Es gibt an meinem autistischen und komplex traumatisiertem Er.Leben etwas, das im Konfliktfall oft falsch verstanden oder eingeordnet wird:
Meine autistische Trägheit. Und meine traumabedingte (Angst)Starre.
Was beide gemeinsam haben, ist die relative Starre. Sie zeigt sich in allgemeiner Inflexibilität. Verlangsamter Anpassung an neue Umstände. Aber auch Schwierigkeiten dabei, Neubewertungen vorzunehmen und Verhalten entsprechend zu ändern. „Relativ“, weil die Umstände und Hintergründe eine große Rolle dabei spielen, in welchem Umfang und in Bezug worauf die Starre besteht. Ob sie eine Funktion hat oder nicht.
Meine Angststarre hat immer eine Funktion und mehr oder weniger definierte Auslöser. In der Podcastepisode „Viele-Sein“ 99 mit Felice über Innenkinder kann ich das gut an meinen Aussagen zeigen. Dort erkläre ich, dass meine phobische Vermeidung einen direkten Zusammenhang mit der Wahrnehmung von (früher kindlichen) Grundbedürfnissen hat. Die Logik, in der meine phobische Vermeidung passiert, ist der absolute Klassiker: Es war früher ein lebensbedrohliches Problem, Grundbedürfnisse auszudrücken und um den Bezug zum Umfeld, das man nicht kontrollieren kann, zu erhalten, kontrolliert man sich selbst und erklärt es zum Problem überhaupt Grundbedürfnisse zu haben. Da man als Mensch nicht ohne Grundbedürfnisse existieren kann, unterdrückt und verleugnet man sie und damit das auf Dauer nicht übermäßig viel Kraft kostet und immer wieder neu erforderlich wird, vermeidet man alles, was damit zu tun hat. Man „vergisst“ es einfach.
Das waren unbewusste Entscheidungen, getroffen in Momenten, in denen es um den Lebenserhalt ging. Sie sind in gewisser Weise so steif und starr in mir drin verankert, wie es mein Kinderkörper in der Situation war. Die gleiche Energie, die bei einer anderen Stressreaktion in Todesangst zu großer Kraft für Flucht oder Kampf geführt hätte, hat bei mir zu innerer Aufteilung, Abgrenzung, Dissoziation geführt. Meine Angst ist praktisch, was diese innere Struktur zusammenhält und entsprechend immer funktional erforderlich. Fange ich an, daran rumzuwackeln oder etwas aufzulösen – meine Ängste zu reflektieren, auf ihren Nutzen heute zu prüfen und wenn möglich abzulegen, verändert sich diese innere Struktur natürlich. Die Starre lässt nach. Es kommt zu Verbindungen, die vorher nicht möglich waren. Mit diesen Verbindungen kommen neue Selbst- und Umwelterfahrungen. Die führen zu neuen Bewertungen des Selbst- und Um.Weltbildes. Und diese führen zu Impulsen, die die Gestaltung des Lebens insgesamt betrifft.
Dieser Prozess – dieses Auflösen und mit den Folgen klarkommen – erfordert eine sichere Umgebung. Sichere Begleitung. Versicherung über Bezug, Hier und Jetzt, Möglichkeiten und Grenzen. Praktisch das Gegenteil von dem, was früher da war. Ist es nicht sicher, passiert da auch nichts. Punkt.
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Meine autistische Trägheit hingegen geht mit einer relativen Starre in Bezug auf sich selbst einher. Das führt dazu, dass sie primär für den Selbster.halt im Zusammenspiel mit der direkten Umgebung funktioniert. Da geht es darum, dass ich überhaupt mit der Umwelt interagieren (kommunizieren) kann und weiß worum es geht, wer was sagt; ich mich selbst in Bezug setzen kann. Diese Starre verändert sich nicht durch psychische Vorgänge oder soziale Umstände, sondern die Ressourcen, die für die kognitive Verarbeitung bereitgestellt werden können.
Im Gespräch mit meiner ADHS-Freundin, die ihre inneren Prozesse und Gedanken mal mit vielen Zügen, die gleichzeitig nach autonomen Plänen fahren und sich gegenseitig ständig verändernde Gleise streitig machen, verglich, kam ich zu dem Bild von meinem Gedankenzug und mir.
Ich habe nämlich genau einen Zug und ein Gleis. Die anzufahrenden Ziele liegen jedoch nie in einer geraden Linie. Es wäre effizienter, flexibler, schneller, bedarfsgerechter für sämtliche Abläufe, mehrere Gleise und mehrere Züge zu kontrollieren. Ich habe aber nur einen Zug und ein Gleis zur Verfügung. Ich kann mir mehr wünschen. Kann Fähigkeiten erlernen, mehr zu bedienen. Kann so tun, als ob da mehr Züge und Gleise wären. An der Realität verändert das aber nichts.
Viele meiner nicht autistischen Mitmenschen übersetzen sich diese Konstitution mit „Scheuklappen aufhaben“, „Tunnelblick“, „(extremer) Fokus/(extremes) Ausblenden“, „Dissoziation“, „Konsequenz“, „Zwanghaftigkeit“, „Sturheit“, „Uneinsichtigkeit“, „Verbissenheit“, „eigensinnig“, „rechthaberisch“, „kompromisslos“, „dogmatisch“, „spitzfindig“, „aggressiv“, „unerbittlich“, „streng“, „tyrannisch“.
Die meisten Konflikte, die ich mit anderen Menschen habe, kommen am Ende auf diese Eigenschaft und ihre überwiegend negative Konnotation bzw. bedingte Einordnung zurück. Wer sich mit mir streitet und meine autistische Trägheit nicht versteht, denkt in der Regel, dass ich Recht haben will. Nicht zuhören. Keine Kompromisse finden. Meine Meinung durchsetzen. Keine Rücksicht nehmen wollen. Unangenehme Wahrheiten nicht annehmen. Oder auch, dass ich meine Ziele und Wünsche wichtiger, wertvoller, relevanter finde als die (Gefühle) von anderen Menschen.
Für mich sind Konflikte – ich bleibe mal bei dem Bild mit dem Zug – plötzlich hinzukommende Haltestellen, die nicht nur erfordern, dass ich sie anfahre, sondern, dass ich vorher noch bestimmte andere Haltestellen anfahre, dort ganz bestimmte Fahrgäste (Informationen) aufnehme, mit ihnen spreche (die Informationen richtig aufnehme und verstehe) und zum richtigen Zeitpunkt an eben jene neu hinzugekommene Haltestelle bringe – wo sie einen ebenfalls von mir gestellten Anschlusszug bekommen müssen.
Ich habe aber nur einen Zug. Ein Gleis. Und sehr viele für mich unvorhersehbare „plötzlich einfach da-Haltestellen“, die sehr viele special wichtige Fahrgäste erwarten. Meine alltägliche Trägheit (nur langsam oder sehr angestrengt aufgelöste Starre) und die entsprechende Unflexibilität erhöht meine Chancen auf unvorhersehbare Anforderungen überhaupt reagieren zu können und garantiert mir in gewissem Umfang ein grundsätzliches Verständnis und Möglichkeiten des Überblicks. Das sind die im ICD 10 beschriebenen „anhaltend eingeschränkte, sich wiederholende und unflexible Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (…)“.
Im Bild mit dem Zug ausgedrückt: Ich habe einen Fahrplan, der zwingend bestehen muss, weil der Zug sonst niemanden mehr aufnehmen oder gezielt irgendwo hinbringen kann. Verlasse ich die übliche Strecke, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ich den Überblick verliere. Mir Informationen zur Beurteilung einer Situation fehlen. Ich falsch oder verletzend für andere Menschen priorisiere. Meine Grundversorgung nicht mehr gewährleistet ist. Mein Bezug zu mir selbst verloren geht. Ich mich als Quant erlebe, wie ich es im letzten Blogtext beschrieb.
Das heißt nicht, dass ich wirklich niemals von meinem Fahrplan abweiche. Als Kind in einer Gewaltfamilie und später Empfänger_in von Hilfe(dienst)leistungen konnte ich mir das überhaupt nicht leisten. Ich musste mein Grundbedürfnis nach Sicherheit (durch Überblick durch Verstehen der Situation) dissoziieren, um nicht (das Empfinden zu haben, in Gefahr zu sein und) zu sterben.
Ich musste lernen, fraglos, klaglos ohne jedes Belastungsgefühl hinzunehmen, dass ich den Großteil meines Lebens mit all seinen Vorgängen und Geschehnissen einfach nicht verstehe oder ihren Bezug zu mir nicht durchdringe. Und dass die Menschen in meiner Umgebung immer wieder (emotional aufgeladene, lebensbedrohliche, emotional vernichtende, demütigende) „Rückmeldung“ dazu geben.
Ich habe mein Nichtverstehen maskiert. Ich habe meine Verwirrung versteckt, habe meine Mustererkennungsfähigkeiten trainiert und die unbeworteten Skripte meiner Umgebung herausgearbeitet. Wer sagt wann was, wer macht wann was, wie muss ich X in Situation A, B, C machen … Der Rest ist copy und paste mit besserer Trefferquote, je älter ich wurde.
Ich arbeite bis heute damit. Dieses Vorgehen, das ich für mich als „letzte Rettungs-Fahrplan“ bezeichne, habe ich nie verändert. Obwohl ich weiß und immer wieder merke, dass es im Kontakt mit anderen Menschen der ungünstigte Fahrplan ist.
Darin fehlt es praktisch nie an Information und Reaktionszeit, aber praktisch immer an Emotion und Beziehungsperformance. Übersetzt in das Bild mit dem Zug: Mit diesem Fahrplan kriege ich nur bestimmte Fahrgäste rein – an der Zielhaltestelle braucht es aber alle für diese Haltestelle relevanten Fahrgäste.
Entsprechend groß ist die Unzufriedenheit anderer Menschen in so einer Situation mit mir. Sie sind nicht froh, dass ich überhaupt komme – ich meinen Fahrplan extra für sie von „meine basale Grundversorgung“ zu „letzte Rettung“ umgestellt habe. Sie sind pissed, weil sie annehmen, ich wäre emotional kalt und auf meinen eigenen Vorteil aus. Und verhalten sich mir gegenüber entsprechend.
Und da beginnt die Mischung, die es schwierig macht, mein Verhalten und seine Ursachen richtig einzuordnen.
Meine „Fahrplanänderung“ führt dazu, dass ich nicht grundversorgt bin und in meinem Bezug zu mir selbst bereits weniger stabil bin, als es ein Konflikt eigentlich erfordert. Denn sie hat enorme Energie gekostet. Physik-Grundkurs: Trägheit zu überwinden, kostet Kraft.
Diese erforderliche Kraft ziehe ich aus der Todesangst, die sich durch den Traumatrigger „zwischenmenschliche (Konflikt)Situation“ ergibt.
Auf eine Art bedingt meine Angst in dem Moment, dass ich annehme, ich müsse jetzt ganz zwingend und auf jeden Fall meinen „letzte Rettung-Fahrplan“ einstellen. Geht ja schließlich um alles. Angst bedingt einen starren Tunnelblick.
Allerdings habe ich, selbst wenn ich nicht in Todesangst bin, als Reaktionsmöglichkeit für besondere Vorkommnisse/Abweichungen im Alltag keinen anderen Fahrplan. Selbst wenn ich wollte. Ganz doll motiviert bin. Ganz eindeutig sehe: Jetzt wäre es besser, mehr Züge und Gleise zu haben.
Ich hab sie nicht. Sie sind mir einfach nicht gegeben und weder äußere Notwendigkeit noch innere Motivation, emotionale Situierheit oder psychische Konstruktion stellen sie für mich her.
Was ich kann und mache ist, mich diesbezüglich mitzuteilen.
Ich demaskiere mich. Lege dar, dass mir Informationen fehlen, indem ich vermittle, was ich wie verstehe und was nicht. Lebe damit, dass man mich nicht (mehr) für einigermaßen clever hält. Vor allem, wenn sich zeigt, dass das, was ich nicht verstehe, für andere so klar ist, dass sie es manchmal nicht sofort benennen oder erklären können.
Ich lasse mich außerdem von anderen in Konfliktfragen beraten, frage nach ihrer Sicht darauf und gleiche sie mit meiner ab. Diese Gespräche helfen mir, den Konflikt weniger als plötzlich über mich hereinbrechendes Ereignis zu erleben, das mich wie in traumatischen Situationen isoliert und wortlos (also wehrlos) machen könnte.
Und ich übe mich darin, die Angst zu beruhigen, die bei mir aufkommt, wenn ich merke, dass man von mir erwartet, schneller zu sein als ich bin, wenn ich keine Todesangst habe. Sondern versorgt. Mir meiner selbst bewusst. Im Überblick darüber, was ich tue, wo ich bin, warum ich was tue, möchte, brauche will. Weil ich meinen ganz eigenen – ja, total unflexiblen, rigiden und für andere widersinnigen – Routinenfahrplan verfolge. In meinem Zug auf meinem Gleis.
Nicht, weil der wichtiger ist. Besser. Relevanter. Sondern, weil das der Plan ist, den ich ohne Komplextrauma, ohne die Gewalt an mir, schon immer hätte abfahren können. Meine autistische Trägheit, meine Ein-Zug-ein-Gleis-igkeit war und ist immer nur dann ein echtes Problem, wenn man sie für etwas hält, das ich mir antrainiert habe, wie meine posttraumatische Angstkompensation. Wenn man von mir erwartet, dass ich diese Funktionsart verändern kann, wenn ich nur wollte oder die passenden Umstände erlebe.
Wenn mein Gegenüber sich nicht die Mühe macht, die Unterschiede der Starre an.zu.erkennen und zu akzeptieren, so wie ich sie selbst anerkennen und akzeptieren muss.