die Reise nach Italien

„Das ist also Bologna“, denke ich reiseneblig im Kopf.
19 Grad, Regen. Im Kiosk hängen Schinken von der Decke, am Gleis patrouillieren zwei Soldaten. Wir haben etwas Zeit bis zum letzten Umstieg, ich übernehme die Gepäckwache. Seit etwa 24 Stunden tue ich etwas, was man nicht mal eben so tun sollte. Ich folge der Einladung einer fremden Person, die ich nur aus Mails und einigen Zoomgesprächen kenne. Erst nach Bayern, dann nach Italien. Genauer in das ländliche Umland von Arezzo. Das Gewicht meines Rucksacks ist erheblich, die Luft schiebt sich spürbar in meine Lunge. Die Menschenmenge rieselt gemächlich an mir vorbei. Ich warte auf Anzeichen für Gefahr, doch außer den beiden Soldaten und einem kleinen Trupp Securityleute sehe ich nichts. Es ist das übliche Bahnhofsgeschehen. Nur auf Italienisch. Binari. Pfeilsymbol. Servizio. WC-Symbol. Informazioni. Schaffnersymbol. Biglietti. Ticketsymbol. Uscita principale. Kein Symbol, also eine grundsätzliche Aussage? Eine prinzipielle Aussage? Kann hier nur ja nur irgendwas mit Herkommen oder Weggehen zu tun haben. Binari. Das Wort gefällt mir. Daniela ist die Person, die mich eingeladen hat. Matthias ist einer ihrer Mitarbeiter. Als die beiden zurückkommen, frage ich, was Binari bedeutet. „Gleis“, antwortet Matthias. Mir gefällt das Wort gleich noch mehr. Bi – Zwei – nari. „Zwei Naris ergeben ein Gleis“, denke ich. Später erfahre ich jedoch, dass „Narici“ „Nasenlöcher“ bedeutet und Binari, eigentlich eher „Spur“. Mein Kopf macht aus diesen Informationen einen Zug, der die Spuren abschnüffelt.

Bisher hatten wir keine Zeit, um miteinander zu sprechen. Der Zug von München bis Bologna war komplett ausgebucht, wir hatten keine Plätze zusammen. Doch nun sitzen wir einander im Zug nach Arezzo gegenüber. Draußen ist es bereits frühlingsgrün. Einzelne Berge und Hügel ragen in den hellgrauen Himmel. Matthias fragt mich nach Stationen meines Lebens, Daniela hört zu. Wann war was schwierig, wie hat sich was entwickelt? Ich bin nicht meinetwegen hier, deshalb verfolge ich den Anspruch, dass jede meiner Antworten auch der Klientin hilft, zu deren Wohn-, Hilfe- und Lebensort wir gerade fahren.

Es ist das erste Mal, dass ich so konkret als Helfer_in mit Helfer_innen zusammen bin. In der Regel bekomme ich E-Mails mit Fragen. Oder einer Bitte um Input. Wünschen nach Feedback, Meinung, Ideen aus meiner Perspektive als Viele, die das schon durch haben. Das, die schwierige Zeit. Die extrem angewiesene Zeit. Das, die Hilflosigkeit auf allen Ebenen. Manchmal auch die der Helfer- und Unterstützer_innen. Diesmal bin ich nicht Hannah, der (hoffentlich) hilfreiche Geist aus dem Internet, sondern Hannah, die_r zum Helfen kommt. So richtig mit Körper und Geist, Gepäck und Fahrtkostenthematik.
Als wir in Arezzo ankommen, werden wir abgeholt. Typisch deutsche Kinder- und Jugendhilfe: in einem alten VW-Bulli. Der Flashback scheppert sachte in meinem Hinterkopf, wird aber gut vom Zustand der Straßen und der Landschaft verstreut. Wir werden durchgerüttelt und fahren so enge Kurven, dass ein Wunder ist, dass wir niemanden dabei beobachten, wie sie_r aussteigt, das Auto hinten anhebt und auf der Stelle dreht.

Angekommen im Wohnhaus spüre ich das Summen in meinen Muskeln. Ich muss jetzt unbedingt liegen, die Augen schließen und den Gehörschutz unter den Kopfhörern haben. Mein Körper fährt noch Zug, meine Muskeln sollen verstehen, dass sie jetzt aufhören können, mich zu schützen. Obwohl alles neu ist. Fremd. Anders. Mein Körper schläft, bevor ich mich dazu entschließen kann.

*

Es gibt einen groben Plan. Darin trifft sich das Team und erlaubt mir, dabei zu sein, um einen Eindruck zu bekommen. Dieses Team ist besonders, weil Daniela und Matthias dabei sind. Sie sind nur ein Mal im Monat dabei, da kommen ganz bestimmte Themen auf den Tisch.
Danach gibt es ein Team mit der Klientin.

Wie wir da so sitzen, mit einem Tisch voller Nüsse und Kekse, Kaffee und Tee, einem Laptop und Notizenheftchen, fühle ich mich wie beim Plenum im Verlagskollektiv. R., Z. und A., die Jugendlichen in mir drin, können es kaum fassen. Das solls schon sein? DAS ist „Team“? Die verbotene Zeit? Die Zeit, in der niemand ansprechbar ist und man sich melden soll, wenn was ist, aber eigentlich wäre es jetzt richtig schlecht, wenn was wäre, weil es krass stört, also strengt man sich voll an, dass nichts ist, aber die Anstrengung macht alles schlimmer, also ist dann relativ schnell im Grunde alles was, aber man soll ja nicht stören, außer es wäre was, aber eigentlich wäre ja voll kacke, wenn jetzt was ist, weil es stört, also zerfasert man sich in tausend kleine durchsichtige Fäden, verschmilzt mit der Wand, dem Boden und der Decke und fragt sich vielleicht noch kurz, ob dieser kleine Tod nicht besser für immer wäre, weil man dann nie Gefahr läuft, jemals irgendwie zu stören, weil (man selbst) was ist.

Ich konzentriere mich. Sammle Eindrücke und Umstände, versuche die zeitgleiche Übersetzung für die italienischen Kolleginnen auszublenden. Schnell bin ich mir relativ sicher über die Quelle der Unsicherheiten und Momente des Unverständnisses zur Lage. Und erleichtert. Denn es ist nichts Großes. Nichts Schlimmes. Nichts, was nirgendwo sonst nicht auch passieren kann. Hier kann Information helfen. Verständnis über die Mechanik der dissoziativen Identitätsstörung. No need for special special „Das kann aber nur eine fachliche Fachperson leisten.“ Tatsächlich hat Danielas Gefühl gestimmt: Die Innensicht von jemandem, die_r Viele ist, kann das letzte Stückchen zum Verstehen- und Nachvollziehenkönnen entwickeln helfen.

Die Klientin hatte vor wenigen Jahren um Danielas Hilfe gebeten.
Die Diagnose stand bereits, als die Hilfe begann. Die Klient_in erlebt sich als viele und ist bis heute insgesamt instabil, obwohl die Hilfe kontinuierlich und sehr umfangreich geleistet wird. Wenn nicht Himmel und Hölle, so doch die eine oder andere lokale Mechanik wurde in gemeinsamer Anstrengung bewegt, um äußere Sicherheit für die Klient_in herzustellen. Aber wirklich besser geworden ist seitdem eher wenig. Krise folgt auf Krise. Niemand versteht wirklich so richtig, warum. Aber langsam kommt Erschöpfung auf. Reinkriechende Hilflosigkeit. Allgemeine Unsicherheit. Und die Frage „Helfen wir eigentlich richtig?“

Fachlich beurteilen kann ich das natürlich nicht. Sowas gehört in die Kategorie „special special fachliche Fachperson“ und die Einschätzung der Klientin.
Ich habe also geteilt, was ich mir als am ehesten zutreffend denke. Nämlich, dass man sich als Mensch ohne DIS und ohne Aufwachsen in konstant toxischem Stressniveau einfach nicht vorstellen kann, wie es ist am Leben zu sein, wenn das Stressniveau so viel niedriger ist und die dissoziative Identitätsstruktur zu stören beginnt.
Der Krankheitswert der DIS ist im Kern, nicht damit zurechtkommen zu können, wenn alles gut ist. Und zwar nicht wegen irgendeiner emotionalen, sozialen oder intellektuellen Einstellung, irgendwelcher Werte oder Persönlichkeitsmerkmale, sondern ganz schlicht und einfach, weil der ganze Körper in praktisch allen Funktionen daran angepasst ist, unter Stress – und zwar existenziell bedeutsamem Stress – zu leben.

Es erscheint widersinnig, ist aber für (komplex) traumatisierte Menschen einfach logisch und wichtig, Krisen zu haben – und wenn nötig auch zu produzieren, um in (genug) Stress zu kommen, um dann bestimmte Funktionen abrufen zu können. Das ist (soweit ich das von anderen Vielen und mir selbst mitbekomme) nie eine bewusste Entscheidung, sondern eher wie eine Art unbewusster Pfad oder das, was Ungeschlagene manchmal auch als Intuition bezeichnen. Bewusst oder unbewusst ist so gut wie immer klar: „Wenn die Lage komplett eskaliert, es saugefährlich ist, ALLES auf dem Spiel steht, ich richtig runter bin mit allem, dann wirds schon irgendwie gehen. Da kommt ein Wechsel oder so – irgendwie krieg ich das dann schon hin.“
So sind Menschen mit DIS durchs Leben gekommen, bevor die Gewalt oder die unsichere Lebenssituation endete. Der Körper hat gelernt: „Wenn mein Tank fast leer ist, fahr ich das beste Rennen (zur nächsten Tankstelle, wo ich mir dann nur ein ganz bisschen reinfülle, weil ich so ja am besten fahren kann).“

Wenn dann der Tank immer voll ist – die Person durchgehend weniger Stress hat – kommt manchmal (noch) gar kein Funktionsimpuls und die Person bekommt Probleme mit Dingen, die man sich als Mensch ohne DIS kaum vorstellen kann. Basics wie essen, trinken, Körperhygiene, soziale Interaktion und Kommunikation, Körpersignale bedarfsgerecht beantworten, können mal mehr, mal weniger unschaffbare Herausforderungen werden. Gleichzeitig werden aber die, gerade im Kontrast zum Scheitern vor diesen „Banalitäten“, viel krasseren Herausforderungen scheinbar mühelos gemeistert. Dass das so ist, gerade weil es die krasseren Herausforderungen sind, muss man einfach wissen, um es zu verstehen.

Diese Mechanik ist an sich nicht DIS-spezifisch. Viele Menschen kennen es, wenn sie in Zeiten chronischer Erschöpfung oder Überforderung oder Überreizung keine oder nicht genug Zeit und Raum zur Regeneration und Regulation bekommen. Irgendwann vermag es eben nur noch die Angst vor dem Jobverlust, der Deadline, der Strafe für Versagen, dem Stress mit jemandem, den man gern hat oder braucht, um das freizugeben, was es erfordert, um zu funktionieren.
Das Problem damit ist, dass es keine Energie ist, die man einfach so in sich drin hat und dann rauslässt, sondern ein Reflex, der körpereigene Ressourcen bereitstellt, um das Überleben zu sichern. Deshalb sind Menschen mit echtem Burn-out auch so profund körperlich krank und deshalb kommen so viele auch nach einer Therapie und viel Erholungszeit nie wieder an ihr altes Kraftniveau. Dieser Überlebensreflex zieht die nötige Energie aus dem, woraus der Körper sich selbst am Leben und in Integrität hält. Tiefer kann man nicht in die eigene Lebendigkeit eingreifen.

Bei Menschen mit DIS ist dieser Reflex an das geknüpft, was man im Allgemeinen als „Persönlichkeit“ bezeichnet, weil sie – so der Stand der Traumaforschung – in traumatischen (also extrem stressenden) Umständen aufgewachsen sind. In so einem Aufwachsen erlebt man nicht immer die gleichen Gründe für extremen Stress – aber man erlebt immer die ganz reale Wahrscheinlichkeit für extremen Stress in Abwechslung mit Momenten, denen das eigene Leben tatsächlich bedroht ist oder bedroht erscheint, wie das bei traumatischen Erfahrungen der Fall ist. Man entwickelt alle persönlichen Eigenschaften, mit denen man eben so auf die Welt kommt, in mehr oder weniger bewussten oder unbewussten Todesängsten und den damit einhergehenden Vermeidungsmotiven. Also in hohem Stressniveau und permanenter Anstrengung, das zu kompensieren.

Nun bringt das neue Leben ohne dieses Stressniveau also eine neue Grundlage hinein. Eine, mit der noch nicht viel Selbst_Erfahrung besteht. Eine, auf die der Körper noch nicht immer richtig im Sinne von „den Umständen, sozialen Erwartungen und den eigenen Fähig- und Fertigkeiten entsprechend angepasst“ reagieren kann. Selbstverständlich kommt es zum Scheitern. Zu „Symptomen“. Zu komplett widersprüchlichem Verhalten und einem sehr unausgewogenem Fähig- und Fertigkeitenprofil. Niemand, die_r sein Leben unter Wasser verbracht hat, macht ohne Anlass, Übung und Vorbild einen Spaziergang an Land.

Die gute Seite daran: Die Krisen zeigen Prozess an.
Die schwierige Seite: Krisen tun weh und können, ungenügend begleitet, wiederum das Potenzial haben zu traumatisieren.

Was steht also immer an in der Begleitung von Menschen mit DIS (und anderen (komplexen) Traumafolgestörungen? – Die Krisentäler abflachen und eine gute Begleitung sicherstellen.
Krisen lassen sich in dieser Phase nicht vermeiden. Es ist ein schöner Wunsch und eine wunderbare Eigenschaft, wenn man Menschen keinen Schmerz wünscht, aber in so einer Begleitung, in diesem so umfassend umwälzenden Entwicklungszeitraum, kann man ihn immer nur lindern. Und darüber trösten, dass er überhaupt da war. Und wieder da sein wird, bis er wieder weg ist. Und wiederkommt. Und wieder geht.

Man muss Krisen nachbesprechen, damit sie alle, die sie (mit)erlebt haben, verstehen können und damit die Dinge, an denen die betroffene Person ihre Vermeidungsstrategien trainiert, weniger werden. Die Person kann so lernen, dass man über Schwieriges sprechen kann. Weil es sagbar ist.
Krisen oder emotionale Einbrüche werden weniger schlimm, je besser man sie versteht. Je besser man sie versteht, desto eher werden sie vorhersehbar. Das Vermeidungsverhalten kann nachlassen, wenn man – durch das entstandene Verständnis und eine kompetente Anleitung – in die Lage versetzt wird, ein anderes Verhalten auszuprobieren. Neue Strategien zu entwickeln, neue Überzeugungen zu entwickeln und alte dafür abzulegen.

Es gibt eine – in meinen Augen – Superkraft, die die meisten Menschen ohne Komplextrauma und ohne dissoziative Störung an sich selbst komplett ignorieren: Sie wissen fast immer einfach, wenn etwas mit ihnen zu tun hat. Wenn sie etwas machen, dann wissen sie, dass sie das machen. Diese Menschen empfinden ihren Tag, ihr Leben an einem Tag, einer Woche, in einem x-beliebigen Zeitraum als etwas, das ihnen passiert, und zwar genau da, wo es passiert. In ihrem Zuhause, ihrem Arbeitsplatz, in der Natur, unter Freund_innen. Zu jeder Zeit. Menschen mit DIS haben diese Kraft (noch) nicht (so umfänglich). Sie müssen sie sich erarbeiten und dann auch noch darauf klarkommen, was es mit ihnen macht, sie zu haben.
Mit dieser „Superkraft“ oder etwas weniger idealisierend formuliert „Fähigkeit“ kommen viele Betreuer_innen in Hilfeeinrichtungen wie die, die ich in Italien besuchte, leisten Hilfen wie diese und nehmen dennoch an, sie müssten noch so viel mehr machen und schaffen und leisten. Obwohl sie das Wichtigste schon jeden Tag und immer machen: Sie sind da und leben mit sich selbst (mehr oder weniger) assoziiert. Egal, was sie machen, sie bieten ein Vor_Bild zum Leben in sicheren Umständen. Das ist sehr viel und in meinen Augen das, was keine stationäre oder ambulante Psychotherapie leisten kann (ohne den Rahmen der ethisch korrekten Behandlung zu verlassen).

Das bedeutet für die Hilfe, dass man sich nicht großartig auf die Extreme konzentriert – also die Krisen und das Trauma – sondern auf die Grundlagen. Die Grundversorgung und was es macht, wenn sie gemacht ist. Die Grundbedürfnisse und was es macht, wenn man sie spürt, wie man sie wahrnimmt, wie man sie, wann, wo und womit effizient und unter Berücksichtigung bestimmter Faktoren erfüllen könnte. Grenzen. Eigener Wille. Der Wille anderer Menschen. Alles Dinge, für die man Menschenkindern zig Jahre zum Erlernen einräumt. Menschen mit DIS müssen das nachholen. Sie müssen gewissermaßen nachreifen. Man darf nicht den Fehler machen zu glauben, dass sie über diese Basiskompetenzen verfügen, nur weil sie sie dann und wann unter (letzten Endes Todes-) Angst ausführen können. Die meisten können es nicht. Manche, so wie die Person, die das hier gerade schreibt, bis ins 30. Lebensjahr hinein nicht.

Die Teamzeit ist um. Alle atmen tief ein, manche stöhnen beim Aufstehen. „Das war jetzt ganz schön viel“, darüber sind wir uns alle einig. Draußen kommt die Sonne durch auseinanderziehende Wolken.
Jetzt wird gekocht, die Töpfe scheppern mir durch den Kopf. Zeit für eine Ressourcenpause. Zum ersten Mal stehe ich vor einem blühenden Pfirsichbaum und fotografiere zum ersten Mal eine große Mauerbiene.

große schwarze Biene mit bläulichem Flügel

*

Das Team mit der Klientin ist eine Situation mit Einschlägen bei mir.
Mein kleiner Stein im Schuh, R., findet es „krass cool“, dass die Klientin auch in der Runde sein darf und dass man das immer für alle machen sollte, denn „es geht ja um sie und das ist ja nur fair.“ Als ich ihr zeige, welche Hinweise es darauf gibt, dass es für die Klientin gleichzeitig auch eine Überforderung sein könnte, so beteiligt zu sein, weil sie gewissermaßen „liefern muss“, also auch Dinge aussprechen können muss, die sie vielleicht noch nicht aussprechen kann, weil sie sie noch nicht weiß oder fühlen kann oder sich noch gar nicht traut überhaupt darüber nachzudenken, trifft es R. unerwartet. Was mich wiederum überrascht. Direkt neben R. spüre ich eine unserer Klapsleichen und kapiere selber erst dann: „Ahja. Ja. R. kann sowas krass cool finden, weil es nicht R. war, die hat liefern müssen.“
Ich gehe etwas weiter von ihnen weg. Es geht jetzt nicht um uns. Das hier ist kein Zwangskontext. Keine geschlossene Einrichtung. Die Klientin ist erwachsen. Es ist keine eingeräumte Freiheit, dass sie sich an der Hilfe für sich selbst beteiligen darf. Es ist ihr Recht. Sie ist vielleicht noch nicht an dem Punkt, an dem sie das nicht mehr überfordert, aber Überforderung darf auch kein Grund sein, jemandem die Rechte nicht zugänglich zu machen. Das passt also schon. Nicht perfekt, nicht ohne Gnih und Gnah, aber alles andere wäre falsch.

Die Situation ist schwierig. Die Dissoziation der Klientin und ihre dumpf-ohnmächtige Stille erfassen alle im Raum. Ich zähle im Kopf bis 10 und prüfe, ob jemand etwas sagen will. Zähle noch einmal bis 10 und prüfe, ob sich jemand bewegt. Dann breche ich die Situation auf. Fenster auf, kurz etwas Bewegung im Raum. Dem Körper vermitteln: Hier ist kein Freeze nötig. Kein Durchhalten, Aushalten, alles ist beweglich und sicher.
Wir haben gerade über die grundlegende Versorgung gesprochen – das gehört dazu. Was passiert war, nennen manche „Energieübertragung“, manche machen unsere Spiegelneuronen dafür verantwortlich, manche sprechen von „Ansteckung“ oder von „psychologischer Übertragung“. Die Überforderungsreaktion der Klientin war die Dissoziation. Sie wusste nicht, was sie sagen soll, welche Antwort richtig ist, vielleicht auch, was gemeint ist mit den Fragen, die an sie gerichtet wurden. Vielleicht hat sie auch nicht ganz einordnen können, was die Fragen mit was (wem) von ihr zu tun haben könnten. Vielleicht hatte sie Impulse ganz andere Dinge anzusprechen, dann aber nicht gewusst, wie sie sie der Situation angemessen formulieren könnte. Vielleicht wollte sie im Grunde auch gar nicht da sein, hatte sich aber nun doch gewissermaßen verpflichtet, hier dabei zu sein. Und was kann man nur machen, wenn man irgendwo feststeckt und nicht körperlich ausbrechen kann – man verkrümelt sich, man „macht sich weg“. Man dissoziiert. Im Fall der Klientin praktisch übergangslos und automatisch.

Solche Situationen entstehen durch die Überforderung auf Klient_innenseite, aber auch durch Überforderung auf Helfer_innenseite. Da will man höflich sein und warten und der Klientin allen Raum lassen, ihr gewissermaßen „die Bühne bieten“. Da will man bloß keine Grenze berühren oder stressen. Und dann ist auch noch die Chefin da, da will man ja auch irgendwie passend performen – und bringt sich selbst und eben auch die Klientin damit in ein hohes Stresslevel, weil die persönliche Unsicherheit (unbewusst) als Reaktion auf einen unsicheren Raum eingeordnet wird.
Dass man sich zu einem Zweck und aufgrund bestimmter Kompetenzen und Arbeitsaufträge (also Dinge, die nichts mit den Personen der Helfer_innen zu tun haben) zusammengefunden hat, gerät dabei schnell aus dem Bewusstsein.
Wenn ich auf Seiten der Hilfe- oder Unterstützungsbeauftragten bin, verpasse ich solche sozialen Fallstricke in der Regel. Das war hier ganz praktisch, denn ich konnte das erklären. Diese dumpfe Stille und die folgende Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, vielleicht auch Ohnmachtsgefühle – die haben nichts mit dem Auftrag zu tun. Nichts damit, ob man etwas richtig oder falsch macht. Hier geht es um Angst, Unsicherheit, Unklarheit, Planlosigkeit, vielleicht auch fehlende Strukturen – und um fehlende Kommunikation, also Verbindung miteinander. Was logisch ist, wenn sich eine Partei (oder auch gleich noch die andere) in dem Gespräch gerade „weggemacht hat“.

Mein in der Regel informationsbasierter Fokus in solchen Situationen zeigt mir ziemlich zuverlässig auf, was ich tun kann oder was dran wäre zu tun. Ich werde auf zwischenmenschlichen Ebene nicht so schnell verunsichert, wenn mir jemand zeigt oder sagt, dass sie_r etwas nicht kann. Wenn etwas nicht geht, dann muss man gucken, wie man sich annähert. Für mich ist das eine relativ einfache Prüfung und Abgleichung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen und ein pragmatisch lösbares Thema.
Was man aber in dem Fall nicht ignorieren darf (nur weil man sich dann so toll produktiv fühlt), ist, dass es für die Klientin nicht nur eine pragmatische, sondern auch emotionale – traumalogische – Ebene hat. Sie fühlt und glaubt deshalb, dass sie etwas nicht kann. Zum Beispiel, sich selbst in den Grundlagen zu versorgen, bevor sie anstrengendere Dinge macht.

Die Realität ist, dass viele Menschen mit DIS die für die Grundversorgung nötigen Funktionen (Fähig- und Fertigkeiten) noch nicht zuverlässig abrufen und ausführen können. Dann kommen die Helfer_innen und sagen: „Du musst aber, das ist wichtig.“ Und die DIS-Klient_innen haben nur einen Bezugsrahmen zu dieser Erfahrung – ihre Lernerfahrungen im traumatisierenden Kontext. Für sie ist also ziemlich schnell klar: „Ich muss das jetzt hinkriegen, sonst passiert mir was Schlimmes – aber ich kann das nicht. Nicht so, nicht jetzt. Oh G’tt wenn ich das sage – oh nein, aber vielleicht auch, wenn ich nichts sage und nicht mitmache – also vielleicht JETZT GLEICH passiert was – ich weiß es ganz genau, jetzt bin ich dran. Ich werde sterben.“
Das ist eine traumalogische Annahmenkette. Das sind die Schlussfolgerungen, die ihnen früher das Leben gerettet haben, weil sie nicht davon ausgehen konnten, dass es nicht ihre Lebensbedrohung zur Folge haben könnte, wenn sie nicht machen oder schaffen, was andere (überlegene) Menschen von ihnen wollen, fordern, abverlangen.
Diese Traumalogik hat aber nicht nur die Erfahrungen der Klient_innen als Quelle, sondern auch bestimmte Traumawahrheiten über sich und andere Menschen. Eine Traumawahrheit könnte sein: „Ich kann nichts (wirklich/genug/gut/richtig) machen.“ Und eine weitere: „Andere Menschen übergehen immer meine Grenzen (sind also gefährlich für mich)“. Auf Helfer_innenseite ist man in diesen traumalogischen Annahmen immer der Arsch. Immer auf einer Ebene mit früheren Täter_innen. Und das ist ein sozialer Fallstrick, den man mit einem gewissen Kraftaufwand übersteigen muss. Geht man darauf ein, kommt man nicht weiter. Die Klient_innen können noch keine andere Ebene aufmachen – sie würden diese Gleichstellung nicht machen, hätten sie einen anderen Referenzrahmen für solche Situationen. Den müssen sie erst entwickeln und zwar in der Hilfeleistung, um die es geht. Der beste Weg also jemandem zu zeigen, dass sie_r keine Täter_in ist oder sich wie die früheren Täter_innen verhält, ist nicht gewaltvoll mit dieser Situation umzugehen.

In dem Fall der Basisversorgung ist das ganz schön aufzuzeigen, weil es um so etwas ganz Grundlegendes geht. Die Person mit DIS (oder anderer komplexer Traumafolgestörung) muss lernen können, wie sie sich selbst anfühlt und wozu sie fähig ist, wenn sie grundlegend versorgt ist. Sie kann es lernen, wenn sie immer grundlegend versorgt ist. Also muss sie sich jeden Tag damit befassen, ausreichend zu essen und zu trinken. Sie muss regelmäßig zur Toilette. Sie muss sich waschen, kämmen, die Zähne putzen. Sie muss frische Wäsche anziehen. Sie muss ihre Wohnung aufräumen und sauber machen bzw. halten. Ihre Hilfsmittel müssen immer vollständig, heil, sauber und verfügbar sein.

Eine Möglichkeit wäre, der betreffenden Person aufzuzwingen, dass sie das alles machen muss, „sonst läuft hier gar nichts (was ihr Spaß macht oder sehr wichtig für sie ist)“. Das ist der alltagsgewaltvolle Klassiker in vielen pädagogischen Einrichtungen. Da spielen oft gewaltlogische Schlüsse von Helfer_innen eine Rolle und aufgrund der Alltagsgewalten, mit denen Kinder zum Beispiel oft erzogen werden, fällt diese Umgangsweise selten wirklich als Helfergewalt auf. Hier wird das, was der Klientin wichtig ist, genommen, um ein gewünschtes Verhalten zu erzwingen und damit legitimiert, dass das gewünschte Verhalten das Ziel der Hilfe sei. Sie will ja gut leben. Die Gewaltlogik dahinter: „Für ein gutes Leben muss man halt auch was machen (was einem nicht gefällt/weh tut/unangenehm ist/schwer ist). Wer richtig sein will, muss sich richtig verhalten.“ Grundversorgung ist aber nicht nur ein Verhalten. Und Hilfe ist keine Dressurmaßnahme zur Vorbereitung auf eine Daueraufführung im Leben außerhalb der Einrichtung bzw. der Hilfemaßnahme.

Die bessere Möglichkeit ist, den Fokus auf die langfristigen Ziele der Klientin zu halten, die ja den Auftrag der Hilfe enthalten. Ein übliches Ziel von Menschen mit DIS ist, aus dem Überlebensmodus rauszukommen und dahin, auch gern am Leben zu sein. Es ist also sinnvoll, den Menschen dabei zu helfen, ihre Lebendigkeit als etwas kennenzulernen, das Qualitäten hat, die sich entsprechend der Umstände verändert. Zu Beginn spüren sie immer (nur?) den Überlebensmodus. Besonders, wenn es ihnen schlecht geht. Aber um die Chance zu bekommen, eine andere Qualität überhaupt kennenzulernen, müssen sie ihre Lebensumstände verändern. Und dabei geht es nicht nur um so große Dinge wie Kontakt zu Täter_innen beenden oder den Inneren, die nur Trauma kennen, einen Wunsch zu erfüllen oder es ihnen schönzumachen (damit im Inneren Ruhe ist). Sondern um genau die Faktoren, die bestimmen, ob es sich gut oder okay anfühlt, in der eigenen Haut zu stecken oder nicht.
Jede Umstandsveränderung bringt auch eine Zustandsveränderung. Ein Mal Hände waschen – zack, ganz andere Möglichkeiten der Interaktion mit der Mitwelt als mit dreckigen Händen. Ein Mal um den Block laufen – ganz andere Empfindung im Körper als vorher.
Das kann man als Helfer_in immer wieder vermitteln: „Du möchtest aus dem Überlebensmodus – du musst deinen Lebensmodus dafür erkennen können. Die Grundversorgung ist der wichtigste Schritt dafür. Lass uns mal schauen, welchen Schritt wir heute dafür probieren können. Was kannst du alleine? Wobei kann ich dir Hilfestellung (wie zum Beispiel Anleitung geben, Vormachen, Aufgabe in kleinere Teilschritte aufteilen, die Aufgabe über den Tag verteilt immer wieder versuchen, (emotional) Händchen halten) bieten?
Du möchtest das heute nicht probieren? Soll ich später am Tag nochmal fragen? Du denkst, du kannst das nicht? Ist die Aufgabe zu groß? Hast du inneren Stress deshalb? Kannst du formulieren/ausdrücken/aufschreiben, wie das für dich ist? Ist etwas davon pragmatisch lösbar? Welche innere Überzeugung traust du dich zu prüfen? Heute ist ja so vieles anders – vielleicht zeigt sich, dass der innere Stress/Druck/Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn du es unter den Umständen heute probierst. Oder morgen. Oder übermorgen.
Wenn du deine Grundversorgung schaffst, wird alles, was du am Tag vorhast, mehr Spaß machen. Du wirst mehr Kraft haben. Deine Chancen, weniger Symptome kompensieren zu müssen, steigen.“

In einer stationären 24-Stunden-Betreuung kann es geleistet werden, den ganzen Tag auf diese Herausforderungen einzugehen und dranzubleiben. Es gibt keinen Anlass, wie zu wenig Fachleistungsstunden oder starre Klinikstrukturen, irgendwo in der Mitte abzubrechen und die betreute Person aufgewühlt in ihren traumalogischen Schleifen und Traumawahrheiten über sich zurückzulassen.
Als Helfende_r hat man alle Zeit und allen Raum, um immer wieder auf den Grund für die Konzentration auf die Grundversorgung zurückzukommen und klarzumachen, dass die eigene Präsenz daraus entsteht, dass man dabei hilft, das Ziel für die Hilfe zu erreichen.
Erwachsenen Menschen mit DIS, die nicht in einer Zwangsmaßnahme stecken, steht es frei, sich gegen ihr Ziel zu entscheiden. Sie können sich selbst in ihrer Traumalogik bestärken und die Traumawahrheiten über sich aufrechterhalten. Das sind legitime Entscheidungen, die einem überlebbaren Leben nicht im Wege stehen. Aber vereinbar mit dem Hilfeauftrag an den Träger sind sie nicht. Dafür wird die Betreuung und die Unterkunft nicht zur Verfügung gestellt.
Es kann sinnvoll sein, eine Absprache darüber zu machen, wie lang der Zeitraum sein kann, in dem sich die betroffenen Personen gegen ihre Ziele der Hilfe entscheiden. So kommt man gemeinsam in die Lage zu prüfen, was die Gründe für diese Entscheidung sind und ob zusätzliche Arbeitsräume, etwa eine psycho-, ergo-, kunst- sozio-, *therapeutische Sitzung hilfreich sein könnten, um zu unterstützen, das eigene Ziel zu halten. Es kann aber auch sein, dass sich das Ziel verändert hat. Auch das kann mit dieser Absprache überprüft werden.

Grundsätzlich kann es gut sein, sich klarzumachen, dass wer keine Hilfe braucht, auch nicht um welche bittet. Aber nicht immer ist die Hilfe, um die gebeten wird, auch die, die gebraucht wird. Auch das ist Realität. Manchmal kann die bestmögliche Hilfe sein, herauszufinden, welche Hilfe wirklich oder zusätzlich noch gebraucht wird. Dann kommt man zwar nicht gemeinsam ans gesteckte Ziel, aber man hat der Person weiter.geholfen.

Wir gehen aus dem Team mit einer Idee für einen ersten Schritt, etwas zu versuchen.
Wieder tiefes Atmen. Seufzen. Langsam rausbewegte Anspannung bei allen.
Ich fotografiere zwei Wiesenschnaken, die mit der Erhaltung ihrer Art beschäftigt sind.

zwei Wiesenschnaken auf der Wiese während der Paarung

*

Später fahre ich mit Matthias zum Supermarkt. Wie bei uns zu Hause ist das mit einer längeren Autofahrt auf kaputten Straßen und der Konfrontation interessanter Vorstellungen anderer Autofahrer_innen verbunden. Der Supermarkt sieht aus wie die Art ländlicher Klüsten-Edeka, den es nur gibt, weil kein anderer Laden da ist. Bisschen abgeranzt, alles ein bisschen schrabbelig, aber das Wichtigste ist da.
Ich fotografiere einen Käsekuchen.

Eine

Am Abend holen wir Daniela von ihrer Wohnung ab und gehen essen.
Ich fotografiere eine Prachtkatze vor einer Prachttür und das einzige Gericht ohne Fleisch auf der Karte des Restaurants.

*

Am nächsten Tag sind alle da. Teamtag. Mit Kolleginnen und Praktikantin von einem anderen Team.
Wir wissen bereits, dass wir vertiefen, was wir am Tag zuvor besprochen haben. Warum sind die Basics so schwierig? Was hilft? Wie genau können die Helfer_innen das umsetzen?
Manche Fragen kommen noch dazu und machen die Zusammenhänge rund.

Zum Beispiel die Frage nach selbstverletzendem Verhalten. Niemand der Anwesenden kann (und möchte) es ertragen mit anzusehen, wie sich jemand verletzt.
Mich berührt der Schmerz, den eine Helferin beim Schildern einer solchen Situation ausdrückt. Eine Klapsleiche in mir würde sich vor Scham am liebsten gegen die Steinwand hinter ihr werfen. Ich walze den Abstand zwischen ihr und meiner Gegenwart aus. Es ist bald 20 Jahre her, dass wir zuletzt jemanden in die Lage gebracht haben, unseren Selbsthass und die Gewalt an uns selbst zu bezeugen. Jetzt ist Heute. Ich habe einen Auftrag.

Ich erkläre, dass zum sicheren Umfeld gehört, dass keine Gewalt ausgeübt wird. An einem sicheren Ort wird niemand verletzt. Die Helfer_innen nicht und auch die Klient_innen nicht. Das Verhalten darf passiv unterbrochen werden – nicht weil es „böses Verhalten“ ist, sondern weil es den Raum unsicher macht. In einem unsicheren Raum kann niemand die gesteckten Ziele erreichen. Sich nicht zu verletzen, ist ein Beitrag zum Ziel. Wenn sich jemand selbst verletzt (und Helfer_innen das miterleben müssen) übt die Person Gewalt aus und entscheidet sich entsprechend gegen das Ziel.
Die Helfer_innen helfen mit dem Unterbinden (etwa durch Schutz des Kopfes oder andere Körperteile) einen für die Person ungewohnten Zwischenschritt, eine ungewöhnliche Nuance in ihr Gewalt(er)leben einzubringen. Sie kann die Tätigkeit ausführen, sie aber nicht zum gewohnten Ende bringen. Die entstehende Irritation kann ein Fenster für alternatives Verhalten öffnen und die Haltung bzw. die Realität der Helfer_innen deutlicher machen. Für die Klient_innen mag die Selbstverletzung logisch und zwingend nötig sein – für die Helfer_in ist es Gewalt und die wird in einer sicheren Umgebung nicht geduldet. Keine_r der Helfer_innen bezeugt in diesem Haus Gewalt. Und zwar nicht, weil die Klient_innen so liebenswert sind oder weil die Helfer_innen das einfach so gerne hätten, sondern, weil die Grundlage für diesen Kontakt, für diese Hilfe und die Umstände vor Ort, eine der Sicherheit ist und bleiben soll.

Es ist nicht die angenehmste, doch vielleicht erst einmal die eindrücklichste Möglichkeit für eine Person mit DIS, eine Idee davon zu bekommen, was Sicherheit eigentlich ist und hier vor Ort bedeutet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist für sie Sicherheit etwas, das entsteht, wenn sie nicht erreichbar ist (weil sie dissoziiert ist). Wenn sie nichts fühlt, nichts denkt, nichts will. Und jetzt ist sie aber in einer Situation, in der sie auch dann sicher ist, wenn sie etwas fühlt, möchte oder denkt. Darauf wird sie in so einer Selbstverletzungssituation natürlich gewissermaßen brutal aufmerksam gemacht und kann es vielleicht eine ganze Weile lang weder verstehen noch begreifen. Sie wird nicht wissen, wie sie sich alternativ verhalten kann. Da hilft nur Wiederholung und Nachbesprechung. Immer wieder sagen: „Nein, das machen wir hier nicht. Hier ist ein sicherer Ort, hier wird niemand verletzt. Verletzung/Gewalt ist in diesem Haus keine Option. Ich bezeuge keine Gewalt in diesem Kontakt.“

Die Gründe für die Selbstverletzung sind bei der Durchsetzung dieser Grenze nicht relevant. Diskussionen darüber sind Kämpfe gegen Windmühlen. Auch hier wird es Trauma- und Gewaltlogik geben, die nicht zugänglich ist für die Realitäten, die hier und jetzt bestehen. Diese Logiken innerlich aufzulösen, gehört meiner Meinung nach in die traumatherapeutische Arbeit. In der pädagogischen Hilfe vor Ort funktioniert es besser, wenn man sich darauf konzentriert, welche Alternativen akut machbar sind. Selbstverletzung tritt immer in bestimmten Zuständen auf – Zustände sind veränderlich. Auch wenn die betreute Person mit DIS das selbst noch nicht wahrnehmen kann, wenn sie im Alltag viel „Zeit verliert“ und sich nicht (mit sich selbst assoziiert) erinnert, wie viele Selbstzustände sie am Tag warum und in welcher Form und Ausgestaltung annimmt.

Ich erkläre, dass die ganzen tollen Skills, auf die man beim Thema Selbstverletzung immer wieder trifft, aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) kommen und ebenfalls Zustandsveränderungen zur Folge haben sollen. Mal durch konzentrierte Selbstempfindung, mal durch gezieltes Lenken der Gedanken, der Wahrnehmung oder Konzentration auf bestimmte Aufgaben. Am Ende jeder Übung steht das Ziel einer Veränderung der Selbst- und Umweltwahrnehmung durch Emotionsregulation. Diese Skills sind super, wenn es um das Erleben von emotionalem Druck oder Anspannung geht.
Bei profund traumalogischem Selbsthass, traumabedingter Reinszenierung oder real bestehenden Ausschluss/Verlassenheits/Auslieferungs/Hilflosigkeitserfahrungen helfen sie hingegen kaum, sondern können die Anspannung noch verstärken und zu Momenten umfassender Überreizung führen, weil der Auslöser nicht aufgehoben oder verändert wird. In so einem Moment sind Erfahrungen sicherer Bindung und Selbstwirksamkeit der Hebel zur Zustandsveränderung. Soweit jedenfalls meine eigene Erfahrung und die von praktisch allen Vielen, die mit mir bisher über die Wirksamkeit von klassischer DBT gesprochen haben.

Wenn die Selbstverletzung also zum Beispiel als „nötig weil nicht anders verdient“ erklärt wird (also eine Wiederholung der Gewalt gemacht wird), kann es passen zu sagen, dass hier gerade niemand ist, die_r darüber urteilt, was wer verdient und also gar nichts gemacht werden muss. „Hier sind gerade nur du und ich. Wir sind hier an einem sicheren Ort, hier wird niemand verletzt. Ich finde, was jetzt nötig ist, ist [Grundversorgung] und dann [aktive Tätigkeit, positive Alltagsressourcen]. Komm, das machen wir jetzt. Willst du mit [Grundversorgungsaufgabe 1 (vielleicht was trinken) oder Grundversorgungsaufgabe 2 (vielleicht mal das Gesicht waschen)] anfangen?“
Von da aus lassen sich Alltags-orientierende Handlungsketten aufbauen, die den Selbstzustand verändern (Wechsel zu Alltagspersönlichkeiten möglich machen). Am Tagesende oder zur üblichen Reflexionszeit des Tages kann man dann nochmal so über die Situation sprechen, wie über jede andere Lernerfahrung. Denn auch wenn es vielleicht krasser wirkt als andere Momente am Tag, schließlich ist es ja auch gefährlicher – am Ende ist sich nicht zu verletzen oder zu gefährden, nichts anderes als sich grundzuversorgen. Das müssen alle wissen und immer im Kopf behalten, auch wenn solche Momente natürlich krass viel aufregender sind und ja auch alle (und nicht nur die betreute Person) betreffen (weil sie mit Gewalt zu tun haben).

Wieder gehen alle voll bis oben hin in die Pause. Diesmal mit turbulent italienischem Handgefuchtel über mangiare zum Tellerklappern und Aufdecken. Ich fotografiere den Po eines gebänderten Pinselkäfers.

Hinterteil des gebänderten Pinselkäfers, der aus einer rosa Blüte herausschaut

Zum Nachtisch gibt es Crostata.

Crostata, ein Kuchen mit Kreizmuster aus Teig drauf, ähnlich wie eine Linzer Torte

*

Wir machen weiter mit den Fragen, die die Betreuer_innen noch haben.
Was ist mit Weglaufsituationen? Es gibt viele Menschen mit DIS, die Anteile haben, die scheinbar anlasslos oder allgemein unerwartet weglaufen. Worum geht es dabei?

Auch dieses Thema nehme ich, um die auch darin liegende Entscheidung gegen das Hilfeziel aufzuzeigen. Und was ist, was in diesem Zusammenhang für alle klar sein muss.
Erstens: Es gibt immer einen Auslöser, der real ist.
Zweitens: Weglaufsituationen sind so gut wie immer ein Versuch, Sicherheit herzustellen. Auch wenn das Weglaufen in einem maximal unsicherem Umstand passiert (stark befahrene Straße, in körperlich geschwächtem Zustand, ohne sicher erreichbare alternative Orte der Versorgung).
Drittens: Traumalogik besiegt Realität fast immer. Sie ist schneller, als sicherer erlebt und (siehe oben) die betroffene Person hat mehr Selbsterfahrung mit sich und ihrer Leistungsfähigkeit in (scheinbar) lebensbedrohlichen Situationen.
Durch die Helfer_innenbrille ergibt es überhaupt keinen Sinn, den Ort zu verlassen, wo alle eigenen Sachen sind, wo die Grundversorgung ohne Probleme möglich ist, um sich sicher zu fühlen. Mit der Traumabrille (also der Annahme von Todesangst als treibende Kraft) draufgeschaut ergibt es aber total Sinn, die Beine in die Hand zu nehmen, wenn man wo ist, wo man sich unsicher, ausgeliefert und hilflos fühlt. Es ist ein absolut logischer Schluss – nur leider nach einer fehlerhaften Einschätzung der Realität.

Jeder Mensch mit DIS muss über sich lernen, dass er diese „Traumabrille“, diese Kraft aus der Todesangst, schneller abruft als seine „rationale Brille“. Sein Körper, seine Psyche wird eine ganze Weile lang immer mehr Sicherheit in der Annahme finden, dass man ihm schaden will, dass er gefährdet ist, dass er nicht sicher ist, als in irgendwelchen anderen Ideen, Realitäten, Möglichkeiten.
Er muss es hinkriegen, sich selber etwas Zeit zum Prüfen seiner Gefühle und Annahmen zu verschaffen. Seine Helfer_innen können ihn darin immer nur damit begleiten, dass sie ihm ihre Einschätzung und Wahrnehmung der Situation mitteilen. Und dann anbieten, wie er sich darin bewegen könnte.

Wenn eine Person mit DIS noch sehr schnell in Traumareaktionen steckt, darf man von Helfer_innenseite nie davon ausgehen, dass sie schon von selber merkt, dass sie alle gernhaben. Dass sie schon von alleine denkt und glaubt, dass alle nur da sind, um ihr zu helfen. Dass sie sich schon von alleine dran erinnern kann, wer ihr wie oft und gut und umfassend und voller Liebe geholfen und Schönes für sie gemacht hat. In dem Moment, in dem ein Wechsel in einen Zustand, also zu einer anderen „Persönlichkeit“, passiert, die sich im Leben bedroht fühlt, spielen diese Erfahrungen (noch) keine (ausschlaggebende) Rolle. Diese Selbstzustände/Anteile/Persönlichkeiten können sich daran – an alles Gute und Verbindende – nicht erinnern. Manche kennen vielleicht noch nicht einmal die Betreuer_innen, von denen sie weggehen.
Mit diesem Verhalten wird für andere Anteile nicht in Frage gestellt, ob die Helfer_innen nett sind. Oder gut. Verhalten wie Weglaufsituationen, aber auch selbstverletzendes Verhalten, Verweigerung der eigenen Grundversorgung sind keine Aussage über die Qualität oder die Wirksamkeit der Hilfe, sondern über das Ausmaß der Hilflosigkeit, mit der Situation anders als so – die eigene Ziele verwerfend, sich selbst und andere gefährdend, traumalogisch – umzugehen.
Ziel der Hilfemaßnahme (und evtl. auch einer zusätzlichen Traumatherapie) muss also sein, die Hilflosigkeit in diesen Momenten zu verringern. Gemeinsam mit der Klientin zu überlegen: Was kann ich machen, wenn ich mich gefährdet fühle? Wie können mir die Betreuer_innen dabei helfen? Wie kann ich „da sein“ (nicht dissoziiert sein) und mich sicher fühlen?

Auch in diese Teamrunde kommt die Klientin am Ende mit hinein.
Wir beginnen mit einer Befindlichkeitsrunde, in der ich merke, wie hart ich hier gerade selbst am Wind segle, als sie sagt, dass sie sich ausgeschlossen fühlt.
Ich war 16 als ich in einer ähnlichen Lage war. Viele Leute haben über mich geredet und mich angeguckt während ich vorgeführt befragt wurde, während ich dachte, dass man aktiv an meiner seelischen Ermordung arbeitete und nirgendwohin konnte. Diese Situation, die ich als Videoaufnahme besitze und noch nicht ansehen konnte, hat mich traumatisiert. Ich bin bis heute nicht fertig mit der Aufarbeitung. Und jetzt sitze ich hier und tue der Klientin das an? Ist es wirklich das Gleiche? Wo sind die Unterschiede? – Alter, Kontext, allgemeine Gestaltung. Sie ist dabei, sie wurde gefragt. Es gibt die Einwilligung und Zustimmung. Ich führe sie nicht vor. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass ich keine special Fachperson bin, die der Weisheit letzten Schluss erzählt. Ich bin hier, um den Helferinnen eine Perspektive, meine Erfahrungen und Ideen zu vermitteln, nicht, um ihnen zu sagen, wie sie es richtig machen würden.
Die Ausgeschlossenheit ergibt sich aus dem Auftrag der Klientin. Die Helfer_innen helfen. Sie bekommt die Hilfe. Beide Parteien haben unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Beide Seiten bekommen die gleichen Informationen von mir – aber sie müssen unterschiedliche Dinge damit machen. Das ist das trennende Element. Das ist real, aber nicht lebensbedrohlich. Und auch etwas, das in meiner Situation früher ganz anders gelaufen ist.

Wir gehen mit einem versicherten Konsens über die allgemeine und wohlwollende Verbundenheit auseinander.
Ich lehne mich innerlich ein bisschen an R., die den Druck der Klapsleichen von mir abschirmt und halte ihr meine Hand hin. Jemand macht ein Foto von der Landschaft um das Haus.

Landschaftsaufnahme, dramatischer Wolkenhimmel, sanfte grüne Hügel und Bäume

Am Abend gehe ich wieder mit Daniela und Matthias essen.
Diesmal fotografiere ich vorher zwei andere Katzen.

hellblond-rote Katze neben zwei großen Terracotta-Kübeln auf der Straße

getigerte Katze, die direkt in die Kamera schaut und auf einem Tisch sitzt, umgeben von Terracotta-Kübeln

*

Am nächsten Tag regnet es wieder. In Norditalien gibt es Überschwemmungen. Ich schaue nach, ob es meine Rückreise verkompliziert und ärgere mich, dass ich nicht schon früher angefangen habe, Italienisch zu lernen. Es sollte aber alles klappen.
Ich lese bis sich eine Möglichkeit ergibt, die Klientin ohne Hilfeüberbau zu treffen. Ich darf zu ihr in die Wohnung, notiere mir aber im Geist, dass das eventuell schon ein Tick zu viel sein könnte. Pragmatisch gesehen wäre es kalt und oll geworden, wenn ich vor der Tür hätte bleiben müssen – emotional musste sie aber ein Stück ihres privaten Rückzugraumes für mich freigeben, obwohl sie mich nicht kennt und keinen Grund hat, mich oder Situationen mit mir als sicher einzuordnen. Vielleicht hätten wir das Treffen besser verschieben müssen auf eine Zeit, in der wir im Garten hätten sitzen können.
Unser Gespräch wird trotzdem nett. Als ich den Eindruck habe, dass sie erschöpft ist, gehen wir. Ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich mit Lisa, einer der Praktikantinnen, nach Arezzo zum Rumgucken fahre. Ein bisschen Erholung vorher ist genau die Grundversorgung, über die wir in den Tagen zuvor gesprochen haben.

Arezzo ist alt wie das Dorf beim Wohn- und Hilfehaus. Bisschen angerottet überall, aber auch aufgehübscht und modern. Ein bisschen wie in der Bielefelder Innenstadt, nur dass der Age-Gap nicht 18hundert vs. 50er bis 70er Jahre ist, sondern 13hundert vs. heute. Ich finds schön, wie mich die Straßen und Häuser mit den Leuten von so weiter Vergangenheit verbinden. Damals gab es sicherlich auch schon hundische Ladenchefs.

Rauhhaardackel, der in einer offenen Ladentür sitzt

In der Innenstadt finden wir verschiedene Geschäfte, am Rand einen Park mit schöner Aussicht. Mittendrin den Dom, dessen Innenausstattung außerordentlich beeindruckend ist. Wir essen ein winziges, sehr sehr gut schmeckendes Eis.

eine Kugel Schokoladeneis in einem Pappbecher

In einem kleinen Laden kaufen wir regionale Spezialitäten, für die mein Mann nie Geld ausgegeben hätte, und finden uns stark und erwachsen, weil uns die Schinken über dem Kopf nicht zum Kotzen gebracht haben. Für uns nehmen wir ein mehr als faustgroßes Stück Baiser mit. In der Tüte sieht es aus wie ein Stück harte Wolke.

großes Baiser-Stück in einer braunen Papiertüte

Am Abend gehen wir mit Daniela und Matthias in das Gasthaus eines anderen Ortes. Die Ereignisse des Vortages bewegen die beiden noch und auch dieser Tag war nicht so einfach. Ich bin müde. Ein letztes Mal esse ich ein Pastagericht und konzentriere mich auf die Tatsache, dass ich das hinkriege. Es ist alles anders als sonst, aber in den für mich wesentlichen Punkten noch vertraut genug, um nicht zu erstarren oder die Orientierung zu verlieren. Im italienischen Fernsehen läuft eine Debatte über Meloni und Musk. Ich kann nicht herausfinden, ob sie kritisch geführt wird oder nicht.
Nach unserer Verabschiedung schiebt sich meine Sorge um die Rückfahrt noch eine ganze Weile gegen den Schlaf. Mit einigem Gepopel kriege ich die Verbindung in die Deutsche Bahn-App und immerhin auch die italienischen Tickets in die Trenitalia-App. Da steht zwar noch nicht, worüber ich mir die meisten Sorgen mache – nämlich die Gleisnummer, damit ich einschätzen kann, wie viel Verspätung okay und wie viel ein Problem ist – aber immerhin. Am nächsten Tag würde ich bei Mastodon nachfragen. Manchmal hat man ja Glück.

*

Am nächsten Tag drückt mir Daniela ein Osternest in die Hände. Dann sagen wir Tschüss, Ciao und Auf Wiedersehen und fahren mit einem Fiat kaum größer als mein Aixam über die Hoppelstraße nach Arezzo.
Ich drücke Daniela zum Abschied und klatsche mit Matthias ab. Die beiden haben heute noch viel auf dem Zettel, ich bin froh, nur eine Aktivität schaffen zu müssen: 20 Stunden lang und durch 3 Länder Zugfahren.

Ich kenne weiterhin nur das Abfahrtgleis des ersten Zuges und reize mein Hoffen auf Glück bei Mastodon aus. Und tatsächlich konnte jemand helfen. Die Gleise stehen in Italien einfach immer erst kurz vor knapp fest. Gnah. 😅 Aber ich kann mir den Status der Züge jeweils anzeigen lassen und dort kann ich auch die Gleisangaben am frühsten finden.

Alles klappt ohne Probleme. Es gibt interessante Momente, zum Beispiel einen Servicewagenmann, der 10 Minuten vor Ankunft in Bologna noch seelenruhig in den Gang reinsteuert und Kaffee verkauft, obwohl der halbe Wagen da aussteigen will. Oder auch eine junge Person, die ihr Kaninchen dabeihat und zum Streicheln rausholt. Aber insgesamt bin ich zu müde, um viele weitere Informationen oder Reize aufzunehmen. Ich schaue mir viele Alpenstücke an, lese zwei Geschichten in meinem Buch und bestimme endlich den Skorpion, den Daniela zwei Tage vorher aus dem Aufenthaltsraum getragen hat.

Euscorpius italicus, kleiner Skorpion auf hellem Steinboden
Euscorpius italicus

In Innsbruck warte ich zwei Stunden auf den Nachtzug, der fährt erst drei Stunden später los. Das Liegen tut mir gut. Natürlich werde ich von der Grenzkontrolle wach, aber selbst nicht kontrolliert. Klar, ne weiße weibliche Einzelperson, da ist wohl nicht viel Gefährdungspotenzial drin.

Als ich aufwache, sind wir bei Würzburg. Als ich zu Hause bin, habe ich eine Reise von 24 einhalb Stunden gemacht. Mein Mann bekommt seine Mitbringsel, ich ein Mittagfrühstück. Das Osternest von Daniela ist süß. Gut, dass ich es mir erst zu Hause in Ruhe angeguckt habe.

Ich bin froh, dass ich sie in echt getroffen habe.
Dankbar, dass sie mich eingeladen hat, diese Selbst- und Lebenserfahrung zu machen.
Zufrieden mit meiner Leistung.
Glücklich, dass es mir heute so gut geht, dass ich das machen konnte.

Weltautismustag 2025

Gestern ist mir bewusst geworden, dass schon 10 Jahre vergangen sind, seit die Autismusdiagnose feststeht. Soweit meine eigene Autism Awareness.

10 Jahre, das fühlt sich komisch an, weil es gleichzeitig viel und wenig Zeit war.
Ich habe einige Texte geschrieben, wenn Weltautismustag war und ich finde sie alle gut. Und wichtig. Sie machen meine Entwicklung, meine Auseinandersetzung nachvollziehbar und ich freue mich darüber, das geschafft zu haben. Auseinandersetzung und Entwicklung.

Als ich „worum es geht“ geschrieben habe, war ich am Ende meiner Arbeit dazu, wie ich so lange nicht als autistisch erkannt werden konnte. Und was das bedeutet. Worum es dabei ging. Warum mir das immer noch weh tut. Was ich akzeptieren muss, während nicht autistische Menschen nichts akzeptieren müssen.
Das Buch war ein guter Schlusspunkt für meine Auseinandersetzung zum Warum.

Jetzt schreibe ich über das Wie. Jetzt kann ich das.
Seit meine Therapeutin und ich den Autismus mitdenken, seit meine Therapeutin besser verstanden hat, funktioniert die Traumatherapie für mich.
Ich habe kein stressbedingtes Fieber mehr nach den Stunden. Ich kann mich an die Stunden erinnern. Ich kann sagen, worüber ich sprechen möchte. Ich kann außerhalb der Stunden ausprobieren, was helfen könnte und meine Erfahrungen damit vermitteln. Ich kann mich körperlich und seelisch fühlen, obwohl es nach wie vor schwierig für mich ist, von ihr beobachtet zu werden. Der ganze Druck über die Möglichkeit, sie in ihrem Eindruck, ihren Annahmen über mich zu enttäuschen, ist nur noch sehr selten da. Und wenn – dann kann ich das sagen. Und in ihrer Reaktion Sicherheit finden. Ich kann sie dann verstehen. Und ihr glauben.

In den letzten Jahren konnte ich mich meinen Traumatisierungen als Erfahrungen widmen. Nicht mehr nur als abstrakt diffuse, eindeutig schlechte, falsche, schlimme, unaushaltbare Symptomquelle. Als Ursprung allen Übels. Sondern als Momente, die mit Empfindungen, Gedanken und Emotionen, mit Ideen und Überzeugungen zu tun hatten.
Das tut mir gut. Ich kann sagen, dass ich an einem Punkt bin, an dem ich mein Leben in die Hand nehmen kann, um es zu befühlen. Nicht wie ein Stück frische Lava, sondern wie ein Fossil. Nicht betäubt von Dissoziation, nicht erschöpft von Vermeidung und Kompensation, sondern von Sicherheitsgefühl ermutigt und gestärkt von inzwischen auch angenehmen Selbsterfahrungen.

Ohne die Kaskade der Klarheit über mich selbst nach der Diagnosestellung wäre ich da nicht angekommen. Ohne die Anpassungen, die meine Therapeutin leistet, erst recht nicht.

Dass ich eine Mitwelt brauche, in der sich andere Menschen an mich anpassen und sich anstrengen müssen, etwas dafür zu tun, dass etwas für mich erlebbar wird – zugänglich, verständlich, möglich, aushaltbar, erträglich – das ist eine brachiale Erkenntnis für mich gewesen. Eine, die ich abgewehrt habe, bis ich bemerkte, dass diese Abwehr ableistisch ist. Und eine Wiederholung. Eine Selbstverletzung.
Ich arbeite inzwischen in einem Inklusionsbetrieb. Der Prozess um diese Stelle und mein Wechsel von der freien Buchwirtschaft dahin hat mir sehr deutlich aufgezeigt, wie umfassend ich mich überstreckt habe, um überhaupt ins Arbeitsleben der Nichtbehinderten zu kommen. Dass ich sehr wohl massive Schwierigkeiten in der Selbstorganisation habe. Sehr wohl Unterstützung bei der Definition und Verteidigung von Leistungsgrenzen brauche.
Dass diese ganze Arbeitsnummer überhaupt nur funktioniert, wenn ich jemanden dafür an der Seite habe. Wenn mein Mann die Kraft hat, meine Kraftverluste zu kompensieren. Wenn meine Freund_innen mich an die Beiderseitigkeit unseres Kontaktes erinnern. Wenn meine Projektfreund_innen mich an die Allerseitigkeit von Verantwortung erinnern und mich dabei unterstützen, nicht in soziale Fallen zu geraten, die mich letztlich ausbrennen.

Für mich ist es nach wie vor ein heikles Unterfangen, meine Behinderung, speziell den Autismus, zu benennen und anderen Menschen zu vermitteln, was ich brauche. Immer noch ist das ein Trauma-Autismus-Mischpunkt.
Ich will nicht stören – tut mir leid, dass ich existiere, ich weiß, das nervt so hart (Trauma)
Ich muss stören, denn nichts hier ist so gemacht, dass mein Existieren kein Problem ist oder zu Problemen führt, die andere Menschen möglicherweise an den Gedanken bringen, dass es besser wäre, ich würde nicht existieren. (Autismus)
Ich wünschte ich wäre unsichtbar (Trauma)
Ich wünschte meine Behinderung wäre sichtbar (Autismus)

Besonders in diesen Momenten – den Momenten, in denen ich es sagen muss, wenn ich meine Selbstfürsorge, meine Gesundheit, meine seelische Integrität ernst nehmen will – brauche ich, dass sich andere für mich mit anstrengen.
Ich brauche, dass sie es nicht persönlich nehmen. Dass sie den Impuls der Abwehr als die Kraft nutzen, die es erfordert, auf mich zuzugehen. Dass sie nicht ihre Selbsterfahrungen in einer ähnlichen oder auch der gleichen Situation zur Grundlage nehmen, um einzuschätzen, wie es für mich ist.
Denn erst dann fühle ich mich nicht mehr bedroht oder gefährdet. Erst dann komme ich in den Zustand, in dem ich selbst überhaupt die Chance habe, mich selber zu fühlen und ganz bewusst zu erfahren, was mit mir passiert. Wie sich das anfühlt, diese Erfahrung zu machen. Was das für eine Erfahrung ist. Wie ich in dieser Situation bin. Nur so komme ich überhaupt in die Lage, die Situation zu erinnern und beschreiben zu können.

Wie umfassend ist, was mir unmöglich wird, wenn ich es nicht sage, macht mich inzwischen traurig. Für mich selbst. Um mich selbst. Obwohl ich auch verstehe, dass mein Crip Privilege da eine Rolle spielt – es ist einfach oft besser so unsichtbar behindert zu sein, weil in unserer Gesellschaft behindert zu sein mit scheiße sein gleichgestellt ist, darüber brauche ich nichts mehr schreiben.
Aber gerade weil ich das verstehe, macht es mich traurig. Denn mehr als Überleben sichert mir auch mein Crip Privilege nicht.
Jetzt, wo meine dissoziative Störung zurückgeht und ich auch mehr und mehr Zugang zu Erinnerungen an meine Jugend und Kindheit habe, wird mir bewusst, was ich für ein Leben hatte bis die Therapie wirklich funktioniert hat. Es war nicht immer schlecht und schlimm. Aber lebenswert halt auch nur bedingt.

Wäre ich kein autistischer Mensch, wäre es sicher ganz anders für mich gelaufen.
Aber wäre meine Umwelt, meine Mitmenschen nicht behindertenfeindlich, dann auch.

so

Jemand soll

bloss nicht

kommen.

Eine Traurigkeit. Eine Agonie so dicht, dass es sich nach Ersticken anfühlt.
Eine sumpfige Schicht unter meinem Alltagstrallala.
Wenn ich mit mir allein bin, quillt sie durch die Risse in meinem Selbst.
„Ein anhaltender emotionaler Flashback“ Schlaubi-Hannah sitzt in ihrem Intellekt-Gummiboot und nutzt jede Gelegenheit, um den Auftrieb zu erhöhen.
Der emotionale Flashback, das Kernstück der komplexen PTBS. Das Ding, das eigentlich alles an dieser Therapie, diesem Leben, diesem Heilen so schwer macht. Der Kack, den man so schwer vermitteln kann an Leute, die weniger Schattierungen von Elend und Leid kennen. Der Scheiß, der nur entstehen kann, wenn es nicht nur einmal kurz schlimm war. Sondern

eigentlich,

in Wahrheit,

wenn man ehrlich ist,

LEIDER,

egal, wie es dann im Einzelnen, Konkreten war,

immer

immer

immer

(((schlimm)))

war.

Das Wissen um dieses Symptom macht den Boden von meinem Gummiboot durchsichtig. Ermöglicht mir Sichtkontakt. Gibt mir die Chance, einen Bezug herzustellen und zu erkennen, wo er spontan passiert ist. Was der Auslöser war und was ein Auflöser sein könnte.
Wenn es um emotionale Flashbacks geht, brauche ich nicht überlegen, ob es ein Geräusch, ein Geruch, ein Gegenstand, eine soziale Situation war, die sie ausgelöst hat. Ich muss wissen und verstehen, wie sich für mich angefühlt hat, was ich erlebt habe. In meinem Alltag. Meinem Jetzt. Sonst ergibt es keinen Sinn und ist nur verwirrend und belastend.

Es hat mit der Operation angefangen. Schon vorher. Ein bisschen. Wie eine Welle von seichtem Gewässer. Weit weg. Schwach. Zu wenig für meinen Relevanzrahmen. Zu wenig für mich, um zu begreifen, dass jemand in mir, ich, etwas fühlt. Jemand soll – bloß nicht – da sein. Kann bitte – auf gar keinen Fall – irgendjemand – NIEMAND – mich – sehen? Wer kommt? Wer kommt nicht? Kommt jemand? WER? Was passiert? Passiert DAS? Nein Ja Immer immer immer für immer immer immer seit immer immer immer
Und als mein Stein im Schuh, der in Wahrheit ein Gebirge ist, zu einem Lehmklümpchen geworden war, wurde aus der kleinen sachten Welle – dem Wellchen irgendwo im fernen Traumascheißeland – eine Überschwemmung, die ewige Sümpfe hinterließ. Ziehend kalte klamme Sumpftraurigkeit. Schwappende Lähmung. Unendlich tiefes Elend. Verlassenheitsgefühle, die sich wie ätzendes Gas anfühlen. Wie eine ganz eigene Todesfalle.
„Es wird niemand kommen“, das könnte so gut helfen, wenn es helfen würde. Aber es soll ja jemand kommen. Jemand soll ja da sein. Nur nicht so. So

so

SO

wie immer

damals immer

In diesem Sumpf k.lebt nicht nur ein Innen. Ein Opferkind. Ein Kinderinnen im Traumafreeze. Eine einzige Erfahrung, die ich prozessieren muss. Ein Blick, ein Reality-Check und zack bumm trilili sigh of relief.

Das ist etwas, das ich aus meinem Leben kenne und runterdrücke bis ich nicht mehr kann. Dann breche ich kurz zusammen und gehe weiter. Weil keiner kommt. So wie ich das brauche. Will. Möchte.
Ich kann nicht vorleben, wie der Umgang sein könnte. Wie diese Traurigkeit, diese wirre Widersprüchlichkeit zwischen Wollen, Durchhalten, Aushalten, Warten, Hoffen und Wünschen, Realitäten, Ängsten und Nöten, irgendwie geklärt werden kann. Wie die weggehen kann. Denn in meinem Leben geht sie – in Bezug auf ganz andere Sachen – weit weniger traumatische Grauenhaftigkeiten – ja auch nicht weg.
Außer mir ist niemand

so

für mich da.

Das ist nicht genug für eine Auflösung.
Aber das kann ich durch die kleine Scheibe in meinem Gummiboot vermitteln. In den Sumpf einsickern lassen.
Ich bin da.
Ich bin so.

So wie jetzt.

Diagnose: Problemverschiebung, Selbstdiagnosen nach Konsum von Internetcontent sind nicht das Problem

„Ich bin Jenni und ich bin ein nicht menschlicher Anteil im System“, kommt es aus dem Smartphone. Ich sitze im Zug und scrolle Insta-Reels soweit der Empfang reicht. Es ist nicht das erste Reel zum Thema DIS und auch nicht das Letzte, das mir in den nächsten 20 Minuten präsentiert wird.

Ich merke, dass es mir schlecht damit geht. Spüre, wie hilflos und ohnmächtig ich mich vor dieser Flut von Videos junger, häufig normschöner Menschen fühle, die so scheinbar selbstbewusst und fröhlich so viel Desinformation, Vorurteile und falsche Vorstellungen von Psyche reproduzieren. Aber dann kommt ein Golden Retriever Welpe, der durch eine Wiese tapst. Auggie, eine Quakerparrot-Dame, die ihren Bacon Pancakes-Tanz macht. Tahism, der mich mit so traurigem Scheiß zum Lachen bringt. Und so vergeht eine halbe Stunde. 30 Sekunden „Ich bin nie einsam – ich bin viele“, 3 Minuten politisches, 2 Minuten AI generierter Inhalt, der nicht als solcher gekennzeichnet ist, 3 Minuten Tiere. Ein Tanzvideo zu 5 Zeichen von Autismus, die ich als autistischer Mensch weder habe noch in den Diagnosekriterien finden würde.
Der Algorithmus gibt alles. Habe ich erst einmal eines dieser Videos ganz angesehen und mir auch die Kommentare darunter durchgelesen, kommen immer neue. Erst von dieser einen Person, dann von allem, was den Hashtag drunter hat. Ob ich will oder nicht. Ob diese Videos absoluter Unsinn, schädigender Müll oder perfekte Meisterwerke nach wer weiß wie viel Arbeit sind oder nicht. Erfüllt meine Interaktion mit der App die Kriterien für Interesse, werde ich damit gestopft, solange ich online bin.
Was ich in Bezug auf Hundewelpen und diskriminierte Personengruppen, die sonst nirgendwo Gehör bekommen, kaum problematisch finde, ist in Bezug auf DIS, aber auch andere Erkrankungen ein echtes Problem.[1]

Gerade ist im „Harvard Review of psychiatry“ ein Artikel mit dem Titel „Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment“[2] erschienen. Ein Artikel, der thematisiert, wie der Konsum von Videos zum Thema DIS (in US-Amerika DID) auf Plattformen wie TikTok und YouTube mit der Selbstdiagnose einer DIS zusammenhängt.
Die Autor*innen schreiben: „An emerging concern, however, is that inaccurate and misleading social media discourse on DID may provide a new impediment to effective diagnosis and treatment via what Chevalier called the “looping effect” of social media on psychiatric diagnosis. In this effect, lay and inaccurate mental health claims on social media ultimately influence professional discourse and practice; the sheer ubiquity of misleading claims about DID on social media may convince mental health consumers and practitioners alike.“ – sinngemäß: Weil es mehr Stuss als fundierte Inhalte gibt, wird auch mehr Stuss geglaubt. Und zwar nicht nur bei bestimmten Personengruppen, sondern von allen. Auch Fachpersonen. Das, dieser von Chevalier so genannte „looping effect“, ist ein massives Problem für Betroffene jeder Störung, die selten ist und/oder eine gewisse Varianz im Erscheinungsbild hat.

Ich möchte in diesem Text jedoch ein bisschen umfassender auf das Thema schauen.
Für mich hat dieser Komplex ein Was, ein Wie, ein Warum und eine persönliche Komponente, weil ich selbst mit zwei der Diagnosen lebe, die aktuell als die Krankheiten besprochen werden, mit der man sich bei Nutzung von Social Media gewissermaßen „sozial ansteckt“. Aber auch, weil ich als Blogger_in und Podcasthost tätig bin.

Das Was – Selbstdiagnose oder (Selbst)Identifikation?

Eine Selbstdiagnose ist das Ergebnis laienhafter Beurteilung von Merkmalen, Symptomen oder Prozessen, mit oder ohne Zuhilfenahme dafür geeigneter oder ungeeigneter Hilfsmittel.
In der Auseinandersetzung mit Social Media als angenommenen Ausgangspunkt für Selbstdiagnosen psychiatrischer Diagnosen stellt sich mir die Frage, ob es nicht zu viel ist, die Annahme einer eigenen Betroffenheit von Medienkonsument_innen als Selbstdiagnose einzuordnen. Wird hier Selbstidentifikation überhöht, um eine Problembeschreibung zu generieren, von der man sich mehr Anerkennung verspricht, wenn sie danach klingt, als würden sich die Kranken zu Doktor_innen erklären?

Was ist was?

Eine Selbstdiagnose kann im professionellen Diagnostikprozess dabei helfen, die eigene Perspektive auf das Erleben bestimmter Symptome, Merkmale und Prozesse zu kommunizieren und mit der Fachperson und ihrer Einschätzung abzugleichen.
Eine Selbstdiagnose ist in keinem Fall gleichzusetzen oder in ihrer Aussagekraft gleichzustellen mit einer professionell zustande gekommenen Diagnose durch eine qualifizierte Fachperson. Dieser Umstand ist jedoch keine Aussage darüber, welche Diagnose die per se richtige im Sinne von „die zutreffende“ ist. Zu jeder Diagnose gehört das Potenzial der Fehldiagnose. Das gilt für Selbstdiagnosen genauso wie für Diagnosen nach professioneller Diagnostik. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fehldiagnose höher bei der Selbstdiagnostik, weil Laien nicht die entsprechende Ausbildung und die nötige Anleitung haben. Zudem erfordert jede Diagnostik eine gewisse Objektifizierung der betreffenden Person, die aus sich selbst heraus praktisch unmöglich zu leisten ist. Das Nachdenken und auch das Beobachten der eigenen Person ist immer subjektiv.

Die (Selbst)Identifikation oder auch Selbstzuschreibung passiert bei Menschen meistens vor- oder unbewusst. Also unabsichtlich und intuitiv. Es ist die menschliche Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen und ihrer Gefühle, aber auch in die Haltung von Menschengruppen hineinzuversetzen, die dazu führt, dass sich Zugehörigkeitsgefühle entwickeln oder auch nicht. Die Herausbildung einer eigenen Identität wäre unmöglich ohne die Fähigkeit der Selbstzuschreibung bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten, die dazu beitragen, dass man sich als anderes Subjekt als die Subjekte um sich herum erleben kann.
Selbst(bestimmte) Identifikation dient also sowohl der Grenzziehung zu anderen Menschen („Ich bin nicht du“), aber auch der Definition von Grenzen („Wir sind beide Menschen, die Blumen mögen.“)

Social Media – die Echokammer, in der man im Kreis läuft

Die gesamte Architektur von Social-Media-Plattformen dient der Verschiebung verschiedener Grenzen im Individuum, während künstliche Grenzen durchgesetzt und aufrechterhalten werden. So können Nutzende zwar den Eindruck haben, sie würden etwa bei Instagram und TikTok oder früher auch Twitter und Facebook auf verschiedenste Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe treffen – tatsächlich aber sprechen sie immer in künstlich generierten Kohorten, die sie selbst spiegeln. Dieser Umstand wurde bereits vor Jahren breit diskutiert, als der Begriff der „Filterblase“ dafür gefunden wurde.
Diese digital generierten Filterblasen führen zu kommunikativen Echokammern, in denen der inhaltliche Fokus für Themen und Inhalte immer schärfer verengt wird. Bestimmte Haltungen oder Meinungen oder Perspektiven darauf können dann kaum noch als extrem, desinformiert oder problematisch konfrontiert werden. Es fehlt an Möglichkeiten des Abgleichs und der Korrektur. Gleichzeitig gibt es weiterhin sehr viele Möglichkeiten der Identifikation und Zugehörigkeitsempfindung. Man bekommt zu keinem Zeitpunkt den Anstoß zur neuerlichen Selbstdefinition.

Die digitale Filterblase kann ein Individuum nicht durchdringen. Die Kontrolle darüber, zu welcher Blase ein_e Nutzer_in gehört, übernehmen Code und Maschine, die von Konzernen mit ganz eigenen Interessen bestimmt funktionieren. Lediglich die eigene Echokammer und ihre bestimmende Wirkung kann in Teilen beeinflusst werden. Hierbei spielen die verbrachte Zeit, Umfang, persönliche Beteiligung und ein kontrastreiches Portfolio der verfolgten Accounts eine Rolle.

Im Kontext der problematisierten Selbstdiagnose mit psychischen Krankheiten wird in dem oben erwähnten Text von „Kindern und Jugendlichen“ (children and young people) gesprochen. Einer Personengruppe, bei der sogenannte „Zwischenidentitäten“ die Norm sind, also die Entwicklung der Identität eine bestimmende Rolle im Alltag einnimmt.
Für diese Personengruppe ist social media ein Spiegelkabinett, das sie schneller und eindeutiger zu einem Identitätsgefühl führt als es die analoge Kommunikation und Interaktion je könnte.
Als verstärkender Faktor wird in dem Artikel übrigens die COVID19-Pandemie genannt. Eine Zeit, in der das analoge Leben von vielen Menschen in westlichen und kapitalistisch starken Gesellschaften als unangenehm fremdbestimmt und ungewohnt angstvoll erlebt wurde. Besonders von Kindern und Jugendlichen, deren Schutz und Unterstützung zu spät und wenig passiert ist. Das Smartphone und der endlose Schwall von dem, was sich gut und passend, zugehörig und kongruent anfühlt – das war für eine spezifische Gruppe Kinder und Jugendlicher verfügbarer als die analoge Peergroup und gemeinsame Aktivitäten, die ebenfalls der Identitätsbildung dienlich sind.

Wie können wir – wie müssen wir über uns sprechen?

DID bzw. DIS, die dissoziative Identitätsstörung, wird an vielen Stellen im Internet, auch hier in meiner Präsenz, selten als Krankheit beschrieben. Bei mir ergibt sich diese Darstellung aus einem soziologischen und psychiatriekritischen Diskurs heraus. Ich differenziere zwischen dem medizinischen Blick auf mich als pathologisierter Körper und dem Blick, den ich selbst aufgrund meiner Selbst- und Umweltwahrnehmung auf mich habe.

Bei anderen Betroffenen erfolgt die Selbstbeschreibung als „nicht krank“ manchmal aus einer ableistischen Abwehr heraus. Also der Weigerung, sich als krank zu bezeichnen, weil sie Krankheit mit Minderwertigkeit verbinden. Wieder andere verstehen ihren Zustand, genauer gesagt ihre Symptome als naturgegeben (im Sinne von „vom Leben mit Trauma so gewachsen“) und ihren Lebensstil entsprechend absolut individuell und eben nicht pathologisch. Hier gibt es häufig Anknüpfungspunkte an ableistische und opferfeindliche Grundhaltungen, die der Abgrenzung dienen.
Es gibt auch Betroffene, die gar kein Interesse daran haben, sich überhaupt zu erklären oder die fachliche Konstruktion und Diskurse weder durchdringen können (oder wollen) noch Fachbegriffe verwenden, um ihr Selbstempfinden zu beschreiben.

Diese Selbstpositionierungen sind einerseits von vielen Betroffenen überhaupt nicht reflektiert oder als relevant empfunden. Andererseits können sie von jenen, die sie reflektiert haben und als relevant empfunden werden, in 30 bis 60-Sekunden-Videos oder Formaten niemals umfassend kommuniziert werden. Selbst ausgeschrieben in Text oder eingesprochen zu einem Audiobeitrag ist es Betroffenen nicht möglich, diese individuelle Positionierung immer so mitzuvermitteln, dass sie den Ansprüchen moderner Kommunikation in sozialen Netzwerken oder Plattformen wie Blogs und Podcasts gerecht werden.
Je länger, komplexer und umfassender ein Beitrag ist, desto schlechter klickt er sich. Es sind aber die Klickzahlen, die darüber entscheiden, wie viele Menschen welcher Filterblasen damit erreicht werden. Die Reichweite ist für Plattformen wie YouTube und Instagram wiederum die relevante Größe, um finanzielle Interessen zu verfolgen. Interessen, die viele Content Creator_innen und Influencer_innen teilen.

Die (Selbst)Darstellung auf Plattformen als Person mit DIS ist entsprechend erfolgreicher, wenn die DIS als eine persönliche (möglichst gar nicht mal so unsympathische) Eigenschaft kommuniziert wird. Als etwas, dessen Symptomatik relatable, also zur (Selbst)Identifikation einladend ist. Denn nur wenn Zuschauer_innen sich eindeutig verbunden oder auch abwehrend bzw. allgemein emotional reizend nicht verbunden fühlen, schauen sie bis zu Ende, kommentieren und teilen den Beitrag.

der Vibe – die Realität?

Selbstidentifikation ist es daher, was meiner Meinung nach in der Mehrheit der Fälle passiert, wenn eine junge Person nach einigen Videos der Ansicht ist, eine DIS oder Anteile davon zu haben. Es fühlt sich gut für sie an. Richtig. Passend. Zugehörig. Dann kann es doch nicht falsch sein? – Leider ja, leider doch. Und die Konsequenzen daraus, was manche Menschen machen, weil sie denken, sie hätten eine bestimmte Krankheit oder Eigenschaft oder Behinderung oder auch einen bestimmten Status, obwohl das nicht stimmt, ist ein Problem. Vor allem in Bezug auf Medien, die mit Reichweite und entsprechender Verantwortung einhergehen.

Eine Selbstdiagnose denke ich als etwas, das nach der Selbstidentifikation einen Schritt weitergeht und ohne konkreten Leidensdruck unter den spezifischen Aspekten, die als identisch empfunden werden, gar nicht gemacht wird. Denn wenn es sich einfach nur gut anfühlt, dann ist es kein Problem.
Wer also so weit geht, dass sie_r sich in Selbsttests und den Moloch der Diagnostik nach unabsehbar langer Fachpersonensuche begibt, hat wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit Leidensdruck und den Wunsch oder den Bedarf an professionellem Abgleich.
Was das Problem dabei sein soll, wenn belastete Menschen etwas gegen ihre Belastung tun und machen, was ihnen bei einer Selbstdiagnose mit Selbsttests zwangsläufig zusätzlich mitgeteilt wird („Dieser Test ersetzt keinen Arztbesuch. Suchen Sie zur Sicherheit eine professionelle Fachperson und besprechen Ihre Ergebnisse mit ihr_m.“) – das erschließt sich mir in der Sache nicht.

Die Diagnostik dissoziativer Störungen erfordert umfassendes und fundiertes Training. Wer sich nicht damit befasst hat, sollte es als Fachperson auch nicht anbieten. Von diesen Fachpersonen gibt es jedoch nicht viele. Diese Diagnostik gehört nicht zur Standardausbildung.
So werden mehr Patient_innen, die darum bitten, zur Belastung in einer bestehenden Mangellage. Das macht jedoch weniger die verstärkte Nachfrage zum Problem, sondern die weiterhin unzureichende Ausbildung und Verfügbarkeit von Fachpersonen, die in der Lage sind, dieser Nachfrage zu entsprechen, wie es auch die Autor_innen in dem Artikel beschreiben.

Die Problematisierung des Verhaltens junger Menschen auf der Suche nach Entlastung und Klärung, so wie es zuletzt in NZZ[3] passierte, ist meiner Meinung nach eine Verantwortungsverschiebung von Seiten derer, die strukturell besser aufgestellt sind, die Mangelsituation sowohl der Allgemeinbevölkerung als auch den politisch Verantwortlichen sichtbar zu machen. Und zudem auch nur deshalb überhaupt anschlussfähig in der Gesellschaft, weil Krankheit und Behinderung weiterhin nicht als Teil der Norm(alität) akzeptiert und inkludiert wird.

das Wie – Video ist nicht gleich Video

Gleiches gilt für die inhaltliche Beurteilung von Medienprodukten zum Thema. In der Community von Menschen mit verschiedenen Diagnosen im Zusammenhang mit Traumafolgestörungen finden regelmäßig umfangreiche Kritiken über Filme und Bücher statt, die desinformieren oder Vorurteile verbreiten. Es ist für Allys oder auch Unbeteiligte (als Filmemacher_innen, Drehbuchautor_innen, Künstler_innen etc.) leicht in Kontakt zu kommen und es besser zu machen. Leider wollen und können die wenigsten – selbst jene, die mit Betroffenen sprechen – sich wirklich in die Vielfalt dieser Community und die wissenschaftlichen Fakten aller relevanten Aspekte begeben und sich selbstkritisch mit ihrem Projekt auseinandersetzen. So kommt es immer wieder zu Filmen oder Projekten, die gut gemeint und letztlich doch schlecht bis schädigend sind, weil sie doch wieder Klischees oder Desinformationen reproduzieren.

Für Betroffene, die außer einem Handy, etwas Freizeit und dem Willen etwas zu teilen nichts haben hingegen, gibt es in der Regel keine Budgets über Förderungsprogramme oder Ähnliches. Es sind also überwiegend laieninformierte Laienproduktionen, die subjektive Er_Lebensrealitäten inszenieren bzw. kommunizieren und sollten als solche auch verstanden und beurteilt werden.

Dieser Umstand ist das Konzept von YouTube und jüngeren Social-Media-Plattformen.
Die breite Akzeptanz dieser Plattformen entspringt dem großen Selbstidentifikationspotenzial. Aus diesem Potenzial ergeben sich viele Möglichkeiten der kapitalistischen Ausbeutung. Dieser Motivation folgend, gab es in den vergangenen 20 Jahren eine zunehmende Professionalisierung. Es ist ein Beruf geworden, YouTube oder Instagramvideos zu produzieren. Nicht immer sind diese Professionalisierung und die wirtschaftlichen Zusammenhänge dieser Creator_innen zu erkennen. Der unprofessionelle Look eines Videos kann heute durchaus zum Konzept gehören, die inhaltliche Fragwürdigkeit die Key component des gesamten Kanals sein.
Man tut gut daran, sich bei jedem Video zu fragen, wen oder was man am Ende kaufen, glauben oder akzeptieren soll. Diese Selbstbefragung gehört zu den Medienkompetenzen, die zunehmend weniger Menschen anwenden – und in Bezug auf einen Konsum von Medien, die kurz, emotionalisierend, endlos und unvorhersehbar auf die_n Konsumenten einwirken, auch gar nicht umfassend angewendet werden können.

Im Zusammenhang mit der Problematisierung von Selbstdiagnosen psychischer Krankheiten kann in der Folge eigentlich nur eine Forderung zur Lösung gestellt werden: Psychische Krankheit bzw. psychische Gesundheit darf nicht mehr Thema in Laienproduktionen sein. Nur so können schließlich Desinformation und der erwähnte „looping effect“ verhindert werden.

Meiner Meinung nach wäre dies ein Rückschritt und eine Übergriffigkeit in die Rechte erkrankter und/oder behinderter Menschen.
Warum sollte Julia ihre LEBENSVERÄNDERNDE Morgenroutine und Hannes seinen Trainingstag in der selbst gebauten Survivalhütte zeigen dürfen, aber Lana nicht, was ihre x-te Operation am behinderten Körper mit ihrer Seele macht, oder Hannah, welche Themen sie nach 21 Jahren Komplextrauma beschäftigen? Warum darf Julia wirkungslose Kosmetik und Hannes gesponsortes Werkzeug zeigen, ohne das als Werbung zu kennzeichnen, aber Lana nicht, welche Tools ihr in depressiven Episoden helfen? Und wie soll durchgesetzt werden, dass Hannah nur noch fachlich korrekt und makellos rein veröffentlicht, ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung und die allgemeine Pressefreiheit einzuschränken?

Oder ist es letztlich das, worum es geht?

das Warum – Nichtbehinderte gonna nicht behindert

Mir fehlt in diesem oben zitierten wissenschaftlichen Artikel, aber auch in Artikeln, die sich damit befassen, dass immer mehr junge Leute nach einer ADHS- oder Autismus-Diagnostik suchen, die Anerkennung der Lebensrealität behinderter und chronisch kranker Menschen als eine, die praktisch ohne öffentlichen Resonanzraum ist.

In meiner diesjährigen „Neujahrsansprache“ schrieb ich, dass mich die Nichtstofflichkeit des Internets gereizt hat, dieses Weblog anzulegen und regelmäßig zu schreiben. Ich hatte außer meiner Psychotherapie keinen sicheren Raum für meinen authentischen und selbstbestimmten Selbstausdruck und auch nur sehr überschaubare Möglichkeiten der Beteiligung an kritischer Debatte über die Diagnose DIS und ihrer Implikationen. Ich wollte niemanden stören, nicht zu viel sein – aber ich wollte mit eigenen Augen sehen, dass, was ich tue, ist.
Es war ein Leben voller nicht kompensierbarer Barrieren und Ausschluss, das mich ins Internet statt in eine Interessengemeinschaft oder einen Verein gehen ließ, und es ist der Umstand, dass sich daran nur wenig grundsätzlich geändert hat, dass es weiterhin so ist.

Das unbeauftragte und in aller Regel auch unbezahlte Teilen persönlicher Einsichten und Meinungen ist bei mir aus einer Einsamkeit entstanden, die ganz spezifisch für autistische und komplex traumatisierte Menschen ist. Ich weiß nur durch den Austausch mit anderen Blogger_innen und Social Media Content-Creator_innen mit Behinderung, dass es ihnen (primär) auch unabhängig von ihrem Erfolg so geht.

Es sind primär nicht behinderte Menschen, die Social-Media-Plattformen nutzen. Die meisten Content Creator_innen sind nicht behinderte Menschen. Psychische Gesundheit und Krankheit, Behinderung und Diskriminierung sind neue Themen, die im Zuge von Bemühungen um (für nicht behinderte, weiße, privilegierte Zielgruppen) gefälliges Diversity-Mainstreaming überhaupt Eintritt gefunden haben.
Entsprechend ist bis heute der Anteil von Content marginalisierter Personen mit dem Thema psychischer Krankheit oder Behinderung im Vergleich zum Content der Sparten Lifestyle und Reisen, Gaming und Popkultur, Unterhaltung und Bildung allgemein marginal.
Insofern sind auch die im oben erwähnten Artikel genannten Zahlen über eine „boomende DID Community“ mit etwas Salz und Pfeffer zu genießen. Ein Klick ist kein nachhaltig wirkender Konsum. Ein abgeschlossenes Abo bedeutet nicht automatisch auch eine_n aktive_n Konsument_in des Produktes. Zahlen aus dem US-amerikanischen Kontext sind nicht 1 zu 1 anwendbar auf Deutschland.

Selbst sehr große deutsche Accounts mit dem Thema DIS senden primär an eine in Relation gesehen nur furzgroße Filterblase hinein, die nur durch bestimmte Faktoren erweitert werden kann. Denn DIS haben nicht viele Menschen. Und von diesen wenigen Menschen sind nicht alle auf Social-Media-Plattformen aktiv. Und von denen, die aktiv sind, wollen gar nicht mal alle mit diesem Thema konfrontiert sein. Um also einen Riesenaccount mit dem Thema DIS zu bekommen, müssen Menschen ohne DIS angesprochen werden. Die müssen relaten können. Und das hinzukriegen, ist ein unfassbar hartes Brett. Weil nicht behinderte Leute immer ihre Maßstäbe anlegen an das, was behinderte Menschen erzählen. Als Creator_in, Influencer_in, Blogger_in, Podcaster_in muss man das ertragen/dissoziieren/für sich nutzen können oder wollen. Mit Zufall, intuitiv erstelltem Knallercontent, Talent oder Glück hat das absolut nichts zu tun. Es ist Arbeit. Eine Arbeit, die behinderte Menschen für nicht behinderte Menschen machen, damit andere behinderte Menschen davon profitieren können. Und zwar nicht im Sinne von „hihi haha witziiiich – dark Klapsi/Behindi-Humor“, sondern im Sinne von: „Ich bin nicht allein. Es gibt Worte, Bilder, Möglichkeiten zu benennen, was ich wahrnehme. Ich kann verbunden sein mit dieser Welt.“

die persönliche Komponente – eine „boomende Community“?

Im Internet, speziell auf Social Media, gibt es keine Communitys. Dort gibt es Publikum. Zielgruppen, die erreicht oder nicht erreicht werden.
Menschen, die auf Social Media Geld verdienen (wollen), haben die Begrifflichkeit der Community eingeführt, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Follower_innen, Konsument_innen, Zuschauer_innen haben, zu validieren. Diese Validierung führt zu einer Verharmlosung sowie der Verschleierung dessen, was dort meiner Ansicht nach tatsächlich passiert. Die umfassende Degradierung zum Resonanzkörper.

Die Resonanz: Überwiegend positiv.
Zu meiner schönsten Zeit auf Twitter gehörte Instagram zur positiven Wohlfühlecke des Internets. Katzenfotos, Essen, die schönsten Momente – alles fein. Immer.
Logisch – einkaufen, konsumieren soll sich gut anfühlen. Muss sich gut anfühlen, sonst macht es niemand. Inzwischen ist die Gier der Konzerne so groß wie ihre fehlende Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Heute ist auch Instagram für bestimmte Personengruppen kein rein schöner angenehmer Ort zum Im-Kreis-gehen und schöne Dinge „finden“.

Shitstorms that hit the fan, ohne dass jemand zum Saubermachen kommt

Cybermobbing, deep fakes, Shitstorms, Follower_innen, die Behörden mit ausgedachten Geschichten über Content Creator_innen beschäftigen, bis diese im echten Notfall zögerlich oder falsch reagieren, Rufmord, Stalking, Doxxing – digitale Gewalt hat viele Formen, und sie trifft immer Menschen.
Während die neckische Ute, die allen das Outfit zeigt, mit dem sie den Tag rockt, dahingehend frech augenzwinkernd sagen kann: „Huh, dafür krieg ich bestimmt wieder aufs Dach, aber ich sags trotzdem: Ich liebe Lederschuhe.“ – überlegt sich die hübsche Lifestyle-Influencerin Greta mit dem Stalker, der ihr seit Jahren nachstellt, ohne dass sie etwas dagegen tun kann, wo sie überhaupt drehen kann, ohne zu viel über ihren Aufenthaltsort nachvollziehbar zu machen. Beide bedenken eine ihrer Tätigkeit gewissermaßen inhärente Erfahrung bzw. Gefahr: Abwehr, Dislikes, den Shitstorm, die Möglichkeit einer konkreten Gefahr für Leib und Leben wegen etwas, woran sie nicht gedacht haben oder was sie schlicht auch gar nicht kontrollieren können.

Das an sich ist in unserer Gesellschaft etwas, das ich abstoßend und unserem Miteinander als Menschen unwürdig empfinde. Alle Menschen sollten sich immer sicher miteinander fühlen bei dem, was sie für sich und andere tun. Dass es Orte oder im Fall von Social-Media-Plattformen Kommunikationsräume gibt, die als individuell gefährlich gedacht und einfach hingenommen werden, finde ich inakzeptabel.

In den mehr als 10 Jahren, die ich hier meinen Weblog selbst hoste, selbst verwalte, selbst und inzwischen von Spenden unterstützt bezahle, musste ich mich bereits mit Angriffen befassen, die mich nicht nur verletzt und verunsichert haben, sondern gewissermaßen auch weiter in die Einsamkeit drängten, aus der ich mit meinem Schreiben heraustrete.
Statt mein Schreiben als Arbeit zur Kompensation meiner sozialen Behinderung anzuerkennen, wurde sie zu einem narzisstisch motivierten Akt erklärt, der eine generelle und gewissermaßen skrupellose sowie selbst erniedrigende Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung als nette, kluge oder tragisch gebeutelte, bemitleidenswerte Person beweist.
Statt zu sehen, dass ich mich durch meine Texte mit mir selbst verbinde, mich kennenlerne und als selbstwirksam erlebe, wie ich es sonst nirgendwo im Leben konnte, hieß es, ich würde schreiben, um mich nicht zu spüren und von meinen „wirklichen Problemen“ abzulenken.
Statt nachzufragen oder sonst wie in Erfahrung zu bringen, ob ich mit meiner Arbeit Geld verdiene, wurde und wird einfach angenommen und über mich erzählt, ich würde hier scheffeln und nur behaupten, dass ich in Armut gelebt habe.

All dem liegt die Annahme zu Grunde, dass ich und die Dinge, die ich hier teile, in Wahrheit gar nicht sein können. Ich schreibe nicht wie Annabell, die auf TikTok ihre Anteile wie Soapcharaktere vorstellt und dann einen Föhn in die Kamera hält – ich kann gar nicht viele sein.
Ich beschreibe nicht haarklein – ich deute nicht mal implizit irgendwie an, wie ich in dunklen Kellern von Kuttenmännern willenlos gequält wurde – ich kann gar keine organisierte Gewalt erlebt haben.
Ich kann zwei drei wissenschaftliche Zusammenhänge zu Trauma, Gewalt und Dissoziation in ein paar geraden Sätzen erläutern – ich kann ja gar kein Laie sein, die_r sich aus Gründen seit über 20 Jahren damit befasst.
So wie ich sage und mitteile, wie es ist, kann es in Wahrheit gar nicht sein – weil andere meine Lage anders empfinden als ich, weil sie was anderes machen würden als ich, weil ihre Vorstellungen von Angemessenheit anders sind als meine … what ever.

Ich kann als Sender_in nie ganz beeinflussen, was bei wem wie ankommt.
Der Clash zwischen anderen Menschen und mir ist meinem Leben und meinem Selbstausdruck so sehr eingewoben – es hat keinen Sinn für mich, diese anderen Menschen zum Maßstab in dieser Sache zu machen. Das Stereotyp über Menschen mit DIS ist da draußen. Die Ideen über Blogger_innen, Podcaster_innen, Content Creators und Influencer_innen auch. Es gibt keine Möglichkeit, keinen Grad von Professionalisierung und was weiß ich, damit sie als so unzutreffend begriffen werden, wie sie sind. Vor allem, wenn es Menschen gibt, die gar nicht mal so sehr darunter leiden, sondern sogar davon profitieren können. Und wollen.

Ohne Community keine Community

Gäbe es tatsächlich Communitys auf Social Media, würden diese Leute bereits keine desinformierenden Accounts mehr betreiben. Wären Traumafolgestörungen weniger kontrovers diskutiert und das Leben mit Behinderung oder chronischer Krankheit insgesamt weniger individualisiert, würde unter einem so unsäglich umfassend desinformierenden Video, wie ich es zur Einleitung zitierte, nicht nur Ermutigung, Beifall, Zuspruch und Danksagungen stehen, sondern auch mal die Frage, ob die Person mal nach den Latten an ihrem Zaun gucken kann. Was ihr eigentlich einfällt, Profit aus dem Leiden anderer zu generieren. Ob sie sich nicht schämt, so schädigende Vorurteile zu reproduzieren und anderen zu schaden. Wie sie gedenkt, den Schaden an der Community zu reparieren. Da stünden Literaturhinweise. Fakten. Wäre nicht nur wohlfühliges Mitgefühl, damit diese arme gequälte Seele auch mal was Schönes im Leben spürt. Da wäre Verantwortung Thema und Debattenkern.

Tatsächlich kenne ich nur wenige medienschaffende Betroffene, die sich dazu wirklich umfassend Gedanken gemacht haben und auch regelmäßig dazu anhalten, ihren Content kritischer Prüfung auszusetzen. Diese so oft beschworene Soli unter Betroffenen im Internet, die gibt es nicht.
Es gibt Zugehörigkeitsgefühl, Interesse und aufrichtige Anteilnahme. Aber gegenseitige Anteilgabe, Fürsorge, Verantwortungsübergabe, real konkreten Austausch zur Frage des gegenseitigen Miteinanders gibt es nicht. Das sind aber Kernaspekte vom Leben in einer Community.
Kommen, wenn eine_r weint. Putzen, wenn eine_r nicht kann. Ein Projekt für alle zusammen machen, sich gegenseitig einen Garten oder eine andere versorgende, nährende, gut tuende Grundlage anlegen. Sich gegenseitig vor anderen verteidigen. Übereinander wohlwollend sprechen. Sich gegenseitig auf Fehler hinweisen. Sich gegenseitig Wachstum oder Veränderung zumuten. Sich dabei ganz konkret helfen oder unterstützen. Antworten, wenn man angesprochen wird. Das ist Community.

Anderen zuhören, damit es sich gut oder aushaltbar anfühlt, am Leben zu sein, ist kein gemeinschaftliches Verhalten. Das ist Konsum. Das ist sozial parasitär. Komplett egal, ob man sich als Viele erlebt oder nicht, ob man behindert ist oder nicht. Es hat absolut nichts mit dem Konzept von „Community“ zu tun. Dieses Verhalten wird aber von Social-Media-Plattformen gebraucht und gefördert.

Und weiter?

Selbstdiagnosen und Mehraufwand für professionelle Diagnostiker_innen sind nicht das Problem, um das man sich in Bezug auf alle Risiken und Nebenwirkungen von geschlossenen Kommunikationssystemen wie Social-Media-Plattformen kümmern muss.
Die Profis werden es schon schaffen, sich nicht mit unnötigen Diagnostiken kaputtzuarbeiten. Niemandes Leid muss als belastend markiert werden, um die bestehende Unterversorgung zu verändern.

Aber werden wir als psychisch kranke, behinderte, ausgegrenzte Menschen es schaffen, mit- und füreinander da zu sein, wie wir uns das wünschen? Wie wir das brauchen? Wenn es uns in letzter Konsequenz dann doch wichtiger ist, von „den Richtigen“ geliked zu werden?
Wenn es doch so viel leichter ist, den unangenehmen Stuss wegzuwischen?

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Quellen

[1] Briana L. Snyder, Stacey Marie Boyer, Jennifer E. Caplan, M. Shae Nester, Bethany Brand,
It’s not just a movie: Perceived impact of misportrayals of dissociative identity disorder in the media on self and treatment,
European Journal of Trauma & Dissociation, Volume 8, Issue 3, 2024, 100429, ISSN 2468-7499, https://doi.org/10.1016/j.ejtd.2024.100429.
(https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2468749924000528)

[2] Salter, Michael PhD; Brand, Bethany L. PhD; Robinson, Matt PhD; Loewenstein, Rich MD; Silberg, Joyanna PhD; Korzekwa, Marilyn MD. Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment. Harvard Review of Psychiatry 33(1):p 41-48, 1/2 2025. | DOI: 10.1097/HRP.0000000000000416 (https://journals.lww.com/hrpjournal/fulltext/2025/01000/self_diagnosed_cases_of_dissociative_identity.4.aspx)

[3] Interview mit Psychologe Holger Richter, NZZ, 06.02.2025 (https://www.nzz.ch/feuilleton/psychisch-krank-wokeness-und-der-anstieg-an-diagnosen-wie-adhs-ld.1869384)

der Moment, der noch nie war

R. ist mein Stein im Schuh.
Wenn sie darüber redet, wie das für sie war, dass sie niemand verstanden hat, dann spüre ich das wie ein besonders heftiges Stechen ihrer Härte. Peripher, aber deutlich.
Die Verschlossenheit, die sie in Bezug auf DIE ALLE hat und hält, war und ist bis heute manchmal noch ein echtes Hindernis in Hilfe- und Unterstützungskontexten.
Sie würde es nie sagen, mir jedoch ist es total klar: Das frühere Unverständnis der Menschen über ihre Gefährdung hätte ihr das Leben kosten können. Uns. Mir.
Was man ihr, uns, mir in Medien, Schule, Sportverein beigebracht hat: „Sag was, wenn jemandem oder dir etwas Schlimmes passiert.“, das hat sie gemacht. Sie hat gesagt, dass anderen etwas passiert. Und weder sie noch die Menschen haben gemerkt, verstanden, gewusst, dass sie diese anderen war. Niemand hat geholfen.

So ein folgenschweres Missverständnis ist nicht nur „ein harter Schlag“ oder etwas, was das Ego ein bisschen anklatscht, wer ist schon gern unverstanden dies das. Solche Erfahrungen lösen nicht nur Enttäuschung aus. Sie führen auch dazu, dass man sich auf sich allein zurückzieht. Annimmt, die Menschen würden wollen, dass man gefährdet ist. Glaubt, die Gefährdung, die (angenommene) Lebensgefahr sei von allen (also von der ganzen Welt) gewollt. Die Todesangst gewünscht.
Ich reagiere auf solche Annahmen mit Depression, Angst, Suizidalität. R. mit Wut, Härte und authentisch kompromissloser Konsequenz. Nicht einen Filter hält sie noch hoch, wenn sie merkt, dass sie, dass wir, dass ich nicht verstanden, gehalten, getragen werde.

Innere wie R. sind es, die ich bei Vorhaben wie der Operation, aber auch der Traumatherapie möglichst weit raushalte. Noch weiter als aus anderen Interaktionen mit anderen Menschen.
Zum Einen, weil ihre Wut in der Regel zu Problemen führt, die meine kommunikativen Fähig- und Fertigkeiten weit überschreiten. Was sich unter anderem daraus ergibt, dass ich dieses Gefühl nicht mir, sondern ihr zugehörig empfinde und erst nach bewusster Reflexionszeit und manchmal auch erst nach einer Besprechung mit meiner Therapeutin den Anlass überhaupt erkenne und verstehe.

Zum Anderen, weil R. einfach bis heute nicht richtig orientiert ist. Sie kann im Heute agieren, kann den ganzen „Wissen Sie welches Jahr wir haben“-Reigen vortanzen, ohne einen Zweifel aufkommen zu lassen. Aber für sie geht es nach wie vor bei jedem Kontakt, der irgendwie und sei es noch so abstrakt darum geht, dass ihr, uns, mir jemand in irgendeiner Form hilft oder etwas unternimmt, was sie, wir, ich nicht alleine kann, um Leben und Tod.
Wenn diese mit Hilfe oder Unterstützung oder irgendeinem anderen mich betreffenden Ding beauftragten Menschen irgendetwas nicht können, nicht schaffen, nicht wollen – egal ob intentional oder natürlich bedingt – beginnt ein inneres Wiederleben von Traumatisierungen. Davon merke ich, Hannah, bis heute nichts. Ich merke nur R., die es wiederum als flutend und massiv überfordernd erlebt und reagiert. Ihre Reaktion, also die innere Schutzreaktion, macht mir wiederum Angst, weil ein Wechsel zu ihr für mich Kontrollverlust und relativ spezifische zwischenmenschliche Konsequenzen bedeutet.
R. geht im Zweifel nämlich auch einfach aus dem Kontakt und bringt absolut keine Motivation dafür auf, die Kraft zur angepassten Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen aufzubringen. Wer sich im Kontakt mit ihr nicht darum bemüht und kümmert, sie in ihrem authentischen Ausdruck zu verstehen, bekommt von ihr auch kein Bemühen. Sie behält diese Energie für sich, um selbstständig handlungsfähig zu bleiben.
Traumalogisch absolut sinnvoll. Alltagskommunikations-logisch ebenfalls absolut sinnvoll. Sozial und in Bezug auf jede Option der Kontaktgestaltung hingegen eine absolute Katastrophe.
Jedenfalls für mich. Denn R. markiert diese Kontakte den Energieaufwand nicht wert, den die reparierende oder wieder-verbindende Kommunikation für mich bedeutet, die_r in so einem Fall alle Kraft einfach aufbringt, egal, ob ich sie wirklich habe oder nicht. Bis das nicht „wieder gut“ ist, kann ich nichts anderes machen, als daran zu denken, Gespräche in meinem Kopf durchzuanalysieren, Aussprachen im Kopf üben, um auf jede Möglichkeit des Gesprächsverlaufs vorbereitet zu sein und mich auf Alternativen bzw. andere Lösungen zu konzentrieren. Das ist in der Regel die Phase, in der ich dann missverstanden werde, weil die allgemeine erste Annahme ist, ich sei durch mein Trauma so beziehungsunsicher, dass ich Konflikte nicht ertragen kann. Tatsächlich aber kann ich die Emotionalisierung von Konflikten kaum ertragen, weil sie eine oft überaus kräftezehrende Übersetzungshürde für mich darstellt und ich nicht davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber das überhaupt weiß, versteht, berücksichtigt oder, wenn es bekannt ist, nicht als Waffe gegen mich einsetzt.

Mal ganz davon abgesehen ist es mir peinlich, wenn R. übernimmt und meinen Körper steuert. R. erlebt sich als 13 Jahre alt und allein gegen die ganze Welt am eigenen Weiterleben überhaupt interessiert. Das ist einfach kein guter Zustand, wenn man inzwischen überwiegend mit Menschen zu tun hat, die es verletzen würde, würde man ihnen Desinteresse an unserer Lebendigkeit unterstellen. So wie es R.s Grundannahme über DIE ALLE ist.

Es ist R., die sich ohne jeden Skrupel hinstellt und sagt, dass es Helferversagen gibt. Wie es wirkt. Dass es mit.schuldig macht. Dass es Teil des Unrechts ist, das Opfern von zwischenmenschlicher Gewalt passiert. R. ist die einzige Seite von mir, die Entschuldigungen von Erzieher_innen, früheren Psychotherapeut_innen und auch Betreuer_innen goutieren würde. Die Einzige, die sich nicht mal dafür schämt zu sagen, dass sie das gerne hätte.
Sie kann das, weil sie sich sehr weit entfernt von diesen Menschen erlebt. Ihre Wut und ihre harte Verschlossenheit schützen sie davor, jemals wieder irgendetwas von DEN ALLEN zu brauchen.

Sie schützen sie aber nicht davor, etwas zu bekommen, wenn sie, wir, ich es brauche.
Die Situation im Krankenhaus, die Operationsvorbereitung und die Pflege danach, war so ein Moment des Bekommens. Einer der Ersten, die ich so je wahrgenommen habe.

Man ist auf allen Ebenen auf mich zugekommen. Nicht ein Schritt in dem ganzen Voruntersuchungsprozess, der Aufnahme und Vorbereitung war gehetzt oder ungeduldig mit mir. Man hat für alles immer wieder meinen Konsens abgewartet. Immer jede alternative Möglichkeit erklärt und über alle Ressourcen aufgeklärt. Alles, was ging, ging auch wirklich. Sobald ich unsicher wurde, wurde ich versichert – ohne dass ich meine Verunsicherung erklären oder entschuldigen musste.
Es war nicht im Fokus, was mich verunsichert hat, sondern dass ich weiß, worüber ich mir sicher sein kann.
Das an sich war bereits außerordentlich wohltuend für mich. Es hat verhindert, dass ich in den traumalogischen Schluss rutsche, die Kontrolle über Unkontrollierbares behalten zu müssen. Diejenigen, die in der Verantwortung für mich waren, haben sie auch übernommen und meinen Konsens darüber immer wieder abgefragt. Ich hatte bis zum Schluss das Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, ob dieser Weg zum Eingriff oder der Eingriff selbst passiert oder nicht.

Offenbar habe ich beim Aufwachen immer wieder gesagt, ich hätte Angst, dass ein Täter da wäre oder käme. Daran habe ich keine Erinnerung.
Aber ich erinnere, dass eine Stationsschwester mir dann im Patient_innenzimmer gesagt hat, dass sie aufpassen würden, dass niemand käme. Dass ich bei ihnen sicher sei.
Der kleine R.-Stein in meinem, naja, meiner Krankenhaus-Laufsocke, war deutlich spürbar, aber nicht relevant für mich. Ich war noch eine ganze Weile nicht richtig wach und dissoziierte abwechselnd mit Schlafsequenzen.

Und dann gab es den Moment, in dem mein Mann egomäßig leicht angedötscht am Bettrand saß und erzählte, wie er beim Betreten der Station erst einmal klar und unmissverständlich gefragt wurde, ob er auch wirklich mein Mann sei.
Das war dann der Moment, in dem der kleine Stein zu einem kleinen Lehmklumpen wurde.

die Operation

„Was mir passiert ist – sieht man das innen?“
Das fragte ein Innen, das sich für mich wie eine feste Wattenebelwand anfühlt und immer wieder in den Spalt zwischen der Welt und mir geriet.
Keines der Gespräche mit Ärztinnen, Schwestern und Pfleger_innen, die ich für diesen Tag geübt hatte, enthielt diese Frage. Zu keinem Zeitpunkt wollte ich, dass DAS überhaupt irgendwie Thema wird.

Mir war Abstand wichtig. Sachlichkeit, Objektivität. Mein Fokus lag darauf, meine behinderungsbedingten Bedarfe als etwas zu kommunizieren, was unbeachtet zu Problemen und unerwarteten Entwicklungen führen kann. Ich wollte den reibungslosen Ablauf ermöglichen, der für alle wichtig und gut ist.
Voruntersuchung, Narkose, Operation, Aufwachen. Für mich waren das Checkpoints, an denen ich so unauffällig wie möglich ein- und auschecken wollte. Soweit das mit der Unauffälligkeit eben geht, wenn Gehörschutz, schweres Tier und „Bitte nicht unerwartet anfassen“ zu den Bedarfen gehört.

Ich schäme mich für meine Bedarfe. Bewege mich ständig in Sorge und Angst darüber, die Grenzen des Systems zu berühren, die jeder Klinik inne sind.
In dieser Klinik wurde mir die Angst an vielen Stellen genommen. War nie nötig, dass ich meine Grenzen rechtfertigend erklären musste. Nur nennen musste ich sie. Das fiel mir zunehmend leichter, je öfter ich in Kontakt mit den Behandler_innen und ihrem Team war, denn sie kamen auf mich zu.
In meiner Akte stand bereits nach dem ersten Beratungsgespräch „PTBS Z. n. sex. Missbrauch“, ohne dass ich das genau so aussprechen musste. Es hat gereicht, einen früheren Befund nach einer Gewalterfahrung zu teilen und zu sagen, dass das nicht die einzige Erfahrung war.
Bei jeder Untersuchung fragte die Gynäkologin danach, ob ich bereit bin und beschrieb, was sie tat und wozu. Meine Aufgabe war nicht, einfach alles passieren zu lassen, sondern darauf zu achten, wie es mir geht, damit ich rechtzeitig sagen kann, wenn ich eine Pause brauche oder etwas weh tut. Mir hilft es generell, wenn mein Auftrag an mich als Patient_in ist, meine Selbstwahrnehmung und die Kommunikation dessen zu gewährleisten.

Trotzdem habe ich so lange wie möglich nichts von der DIS und dem Autismus gesagt. Ich wollte keine Bilder entstehen lassen, die mich zu einem Subjekt machen. In einem System wie einer Klinik ist man als Patient_in immer ein Objekt der Behandlung. Jede Subjektivierung führt zu verschobenen Grenzen und praktisch jede verschobene Grenze birgt Verletzungsrisiken für beide Seiten.
Daher mein Anspruch an Objektivität. Mein ständiger Bezug auf Lösungen für Probleme, die ich durch meine Bedarfe entstehend annehme.

Dass ich eine Operation brauchen würde, kam überraschend. Es gab keine andere Behandlungsmethode, um meinen Kinderwunsch zu erfüllen. Und so wurde aus Terminen dann und wann zur Blutabnahme und Ultraschalluntersuchungen eine gynäkologische Operation, die direkt auch der weitergehenden Diagnostik diente.

Es ging mir schlecht und zunehmend schlechter in der Zeit vor dem Termin.
Kurz vor diesem Thema war ich in der Therapie sehr konkret befasst mit meinen Erfahrungen. Hatte über Tage hinweg mit massiven emotionalen Flashbacks und Überforderungsgefühlen zu tun, selbst als sich mir keine Bildfragmente des Erlebten mehr aufdrängten.
Und dann das.
Eine geplante Auslieferung. Eine gezielte Ohnmacht. Ein vorhersehbarer Fokus auf meine Genitalien. Absehbare Schmerzen. Bekannte Risiken für Flashbacks, dissoziative Krampfanfälle und Wechsel in möglicherweise desorientierte Selbstzustände. In einem Rahmen, in dem ich mit meinem Inneren nicht relevant bin für das, was da passieren soll.

Ich war aber relevant für die Menschen dort. Das hat mich überrascht. Und jetzt, wo alles vorbei ist, freut es mich auch.
Es war ein ambulanter Eingriff. Ich war die erste Patient_in.
Mein Mann und ich fuhren in den Anfang vom Sonnenaufgang und hörten Musik, die das Fahren einem Videospiel ähnlich machte. Eine Schwester trennte uns freundlich und leitete mich in das Patientenzimmer.
Alles war ruhig. Das Licht noch gedimmt, die Mitpatientin lieb und grenzbewusst. Ich konnte mich in Ruhe umziehen und merken, wann ich meinen Gehörschutz brauchte. Geholfen hat auch der Bent, über den ich hier bereits geschrieben habe. Ich konnte ihn auf dem Oberkörper behalten, bis ich nicht mehr bei Bewusstsein war. Ich glaube nicht, dass ich ohne ihn noch mit den Schwestern in der Anästhesie hätte sprechen können. Die fanden ihn klasse. Einer Schwester gefiel auch mein Gehörschutz. Alle waren mir liebevoll zugewandt und ließen mir Raum zu verstehen, was gerade mit mir passierte.

Ich hatte Angst als das Narkosemittel einsetzte. Und ich hatte offenbar extrem viel Angst als die Wirkung nachließ. Später erfuhr ich, dass ich einen Flashback ausagiert habe und einen Krampfanfall hatte. Von einer Ärztin für Gynäkologie und Psychosomatik, die einige Stunden später zu mir geschickt wurde.
Die Ärztin war offenbar selbst krank. Das war eine heftige Erfahrung, die ich allerdings nicht allein machen musste. Mein Mann war dabei. Wir haben unseren Eindruck an die vertretende Ärztin und eine Pflegerin weitergegeben und schreiben auch nochmal eine Nachfrage mit informierendem Charakter an die Klinik. Sicher ist sicher.

Ich habe das Narkosemedikament nicht schnell und gut abgebaut. Statt nach 4 bis 6 Stunden konnte ich erst 11 Stunden später nach Hause gehen.
Immer wieder wechselten sich Dissoziation und Sedierung ab. Ich musste mich oft übergeben. Erst spät kamen wir auf die Idee, um ein Medikament gegen Übelkeit zu bitten.
Irgendwo dazwischen kam die Ärztin, die mich in der Kinderwunschklinik untersucht und nun operiert hatte, zu mir, um mir zu sagen, wie es gelaufen ist.
Ich hörte, dass alles gut gegangen sei und auch die Diagnostik keine weiteren Probleme aufzeigte. Und merkte, wie das Innere sich mit dem Druck des Gedankens „Jetzt oder nie“ vorschob, um diese Frage zu stellen.

„Nein. Man sieht wirklich gar nichts davon. Es ist alles soweit gut.“
Heute merke ich erst, wie unfassbar wichtig es war, das zu erfahren.

der Podcast „Geteiltes Leid“, eine Besprechung in 4 Teilen

Transparenzhinweis: Dieser Text entstand unbeauftragt. Finanziell ermöglicht haben ihn Steady-Unterstützer_innen. Die im Podcast und diesem Text erwähnte Emanuel Stiftung hat sich 2019 mit einem kleinen Beitrag an der Realisierung meines ersten Buches „aufgeschrieben“ beteiligt.

„Der Podcast ‚Geteiltes Leid‘ entstand im Rahmen des Projekts ‚Hast du schon gehört‘, welches durch das Programm ‚Demokratie im Netz‘ der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und vom Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben umgesetzt wurde. Mit diesem Projekt setzt Arbeit und Leben ein klares Zeichen gegen Desinformation und für eine stärkere Demokratie.“

Ich musste lachen. Denn da saß ich nun nach einigen Tagen mit E-Mails und Gesprächen über diesen Podcast und der Desinformation, die damit verbreitet wird, und las diesen Abschnitt auf der Projektwebseite. Nachdem ich die vierteilige Podcastserie gehört habe, erscheint mir kaum erreicht, was man sich mit dem Projekt vorgenommen hat. „Kritisches Hinterfragen“, „ein eindrucksvolles Beispiel für investigativen Journalismus“, „die Politik auffordern, Verantwortung zu übernehmen“ – das habe ich nicht gehört. Aber dramatische Geschichten. Viele Annahmen und unvollständige Andeutungen. Viel Vermischtes. Und das alles ohne eine Perspektive der Menschen, um die es letztlich geht.

Teil 1 – „Der Fall Leonie“

In den ersten beiden Episoden wird die Kranken- und Leidensgeschichte von Leonie (Pseudonym) erzählt. Es wird aus ihrer Krankenakte vorgelesen. Ihre Medikation und andere Details geteilt, die normalerweise besonders geschützte persönliche Informationen sind. Die man als Journalist_in nicht ohne weiteres öffentlich zitieren darf, auch wenn einem die Eltern die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben.

Das alles passiert ohne Leonie. In meinen Augen der größte Makel an „Geteiltes Leid“.
Denn der Podcast entmenschlicht sie und verdeckt die Ausbeutung ihrer Geschichte. Sowohl dadurch, dass Hörende sich keinen eigenen Eindruck von ihrer Person machen können, als auch durch unkommentierte Aussagen ihrer Eltern. Zum Beispiel die von ihrem Vater in der ersten Folge: „Wenn die Leonie zu Hause war, dann war sie ein unheimlicher Zeitfresser.“, „Man konnte auch mit ihr praktisch kein Gespräch führen. Sie konnte ins Wohnzimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und schlechte Laune verbreiten, alleine durch das, wie sie sitzt und welche Ausstrahlung sie hat. Wie ein Scheißhaufen von einem Hund.“ Es ist entsetzlich und verantwortungslos, dass eine solche Aussage überhaupt oder zumindest nicht einordnend ausgespielt wird. Man könnte oder sollte bereits hier den Podcast einfach ausschalten.

Die Erzählung von Leonies Krankengeschichte passiert nicht, um über psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie die Auswirkungen auf ihre Familien zu sprechen. Selbst die lange Zeit der lebensbedrohlichen Behinderung eines Kindes und der strukturellen wie individuellen Kämpfe, Sorgen und Prozesse, die dadurch in der Familie entstehen, wird nur ansatzweise und gefiltert durch die Leidenserzählung der Mutter erahnbar. Etwa, als sie in Folge 4 über die wöchentlichen Besuche ihrer Tochter im Pflegeheim sagt: „Und das ist so, das ist der schlimmste Nachmittag in meiner Woche.“
Das Podcast-Team möchte vielmehr aufzeigen, dass Therapeut_innen an Verschwörungserzählungen glauben und ihre Patient_innen als Beweis dafür missbrauchen, um persönliche wie politische Ziele zu erreichen.

In allen Folgen wird Leonie, genauer gesagt ihre Kranken- und Leidensgeschichte, nun wiederum als Beweis dafür benutzt, dass eben jene Erzählung über missbräuchliche Therapeut_innen und einen vor diesem Unrecht und Leid der Opfer passiven Staat wahr ist. Das ist Objektifizierung.

Für mich besonders brisant daran: Leonie ist heute offenbar schwer beeinträchtigt. Die Beschreibung ihrer Eltern legt nahe, dass sie nicht oder nur eingeschränkt fähig ist, ihre Lage zu überschauen, zu gestalten und über sich selbst zu bestimmen. Es wird nicht offengelegt, wer sie rechtlich vertritt. Dass Eltern über ihre erwachsenen Kinder aber nicht ohne richterlichen Beschluss beziehungsweise ohne eine von den Kindern erteilte Vollmacht bestimmen dürfen, wissen viele Menschen nicht. Damit erscheint Zuhörenden wahrscheinlich auch legitim, dass Leonies Eltern und Journalist_innen ihre Geschichte erzählen. Der Gedanke ist möglicherweise: „Leonie kann das ja vielleicht gar nicht mehr – dann müssen es ja andere für sie machen.“

Weil es im Podcast nicht ausführlich begründet wird, frage ich mich: Kann Leonie aufgrund ihrer Behinderung nicht selbst im Podcast sprechen? Oder bedarf es Anstrengungen von Seiten der Journalist_innen, Eltern und anderen Menschen, ihr das zu ermöglichen? Anstrengungen, auf die von dieser Seite gern verzichtet wurde? Wenn das der Fall war, warum war das für alle Beteiligten in Ordnung?

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Einwilligung und einem Einverständnis. Einen Willen kann auch jemand haben, die_r kein Verständnis von der Gesamtlage hat. Hat Leonie ein Verständnis von dem Bild, das ihre Eltern in der Öffentlichkeit von ihr vermitteln? Ist sicher, dass sie das so will? Fragen wie diese ergeben sich ganz natürlich, wenn man es mit psychisch schwer erkrankten oder intellektuell („geistig“) behinderten Menschen zu tun hat. Es erfordert eine umfassende Auseinandersetzung damit, was es bedeutet, über statt mit behinderten/(chronisch) kranken Menschen über ihre Er.Lebenserfahrungen in öffentlich zugänglichen Medien zu berichten. Das ist alles andere als trivial.

Entsprechend tauchte für mich bei diesem Podcast bereits in der ersten Folge die Frage auf, warum man sich für Leonies Geschichte entschieden hat, wenn Leonie selbst gar nicht zu Wort kommen kann oder will oder möchte. Oder soll? Direkt von etwas betroffene Menschen sind sogenannte „unzuverlässige Erzähler_innen“ – man muss ihre Aussagen stets einordnen. Warum wurde darauf verzichtet?

Später, in Folge 4, kommt eine Person, die Amelie genannt wird, zu Wort. Sie wurde ebenfalls mit der falschen Annahme konfrontiert, sie könnte Rituelle Gewalt erlebt haben und hätte eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Warum nicht diese Geschichte? Weil diese Person weniger schwer geschädigt wurde? Weil ihr Leid entsprechend geringer ausfällt – sie konnte sich ja wehren oder schützen? Brauchen Menschen wie Leonie so eine (diese?) Plattform, weil sie den schwersten Schaden haben? Woran soll das gemessen werden? Oder weil schwer geschädigt zu werden eine große Angst aller Menschen in einer ableistischen Gesellschaft wie unserer ist, wo Behinderung nach wie vor in vielen Lebensbereichen gleichbedeutend ist mit „unwert sein“?
Wie schnell man sich im Nachdenken über diese Fragen doch in einer Dynamik findet, die von ableistischer Opferfeindlichkeit und der Vermeidung der Anerkennung von Gewalt als immer leidauslösend gekennzeichnet ist. Bei einem Format, das die Demokratie stärken will, finde ich das bemerkenswert.

Ich komme nicht umhin, anzunehmen, dass man sich mit dieser Geschichte die Emotionalisierung der Debatte sichern wollte. Als sei eine Fehldiagnose, eine Behandlung durch missbräuchliche Psychotherapeut_innen oder ganz allgemein eine psychotherapeutische oder psychiatrische Falsch- oder Nichtbehandlung nicht schon schlimm genug.

Boulevard-journalistisch mag das lauter sein – menschlich, moralisch, ist es in meinen Augen nieder. Niemand, wirklich niemand, dem eine Betroffenheit zugesprochen wird, die sie_r nicht hat, von einer_einem Therapeut_in missbraucht wurde oder eine falsche Diagnose hat, hat etwas von einer emotionalisierten oder ableistischen Debatte darüber.
Die Aufmerksamkeit dient ausschließlich dem Medium und im Verlauf den Journalist_innen. Diese Art der Aufmerksamkeit ist eine Währung, mit der man nur in ganz spezifischen Kontexten etwas anfangen kann. Marginalisierte Menschen, wie behinderte Menschen oder Opfer von Gewalt, finden nicht in diesen Kontexten statt. Auch wenn das Narrativ von Opferschaft als lukratives Mittel der Selbstdarstellung weiterhin viele Vertreter_innen findet. Opferfeindlichkeit ist einfach eine der Alltagsgewalten, der sich sehr viele Menschen bis heute nicht bewusst sind.
Bis sie selbst zum Opfer werden.

Über psychische Krankheiten reden

Wenn man möchte, dass sich viele Menschen für das Leid anderer Menschen interessieren, dann muss ein Bezug hergestellt werden. Man muss eine Geschichte aus einem Leben erzählen, das wie jedes andere auch sein könnte. Sonst können sich Menschen nicht reinfühlen. Nicht annehmen: Das könnte auch ich sein.
Deshalb beginnt fast jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit, und weil die meisten Menschen Krankheit als temporären Zustand erleben, endet auch jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit. Oder mindestens der zuversichtlichen Aussicht darauf.
Leonies Geschichte beginnt mit Krankheit und endet damit. Das gefällt mir sehr gut, denn das sind die Geschichten über psychische Krankheit, die so gut wie nie gehört werden. Egal, wie oft wir Betroffenen sie der Öffentlichkeit vermitteln. Es wird von vielen Redaktionen einfach als zu deprimierend eingeschätzt. Nicht sexy. Nicht uplifting. Nicht oder nur schwer vereinbar mit kommerziellen Interessen.

Unheilbare, tödliche psychische Krankheiten sind eine Realität, mit der sich die meisten Menschen nicht abfinden wollen. Auch Leonies Eltern nicht, die mit diesem Podcast schon das zweite Mal die Geschichte ihrer Tochter benutzen, um ihre für viele Menschen absolut nachvollziehbar inakzeptable Erfahrung in die Öffentlichkeit zu bringen. [1] Sie können sich darauf verlassen, dass die Gesellschaft behinderte, unheilbar kranke Menschen verhindern will und Mitleid mit diesen Eltern hat. Und dass eben jene Gesellschaft psychische Krankheiten überwiegend als individuelles Kampfgeschehen begreift, das man „quick and dirty“ mit nur genug Willen und Kraft beenden kann.

Anorexia nervosa, die Magersucht, an der Leonie bereits als Kind erkrankt (nachdem sie eine Kindheit mit Erstickungsgefahr durchs Essen erlebt hat), ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Laut Prof. Manfred Fichter von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee sterben 10 bis 15 Prozent der an Magersucht erkrankten Menschen. 7 Prozent der erkrankten Magersüchtigen sterben durch Suizid. Die durchschnittliche Zeit der Erkrankung liegt bei 15 Jahren. [2]
Das ist schlimm. Traurig. Bitter.
Was noch bitterer ist: die durchschnittliche Wartezeit für einen Klinikplatz zur Behandlung einer psychischen Krankheit außerhalb psychiatrischer Notfallversorgung. Vor allem, wenn der körperliche Zustand einer medizinischen Mitbehandlung und Überwachung bedarf. Und erst recht, wenn zusätzlich noch eine Behinderung oder weitere Erkrankungen wie eine stoffgebundene Sucht oder eine (komplexe) Traumafolgestörung dazu kommen und eine entsprechend spezialisierte Behandlung erforderlich ist. Wie bei Leonie.

Dieser Komplex – die bittere Krankheits- und Behandlungsrealität – wird in dieser Podcastreihe nicht beleuchtet, und das ist meiner Meinung nach desinformierend. Denn das Bild von Leonies Lage, aber auch das ihrer Eltern und aller Helfer_innen, Betreuer_innen und Psychotherapeut_innen, wird dadurch massiv verzerrt dargestellt.

Die Aussagen der Eltern, die durchgehend ihr eigenes Leiden unter Leonies Krankheit, Verhalten und Re.Agieren beschreiben, kommunizieren im Kern immer auch, niemand habe ihr geholfen, niemand habe ihnen geholfen, obwohl das doch möglich gewesen wäre. Mit genug Kompetenz. Und Strenge gegenüber Leonie vielleicht. Oder Autorität. Oder Zwang, wenn nötig. Tatsächlich aber darf niemandem geholfen werden, die_r es nicht will, und nicht jede Hilfe bedeutet ein Heilungsversprechen. Mal ganz davon abgesehen, dass niemand von Ärzt_innen, Pfleger_innen und Sozialarbeiter_innen in Krankenhäusern behandelt werden kann, die aufgrund des demographischen Wandels und des Wirtschaftlichkeitszwangs im deutschen Gesundheitswesen einfach gar nicht zur Verfügung stehen.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen jeder psychiatrischen, psychologischen oder auch pädagogischen Hilfe- und Therapiemaßnahme gehört immer auch, dass sie nicht hilft oder den Zustand sogar verschlimmern kann. Wie bei Medikamenten gilt: Alles, was wirkt, kann wirken. Auch im unerwünschten Sinne.
Das ist ein absolut grundlegendes Faktum über Maßnahmen dieser Art. Jede_r Behandler_in, jede_r Helfer_in muss das wissen und den Patient_innen, Betreuten, Begleiteten und deren Angehörigen mitteilen. Befremdlich, dass die Ärztin, die uns Hörende als Host durch diesen Fall führt, das nicht vermittelt.

Dass die Eltern offenbar bis heute glauben, sie wurden um eine geheilte Tochter betrogen, kann man in diesem Zusammenhang sogar verstehen. Die (psychotherapeutische) Versorgung und Unterstützung von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen ist nämlich noch viel schlechter und erfordert manchmal eine Psychodiagnose, die man sich als Beamte_r (als Lehrer_in oder Polizist_in zum Beispiel) nicht ohne Sorge um negative Konsequenzen geben lassen kann.
Akzeptieren zu müssen, dass das eigene Kind möglicherweise unheilbar krank ist und ein Leben mit Behinderung(en) führen muss, ist für manche Menschen unfassbar schwer. Und wenn man dabei nicht unterstützt wird, kann eine Vermeidungshaltung und die Anschuldigung Dritter eine naheliegend logische Entwicklung sein.

Schwierig, problematisch, ja im Grunde tragisch wird es, wenn Dritte solche Anschuldigungen benutzen, um eine eigene Geschichte zu erzählen.

Teil 2 – „eine Geschichte, alles zu erklären“

Am Ende der zweiten Folge passiert ein Sprung, den ich auch beim zweiten und dritten Mal Anhören nicht verstehe.
Bis dahin erfahren wir, dass Leonies Zustand immer schlechter wird. Und wir erfahren, dass ihr Vater, nachdem sie absolut unfähig zur Selbstbestimmung im Krankenhaus ist und keine rechtliche Betreuung mehr hat, ihre Sachen aus ihrer Unterkunft holt. Dabei findet er einen USB-Stick, auf dem ein Video gespeichert ist. Laut der Moderation zeigt das Video, wie Leonie getauft wird. An einem offenbar schönen Tag, an einem schönen Ort, umgeben von offenbar wohlgesonnenen Menschen. Obwohl aus den im Podcast abgespielten O-Tönen keinerlei Bedrohung oder soziale Beziehung der Leute zu einander ersichtlich ist, sagt die Sprecherin zu dräuender Musik, dieses Video mache dem Journalist_innen-Team klar, dass es in Leonies Fall um ein Netzwerk ginge. Das ist angesichts dessen, was wir hören, eine irritierende Schlussfolgerung.

Mit dieser Passage endet für mich nicht nur die erste Folge des Podcastes, sondern auch mein Wille, an eine ergebnisoffene, investigative und umfassend recherchierte Arbeit dieses Teams zu glauben. Denn welches Netzwerk kann nur hinter einer Taufe stecken? Die christliche Kirche. Ein globales, ideologisch verbundenes Netzwerk, das als Organ einer Weltreligion einen allgemein legitimierten Platz in der menschlichen Kulturgeschichte einnimmt.
Der Eindruck, der hier zu erwecken versucht wird, ist, dass diese (in Leonies Leben zweite) Taufe, dieses Ereignis, das ausschließlich religiösen Zwecken dient und in der Regel mit einer standesamtlich wie sozial anerkannten Gemeindezugehörigkeit einhergeht, in irgendeiner Weise aufgezwungen wurde. Von Leuten, die Leonies Leiden entweder nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten. Also von Leuten, die gar nicht das Beste für sie wollten, sondern im besten Falle religiöses Brauchtum, im schlechtesten Fall, dass sie leidet.

Die trotz gemeinschaftlicher Verbindung letztlich doch individuelle und in der Regel selbstbestimmte religiöse Widmung und Auseinandersetzung mit sich selbst in schweren Lebensphasen wird hier als gefährlich kommuniziert. Ob es Leonie gutgetan hat, sich ein zweites Mal taufen zu lassen, ob sie es gewollt hat, weil es ihr emotionale Kraft gegeben hat, erfahren wir nicht. Wir hören jedoch erneut ihren Vater, der sein Entsetzen über seine Annahme äußert, Leonie sei zu diesem Zeitpunkt auch körperlich nicht versorgt worden. Was niemand außer Leonie und ihren Begleiter_innen wissen kann.
Zuhörende werden mit dieser Darstellung in die Idee manipuliert, die freikirchliche Gemeinde, die Leonie damals Unterkunft und soziale Gemeinschaft gab, hätte lieber für sie gebetet und Unsinn geglaubt, als sie medizinischer Behandlung zuzuführen.

Diese Erzählung – „Ideologisch überzeugte Hokuspokus-Therapeut_innen und Helfer_innen enthalten kranken Menschen echte Hilfe vor“ – sehe ich seit über 20 Jahren in Veröffentlichungen, die ihrerseits wissenschaftlich widerlegte Aussagen über die „Fälschbarkeit von Erinnerungen“ und verschwörerisch anmutende Theorien über die Unterwanderung von Medizin und Forschung durch (feministische) Akteur_innen verbreiten.
FMS, ick hör dir trapsen.
Und tatsächlich. Im Interview mit podcast.de sagt Khesrau Behroz, Mitgründer von Undone und Produzent des Podcast „Geteiltes Leid“: „Auf die Protagonisten kamen wir durch Beratungsstellen, die sich um Opfer schädlicher Therapien und deren Angehörige kümmern. Eine davon ist False Memory Deutschland e. V..“[3]

Alles, was nun in „Geteiltes Leid“ erzählerisch skizziert und argumentiert wird, folgt der Argumentation und Logik der „False Memory-Erzählung“.
Einschließlich des extrem emotionalisierenden Schlagwortes „satanic panic“, der im Titel der dritten Folge steht. Ein Begriff, der – wie immer, wenn die Protagonist_innen oder die Meinung der Redaktion davon beeinflusst ist – in der Folge nicht umfassend und inhaltlich unzureichend erläutert wird, was dazu führt, dass ein weiteres Mal das Gesamtbild verzerrt, also ein weiteres Mal desinformiert wird. Eine Dynamik, die ebenfalls seit jeher zur Debattenführung von False Memory um Rituelle Gewalt gehört und als Strohmann-Strategie[4] bekannt ist.

Der Begriff „satanic panic“ wurde in den 80er Jahren im US-amerikanischen Sprachraum verwendet, um eine teilweise auch religiös gefärbte Massenhysterie der US-Gesellschaft zu beschreiben, nachdem ein Buch mit dem Titel „Michelle remembers“ erschienen war. Das Buch handelte von einer Frau, die berichtete, mittels Hypnose an verschüttete Erinnerungen an satanistischen Missbrauch gekommen zu sein. [5]
Die davon ausgelöste Debatte beeinflusste massiv auch die öffentliche Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren, das klären sollte, ob Betreiber_innen und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool ihre Schutzbefohlenen missbraucht und in satanistisch anmutenden Szenarien gequält haben. [6]
Es gab ein für diese Zeit, in der das Privat-Fernsehen gerade erst etabliert wurde und der Kampf um die Einschaltquoten praktisch entfesselt tobte, unfassbares Medieninteresse und eine Berichterstattung, die sich zügellos in Mutmaßungen und moralischer Raserei erging.

Anfang der 80er Jahre gab es praktisch keine Standards für die polizeiliche Vernehmung bzw. Befragung von Kindern. So kam es sowohl zu wiederholten als auch suggestiven Befragungen, die zu Falschaussagen der Kinder führten. Diese Falschaussagen und deren schiere Anzahl führten zu dem Eindruck eines begründeten Verdachtes, in dessen Folge es zu dem Verfahren gegen die Schulleitung und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool kam.
Auslöser der polizeilichen Befragungen der Vorschulkinder war die Meldung einer Mutter, ihr entfremdeter Ehemann und ein Lehrer (Enkel der Schulleitung) hätten ihr Kind missbraucht. Die Mutter hatte ihr Kind entsprechend suggestiv zu Bauchschmerzen befragt.
Das Verfahren lief in Etappen bis 1990, als letztlich sämtliche Vorwürfe fallengelassen wurden.

Die im Podcast „Geteiltes Leid“ genannte Sendung mit Geraldo Rivera lief 1988 und war eine der meistgesehenen Talk-Show-Sendungen ihrer Zeit. Ein kommerzieller Traum für den Sender. [7] Ein kommerzieller Traum, den sich sowohl vorher als auch nachher viele Sender erfüllen wollten. Obwohl bereits damals offensichtlich wurde, dass mit der Erzählung von rituell mordenden Satanist_innen, die Kinder sexuell missbrauchen, auch die Zahl von Anzeigen und Falschaussagen im ganzen Land stieg.
Mit einer „Panik über oder vor Satanist_innen“ hat das, was der Begriff „satanic panic“ beschreibt, weniger zu tun als mit einem kulturellen Wandel der US-Gesellschaft, der bestimmte moralische Grundwerte in Frage zu stellen schien und bekämpft werden sollte. Der Begriff, der soziologisch gesehen zutreffender für dieses Phänomen ist, lautet: „moral panic“ [8] und beschreibt die gesellschaftlich kontrollierende Wirkung dieser und ähnlicher Erzählungen.

Menschen eine irrationale, weil von Panik verzerrte Annahme, also gewissermaßen eine wahnhafte Überzeugung nahezulegen, wenn sie ideologisch motivierte oder legitimierte und sexualisierte Gewalt in jedwedem Kontext für möglich halten, ist DIE Strategie von False Memory seit Gründung der ersten Gruppe. Verrückt, also krank, verantwortungslos und egoistisch motiviert muss sein, wer glaubt, dass Inzest und andere Formen sexualisierter Gewalt ein regelhaftes Geschehen in praktisch jeder Gesellschaft sind. Das ist eine implizierte Folgerung dieser Gruppe, mit deren Ideologie und orchestrierten Strategien sich zuerst Jennifer Freyd, die Tochter des Gründer-Ehepaares, herumschlagen musste[9] und bis heute in gewissem Grad jedes einzelne Opfer sexualisierter Gewalt in jedem nur möglichen Zusammenhang. Diese Strategien lassen sich mit dem Akronym DARVO nachvollziehen: Deny (Leugnen), Attack (Attackieren) and Reverse Victim and Offender (Täter-Opfer-Umkehr).

Für einen investigativen Podcast, der „die Mechanismen hinter Verschwörungsideologien sichtbar zu machen und einen Beitrag zur politischen Aufklärung zu leisten“ zum Ziel hat, ist die Protagonisten- und Geschichten-Akquise aus diesem Umfeld das Ende für den eigenen Anspruch. Denn unter False Memory kommen Menschen unter der Prämisse zusammen, dass sexualisierte Gewalt sehr selten und regelhaft von Psychotherapeut_innen eingeredet sei, um unschuldigen Individuen zu schaden. Was in Bezug auf die Realität von sexualisierter Gewalt nicht stimmt und nicht objektiv belegbar ist in Bezug auf die Psychotherapeut_innen.
Das schließt False Memory und damit assoziierte Protagonist_innen für jegliche Zusammenarbeit, die Üb.Erlebenden von sexualisierter Gewalt und/oder Menschen mit psychischer Erkrankung nach Gewalterfahrungen nicht schaden soll, aus.

Ich stelle mir im Hinblick auf die Realität von sexuellem Missbrauch und einer Psycho- bzw. Traumatherapie, die inzwischen ganz anders arbeitet als in den 70er und 80er Jahren, auch die Frage, warum man sich für das Ziel der Aufklärung über Verschwörungstheorien und ihre Folgen nicht mit QAnon, Chemtrails oder Impfgegnern befasst hat. Die Recherche dazu stelle ich mir viel einfacher vor, weil sie viel weniger Risiko bietet, dass Einzelpersonen in ihrem persönlichen Leid zur Schau gestellt und letztlich ausgenutzt werden.

Aber vielleicht geht es bei der Wahl dieses Themenkomplexes ja tatsächlich um Menschen, die an schlechte Therapeut_innen geraten und so Opfer von Falschbehandlung geworden sind.
Diese Geschichten passieren und ihre Protagonist_innen lügen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber die Begründung dieser Geschichten mit einem einge.schworenen Netzwerk aus verschwörungsgläubigen (also irrationalen) Einzelpersonen mit Verbindungen bis „ganz nach oben“ und wissenschaftlich als falsch nachgewiesenen Annahmen[10], [11] über die Folgen und Auswirkungen von Psychotrauma muss einer Redaktion als einer Verschwörungstheorie nahekommend auffallen. Und in ihrer Folge ebenfalls als etwas erkennbar sein, das den Betroffenen nicht hilft.

Schrödingers Journalismus – investigativ und unfähig, das Naheliegende zu sehen

So ist der Verlauf der Podcastserie für mich wie ein Autounfall, bei dem ich nicht weghören kann. Man versucht, sich als Patientin für ein Erstgespräch getarnt bei der Psychotherapeutin von Leonie einzuschleichen, um sie zu etwas zu befragen, worüber sie überhaupt nicht sprechen darf, weil sie einer Schweigepflicht unterliegt.
Eine Zeit- und Ressourcenverschwendung, unter der die Journalist_innen nicht leiden – dafür aber die Patient_innen, die gerade in Not sind und ein Erstgespräch brauchen.

Man spricht mit einer Psychotherapeutin, die selbst für mich als halbwegs informierten Laien erkennbar nicht korrekt informiert ist über die ganz basalen Grundlagen der aktuellen Traumaforschung – und dazu noch irritierend überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns und Wirkens als Therapeutin und Ärztin. Aber man meldet sie offenbar nicht bei der Kammer, wie es die Eltern von Leonie damals bei einer anderen Behandlerin von Leonie ganz richtig gemacht haben. Wie es jede_r machen kann, wenn sie_r an eine_n Behandler_in gerät, an dessen_deren Kompetenz und Handlungsweise Zweifel bestehen. Für solche Situationen gibt es Strukturen. Verantwortliche. Handlungsoptionen für Patient_innen. Niemand muss in so einem Fall schweigen oder wird von irgendwem davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Ressourcen dazu habe ich in den Quellnachweisen dieses Betrages zusammengetragen.[12] Das journalistische Rechercheteam, das neben Politik und Wissenschaft auch die Zivilgesellschaft zur Verantwortungsübernahme aufrufen will, hätte diese Informationen ebenfalls teilen können.

Doch nein, man kreiselt sich immer weiter hinein in die ebenfalls kaum haltbare Erzählung von Unklarheit und fehlenden Belegen für Rituelle Gewalt.
So wird gesagt, die Polizei habe keinerlei Kenntnis über Fälle von Ritueller Gewalt. Auch das ist eine desinformierende, weil unvollständige Aussage.
Denn: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst keinerlei religiöse oder politische Motive für Straftaten. Es gibt eine Abteilung im Bundeskriminalamt, die „Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“ beobachtet, doch die konzentriert sich auf Islamismus und keine andere Religion oder Weltanschauung. [13]
Wenn also Journalist_innen die Polizei fragen, ob sie Fälle von Ritueller Gewalt kennen, dann antwortet diese: „Nein.“, weil Rituelle Gewalt kein erfasstes Kriterium für die Polizei ist. Mord im Namen einer Religion ist Mord, ideologisch motivierte Vergewaltigung ist Vergewaltigung.

Abgesehen davon gibt es allgemein bekannte Fälle Ritueller Gewalt. Eine einfache Google-Suche zu folgenden Fällen bzw. Gruppierungen hilft: Colonia Dignidad, Kwa Sizabantu, Niederbonner Schwestern, Zeugen Jehovas, Scientology, Orde der Transformanten.

Warum Fälle wie diese nicht als Rituelle Gewalt verstanden werden, kann anhand dieses Podcasts ganz gut illustriert werden:
Zum Einen bewegt man sich, wie gesagt, im Kontext eines Strohmann-Arguments.
Man will einfach, dass Rituelle Gewalt als von Satanisten ausgehend verstanden wird. Immer wieder wird in einen (von False Memory oder „Zweiflern“) selbst geschaffenen und selbst aufrechterhaltenen Diskursraum getragen, „die da“ (die unfähigen Hokuspokus-Therapeut_innen, die religiös wahnhaften Christenpriester und wer nicht noch alles) würden an satanistische Eliten glauben, die ihre sadistischen Phantasien an wehrlosen Kindern ausleben und alle Schichten der Gesellschaft damit beeinflussen – genauer gesagt: verrückt machen.

Während „die da“, welche forschend über Rituelle Gewalt sprechen, die jedwede ideologisch geprägte Weltanschauung zugrunde liegen haben kann und zunehmend als „Thema“ zur Vertuschung oder „inhaltliche Gestaltung“ von organisierter Gewalt verstanden wird. Weshalb es immer wieder auch die sprachliche Weiterentwicklung zur schärferen Abgrenzung dieser zu anderen Formen von Gewalt geben wird. So funktionieren Wissensentwicklung und Diskurs. Wer es genauer weiß, spricht nicht in einfachen Schlagworten. Und schon gar nicht in so übertrieben vereinfachten Worten, wie es für ein Strohmann-Argument notwendig ist.

Eine umfassende Entwicklung der Definition des Begriffs „Rituelle Gewalt“ ist öffentlich zugänglich einsehbar und zeigt, wie sich über die Jahre hinweg mehr und mehr Trennschärfe ergeben hat.[14]
Es ist desinformierend, in einem Podcast zu behaupten, es gäbe keine eindeutige Definition. Und in meinen Augen einfach unverschämt, Menschen um Begriffsklärung und Erläuterung der eigenen Arbeitsgrundlage zu bitten und ihnen dann „Schlagwort-Slalom“ vorzuwerfen.
Das passiert in Folge 3, nachdem Eva Lauer von Lüpke, Vorsitzende der Emanuel-Stiftung und Unterstützerin von Leonie. Lüpke wurde vom Podcast-Team zu einem allgemeinen Gespräch über ihre Stiftung eingeladen und hat offenbar viel Zeit und Mühe aufgebracht, so unmissverständlich wie möglich Definitionen und allgemein missverständliche Schlagworte zu klären. Eine Aufgabe, die im Hinblick auf eine über 45 Jahre andauernde Begriffsentwicklung mit erheblichem Anspruch einhergeht.

Das Verhalten des Podcast-Teams erscheint mir spätestens dann nur noch dreist, als Olga Herschel, die Journalistin, die uns als Sprecherin durch diesen Podcast führt, sagt: „Alles, wirklich alles an Ritueller Gewalt scheint heikel zu sein und dadurch bleibt vieles im Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke sehr schwammig. Aber es gibt einen Fall von Ritueller Gewalt, der ist sehr konkret und den hat Eva Lauer von Lüpke aus nächster Nähe erlebt: Leonie.“
Plötzlich haben sich also die Klarheiten gedreht. Leonie ist also doch ganz konkret Rituelle Gewalt geschehen und die, die es wissen muss, schließlich leitet sie eine Stiftung, die sich unter anderem für Opfer Ritueller Gewalt einsetzt, spricht schwammig.
Interessante Wendung.

Nach dem Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke spricht Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Zum zweiten Mal bekommt das Team sinngemäß vermittelt: „Hey, Leute, ‚satanistischer Missbrauch‘ – damit sind wir hier überhaupt nicht befasst. Niemand hier redet von dem, was ihr unterstellt. Es gibt gar nicht so viel Unklarheit, wie ihr annehmt. Hier, diese Zahlen konnten wir erarbeiten, das ist unser Stand der Auseinandersetzung, das ist unsere Datenlage.“
Und wieder wird einer klar erläuternden und daher wenig missverständlichen Interviewpartnerin „Schlagwort-Slalom“ vorgeworfen, weil diese nicht sagt, was das Team hören will, um die Argumentationslinie, der sie inhaltlich folgt, zu bestätigen. Hier sind wir schon weit von seriösem Journalismus entfernt.

Wer dieser Argumentationslinie zuletzt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefolgt ist und anschließend als mutiger Gegenpol dargestellt wurde, ist Jan Böhmermann mit einer Folge der Sendung „ZDF Royale“. Seine vom Podcast-Team sogenannte „Kritik“ an der Erzählung über Rituelle Gewalt wurde nach mehreren Beschwerden beim Fernsehrat vom ZDF depubliziert. Eine außergewöhnliche Situation, denn so schnell wird von einem Sender nichts depubliziert. Da müssen dann schon extreme Mängel zu finden sein.
In dieser Sendung jedoch, die als Satire-Sendung bekannt ist, wurde nicht, wie für Satire üblich, nach oben getreten. Also sich über Menschen oder Umstände lustig gemacht, die politisch oder gesellschaftlich verantwortlich sind für Dinge, die schieflaufen. Tatsächlich wurden Gewaltbetroffene und ihre Erfahrungen herabgewürdigt und sich über die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber als Einzelperson lustig gemacht. Eine Person, deren Einfluss auf Deutschland kaum zu vergleichen ist mit dem eines_r Politiker_in oder ähnlichen Verantwortungsträger_innen.

Eine Fernsehsendung, deren Witz nur dann funktioniert, wenn man annimmt, dass Menschen mit Traumafolgestörungen und/oder spezifischen Gewalterfahrungen lügen oder ihre Krankheit und die Überzeugung, bestimmte Gewalterfahrungen gemacht zu haben, von jemandem wie Michaela Huber eingeredet bekommen, ist keine Satire. Das ist nicht einmal Kritik. Das ist opferfeindlich und abwertend gegenüber Menschen mit psychischer Krankheit und gegenüber Michaela Huber möglicherweise auch üble Nachrede oder Verleumdung.[15]

Auch wenn – und darüber muss es einen gesellschaftlichen Konsens geben – es nötig ist, das Thema auch kritisch in der Öffentlichkeit zu besprechen, um Falschbehandlung und Falschanzeige oder Falschverdächtigungen zu verhindern oder aufzudecken – so wie es das ZDF Royale gemacht hat, ist es einfach nicht in Ordnung. Denn egal, wie man es dreht und wendet – es wird nie witzig oder gesellschaftlich anständig sein, darüber zu lachen, dass Menschen Gewalt erfahren haben. Sei es, weil sie ihnen tatsächlich passiert ist oder sei es, weil ein_e Therapeut_in sie davon überzeugt hat. In beiden Fällen ist den Menschen etwas passiert, das nicht in Ordnung war und ein soziales Umfeld erfordert, das diese Erfahrung ernst nimmt, in ihrer Bedeutung begreift und angemessen reagiert. „Hihi haha, Satan-Kostüm, guckt mal, die komische Frau und der Quatsch, den sie erzählt“, ist kein angemessener Umgang. Eine solche Sendung zu depublizieren und auch im Nachhinein nicht noch einmal neu produziert zu veröffentlichen, ist unter der Prämisse, nicht zu schaden oder zur Herabwürdigung von Menschengruppen beizutragen, nur richtig und hat mit umfassender Diskursverhinderung, wie es das Podcast-Team von Undone in Interviews und in der dritten Folge vermitteln, nichts zu tun.

Dass ein Rechtspsychologe wie Andreas Mokros den Schutz von Opfern durch Verhinderung solcher Sendungen erschreckend findet und eine universitäre Verantwortungsposition inne hat, finde ich nun wiederum erschreckend.
Jemand, der etwas für Menschen wie mich tun und erreichen möchte, sollte mir nicht vermitteln, ich müsse es aushalten, dass ganz Deutschland darüber lacht, was mir passiert ist oder passiert sein könnte. Die Konsequenz eines solchen Umgangs mit meinen Gewalterfahrungen – wie gesagt, entweder durch Therapeut_innen oder organisierte Straftäter_innen – ist eine Demütigung aufgrund meiner Erfahrung und meiner Erkrankung. Für mich ist das eine weitere Gewalterfahrung und in letzter Konsequenz auch offene Diskriminierung.

Bedauerlich ist zudem, dass mit ihm und seinem Beitrag die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu einem Streit verkommt, dessen Ziel nicht das Schaffen oder Erweitern des Wissensstandes zu ideologisch oder weltanschaulich motivierter Gewalt und ihren Folgen zu sein scheint, sondern – ja, was eigentlich?

Die intersektionale Forschung, also die Zusammenarbeit verschiedener Professionen zu einem gemeinsamen Thema, könnte enorm bereichernd sein und Betroffenen tatsächlich helfen. Warum ist es in der deutschen Wissenschaft so viel leichter, einander zu diskreditieren und in der Fachlichkeit in Frage zu stellen, als zusammenzuarbeiten? Vor allem, wenn es doch allen „nur um die Sache geht“?
Der Gedanke, der mir in Bezug darauf sehr naheliegend erscheint, ist, dass es eben nicht „nur um sie Sache geht“. Wäre dem so, würde meiner Ansicht nach über nicht über Rituelle Gewalt diskutiert oder darüber, dass andere Forschende den Herrn Mokros für einen „wadenbeißerischen Bösewicht“ halten, sondern über die Möglichkeiten und Grenzen unabhängiger Forschung zu Gewalt, die so selten von Täter_innen selbst angezeigt wird, dass es ganz zwangsläufig immer wieder zu „Aussage gegen Aussage-Situationen“ kommt und damit zu einer außerordentlich herausfordernden Zugangs- und Interpretationslage. Keine Seite wird schnell zu eindeutigen Ergebnissen kommen, solange sie sich im Streit mit der anderen befindet. Aber immer wird es Menschen geben, die davon profitieren, dass es noch unzureichend beantwortete Forschungsfragen und einen extrem schwierigen Zugang zum Forschungsfeld gibt: Menschen, die Gewalt ausüben und Menschen, die Täter_innen vor der Strafverfolgung schützen wollen.

Teil 3 – „und die Nebelkerze brennt“

Im Folgenden macht der Podcast inhaltlich einen breiten Bogen.
Er macht Aussagen über Studien- und Forschungsbetriebsarchitektur, die eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit kaum in ihrer Validität einschätzen kann, und ordnet sie zum nächsten emotionalisierenden Schlagwort zu, das diesmal jedoch von der UKASK kommt: „Memory Wars“.
Für mich ein irritierender Sprung, ging es bei den „Memory Wars“ doch um die Frage, ob und wenn ja, wie sehr Erinnerungen an traumatische Erfahrungen verdrängt werden können. Ob Verdrängung überhaupt ein Ding ist. Was eine Erinnerung ist. Wie man sich unter welchen Umständen erinnert. Was eine Erinnerung von einer Überzeugung unterscheidet.
Das wissenschaftliche Veröffentlichungs-Pingpong der 90er Jahre hat nicht darüber diskutiert, ob es Rituelle Gewalt gibt oder nicht, sondern ob man sich als Opfer in welcher Form und in welcher Zeitspanne wie konkret und bewusst erinnert.

Zu sagen: „Sowas kann doch keiner verdrängen oder vergessen!“, ist eine der Attacken, die False Memory von jeher fährt, nachdem Vertreter_innen dieser Bewegung sexualisierte Gewalt lange geleugnet hatten, indem sie äußerten: „Würde es sowas geben, gäbe es ja Beweise.“
Heute ist allgemein bekannt, dass es das gibt. Selbst in „Geteiltes Leid“ wird eingeräumt: „Natürlich gibt es organisierte Gewalt an Kindern, Menschenhandel und Ausbeutung. Das ist alles vielfach dokumentiert. Und es gibt Fälle, in denen organisierte Gewalt in einer Sekte stattfindet. Und ja, viele Opfer organisierter oder sexualisierter Gewalt berichten auch von Einschüchterungen, von Manipulationen. Das ist ein Grund, warum sich Betroffene lange nicht trauen, sich Hilfe zu holen.“ Heute kann sich wirklich niemand mehr in die Öffentlichkeit stellen und die Leugnung (Denial) über sexualisierte Gewalt aufrechterhalten.
Aber attackieren (Attack), wer Erfahrungen teilt, ohne objektive Beweise anzubringen, oder Menschen glaubt, die Erinnerungen oder Überzeugungen teilen, ohne Beweise dafür einzufordern oder auch nur dazu forscht, um vorliegende Hinweise zu untersuchen – das funktioniert noch heute. False Memory muss das auch machen, sonst würde die Argumentation aus der Opferrolle heraus (Reverse Victim and Offender) nicht funktionieren.

An diesem Punkt in der Serie wünscht man sich mehr Klarheit in all dem Nebelkerzenrauch.
Nachdem man nun vieles gehört hat, zu dem man selbst als nicht-wissenschaftliche_r Zuhörer_in kaum eine fundierte Meinung, ja, nicht einmal einen Einblick in die Arbeitsrealitäten haben kann – da ist man versucht, der Abgrenzung des Teams zu folgen. „Was es aber nicht gibt: Brutalste Folter und Morde, die unsichtbar im Untergrund passieren … “ – Ein Ausschluss, der bei einem Format mit journalistischem Anspruch irritiert. Etwas komplett ausschließen, das ist vollkommen unjournalistisch. Vielmehr ist es journalistisch, dort etwas zu finden, wo andere sagen, da sei nichts. Deshalb ein kleiner Realitätscheck: Guantánamo Bay, Colonia Dignidad, die Mafia, kalter Krieg – Zweifelsfrei gibt es Folter und Morde in Zusammenhängen, die dem Großteil der allgemeinen Bevölkerung verborgen sind. Das ist, was der Begriff „im Untergrund“ an dieser Stelle bedeutet.
„… und an die die Opfer jahrzehntelang keine Erinnerungen haben, weil ihre Persönlichkeiten zersplittert und programmiert sind.“
So ausgedrückt – ja. Kann ich zustimmen. Die „Zersplitterung“ einer Persönlichkeit ist nicht möglich, da die Persönlichkeit eines Menschen das Ergebnis seiner Interaktion und Kommunikation mit dessen Umwelt ist und kein fester Gegenstand, an dem mal hier, mal da was absplittern kann, wenn jemand draufschlägt. Dieses Bild von Persönlichkeit ist massiv überholt und führt zu falschen Annahmen über die Leistungsfähig- und Fertigkeiten der menschlichen Psyche und dem folgend ihre (neuro)biologischen Grundlagen.

Entsprechend redet heute kein wissenschaftlich fundiert arbeitender Mensch mehr von „verschütteten Erinnerungen, die in einer Therapie hervorgeholt werden“, sondern davon, wie ganz normale Prozesse der Reiz- und Informationsverarbeitung dafür sorgen, dass man sich sowohl banaler als auch ganz massiver Dinge teilweise oder auch ganz nicht (ich-)bewusst sein kann. „Sich der eigenen Erfahrungen (ich-)bewusst sein“ über Dinge oder (biografische) Erfahrungen ist etwas anderes, als „sich an Dinge erinnern“. Das eine kann erreicht werden mittels Datenauf- und -übernahme – das andere durch Erfahren bzw. erfahrungsbedingtes und kontextualisiertes Lernen.
Wenn mir jemand einredet, ich hätte Gewalt erlebt, kann ich dieses mir eingeredete Wissen jederzeit abrufen und wiedergeben.
Wenn ich Gewalt jedoch erfahren habe, gibt es bedingt dadurch, wie im Moment der Gewalterfahrung das Gehirn funktioniert, schwer vorhersehbare Grenzen der Reiz- und Informationsverarbeitung.[16] Das, was man im Nachhinein dann über die Erfahrung sagen kann, ist zwangsläufig lücken- und fehlerhaft und in manchen Fällen auch als ich-fremd erlebt. Die betroffenen Menschen erleben sich selbst und werden oft auch von anderen Menschen als „nach dem Ereignis nicht mehr die_rselbe“ wahrgenommen.
Ein Umstand, der relativ gut erforschte (Schutz-)Reaktionen der Betroffenen, aber auch ihrer Angehörigen fördern kann. Wie zum Beispiel Vermeidungsverhalten.

Im Fall der DIS kann man von extrem gut eingeübter traumabedingter Vermeidung (die durch Dissoziation ermöglicht und aufrechterhalten wird) sowohl vor sozialem Umfeld, als auch vor sich selbst ausgehen.[17] Wer sich selbst nicht umfassend mit einer oder mehreren traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang bringen kann, entwickelt ein Selbstbild, das damit einfach nichts zu tun hat und im gegebenen sozialen Alltag und Miteinander so angepasst wie möglich funktionieren kann, um diese Vermeidung bzw. das eigene Selbstbild nicht aufgeben zu müssen.
Die eigene Funktionsfähigkeit um jeden (auch langfristig schädigenden) Preis zu erhalten, ist in diesem Zusammenhang gesund, normal und ein zum Niederknien großartiges Ding, zu dem Menschen fähig sind. Alle Menschen. Nicht nur Überlebende oder Menschen in schweren Krisen.

Dissoziation ist ein natürliches Phänomen. Kein Mensch würde ohne durch den Tag kommen – übrigens der Grund, weshalb Amelie unter der Aufforderung, sich „immer auf jede noch so kleine Stimme im Kopf“ zu konzentrieren, so enorm gelitten hat, wie sie in der vierten Folge „Geteiltes Leid“ schildert. Es ist für das menschliche Gehirn biologisch überhaupt nicht vorgesehen, alles immer zu jedem Zeitpunkt bewusst und präsent im Denken zu haben. Wir brauchen nicht so zu tun, als wäre Dissoziation ein von windigen Therapeut_innen ausgedachtes Spezialfeature oder eine besondere Begabung von Opfern sexualisierter Gewalt, die sie zu etwas ganz Besonderem macht, nämlich einem Menschen mit DIS oder assoziierter dissoziativer Störung.

vom Besonderen zum Absurden – eine gefährliche Abkürzung

Diese „Besonderisierung“ (dieses Othering) von Menschen mit DIS bietet einen extrem isolierenden Nährboden für alle möglichen von mir so genannten „Multimythen“, die letztlich bis heute dafür sorgen, dass die Allgemeinheit entweder annimmt, diese Störung sei mit dem Leben nicht vereinbar, oder aber denkt: „DIS – ja ha Sybil, Split, Satanistische Elite, Quatschtherapeuten und Trauma-Opferbonus“ und entsprechend mit Betroffenen umgeht.

Zu den klassischen Multimythen gehört in meinen Augen die Erzählung von Medikamenten, die bei allen Anteilen unterschiedlich wirken. Anteile mit unterschiedlichen Augenfarben, extreme Fähigkeiten bei allen möglichen Anteilen gleich, zu 100 % komplett autonome Doppel-Dreifach-Vierfachleben und die „absichtlich gemachte DIS“, auch „künstliche DIS“ genannt in Abgrenzung zu „natürlicher DIS“.
Jede meiner Recherchen in den vergangenen 20 Jahren zu diesen und anderen Multimythen, von denen einige auch in den ersten Auflagen von Michaela Hubers Buch „Multiple Persönlichkeiten, Überlebende extremer Gewalt“ stehen, führten zu nichts. Keine Studien, nichtmal qualitative Befragungen, nur anekdotische Evidenz in den sozialen Medien und Veröffentlichungen von Betroffenen sowie eine praktisch quellenlose Beschreibung der Idee der „planvollen Spaltung“ von Gaby Breitenbach[18] habe ich bisher dazu gefunden – und das ist mir zu wenig.

Um diese kritische Haltung einzunehmen, brauche ich nicht zu negieren, dass die DIS eine valide und unterforschte Erkrankung ist, oder dass es für Täter_innen außerordentlich praktisch sein kann, es mit Menschen zu tun zu haben, die es gewohnt sind, Opfer zu sein und sich entsprechend leicht fügen oder sogar „aus freiem Willen“ für Gewalt zur Verfügung stellen.
Zu dieser kritischen Haltung komme ich, weil ich ein Mensch bin, wie andere Menschen mit einer anderen Diagnose auch. Wer heute in Epileptiker_innen noch jemanden mit direktem Draht zu G’tt sehen würde, würde zuverlässig vor dieser und ähnlichen längst überholten Fehlannahmen geschützt werden. Und zwar nicht nur von Professor Doktor_innen und den spezialisiertesten Fachärzt_innen, die es gibt, sondern auch von der Mehrheit der Menschen. Wer jedoch auch heute noch eine DIS-Diagnose bekommt, steht diesbezüglich praktisch allein auf weiter Flur. Wie allein, das wird in der vierten Folge des Podcasts gut illustriert.

Teil 4 – „Die Helfer_innen und die Hilfe“

Eine Diagnose ist etwas, das Beobachtungen von fachspezifisch geschulten Menschen zusammenfasst. Sie sehen etwas, erkennen etwas und gleichen ihre Beobachtungen ab.
Damit in Medizin und Psychologie Klarheit darüber besteht, welche Beobachtungen wie eingeordnet werden können und in jedem Land auf der Welt die gleiche Einordnung und Behandlung möglich ist, gibt es standardisierte Verzeichnisse. Diese Verzeichnisse sind das „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) und das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM).
Die World Health Organisation (WHO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat Aufgaben, deren Ergebnisse auf vielen Ebenen dazu führen sollen, dass überall auf der Welt das Recht jedes Menschen auf Gesundheit und medizinische Versorgung umgesetzt werden kann. Im Zuge dieser Aufgaben ist die WHO an der stetigen Aktualisierung des ICD beteiligt.

Eine Diagnose kommuniziert also eine Beschreibung des Bildes, das sich jemand von jemand anderem gemacht hat. Sie ist kein Messinstrument. Sie ist kein Werkzeug zur Bestätigung oder Bewertung individueller Lebenserfahrungen eines Menschen. Eine Diagnose kann nicht bestellt oder geliefert werden. Diagnostik hingegen kann beeinflusst werden, denn Menschen planen sie und führen sie durch.
Im Podcast „Geteiltes Leid“ geht man der Idee nach, dass Psychotherapeut_innen und Mediziner_innen von Verschwörungstheorien beeinflusst sind und deshalb nicht nur eine falsche Diagnose an schwer erkrankte Menschen vergeben, sondern diese Menschen auch noch so beeinflussen, dass diese die verschwörungsbedingten Überzeugungen ihrer Behandler_innen bestätigen. Ein Geschehen, das man ironischerweise als Rituelle Gewalt einordnen könnte.

The wheels on the bus go round and round and round and round

Beim Hören entsteht der Eindruck, die Beeinflussung durch den Verschwörungsglauben an satanistische Eliten wäre das Hauptproblem für falsche Behandlung und alleinige Grundlage für die Vergabe einer DIS-Diagnose. Würde man nicht daran glauben, dann würde man die Diagnose nicht vergeben und auch keine schädigende Behandlung machen.
Diese bis zum Schluss nicht falsifizierte Vorannahme der vierten und letzten Folge der Serie, wird deutlich im Gespräch zwischen der Sprecherin und Journalistin Olga Herschel, die in 5 Jahren an 3 verschiedenen Standpunkten als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, und ihrem Interviewpartner Stefan Röpke, der seit 22 Jahren Facharzt ist und an der Charité forscht.
Man kann sich aufgrund der Vorstellung seiner Person nicht erschließen, wie viele Patient_innen er pro Tag sieht, ob und wenn ja, wie er in Diagnostik und Behandlung eingebunden ist. Ja, nicht einmal, woran genau er in Bezug auf Traumafolgestörungen forscht. Sein Expertenprofil auf der Webseite der Charité zeigt lediglich, dass eines seiner größten Themen die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (BPS) ist.[19]

Die Diagnose der BPS hat viele Überschneidungsbereiche mit einer DIS-Diagnose. So können zum Beispiel auch Menschen mit BPS teils schwere dissoziative Symptome, Identitätsstörungen und suizidale Krisen haben. Suchterkrankungen und selbstverletzendes Verhalten unterschiedlicher Ausgestaltung sind keine Seltenheit in der Gruppe der Menschen mit dieser Störung, und viele von ihnen haben traumatische Erfahrungen in ihrer Biografie. Im Vordergrund steht jedoch häufig eine Affektregulationsstörung, die das soziale Miteinander mit anderen Menschen erheblich beeinflusst und zu wiederkehrenden Bindungskrisen durch Angst vor dem Verlassenwerden führt.[20]

Für mich erklärt sich mit diesem Hintergrundwissen zu Röpkes Expertise schnell, weshalb er noch nie eine DIS-Diagnose vergeben hat. Wer einen Hammer hat, sieht auch in einer Schraube einen Nagel und kriegt sie mit genug Kraft auch an die vorgesehene Stelle.
Ein verbreitetes Phänomen, das auch unter dem Stichwort „confirmation bias“ bekannt ist und nichts damit zu tun hat, ob man von einer Verschwörungserzählung überzeugt ist oder nicht.
Es ist eine natürliche Tendenz, sich selbst in dem zu versichern, was man kennt und entsprechend überwiegend den Fokus auf das zu legen, was man eindeutig erkennt. Man erkennt am sichersten, was man am häufigsten gesehen hat. Was man am häufigsten gesehen hat, hat man am häufigsten angesehen. Was man dabei alles nicht gesehen hat, hat man auch nie gesehen.

In einem Podcast, der zur Verantwortungsübernahme mahnt, muss man meiner Ansicht nach der Verantwortung nachkommen, diese Tendenz und die Folgen von selektiver Wahrnehmung auch im eigenen Projekt zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Das ist meiner Meinung nach nicht passiert.

der echte Teufelskreis

So verpasst das Podcast-Team im Abschnitt über die Dresdner Privatklinik „Waldschlösschen“, Amelies Behandlungserfahrung und die Aussagen von Martina Rudolf, der Leiterin der Klinik, das tatsächliche Hauptproblem – den für so manche Menschen mit DIS wahren Teufelskreis – zu erkennen: die ganz allgemein und für alle Menschen gleich unzureichende und entsprechend häufig auch mangelhafte psychotherapeutische, psychiatrische, medizinische, pädagogische und sozialarbeiterische Versorgung in Deutschland und sämtliche Konsequenzen für Patient_innen mit jedweder Diagnose daraus.

In diesem Abschnitt können wir anhand von Amelies Behandlungserfahrung sehr gut nachvollziehen, wie schädlich es ist, wenn eine ambulant gestellte Diagnose und die sich daraus ergebenden Behandlungsansätze im stationären Rahmen nicht umfassend überprüft, sondern offenbar einfach übernommen wird.
Zahlen kann ich für diese Praxis leider nicht anbringen, daher muss an dieser Stelle die anekdotische Evidenz ausreichen. Jeder, egal, ob psychisch oder physisch chronisch kranke Mensch, den ich kenne, hat zu einem oder mehreren Zeitpunkten im Leben eine Fehldiagnose in der Akte stehen gehabt, die noch mindestens eine weitere behandelnde Person ohne validierende Diagnostik einfach übernommen hat. Ein Grund dafür: „Husch husch – Zeit ist Geld.“ In Deutschland das typische Grundrauschen jedes medizinischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungsgeschehens.
Damit, dass jemand bestimmte Diagnosen stellen will, weil sie das eigene Weltbild bestätigen, wie im Podcast über die DIS und Rituelle Gewalt unterstellt, hat das nichts zu tun.

Am Ende des letzten Teils schrieb ich, dass man als Mensch, der diese Diagnose bekommen hat, allein auf weiter Flur ist. Und dass das ein Problem ist.
An Amelies Geschichte kann man sehr gut aufzeigen, inwiefern das so ist.
Da ist zum einen der Umstand, dass vor der DIS für die meisten Betroffenen viele andere Diagnosen, Klinikaufenthalte, Therapien und Hilfemaßnahmen kommen, die unterschiedlich hilfreich (heilend) oder zerstörerisch (verletzend) wirken und in jedem Fall mit dem Stigma und der Diskriminierung von psychischer Krankheit bzw. Behinderung einhergehen.
Viele Betroffene verlieren im Lauf ihrer „Psychokarriere“ nicht nur zeitweise ihre individuelle Freiheit, Würde und Selbstbestimmung (etwa durch Zwangsbehandlungen oder den Umstand, dass es gar nicht genug Einrichtungen mit passendem Behandlungskonzept gibt, sodass eine selbstbestimmte Wahl der Behandlungsart unmöglich ist), sondern auch den Kontakt zur eigenen Familie, den Anschluss an Schule, Arbeit und Freund_innen.
Je länger die Phase der psychischen Krankheit andauert, desto wahrscheinlicher ist eine solche Entwicklung. Und davor haben so gut wie alle Menschen Angst. Ob sie nun wissen, dass etwa 76 % der obdachlosen Menschen „auch psychisch krank sind“[21] oder nicht. Es ist absolut klar, dass, wer nicht gesund im Sinne von arbeitsmarktgerecht funktionstüchtig ist, ein echtes Problem hat und sich um Hilfe bemühen muss.
Ob welche da ist oder nicht. Und auch: Ob sie hilft oder nicht. Bevor man gar nichts macht und man für jemanden gehalten wird, die_r krank sein will, nehmen sehr viele Menschen auch Angebote an, die nicht für sie geeignet oder für Menschen mit ihrer Diagnose unerprobt sind. In so mancher Krisenphase ist „zu wenig oder nicht ganz richtig“ schnell mal „immerhin etwas und nicht ganz falsch“. Die Folgen solcher Kompromisse können verheerend sein und die Entscheidung darüber kann von niemandem in allen möglichen Konsequenzen vorhergesehen werden.

Eingegangen werden müssen diese Kompromisse dennoch. Für komplex traumatisierte Menschen mit mehreren assoziierten Erkrankungen gibt es de facto keine andere Wahl, denn „Traumatherapie“ ist kein geschützter Begriff. Als Psychotherapeut_in und Heilpraktiker_in für Psychotherapie kann man praktisch alles „Traumatherapie“ nennen, was dabei helfen soll, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Der Fort- und Weiterbildungsmarkt zur Thematik ist voll mit allen möglichen Akteur_innen, die viele verschiedene Methoden anbieten oder weiterentwickeln. Manche davon, wie zum Beispiel EMDR, sind umfassend erforscht, während anderen, wie der „(traumafokussierte) Familienaufstellung“, ganz klar ein Personenkult und damit verbunden eine esoterisch-autoritäre Weltanschauung zugrunde liegt.

Als Patient_in mit Traumafolgestörung ist eine umfassende Psychoedukation wichtig, um überhaupt zu verstehen, worum es bei der eigenen Erkrankung geht. Nur so gibt es eine Chance, Kompetenzen im Umgang damit zu entwickeln und sich vor Betrug und wirkungslosen Behandlungen zu schützen.
Auch um diesen ganz basalen Punkt der Aufklärung ist ein Abgleich mit der Realität wichtig. Man muss sich fragen: Wann und wozu erhalten Menschen eine Diagnose und wie wird sie ihnen erklärt? Sind Behandler_innen – egal ob sie medizinisch, psychiatrisch oder psychotherapeutisch arbeiten – immer in der Lage, ihre Patient_innen aufzuklären? Gibt es wirklich immer die Zeit und die Ruhe und die angemessenen Umstände, um sich auf jede_n einzelne_n Patient_in einzulassen? Auch die, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen? Die Leichte Sprache brauchen? Die gehörlos, taub oder taub-blind sind? Die temporär oder dauerhaft Probleme mit dem Gedächtnis haben? Die mental instabil oder sogar dekompensiert sind?

Gerade in Bezug auf Notfallbehandlungen können meiner Meinung nach die wenigsten Patient_innen davon ausgehen, eine Diagnose zu erhalten, die tatsächlich auch etwas mit ihnen zu tun hat. Viel eher werden hier schnelle und durchaus auch fachfremde Sichtdiagnosen gemacht und die Spezifizierung, wenn nötig auch Richtigstellung und Patient_innenaufklärung, den (weiter)behandelnden Kolleg_innen überlassen. Ob die Patient_innen einen Behandlungsplatz zur Weiterbehandlung haben oder nicht. Und ob die_r weiterbehandelnde Kolleg_in die Ressourcen dafür hat oder nicht.

Der hochproblematische „Doktor Google“ ist nicht der ständige Mitbehandler vieler Patient_innen geworden, weil diese hypochondrisch sind oder ihre Pathologie zelebrieren, sondern weil das Internet mit seinen massenhaften Informationen verfügbarer ist als ein_e kompetente_r Behandler_in mit ausreichend Zeit und angemessen spezifischem Wissen, um die Informationen, mit denen Patient_innen kommen, fachlich richtig einzuordnen.
Es ist die Folge eines strukturellen Problems im deutschen Gesundheitswesen, das alle Patient_innen und (Weiter)Behandler_innen gleich betrifft. Es sind jedoch marginalisierte Personengruppen ((darunter chronisch (psychisch) erkrankte Menschen)), die den größten Schaden davontragen. Denn sie sind es, die mit Diagnose A bei Behandler_in A sind, aber die Notaufnahme mit Diagnose B oder C oder D verlassen und damit zur Weiterbehandlung zu Behandler_in B müssen, weil Behandler_in A, Krankheit B, C oder D nicht behandeln kann. Es liegt an Behandler_in B, ob nun Krankheit A, B, C oder D behandelt wird und ob die_r Patient_in umfassend und für sie_ihn nachvollziehbar aufgeklärt werden kann.
Und ob Behandler_in B überhaupt weiter von der_dem Patient_in aufgesucht wird. Vielleicht ist die Praxis nicht barrierefrei. Vielleicht ist die Praxis zu weit weg. Vielleicht muss die Behandlung bei Behandler_in B anteilig selbst gezahlt werden. Vielleicht ist es Teil der Erkrankung, Termine nicht pünktlich wahrnehmen zu können oder sie gänzlich zu meiden, weil sie mit unerträglichen Inhalten konfrontieren könnten. Vielleicht ist eine Assistenz oder Betreuung notwendig für den Termin, das Budget der Fachleistungsstunden aber bereits ausgeschöpft. Oder Assistenz/Betreuung beeinflusst die_n Patient_in mit negativen Kommentaren oder anderem unangemessenem Verhalten.

Verschwörungsindoktrinierte Behandler_innen sind nicht der Grund für Patient_innen (und ihre Angehörigen), die Antworten in Selbsttests, windigen Artikeln oder laieninformierter Selbstdiagnose suchen – das Gesundheits- und Abrechnungssystem besorgt das schon von ganz allein und fördert es zuweilen sogar noch mit unmoderierten Selbsthilfegruppen, die lediglich eine Selbstauskunft erfordern oder dem sozialen Notausgang „Sie sind die_r Experte_in für sich selbst“.
Patient_innen jeder wie auch immer gelagerten Erkrankung sollen und müssen es am Ende immer selbst am besten wissen. Auch dann, wenn sie das gar nicht können, weil ihnen das Fachwissen nicht angemessen zugänglich gemacht wird oder sie initial fehldiagnostiziert wurden, was sie als Patient_innen ohne die entsprechenden Kompetenzen überhaupt nicht wissen oder an sich selbst auch nicht in allen Fällen überprüfen können. Sie sind auf ihre Behandler_innen und deren Behandlung, aber auch ihre Behandlungsempfehlung angewiesen.

Bei einer Erkrankung wie der DIS bewegt man sich im Fachbereich der dissoziativen Störungen und der Traumafolgestörungen. Das macht die DIS jedoch nicht zu einem juristischen Beweis oder wissenschaftlich eindeutigen Nachweis für Gewaltbetroffenheit und schon gar nicht zu einem Beweis für eine bestimmte Form von Gewaltbetroffenheit.

Ein Trauma ist kein Ereignis. Es ist die Folge eines oder mehrerer Ereignisse.
Eine Traumafolgestörung entsteht durch die unzureichende Verarbeitung der Folgen eines oder mehrerer Ereignisse. Aufgrund der unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Einschränkung und Veränderung der Reiz- und Informationsverarbeitung während eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse, ist es unmöglich, spezifischen Gewalttaten spezifische Traumafolgestörungen zuzuordnen.
Man kann jedoch in Wahrscheinlichkeiten denken. Wenn beispielsweise ein Berufssoldat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach einem Einsatz entwickelt und diese Erkrankung bei Berufssoldaten allgemein als „Berufskrankheit“ eingeordnet wird, dann ist es zwar nicht wissenschaftlich oder juristisch gesichert, dass der Einsatz eines Berufssoldaten zu dessen PTBS geführt hat – als medizinische_r oder psychologische_r Behandler_in die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch als hoch einzuschätzen, wird dadurch nicht automatisch falsch. Eine Überprüfung im zur Verfügung stehenden Rahmen (also das Gespräch mit jenem Soldaten und wenn vorliegend dessen Krankenakte) geschieht im Zusammenhang mit der Diagnostik.

Diese für viele Menschen so komplizierten Feinheiten, die zu verstehen und nachzuvollziehen so viel Wissen um wissenschaftliches Denken und Ordnen, Kategorisieren und Bewerten erfordert, sind die Teile, die dem Podcast „Geteiltes Leid“ fehlen, um die Situation von Amelie im Waldschlösschen, aber auch von Leonie und Thomas, dem Sohn von Herrn Bartel, dessen Geschichte in der dritten Folge erzählt wird, wirklich umfassend zu verstehen. Vielleicht hätte Thomas etwas davon erzählt, doch wir werden das nie erfahren, denn das Podcast-Team hat nur dem nach eigener Aussage fälschlicherweise des „knallharten Missbrauchs“ beschuldigten Vater ermöglicht, sich persönlich zu äußern.

Amelie hingegen kann sich äußern. Und was sie über die Klinik „Waldschlösschen“ in Dresden sagt, stimmt: Jede_r in der DIS-Bubble kennt diese Klinik.
Warum? Weil sie, soweit ich informiert bin, die einzige Klinik in Deutschland ist, die eine eigene Station für Frauen mit DIS hat und nicht nur allgemein „auch dissoziative Störungen und Traumafolgestörungen“ behandelt. Die Konkurrenz ist rar. Die Wartezeit unfassbar lang. Für Kassenpatient_innen nur mit enormem Aufwand überhaupt finanzierbar.

Das Hilfeversprechen wirkt nicht nur auf Patient_innen, sondern auch Behandler_innen. Besonders, weil praktisch allen Behandler_innen von Menschen mit komplexem Krankheitsbild klar ist, dass die Krankenkasse aufhört, die Therapie zu bezahlen, bevor die Krankheit geheilt bzw. das Leiden erheblich verringert oder weg ist. Eine Intervalltherapie in einem teil- oder vollstationären Rahmen wird daher von ambulanten Psychotherapeut_innen häufig als begleitende oder ersetzende Behandlung angestrebt bzw. der ambulanten Behandlung hinzugefügt, um ihrem Arbeitsauftrag weitestgehend nah zu kommen.
Eine Überprüfung der Behandlungsqualität von an Patient_innen empfohlenen Kliniken ist wünschenswert, aber auch nur im bestimmten Rahmen für Behandler_innen leistbar.
Die Patient_innen sollen und müssen selbst entscheiden. Leider ganz egal, ob sie das auch können oder nicht.

Die meisten können – egal, ob es bei ihrer Behandlung um eine DIS geht oder nicht – erst vor Ort und nach einer gewissen Behandlungszeit wissen, ob die Behandlung wirkt oder nicht und ob sie ihnen hilft oder nicht. Und wenn sie merken, dass sie Quatsch mitmachen sollen und mit ihnen Dinge passieren, die ihnen falsch oder verfälschend erscheinen, dann haben sie nicht nur ein Problem, sondern gleich einen ganzen Haufen.
Denn an wen können sie sich in so einem Fall wenden? Wer kann ihnen ganz sicher sagen, was ihnen wirklich hilft und was nicht? Worauf sollen und worauf können sie sich verlassen? Wie erfolgversprechend ist das Kontaktieren des Qualitätsmanagements? Wie viel von ihrer Würde und ihrer Privatsphäre müssen sie opfern, um ihre Lage klarzumachen? Wer muss alles involviert werden, um eine Klinik erfolgreich wegen Falschbehandlung oder Betrug, Versorgungsmängeln oder der Desinformation von Patient_innen dranzukriegen? Wer glaubt ihnen? Wer nimmt sie ernst, obwohl sie psychisch krank sind?

Und überhaupt – was ist denn danach? Wo ist die Heilbehandlung denn realistisch noch zu erwarten, wenn die spezielle Spezialklinik nicht in Frage kommt? Wo gehen von Helfer_innen verletzte Menschen hin, wenn sie Hilfe brauchen?

Die wenigsten Patient_innen in Amelies damaliger Lage sind Therapeut_innen hörig, die ihnen Verschwörungsstuss einreden. Die meisten kämpfen um ihr Leben und tun, was nötig ist: Mitmachen, bis ihnen kein (angenommener oder realer) Schaden mehr entsteht, wenn sie damit aufhören. Das ist eine Dynamik, die nicht speziell für das Waldschlösschen steht, aber im Podcast wird es so impliziert.

Außer Frage steht für mich, dass man über Handouts und andere Inhalte, die in einer Klinik vermittelt werden, auch kritisch sprechen können muss. Es ist äußerst problematisch, dass Patient_innen kein fundiertes Material zum Umgang mit ihrer Symptomatik gegeben wird. Das ist in meinen Augen ein erheblicher Mangel und bedarf mehr Erklärung als das, was wir dazu, gefiltert von der Podcast-Redaktion, von der Klinikleiterin erfahren.
Und es ist kaum zu fassen, dass Kliniken die Behandlung von Patient_innen deshalb finanziert bekommen, weil sie der Krankenkasse und anderen Kostenträgern gewissermaßen garantieren, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft oder nach höchstem fachlichen Standard zu behandeln, sich dies aber nicht durchgehend in Einzel- oder Gruppentherapien, der Unterbringung oder pflegerischen Versorgung zeigt. Würde das vorliegen, wäre dies in meinen Augen Betrug und ein Skandal – egal, ob es dabei um eine Klinik mit Schwerpunkt auf DIS geht oder nicht.
Eine Einordnung, die diesem Podcast nicht gelingt.

Und noch mehr Einordnungen passieren in diesem Podcast nicht.
Zum Beispiel die um den Komplex darum, ob es möglich ist, dass die WHO von einer nicht näher benannten Gruppe, die sich nicht im Rahmen der Satzung der WHO bewegte, getäuscht wurde, damit sie die Diagnose der DIS im ICD platziert und infolgedessen Rituelle Gewalt (als von satanistischen Eliten, die unbemerkt foltern und morden, ausgehend) als reales Geschehen anerkennt.

Für mich als Laien klingt genau das nach einem Element einer Verschwörungstheorie. Deshalb fütterte ich den VerschwörungsChecker[22] mit der Geschichte. Hier ist das Ergebnis:

Screenshot, das Ergebnis ist nahe an

Normalerweise bekomme ich ein besseres Bild von Zusammenhängen, wenn mir klar ist, was Quatsch ist und was nicht. Bei diesem Podcast hilft es mir nicht sonderlich, die einzelnen Abschnitte und Erzählungen so zu ordnen. Ich muss an die Bemerkung von Aurelia Bazekovic, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, zu diesem Podcast denken: „Lost in Amalgam“.[23]

Das Podcast-Team vermittelt, die WHO sei unfähig zur Analyse, Verifizierung und Falsifizierung wissenschaftlicher Daten, und wer sich auf ihre Veröffentlichung, also den ICD-11-Katalog, beziehe, würde Falschbehandlung gewissermaßen aus Überzeugung durchführen. Was diese Unterstellung für sämtliche anderen Diagnosen im ICD und entsprechend für Behandler_innen jeglicher Professionen bedeuten würde, bleibt den Zuhörenden und ihrer Vorstellung überlassen. Meiner Meinung nach ein grober Fehler und eine ungeheuerliche Unterstellung gegenüber allen Behandler_innen weltweit, da die WHO global agiert.

So einen großen Bezugspunkt medizinischen Konsenses anzugreifen und frühere Fehlannahmen wie die, dass auch Homosexualität lange von der WHO als Krankheit verstanden wurde, heranzuziehen, führt dazu, dass Patient_innen und Behandler_innen verunsichert werden. Wer unsicher ist, gibt bestimmte Grundhaltungen tendenziell schneller auf. Die Grundhaltung, um die es hier geht, ist die, wem man was unter welchen Bedingungen und warum glaubt.

Die Verpflichtung zu helfen

Eine Gesellschaft, die Gewalt an Menschen in unterschiedlichsten Formen für real, die Opfer von Gewalt für Individuen mit ganz eigenen Reaktionsfähig- und -fertigkeiten hält und die zwischenmenschliche Fürsorge auch in Form von medizinischer Behandlung für ein Grundrecht – so eine Gesellschaft kommt wohl kaum zu dem Schluss, zu sagen: „Wir könnten uns über Ausmaß und Gestaltung der Ursachen irren, deshalb glauben wir niemanden und haben entsprechend auch keine Grundlage zu helfen, wenn nötig.“
Letztlich ist doch aber das ein Kernstück des hippokratischen Eides und dessen Pendants in anderen helfenden Berufen: die Verpflichtung, zu helfen.

Aus dieser Verpflichtung ergeben sich unzählig viele Fragen und Ansätze darüber, was Hilfe eigentlich ist. Wer wie helfen kann und wer nicht. Was genau wem wann und warum hilft und was nicht.
Die Bundesregierung hat sich mit der Einrichtung des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM, derzeit besetzt von Kerstin Claus) und der Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) für einen pragmatischen Weg der Klärung und des Erkenntnisgewinns entschieden. Die staatliche Anerkennung der Realität aller Formen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie ihrer individuellen Folgen für die Betroffenen ist damit implizit erfolgt. Ein unvergleichlicher Meilenstein.

Die Anerkennung von offenen Fragen zum Themenkomplex „sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ und bisher wenig oder nur unzureichend beantworteten Fragen ist damit jedoch auch passiert. Daher wurden eindeutige Aufgaben und Ziele formuliert.
Die UKASK soll:

  • […] Tatsachen offenlegen, Verantwortlichkeiten identifizieren und Wege zur Anerkennung des Unrechts aufzeigen.
  • Sie soll einen geeigneten Rahmen bieten, um Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend sowie Zeitzeug*innen anzuhören und somit die Möglichkeit schaffen, auch verjährtes Unrecht mitzuteilen.
  • Daraus sollen Schlüsse zur besseren Versorgung heute erwachsener Betroffener sowie zur Prävention gezogen werden.
  • Sie soll Wege der Anerkennung des Unrechts und Leids durch Politik und Gesellschaft aufzeigen, sowie modellhaft Eckpunkte der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch entwickeln und empfehlen.
  • Sie soll institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitungsinitiativen anregen, Forschungsfragen zu relevanten Themen der Aufarbeitung identifizieren, Forschungsaufträge vergeben oder deren Vergabe anregen.
  • Sie soll regelmäßig öffentlich über ihre Tätigkeiten und Erkenntnisse informieren[24]

Die UKASK generell, aber speziell auch Silke Gahleitner, deren Thema Rituelle Gewalt in dem Zusammenhang ist, hat nicht den Auftrag, Vorfälle zu verfolgen, bei denen Ärzt_innen von Journalist_innen unterstellt wird, sie würden ihren Patient_innen die eigene Weltanschauung einreden und in der Folge falsch behandeln. Also Fälle wie jenem in der Schweiz rund um den Arzt Matthias Kollmann, der im Podcast unvollständig und damit desinformierend erwähnt wird.
Die UKASK soll sich mit Tatsachen befassen. Mediale Berichterstattung, die nicht primär den Erkenntnisgewinn um Rituelle Gewalt, sondern eine Debatte um die Frage von möglicher Falschbehandlung psychisch kranker Menschen zum Ziel hat, ist für die Arbeit der UKASK zum Thema Rituelle Gewalt nicht brauchbar. Gahleitners Distanzierung ist entsprechend überhaupt nicht „bemerkenswert“, sondern vielmehr logische Folge ihres Auftrages.

Bemerkenswert für Hörer_innen sollte meiner Ansicht nach sein, wie systematisch die Erzählung des Podcastes versucht, das Bild einer passiven UBSKM Kerstin Claus zu zeichnen, die dem Diktat von Betroffenenberichten unterworfen sei und deshalb dem Familienministerium nicht einfach vorgeben könne, dass Rituelle Gewalt durch Satanist_innen wahrscheinlich eine Verschwörungserzählung ist, denn wissenschaftlich lässt sie sich nicht belegen. Als wäre, dem Familienministerium zu sagen, was es machen soll, die Aufgabe der UBSKM. Was sie nicht ist. [25]

Auch dieses Interview mit einer Vertreterin einer für Betroffene von sexualisierter Gewalt wichtigen Institution bzw. Instanz bringt diesen Podcast inhaltlich überhaupt nicht weiter und wirkt seinem eigenen Anspruch als demokratiestärkend entgegen. Denn auch hier wird am Vertrauen in Institutionen, auf die man sich im Bedarfsfall verlassen können will, manipuliert – und wieder wird Unsicherheit bei den Zuhörer_innen in Kauf genommen.

Diese Unsicherheit wird zur Rampe in die letzten Passagen dieses Podcasts.
Da wird der Themenmixer nochmal ganz tief in das Sujet der Podcastreihe geschoben und abgedrückt, sodass man als Hörer_in nur allzu bereit ist, unkritisch hinzunehmen, was nachkommend noch erwähnt wird. Zum Beispiel die unbelegbare Behauptung, die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber habe die Verschwörungserzählung über Satanist_innen nach Deutschland gebracht. Oder die Aussage, ein nicht näher benanntes oder definiertes „Rituelle Gewalt Netzwerk“ hätte durch sein Wirken erheblich dazu beigetragen, dass QAnon und andere Verschwörungserzählungen in Deutschland überhaupt greifen konnten.

Komplett erwartbar ist das Ende von „Geteiltes Leid“ eines, das die ganz großen Gefühle wecken soll. Allem voran: Mitleid. Obwohl allgemein bekannt ist, dass man damit niemandem hilft.
Ein Impuls, die Zivilgesellschaft dahingehend zu aktivieren, die eigene Haltung, die eigene Meinung und Bewertung des Themas kritisch prüfend vorzunehmen – der wird nur in eine Richtung gesetzt. Und zwar gegen Opfer sexualisierter Gewalt und ihre Helfer_innen.

Mein Fazit

Ich halte diesen Podcast für eine verpasste Möglichkeit, ein relevantes Thema umfassend und für die Zivilgesellschaft verständlich aufzubereiten.
Mit Protagonist_innen wie Amelie und der Zeit, die das Podcast-Team in die Recherche investieren konnte, hätte ein Podcast entstehen können, der ein echtes Problem ganz grundsätzlich aufzeigt und in seinen Auswirkungen allgemein nachvollziehbar macht.

Stattdessen blieb man in dem bereits als solchem bekannten Strohmannargument, nämlich „Therapeut_innen/Helfer_innen glauben an Satanisten, die Kinder quälen und nennen das Rituelle Gewalt, um überall Opferbonus abzugreifen und schaden allen damit“, verfangen und vermischte alle Aspekte, die es berührt. Dabei ist eine ableistische Abwertung behinderter und (chronisch) kranker Menschen und umfassende Desinformation passiert.

Meiner Meinung nach hat das Podcast-Team von Undone mit „Geteiltes Leid“ eine Geschichte erzählt, die dazu dient, Opfern sexualisierter Gewalt und (chronisch) psychisch kranken Menschen die Glaubwürdigkeit und die Legitimität ihrer Selbstbestimmung in Frage zu stellen. Aber auch, um Behandler_innen und Helfer_innen verschiedener Professionen zu diskreditieren und allgemeines Misstrauen in Institutionen mit Versorgungs- und wissenschaftlichem Auftrag zu schüren.

Die Reihe begann mit etwas, das Laien überhaupt nicht beurteilen können und auch nicht können müssen, nämlich allen Fragen rund um die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung. Es entsteht der Eindruck, dass zum einen nur verschwörungsgläubige Therapeut_innen Falschdiagnosen und unwirksame bzw. schädigende Behandlungen machen, und zum anderen, dass die DIS deshalb keine valide Diagnose sei. Ein Eindruck, der in diesem Podcast zu keinem Zeitpunkt berichtigt wird.

Ebenfalls fehlt eine Angabe dazu, wie viele Psychotherapeut_innen der Glaube an Verschwörungstheorien allgemein und den an satanistische Eliten, die Kinder quälen, im Speziellen überhaupt beträfe. Ohne diese Informationen als faktischen Bezugspunkt, der Hörer_innen ermöglichen würde, eine Vorstellung vom Umfang des Problems zu entwickeln, wurde dann noch eingebracht, verschwörungsgläubige Therapeut_innen/Helfer_innen würden Institutionen unterwandern und damit der ganzen Welt schaden. Immerhin hätten sie es mit ihrer Erzählung bis in die WHO geschafft. Ein weiterer verstörender, allgemein verunsichernder Blick auf mögliche Mängel in Strukturen und Institutionen, die zweifellos real bestehen können, im Gesamten jedoch für die Mehrheit der Menschen nicht oder weit weniger schädlich oder gefährlich sind als in „Geteiltes Leid“ impliziert.

Inmitten dieses zuweilen nur schwer zu entwirrenden Gemischs fanden sich alte Bekannte der False-Memory-Rhetorik: die emotionalisierenden Schlagworte „satanic panic“, „memory wars“ und „Scheinerinnerungen“. Von denen nur einer – und zwar von einer Betroffenen – im richtigen Zusammenhang verwendet wurde: Amelie, der ich für ihren großen Mut und ihre Offenheit an dieser Stelle meinen tiefen Respekt und Dank ausspreche.

Meiner Ansicht nach führt die permanente Vermischung von Annahmen und unvollständig vermittelten Tatsachen dazu, dass die Hörer_innen, die nicht sonderlich tief oder lange mit der Thematik befasst sind, am Ende kaum mehr klar und eindeutig einordnen können, was sie da eigentlich für eine Geschichte gehört haben. Und das bei einem Podcast, der uns doch „investigativ recherchiert“ zeigen wollte, dass es ein krasses Problem gibt. Was von den vielen aufgebrachten Problemen nun genau das Problem, in welchem Ausmaß, für wen eigentlich genau ist, das wird nicht klar.

Das Problem für mich an dieser Podcastserie: Eine Er_Lebensrealität wie meine ist für Journalisten wie von diesem Podcast-Team von „Geteiltes Leid“ nicht mehr als eine krasse Story darüber, was so manche Leute für real halten. Für Showleute wie Jan Böhmermann nichts weiter als eine Witzvorlage. Für False Memory Deutschland e. V. ein traditionell benutztes Ziel in einem längst verlorenen Kampf und ein stets und ständig zu komplexer Fall für Wissenschaft und anders fachlich orientierte Hilfelandschaft.
An uns, den Menschen, die mit der Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung leben, haben alle ein Ding. Ein Thema, einen Konflikt, ein komplett eigenes, zuweilen fachliches, doch immer auch eigennütziges Interesse.

Unsere Stimmen fehlen in dieser Auseinandersetzung.

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Quellen:

[1] Rituelle Gewalt und Scheinerinnerungen: Wenn die Therapie destabilisiert | Y-Kollektiv https://youtu.be/o8AD5hz3s0Q?si=OcCSVPadRXkhC9Iw
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirbt-400121.html
[3] https://www.podcast.de/podcast-news/verschwoerung-und-missbrauch-khesrau-behroz-im-interview-zum-neuen-undone-podcast-geteiltes-leid
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Strohmann-Argument
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Satanic_panic
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/McMartin_preschool_trial
[7] https://gizmodo.com/when-geraldo-rivera-took-on-satanism-and-a-very-confus-5829171
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Moral_panic
[9] http://dissoc.de/02-05.html
[10] Dallam, S. J. (2002). Crisis or Creation: A systematic examination of false memory claims. Journal of Child Sexual Abuse,9 (3/4), 9-36.
[11] Dalenberg, Constance & Brand, Bethany & Gleaves, David & Dorahy, Martin & Loewenstein, Richard & Cardeña, Etzel & Frewen, Paul & Carlson, Eve & Spiegel, David. (2012) Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Psychological bulletin. 138.550-88.10.1037/a0027447.
[12] FAQ der Ärztekammer zu Fragen über die Meldung eines Arztes oder einer Ärztin und umfassender Artikel von ProPsychotherapie e. V. mit Link zu einer Liste von Anlaufstellen zur Beratung und Klärung von Fällen vor einer Meldung oder Anzeige
[13] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/PMKreligioes/PMKreligioes_node.html
[14] https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/
[15] https://www.juraforum.de/lexikon/satire
[16] https://www.scinexx.de/news/biowissen/gefahr-gehirn-ist-sofort-in-alarmbereitschaft/
[17] Denial and Dissociation: 10 things to consider https://www.youtube.com/watch?v=z4-y8SFpW-Y
[18] Gaby Breitenbach, „Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt, Ware Mensch – die planvolle Spaltung der Persönlichkeit“, erschienen bei Asanger, 2012
[19] https://forschungsdatenbank.charite.de/experts/expertenprofil.xhtml?id=35605da015d548ec9d1a1103398b0d31&type=ps&lang=de
[20] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/krankheitsbild/
[21] https://pmc-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/articles/PMC8423293/?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq
[22] https://verschwoerungschecker.org
[23] https://www.sueddeutsche.de/medien/geteiltes-leid-podcast-undone-kritik-lux.CNtKhRb3gB3Nkm6NihKz1X?reduced=true
[24] https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/beauftragung/
[25] https://beauftragte-missbrauch.de/ueber-uns/aufgaben-und-aktivitaeten

Hannahs Neujahrsansprache

Ich begann zu bloggen, weil mir die Idee gefiel, in einem nicht-stofflichen Raum zu sprechen und einen Ausdruck für das zu finden, was ich erlebte. Etwas zu erschaffen, das nicht physisch berührbar sein würde und dennoch zweifellos da.
Mich erfreut bis heute wie meine Worte hier zu etwas werden, das andere erreichen und berühren kann, ohne dass ich als Person bekannt oder körperlich anwesend bin. Wie es kommt, dass manche Menschen schon seit vielen Jahren mitlesen und so zu einer ebenfalls nicht körperlich anwesenden, doch zweifellos wirkenden Kraft geworden sind.

Ich wollte hier mal aufklären.
Was ist eine DIS und was bedeutet es damit zu leben?
Das hat mir aber keinen Spaß gemacht, denn schon bald wurde mir klar, dass Aufklärung eine Grundhaltung anderen Menschen gegenüber voraussetzt, die ich nicht habe.
Ich glaube nicht daran, dass Menschen nur genug wissen müssen, um weiterzukommen, Fehler zu meiden oder sich selbst zu verbessern in Gebaren, Normen und Werten.
Ich glaube daran, dass Menschen sind, wie sie sind, weil sie sein können, wie sie sind. Ich glaube also eher an Umstände. Natur. Reiz, Reaktion. Ursache und Wirkung. Freiheit und ihre Grenzen.
Wissen ist darin ein Werkzeug von vielen. Etwas, das zum Selbstausdruck und zur Erweiterung des Eigenen genutzt werden kann, aber nicht die Voraussetzung dafür ist.

Relevant erscheint mir entsprechend bis heute, dass ich hier nicht erzähle, welches Diagnosekriterium sich an welchen Aspekten meines Alltages oder meines Selbst- und Umwelterlebens erfüllt, sondern wie ich mich fühle. Was ich denke. Was mir wichtig ist. Wie ich bestimmte Erfahrungen in mir erfasse und einordne.
Mich stets und ständig entlang der Diagnose zu definieren bedeutet für mich auch die Objektifizierung der Diagnostik an mir weiterzuführen. Ganz so, als sei die psychiatrisch medizinische Ordnung etwas, das alleinig und allumfassend Relevanz für mein konkretes Existieren als Subjekt hätte. Was sie nicht hat.
Ich wäre auch dann noch, wer und wie ich bin, gäbe es diese Diagnose nicht.
Ich hätte auch dann Worte und Empfindungen, Meinung und Urteile zu dem, was ich erlebe.

Mein Blog ist nun seit etwa 14 Jahren online.
Es ist mein Tagebuch, mein Knotenpunkt für innere Kommunikation. Mein Podest zum Teilen meiner Erlebnisse, Ideen und Meinungen. Ein Ort, an dem andere Menschen in Kontakt mit mir treten können.
Und eine Projektionsfläche.

Ich werde von vielen Vielen, Behandler_innen und Verbündeten hier wahrgenommen. Viele von ihnen haben ein Bild von meinen Motiven und meiner Person, die nicht zutreffen.
In den letzten Jahren kam es immer wieder vor, dass ich damit konfrontiert wurde und darüber nachdenken musste, wie ich mich dazu verhalte. Schreibe ich öffentlich darüber? Teile ich meine Gedanken und Gefühle dazu? Was macht es aus, wenn ich über bestimmte Dinge so schreibe, wie ich sie empfinde? Wem könnte ich schaden, wem nützen? Wie groß ist überhaupt mein Einfluss hier? Wie groß meine Verantwortung als eins der Urgesteine in der Multi-Blogbubble? Für und gegen wen spreche ich hier?

Ich habe mich dazu entschieden, das, was ich hier mache, als Selbstvertretung zu etablieren. Hier stehe ich allein. Du darfst mitlesen, mitdenken, mitfühlen – aber meine Stimme gehört mir. Klingt stark, nicht? Abgegrenzt. Klar. Sicher.
Das klingt so gar nicht nach einer Vermeidungshaltung, oder? So überhaupt nicht, als wäre das nicht auch eine Entscheidung aus Angst vor dem Konflikt – gerade, weil ich allein hier stehe. Gerade, weil sich selbst als Viele zu erleben, eine Psychodiagnose, eine Behinderung und chronische Erkrankung zu haben, zu ganz spezifischen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen führt. Auch und gerade innerhalb der eigenen Peergroup. Wer nichts hat, guckt den Gleichen ganz besonders auf den Teller. Das hat fast nie mit Missgunst oder persönlicher Abneigung zu tun. Aber mit den Umständen, der Gesellschaft, dem Umfeld, in dem es zur gemeinsamen Gleichheit kommen konnte.
Und gegen die kann ich hier kaum mehr tun, als meine Sicht darauf zu teilen und die An.teil.nahme anderer Menschen zu ermöglichen.

Mein Anliegen der Selbstvertretung hat mich in den letzten Jahren auch zuverlässig darüber hinweggetröstet, dass ich mich schon lange nicht mehr als Teil der Selbsthilfe- und Aktivismus-Bubble fühle. Obwohl ich inzwischen Teil einer analogen Selbsthilfegruppe bin und mit „Vielesein“ eine Plattform aufgebaut habe, die auch den politischen Austausch und persönliche Verbindung ermöglicht.
Ich muss anerkennen, dass die Debatten zu Gewalt, ihren Folgen und der Prävention inzwischen massiv fragmentiert und unterkomplex in den sozialen Medien, exklusiv in Vereinsstrukturen oder teils presse-ethisch fragwürdig in TV- und Rundfunkformaten stattfinden.
Und komme nicht umhin zu beachten, dass sich kritisch dazu zu äußern nicht deshalb schwierig und für manche sogar unmöglich ist, weil es mit einer konkreten Gefahr einhergeht, sondern weil sich niemand mehr auf öffentliche Fürsprache, Solidarität und ganz konkreten Schulterschluss verlassen kann. Und will.

Und soll.
Denn wie schon vor 14 Jahren gibt es auch heute noch Einzelpersonen und Gruppen, die Interesse daran haben, dass über Gewalt und ihre Folgen in einer Weise gesprochen und gewertet wird, die davon betroffene Menschen pathologisiert, Gewalt als alltägliches Geschehen negiert und Taten in einem Normensystem ohne Bezug zu ihren Folgen für die gesamte Gesellschaft bewertet.
Musste ich mich früher damit befassen, was die False Memory Foundation warum will, sind es heute Vertreter_innen der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und Journalist_innen, deren Antrieb zur Berichterstattung offensichtlich nicht die objektive Aufarbeitung von Sachinformation ist.

In den letzten Jahren sind einige Publikationen veröffentlicht worden, in denen wiederholt behauptet wird, die DIS-Diagnose sei eine Art wissenschaftlicher Kunstfehler. Therapeut_innen würden ihren Patient_innen einreden, dass sie Gewalterfahrungen gemacht haben, um sie so lange wie möglich in psychotherapeutischer Behandlung zu behalten. Und diesen Umstand missbrauchen, um die Wissenschaft zu unterwandern und eine politische Agenda voranzutreiben.
Die politische Agenda: Opfern von Gewalt glauben, solidarisch mit ihnen sein, ihnen helfen, wenn sie das möchten.
Für mich klingt das nicht nach einer Agenda, der man sich mit unbedingtem Willen zum Abbruch widmen muss, während der Faschismus nicht mal mehr anklopft, sondern unbehelligt im Bundestag ein und aus geht.
Für mich klingt das nach etwas, das unsere Gesellschaft braucht, um Gewalt zu verstehen. Um ihre Folgen zu begreifen und in einen Prozess zu kommen, in dem Fragen danach gestellt werden, wie wir miteinander leben wollen. Wie wir ganz praktisch und verbindlich füreinander da sein können, wollen und sollen.

Ich gehe davon aus, dass man Falschbehandlung und missbräuchliches Verhalten von Psychotherapeut_innen und politisch motivierten Akteur_innen besser in einer Gesellschaft aufdecken und verhindern kann, die einander vertraut, glaubt und stützt.
Meiner Meinung nach braucht es für gegenseitiges Vertrauen, Glauben und Stützen auch das öffentliche Sichtbarmachen der eigenen Haltung, Meinung und Solidarität. Sich hinter einem Mandat oder dem Status, der mit einer bestimmten Profession einhergeht, zu verstecken, ist ein Privileg, das die, die am meisten unter Diskriminierung und Gewalt leiden, nicht haben.
Höfliches, professionelles, unpolitisches, taktisches Schweigen ist im Angesicht von Angriffen auf die gesamte Gesellschaft und ihr Miteinander nicht klug, karriereförderlich oder überlebenswichtig. Es ist Schweigen. Eine Stille, eine Lücke. Ein Nichts, wo etwas sein muss, wenn man in jeder Lebenslage gut versorgt und gesichert mit den Mitmenschen leben möchte.

Ich möchte leben. Deshalb bin ich hier und dafür schreibe ich hier.
Primär für mich, doch ob ich will oder nicht, immer auch für andere. Für andere Viele, für andere autistische und komplex traumatisierte Menschen.
In der nächsten Zeit werde ich, wie immer allein und alleinverantwortlich, einige Texte veröffentlichen, die kritisch sind. Es wird um Publikationen gehen, die von Journalist_innen sind und um Publikationen, die von Menschen sind, die sich als Aufklärer_innen gerieren.

Zur besseren Einordnung hier eine Vorstellung meiner Person, die ich so nirgendwo im Blog stehen habe:

Ich schreibe unter dem Pseudonym Hannah C. Rosenblatt.
Der Name gefällt mir und er kam zu mir in einer Zeit, in der ich mich damit befasste, zum Judentum zu konvertieren. Ich habe letztlich keinen Gijur durchlaufen, weil ich meine nicht binäre Geschlechtsidentität und pansexuelle Präferenz in vielen jüdischen Kontexten nicht offen leben könnte. Ich bin nicht jüdisch geboren und ich lebe seit vielen Jahren auch nicht mehr nach jüdischen Gesetzen.
Ich bin eine weiße Person und betrachte die Privilegierung, die damit einhergeht, als etwas, das mich zu spezifischer Aufmerksamkeit, bestimmten Verhaltensweisen und einem kritischen Bildungsauftrag in Bezug auf die Leben nicht-weißer Menschen sowie kolonialer Verbrechen und rassistisch motivierter Gewalt verpflichtet.

Aktuell bin ich 38 Jahre alt.
Die DIS-Diagnose erhielt ich nach 7 anderen Diagnosen im Verlauf einer über anderthalb Jahre lang andauernden Behandlung in einer qua Struktur geschlossenen Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich war 16 Jahre alt und hatte zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Suizidversuche überlebt.
Diese Diagnose wurde in den folgenden Jahren mit umfassender Diagnostik und auf meinen eigenen Wunsch hin auf ihre Richtigkeit geprüft und in der Folge bestätigt.
Weitere Diagnosen sind Ängste und Depressionen gemischt und eine inzwischen chronische Essstörung. 2015 wurde außerdem die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung (im Sinne eines Asperger-Syndroms) gestellt.

Seit ich in traumatherapeutischer Behandlung bin, steht im Raum, ob ich Rituelle Gewalt erlebt habe. Stand heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass dem nicht so ist.
Die Gewalterfahrungen, die ich gemacht habe, fanden in meiner Herkunftsfamilie, meinem allgemeinen Lebensumfeld, in Psychiatrien, den Büros von Psychotherapeut_innen und einem organisierten Kontext sexueller Ausbeutung statt.
Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema Ritueller Gewalt hat mich dafür sensibilisiert, sowohl theoretisch als auch praktisch konkret damit umzugehen. Das bedeutet, dass ich Quellen für jede Aussage einfordere, echte Fälle recherchiere und mich politisch dafür interessiere, weshalb ideologisch motivierte Taten (zu denen für mich neben religiösen auch rassistische und politisch rechte Motive gehören) nicht in einer eigenen Kategorie erfasst und in der Kriminalstatistik geführt werden.

Der Umstand, dass ich bereits als Jugendliche mit der DIS-Diagnose umgehen musste, hat erheblich dazu beigetragen, dass ich die Besonderisierung (das Othering) von Menschen mit dieser Diagnose ablehne. Sei es, ob die Betroffenen das selbst machen oder es ihnen aufgezwungen wird. Für mich sind Menschen mit DIS keine besonders starken Überlebenden. Keine kuriosen Sonderfälle. Meiner Meinung nach brauchen die wenigsten Menschen mit DIS eine spezielle psychotherapeutische Behandlung, Betreuung oder zwischenmenschliche Fürsorge. Meiner Erfahrung nach führt eine solche Besonderisierung in den meisten Fällen zu Gewalt an diesen Menschen, die besonders durch die knappen Ressourcen im Hilfesystem häufig legitimiert wird und entsprechend verdeckt bleibt.
Im kleinen Rahmen biete ich pädagogischen Teams, die sich in so einer Dynamik erkennen, meine Perspektive als Betroffene und Hilfestellung zur Auflösung an.

Ich bin hier als Autorin tätig. Außerdem habe ich zwei Bücher veröffentlicht. „Aufgeschrieben“ und „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“. Unter meiner Verantwortung läuft seit 2015 der Podcast „Viele-Sein, ein Podcast zum Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur“.

Ich habe 16 Jahre in Armut gelebt.
Keine meiner Veröffentlichungen führt zu finanziellem Gewinn. Jede meiner Arbeiten ist in Teilen durch Spenden unterstützt, doch überwiegend von mir selbst finanziert.
Dank eines entschlossenen Schulleiters, einer angemessenen Begleitung und einer motivierten Lehrer_innenschaft habe ich eine Berufsausbildung machen können. Derzeit arbeite ich dank des Teilhabegesetzes in einem geförderten Arbeitsverhältnis in der IT-Branche.
Die Vorträge, Lesungen und Workshops, die ich in meiner Freizeit anbiete, werden überwiegend von anderen Betroffenen und ihren Unterstützer_innen besucht. Mir ist eine sachliche, faktenorientierte Auseinandersetzung mit den Themen Trauma, Gewalt und Behinderung wichtig, wenn es um Fragen der Hilfestellung und Aufarbeitung geht.

Mir liegt nichts daran, andere Menschen bloßzustellen oder ihren Ruf zu beschädigen.
Ich bin solidarisch mit Betroffenen und Überlebenden jeder Form von Gewalt, weil ich Gewalt für ein Problem halte. Dieses Problembewusstsein erwarte ich von allen Menschen gleich.

Im letzten Jahr habe ich mich dazu entschlossen, mein Konfliktvermeidungsverhalten zu beenden. Ich habe erkannt, dass es mir nur bedingt nutzt und anderen, denen es schlechter geht als mir, sogar schadet. Meine Hoffnung ist, dass auch andere Menschen den Mut finden, einen solchen Beschluss zu fassen und ihr Schweigen zu bestimmten kritischen Punkten beenden.

Reste?

Letzte Woche war die Psychiatrie wieder Thema in unserer Therapiestunde. Genauer die Ängste, die jene hatten, die ich als „innere Jugendliche“ bezeichne.
Und während sie sprachen, fühlte ich andere. Welche, die wie untergerührte Puddinghaut unsichtbar und doch deutlich unterscheidbar im Inneren waberten. Keine Ichs. Niemand Agierendes.
Später schrieb ich alles auf und kam zu dem Schluss, dass es manche von uns vermutlich nie in unser Heute schaffen. Dass manche von uns einfach nicht genug für eine Reorientierung sind. Nicht mehr genug leben. Vielleicht nie erlebt haben, sondern Erleben waren.

Dann dachte ich darüber nach, was das für mein Ziel der Integration bedeutet. Wird mir gerade klar, dass ich es nie vollständig schaffen kann?

Ich habe sehr gute Erfahrung mit Integrationen, Fusionen, Verschmelzungen von Innens gemacht. Habe immer nur gewonnen. Selbstgefühl, Erinnerungen, Gefühle, Gedanken, Fähig- und Fertigkeiten. Noch nie musste ich wissentlich jemanden zurücklassen. Nie ist jemand verloren gegangen.
Aber Anteile wie diese wabernden Geister hatte ich in meinem Alltagserleben auch nie. Als ich mich mit der Bezeichnung „die Rosenblätter“ noch gut gefühlt habe, waren da nur Ichs. Und als wir zusammenkamen, entstand mein Hannah-Selbst. Keine Krümel, keine Reste.
Ist das ein Unterschied, der sich ergibt, wenn ein Funktionssystem aus emotionaler, psychischer und struktureller Gewalt entsteht und ein anderes aus zusätzlich noch physischer Gewalt?

Vielleicht, so denke ich jetzt, bin ich wieder einige Schritte zu weit voraus. Vielleicht habe ich vieles, was ich selbst vor Jahren noch als Splitter empfunden, erlebt und dann ignoriert habe, inzwischen so nah bei mir, dass ich es als Aspekt von mir einordne. Manche Fusseln werden auch durch eine gewisse Oberflächenstatik einfach angezogen. Da hat man vielleicht gerade etwas ganz anderes gemacht und die miniwinz kleine Zusammenfügung gar nicht bewusst wahrgenommen.

Bei dem Gedanken bleibe ich jetzt.
Wir werden ja merken, wie weit wir kommen.

„besser helfen“

Schnell zur Bewertung einer Situation zu kommen, ist überlebenswichtig. Niemand überlebt akute Bedrohungslagen durch Tiefenanalyse. Doch abstrakte Themen wie Helfen, Fürsorge, Miteinander sein können nur außerhalb von akuter Bedrohungslage konstruktiv bewegt werden.
Das ist Trauma 101: Wenn was brennt, trinken wir keinen Tee, sondern schütten ihn auf die Flammen. – Wenn der Brand gelöscht ist, trinken wir erstmal was, um uns zu erholen.
Wenn eins von beidem nicht oder nicht vollständig möglich ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Traumatisierung, weil der natürliche Mechanismus der Stressreaktion bzw. -verarbeitung gestört wurde.

In der Interaktion zwischen Helfenden und (in der Kindheit) komplex traumatisierten Menschen entstehen manchmal reaktive Dynamiken.
Da ist die eine Seite mit komplex traumatisierten Menschen, die nach Triggern, die so unbewusst und subtil sind, dass sie überhaupt nicht eingeordnet werden können, in einem Bindungsschrei feststecken. Sie rufen nach Hilfe, setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um nicht allein zu sein. Sie fordern und wollen, wünschen und bitten. Sind bereit, einfach alles zu tun, um ihr Leben zu retten – denn so fühlt es sich an. Als ob ihr Leben in akuter Gefahr ist.

Und da ist die andere Seite mit Helfenden, die über die Dauer dieses „Geschreis“ verzweifeln, weil sie einfach weder die Ursache finden noch beheben können; weil nichts von dem, was sie machen, keine Ressource, die sie aufbringen, zu helfen scheint und die Belastung kein absehbares Ende hat. Und: Weil sich zu erholen nach 8-Stunden-Schicht mit unvorhersehbar nötiger Überstundenzahl und eigenen Alltagsthemen praktisch unmöglich ist. Diese Leute kommen Tag für Tag/Termin für Termin mit einer leeren Teetasse in ein brennendes Haus.
So stellt es sich jedenfalls dar.

Solche Konstellationen führen zu den Dynamiken von Helfergewalt, über die ich hier bereits oft geschrieben und in Workshops und Vorträgen gesprochen habe.
Für beide Seiten geht es um alles oder nichts – beide Seiten werden so aktiviert, dass sie schnelle Bewertungen vornehmen, um handlungsfähig zu bleiben oder wenigstens die Illusion/das Gefühl davon aufbauen zu können.

Helfende, die sich in so einem Moment fragen „Wie kann ich besser helfen?“ haben oft noch nicht realisiert, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit leider noch gar nicht helfen.
Weil sie noch gar nicht helfen können.
Die Grundlage für Hilfe in so einer Situation ist die Fähigkeit zu erkennen, dass weder das Haus brennt noch die_r Klient_in in akuter Lebensgefahr ist. Und jede Möglichkeit nutzen und anwenden zu können, um Erholungsphasen traumabewusst anzubahnen, zu begleiten und abzusichern und zu integrieren. Sowohl für sich selbst als auch die_n Klient_in.

Klient_innen im „Bindungsschrei-Loop“ bewerten ihre Situation traumalogisch.
„Niemand ist für mich da/Ich bin allein“, „Ich kann nichts machen“, „Nichts hilft“, „Es wird nie enden“ ⇾ „Und deshalb werde ich sterben.“ Der Trigger ist in ihrem Bewertungsprozess gewissermaßen eingebaut. Der erste Auslöser hatte vielleicht noch etwas mit der Beziehung zu den Helfer_innen zu tun oder mit einem äußeren Umstand. Doch nach einer Weile wird der Einordnungsversuch zum Trigger-Perpetuum-Mobile, weil jeder Gedankengang mit der Bewertung der Lage als akut bedrohlich endet und entsprechend traumareaktives Wahr.nehmen, Denken und Handeln aktiviert.

Kommt man als helfende Person nun dazu und sagt: „Hey, du siehst das alles ganz falsch …“ fügt man eventuell das nächste triggernde Element hinzu: Das Absprechen der eigenen Wahrnehmung/ Verunsicherung durch Umdeutung von Außen
Und die nächste Runde geht los bei der_m Klient_in – und damit auch für die helfende Person, wenn die komplex traumatisierte Person etwa noch selbst- und/oder fremdschädigende Bewältigungsstrategien hat.
Helfer_innen, die ihren Auftrag gegenüber komplex traumatisierten Menschen vordergründig darin sehen, sie von der Wunderbarkeit des Lebens, ihrer Person oder anderen Dingen zu überzeugen, können so jahrelang anhaltende Loops mit ihren Klient*innen erzeugen, ohne jemals geholfen zu haben. Obwohl sie immer da waren. Immer alles gegeben haben. Immer alles möglich gemacht haben.

Traumalogik ist brutal.
Aus meiner Innensicht als komplex traumatisierte Person beschreibe ich sie als genauso tief und umfassend beruhigend wie ängstigend. Es gibt kaum eine andere Keule, die mich so weit aus mir raus wie in mich hinein schlagen kann. Bin ich darin aktiviert, ist es bis heute mit gezielter Anstrengung verbunden, sie zu reflektieren, zu prüfen, zu hinterfragen, abzugleichen.
Nun ist es mit Traumalogik aber nicht so wie mit Alltagslogiken, die sich aus vielen kleinen Aspekten und Wahrscheinlichkeiten entlang sozialer Bedingungen, Tageszeiten, Zustandsoptionen einzelner Elemente zusammensetzen und mehr oder weniger orchestral funktionieren.
Traumalogik ist 1 oder 0 und egal welche Seite man wählt, wird die gesamte Selbst- und Umweltwahrnehmung verzerrt zu dem, was man als in der Kindheit komplex traumatisierter Mensch am sichersten und einfachsten einordnen kann: eine potenziell lebensbedrohliche Umgebung
Eine Umgebung, in der man sich auf nichts und niemanden verlassen kann. Eine Umgebung, in der nichts ist, wie es scheint. Eine Umgebung, in der man um jeden Preis (wenigstens das Gefühl von) Handlungsfähigkeit aufrechterhalten muss.

Und das alles, ohne dass man sich dessen selbst bewusst sein kann. Denn das bereits in der Kindheit komplex traumatisierte Gehirn hat dafür Strukturen angelegt, als es noch keine oder nur wenig ausentwickelte Einordnungsfähig- und -fertigkeiten gab.
„Am Anfang war das Wort“ trifft für diese Personengruppe also nicht zu. Sprechen ist Miteinander. Bewertung (1 oder 0) ist überleben. Überleben ist Leben. Leben gewinnt immer.

Etwas von so umfassender Relevanz wie Traumalogik ist extrem energieaufwändig.
Diese Energie wird an anderen Stellen eingespart.  Der Selbstfürsorge-Skill kann komplett abgeschnitten sein. Funktionen, über die man im Alltag nicht nachdenken muss, werden plötzlich unmöglich. Der Miteinander-Modus kann massiv zusammenschrumpfen. Zum Beispiel auf den Bindungsschrei.
An dem Punkt ist es unerlässlich als helfende Person zu begreifen, dass die_r Klient_in gewissermaßen durchgehend und mit aller Kraft sendet – ohne die Antworten vollständig und richtig empfangen und einordnen zu können. Das hat nichts mit der Beziehungsqualität zu tun, nichts mit dem Vertrauen und nichts mit der emotionalen Bewertung der Person.

Es kann etwas damit zu tun haben, dass die_r Klient_in:

  • eventuell noch nicht weiß, wie das ist, wenn jemand (angemessen) auf den Bindungsschrei antwortet und wiederum mit Angst reagiert bzw. getriggert wird von der Antwort
  • eventuell noch nicht geübt darin ist, sozial angemessen auf Reaktionen von außen hin zu handeln
  • eventuell eine ganz spezifische Antwort erwartet (und davon abweichende Antworten nicht übersetzen kann)
  • am Ende der Kraft ist und der Kollaps kurz bevorsteht (oder bereits passiert ist)
  • der Auslöser in realen, chronisch stressenden Lebensumständen liegt (keine sichere Unterkunft, Finanzlage, soziale Sicherheit, dauerhaft überfordernde Ansprüche)

Die Herausforderung in so einer Situation besteht also nicht nur darin, „richtig zu reagieren“, sondern auch noch darin, dass jedes Reagieren gleichzeitig richtig und gut – und belastend und triggernd (und dadurch schnell als „falsch und schlecht“ eingeordnet) sein kann. Oder dass der Auslöser etwas mit Umständen zu tun hat, die nicht „weggetröstet“ oder „wegentspannt“ werden können, sondern ganz konkrete Zusammenarbeit erfordert. Es also gar nicht um Miteinander, sondern um Füreinander geht.
„Besser helfen“ ist zu diesem Zeitpunkt ein unerreichbares Ziel.

*

Ich verstehe, dass Menschen, die auch ich in diesem Text als „Helfende“ benenne, in ihrem Handeln immer Hilfe verkörpert sehen – beziehungsweise den Auftrag haben, ihr Handeln immer nur im Zusammenhang mit Hilfe zu sehen. Niemand geht in eine Hilfeeinrichtung, um Blumenerde zu kaufen oder die Haare gemacht zu bekommen. Andererseits kann Blumenerde zu kaufen und das Haar gemacht zu haben eine große Hilfe sein. Was also Hilfe ist, ist nicht in jedem Fall davon definiert, was der Beruf oder das Berufsbild oder die Stellenausschreibung als solche vorsieht.
Deshalb gibt es ja so etwas wie den „klient_innenzentrierten Ansatz“.

Menschen mit DIS, also i. d. R. frühkindlich komplex traumatisierte Menschen, benötigen diesen Ansatz in jedem Kontext von Hilfe, Begleitung, Betreuung, Unterstützung, Assistenz insofern als dass ihre Fähig- und Fertigkeiten der Ausgangspunkt sein müssen.
Viele Menschen mit DIS haben ein enorm uneinheitliches und sich zuweilen auch (scheinbar) widersprechendes Fähig- und Fertigkeitenprofil. Die gleiche Person, die nach einer Meinungsverschiedenheit über Kaffee einen emotionalen Zusammenbruch erlebt, bei dem sie das Verhältnis aufkündigt, alle Absprachen fahren lässt und sich dann verletzt, weil sie sich fühlt, als hätte sie niemanden auf der Welt und ihr Leben so nicht aushalten kann – die gleiche Person kann keine 10 Minuten später zur Schule/Arbeit gehen und Leistung bringen. Kann andere Menschen versorgen. Kann der Mittelpunkt einer Party sein. Und beides ist gleichzeitig wahr.
Allerdings aufgrund unterschiedlicher Funktionsmodi.

Ein Konflikt mit anderen Menschen aktiviert das Bindungssystem. Schule oder Arbeit kann das Kampf- oder Fluchtsystem aktivieren. Dass die Person also auch direkt nach dem absoluten Crash zur Arbeit geht oder etwas tut, von dem sie unter anderen Umständen sagen würde, dass sie es nicht kann, bedeutet nicht, dass die Person „nicht weiß, was in ihr steckt“ oder lügt oder „es sich in der Krankenrolle bequem macht“. Sondern, dass sie es im mittleren Erregungslevel nicht kann – aber wenn sie bzw. ihr Körper sich in Lebensgefahr wähnt schon.
„Klient_innenzentriert“ zu begleiten würde in so einem Moment also bedeuten, dass man (gemeinsam) registriert, wahr.nimmt, sammelt (und in der Traumatherapie bespricht) wann ein_e Klient_in etwas „geschafft hat“ und in welchem Modus. So lassen sich wertvolle Informationen darüber generieren, was wie viel Kraft kostet. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Menschen, die sich in Lebensgefahr wähnen, weit über sich hinaus wachsen. Es kann aber eine wichtige Erkenntnis für ein Helfer_in-Klient_in-Team sein, wie viele Aktivitäten, die für die Mehrheit der Menschen zum normalen, mittelschweren Alltag gehören, von der_m Klient_in nur dann überhaupt möglich werden, wenn sie_r sich bedroht fühlt bzw. in einer Schutzreaktion steckt. Also im Überlebensmodus ist.

Meiner Erfahrung nach kommt man als Team kaum anders auch an den Punkt zu akzeptieren, dass Todesangst und Überlebenskampf auch in der Begleitung ohne Täter_innenkontakt und Gewalt oder chronisch traumatisierende Lebensumstände relevante Alltagsbestandteile sind.
Die_r Klient_in braucht diese Akzeptanz, um die eigene innere Mechanik begreifen zu können, um von einer Traumatherapie, wie sie in Deutschland überwiegend durchgeführt und kassenfinanziert wird, profitieren zu können.
Die_r Helfer_in braucht diese Akzeptanz, um sich selbst aus der Dynamik von Bindungstraumareaktion herausnehmen zu können und die gleichzeitige Wahrheit von (scheinbar) widersprüchlichen Verhaltensweisen annehmen zu können.

Die Zusammenarbeit muss also zu einem gewissen Maß immer darin bestehen, ein gemeinsames Wissen darüber zu haben, worauf – also auf welche Fähig- und Fertigkeiten – sich sowohl Klient_in als auch Helfer_in beziehen, wenn Handlungsvorschläge, Lösungsideen oder Anforderungen besprochen werden.

Wenn „Bindungsschrei-Loops“ etwas sind, das immer wieder passiert, es ist etwa eine Möglichkeit, die_n Klient_in in eine Umgebung zu bringen, in der immer „Schrei-Beantwortung“ gewährleistet ist. Zukunftsfähiger und Selbstbestimmung wahrend ist es jedoch, die_n Klient_in dazu zu befähigen, sich selbst zu regulieren und damit in die Lage zu versetzen, die Antworten, die auf „den ersten Pieps vor dem ausgewachsenen Schrei“ kommen, zu verstehen.
Das wiederum erfordert einen durch und durch stabilen Lebensraum. Immer vorhersehbare, nachvollziehbare Prozesse. Kenntnis und Sicherheit über alle Handlungsmöglichkeiten bei Abweichung. Klare Zuständigkeiten über Aufgaben, die mit der Sicherung und Gestaltung des Kontaktes und der Lebensumstände zu tun haben. Verbindlichkeit und Verantwortungsübernahme zu jedem Zeitpunkt.
Und das, während die Strukturen sind, wie sie sind: ein permanenter Trigger an Bindungstraumata, weil sie voller Bedingungen stecken, die nie sicher und für immer auch erfüllt werden können. Die Hilfe, die man also mal gewährt bekommt, bekommt man nie für immer.
Sie dennoch anzunehmen, sich einzulassen und auf ihre Wirkung zu vertrauen, ist ein unfassbar großer Ver/Zutrauensvorschuss. Den muss ein Mensch aufbringen, der unter Umständen nie zuvor im Leben die Erfahrung gemacht hat, dass so etwas überhaupt im Ansatz eine gute Idee sein könnte.
Auch dieser Umstand kann als empfindlicher Triggerpunkt während jedes einzelnen Kontaktes berührt werden. Egal, wie lange die Betreuung/Begleitung/Hilfe schon läuft. Egal, wie gut das Verhältnis ist. Egal, was für tolle, liebe, nette Menschen, die Helfenden sind. Und auch egal, wie gut die Hilfe prinzipiell ist. Hat sie Bedingungen, ist sie nicht zweifellos sicher.

„Besser helfen“ ist also auch unter den strukturellen Gegebenheiten nur mit einer Abwärtsbewertung erreichbar: Besser als nichts – was wiederum zu vielen weiteren ungünstigen Folgeannahmen und Haltungen führen kann.
Dabei ist das wichtigste doch das Helfen – die antragende, kompensierende Zuwendung zu anderen Menschen – das, worum es geht. Die Möglichkeit, die Realität, dass da eben nicht nichts und niemand ist.

Am Anfang jedes Lebens steht der Kontakt.
Dann kommt der Austausch.
Dann die Entwicklung.

Jeden einzelnen dieser Schritte muss man als Mensch im übertragenen Sinn kennen und können lernen. Bei Menschen, die sicher gebunden aufgewachsen sind, hat diese Phase früher und anders eingesetzt als bei Menschen, die ohne diese Sicherheit groß wurden – aber die Möglichkeit zum Kontakt besteht immer und bringt immer Potenzial mit sich, diesen Lernprozess durchzumachen.
Und das ist, was Hilfe generell wichtig und wertvoll macht.
Der Kontakt.