die, die eher schädigen) bedeutet immer einen Weg zu gehen. Entwicklung zu machen. Manche machen das wie wir, indem sie einfach so vorwärts stolpern ohne nach links und rechts oder auf sich selbst zu schauen (also hoch dissoziativ und reaktiv auf äußere Impulse hin) und manche sehr bewusst, einen Schritt nach dem anderen. Manche verfolgen mit ihrem Ausstieg ein konkretes Ziel, manche verstehen das Ziel erst im Ausstieg selbst und manche begreifen erst am Ziel, was sie eigentlich erreichen wollten.

In der Literatur finde ich diese Varietät der Ausstiegsarten, bzw. der Wege an sich, nicht so vertreten. Schon gar nicht der Entwicklungsverläufe danach.
Das wird aber auch an der Literatur liegen. Beziehungsweise daran, dass wir dazu nur psychologische Fachliteratur gelesen haben.
Nicht alle Aussteiger_innen haben 10-20 Jahre nach dem Ausstieg noch die gleichen Behandler_innen wie zu Ausstiegszeiten und nicht alle Aussteiger_innen haben 10-20 Jahre nach dem Ausstieg noch Therapiebedarfe. Oder den Wunsch oder die Motivation oder den Mut oder irgendeinen Anlass, ihre Erfahrungen aufzuschreiben und zu teilen.

Darum schreiben wir unseren Weg und unsere Auseinandersetzung damit auf.

Wir können jetzt, gut 10 Jahre später, nicht zurückgelehnt in einer Hängematte sitzen und davon ausgehen, dass wirklich alles von dem ALLES vorbei ist.
Wir wissen noch nicht alles über ALLES.
Erinnern noch nicht alles – schon gar nicht als selbst erlebt.
Aber wir haben mit unserem Ausstieg einen Raum verlassen, in dem wir immer wieder darin gestört werden, uns damit auseinanderzusetzen.

Das hat unser Ausstieg uns ermöglicht und in diesem Stadium angekommen, können wir sehen, dass wir so etwas wollten bzw. dass die Personen um uns herum damals, genau das für uns wollten: eine Unterbrechung permanenter Reaktion auf Todesangst, Verletzung und konkrete Bedrohung.

Es ist bitter für uns, am Ende des Tages mit der Dankbarkeit für 10 Jahre freien Entwicklungszeitraum im Herzen, die Realität von wer weiß vielen Jahren, die da noch kommen werden, Unsicherheit darüber, ob ES wirklich ganz und gar vorbei ist, im Hinterkopf vereinen zu müssen.
Aber so ist es.

Genauso wie viele andere Dinge auch.