die andere Seite

Die eine Seite von Trauma ist leicht erkennbar. Nachvollziehbar. Da ist Schmerz, Blut, Tränen und Spucke. Da ist es laut und viel.
Die andere Seite ist einfach nicht.
Sie stehen sich nicht gegenüber, ergänzen einander aber auch nicht zwingend.

Manchmal denke ich, ich könnte alles, was gerade ist, auf ein großes Blatt malen. Wie eine Landkarte oder eines dieser Riesengemälde im Louvre. Doch dann gerate ich in Zustände, die einfach nichts sind. Weil ich nichts und niemand mehr bin. Oder – genauer gesagt – mir in nichts über mich sicher fühle. Und es mir gleichermaßen egal, wie zutiefst Angst machend ist.

Es ist sehr lange her, dass ich mich so grundlegend im Konflikt an so vielen Stellen im Leben fühle. Da sind Freund_innen, die mich massiv überfordern, nerven, verletzen, ärgern – zu denen ich aber nie zuvor solche Gefühle und Gedanken hatte. Da sind Ansprüche an mich selbst nicht mehr nur bloße Ideen, sondern so massiv in mich hineingepresster Druck, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes funktionsunfähig werde. Selbstbilder, die giddelig und staubig im Müll landen würden, wären sie echte Porträts, kleben jetzt untrennbar auf der Netzhaut meiner inneren Augen.
Immer wieder fühle ich mich so ohnmächtig und hilflos, weil ich nicht mehr unterscheiden kann, was reaktiver Traumashit ist und was hier-heute-jetzt-real, berechtigt und stabil verlässlich ist.

Das ist, was ich immer vermeide. Exakt dieses Momentum von Selbstverlust und Ohnmacht vor dem, was diese so viel weniger offensichtliche Seite des Traumas auslöst.
Das ist, was emotionale bzw. psychische Gewalt mit sich bringt. Man weiß einfach nicht mehr, was stimmt. Egal, wie viel man worüber weiß. Man hat keine Möglichkeit noch irgendwo Sicherheiten für sich zu generieren – außer in der Isolation. Der Abtrennung. Dem Nachgeben in dem, was Gewalt letztlich immer von einem Menschen will: Distanz, Vereinzelung, Fragmentierung, Vernichtung.

Ich kann diese Energie in mir zuordnen und weiß, dass es sich um Täter_innenintrojekte handelt. Weiß, dass die Gefühle, die mich immer wieder überschwemmen, von täterloyalen und traumanahen Anteilen kommen. Doch mein Wissen darum ist momentan nichts weiter als Treibgut, an dem ich mich so lange festhalten kann, bis es mir wieder aus der Hand geschleudert wird und an Relevanz verliert. Die Intellektualisierung solcher Zustände kann mir nur solange Sicherheit geben, wie ich keine andere Funktion ausführen muss.

Vielesein stellen sich manche an der Stelle so eindeutig vor. Hier sind die Bösen, da sind die Belasteten und da vorne ist Hannah, die muss jetzt nur hinkriegen, das zu kapieren und naja, dann wird das schon.
Tatsächlich ist aber eher so, dass Hier, Da und Vorne keine Bedeutung mehr haben. Die Bösen nichts kapieren, die Belasteten nicht mal einen Begriff von Zeit haben und Hannah sich maßlos erbärmlich und dämlich vorkommt, weil diesen Zustand zu beschreiben lediglich eine abstrakte Zeug_innenschaft nach Außen produziert – aber keine Entlastung, Befreiung, Veränderung auslöst.

Ich will dennoch nicht, nichts gesagt haben. Ich will nicht spurlos in diesem Wust verschwinden. Will nicht annehmen, dass ich hätte mehr anders besser sein werden machen können. Weder jetzt noch später. Ich habe nur noch diesen Willen als ich-kongruentes Erleben. Diese 5 % von mir sind die 100 %, die ich geben kann. Das will ich nicht vergessen.
Es gab schon so viele andere Phasen, in denen das gereicht hat. Manchmal weil es reichen musste, manchmal, weil es mehr nicht brauchte. Es gibt auch von diesen Phasen eine andere Seite.

die Fragen und die Antworten

„When I thought I know the answers, they changed the questions.“ Das stand auf einer Karte, die mir eine Therapeutin geschenkt hat. Da war ich fast 18 und hatte außer der Nische im Doppelzimmer der Ballerburg keinerlei Bezugspunkte. Ich reagierte beliebig, verstand nicht, wieso sie diese Karte angemessen fand, wusste nicht, was sie mir damit sagen will. War mir allerdings sehr sicher darüber, dass sie mich weder aufheiterte noch bei etwas half. In dem Zusammenhang war die Karte vielleicht eine Manifestation dessen, was dieser therapeutische Kontakt letztlich war: Unnütz, zynisch, pseudo-nah.

Neulich dachte ich wieder an die Karte.
Es gab eine außerordentlich großzügige Spende für „Viele Leben“, meine Podcastinterviewreihe, in der ich mit Vielen spreche, die ein besonderes Thema haben. Weil ich für meine Arbeit daran bezahlt werden möchte, produziere ich immer erst dann eine Ausgabe, wenn sie finanziert ist. Die Interviews mache ich, wenn ich kann. Ich bin sehr frei in dieser Arbeit und froh, dass weder Zeitdruck noch die Ansprüche Dritter definierende Größen sind.
Doch ich denke auch über Sympathie nach und darüber, ob es nicht besser für das Projekt wäre, würde ich einfach nur im Hintergrund rummachen und jemand anderes stellt es nach außen dar. Oder wenn ich statt eines Podcasts ein Buch daraus mache. Oder wenn ich es ganz lasse.

Ich dachte an diese dusslige Karte, weil mir auffiel, dass ich selbst die Fragen ändere, sobald ich Antworten habe. Und schlimmer noch: Wenn es die richtigen Antworten sind.

In meiner inneren Traumalogik kann es nicht sein, dass ich etwas richtig mache. Oder wenigstens prinzipiell richtig. Sobald ich etwas mache und nichts Schlimmes passiert, stimmt was nicht. Und wenn mir nicht selbst auffällt, was nicht stimmt, dann fange ich an danach zu suchen. Und immer immer immer finde ich mich selber. Ich stimme nicht. Ich bin der Fehler in dem Ganzen. Nicht [beliebiges Attribut einfügen] genug. Nie. Punktum.

Dinge machen, ist gruselig.
Ich weiß das und mache sie in der Regel trotzdem. Manche Menschen finden das gut, den meisten ist es egal. Es ist für mich selbst ein riesen Ding, denn es gibt dieses „trotzdem“. Ich mache die Dinge nicht einfach, sondern mache sie trotzdem. So sind es immer zwei Dinge, die ich da mache.
Wenn man etwas trotzdem macht, dann muss man die ganze Zeit gleichzeitig gegen die eigene Vermeidung, den eigenen Selbsterhaltungstrieb ankämpfen. Man muss ihn niederdrücken, weil man sonst keine Dinge machen kann. Wenn mir das leicht fällt, bedeutet es in meinem Fall immer, dass ich umfassend dissoziiere, während ich es mache. Ich mache die Dinge wie und als jemand, die_r dieses „trotzdem“ nicht mitmacht. Ich mache meine Anstrengungen als Einsmensch für mich selbst unsichtbar, unspürbar, pseudo-weg. Wann immer etwas unsichtbar wird, verliert es Relevanz. Bietet keinen Anlass mehr beachtet und geprüft zu werden. Ich vernachlässige also etwas, das eigentlich von großer Relevanz für mein Überleben ist und das ist dann doch einigermaßen ungünstig. Also, wenn man leben möchte.

„Viele Leben“ habe ich angefangen, weil ich die Realitätsbezüge in der Außendarstellung von Menschen, die sich als Viele erleben, vermisse. Meine Frage ist: „Welche Leben(sthemen) haben Menschen mit (p)DIS?“
und nicht „Wie sollten die Lebensthemen von Menschen mit (p)DIS rübergebracht werden?“. Ich hatte mir sogar eine Antwort dazu überlegt, warum ich mich auf die Inhalte konzentriere und weniger auf die massengerechte Darreichung. – Ich bin einfach kein super sympathisches Massenmäuschen. Ich bin ein Sachstandsmonolith – und das ist okay so.
Ich hatte also nicht nur Antworten auf meine eigenen Fragen, sondern auch noch Antworten, die anerkennend und wertschätzend mir selbst gegenüber waren.

Da arbeite ich mich jetzt wieder hin.
Und im September gibts die 4. Ausgabe „Viele Leben“.

wollen und können

Raus aus der Therapie zieht es mich wieder zurück in den Wattehelm auf meinem Kopf. Es ist warm, die Innenstadt wird von Urlauber_innen durchblutet. Ich prüfe die Zugverbindungen nach Hause und mein Kraftlevel. Es ist niedrig und hoch gleichzeitig. Ich weiß es also im Grunde nicht und damit genug, um mir ein ICE-Ticket zu kaufen. Spontane Abklappung in Wunstorf oder an irgendeinem anderen Stück Arsch der Heide, ist heute definitiv nicht drin.

Der Lärm umgibt mich als Ganzes. Der Bahnhof ist so laut wie meine Gedanken, die Gleichzeitigkeit von allem wirrt mich in viele Fäden. Ich warte. Irgendwann zentriert sich meine Aufmerksamkeit auf meine Füße. Der eine steht schief, der andere eingequetscht zwischen Geländer und Boden. Ich klappere mein Fürsorgeprotokoll ab. Trinke was, denke darüber nach, ob ich noch etwas essen kann, das ich nicht in meine App eintragen kann, weil ich keine Kalorienangaben dazu habe. Schalte meine Kopfhörer ein, spüre dem dichten Wattebauschen nach.
Ich will nach Hause. Ich will Sookie. Ich will alleine sein. Ich will nicht sterben. Ich will nicht. Ich will. Ich will nicht alleine sein. Ich will nach Hause. Ich will Sookie. Ich will alleine sein. Ich will nicht sterben. Ich will nicht. Ich will. Ich will nicht alleine sein.

Als der Zug einfährt, kommt die verdrängte Luft wie eine Wand auf mich zu. Es wird aus- und eingestiegen, ich spüre der Luftwand auf meiner Haut nach. Wenn alles klappt, bin ich früh zu Hause und habe viel Freizeit. Ich könnte mit Bubi los und jemanden anrufen. Aber hat überhaupt jemand Lust auf Zeit mit mir? In den letzten Wochen waren alle Freund_innen in mehr oder weniger großen Krisen. Niemand hatte Zeit und wer Zeit hatte, musste sich erholen. Zeit mit mir ist wahrscheinlich nicht erholsam. Ich merke, wie jemand meinen Rucksack prüft. Ob einfach weggehen eine Option sein könnte. Genau jetzt. Einfach in dem Zug sitzen bleiben und dann in den nächst besten Umsteigen und dann in den nächsten. Und weg sein. Wen würde das schon stören.
„J.“, antworte ich, „unseren Ehemann und Partner.“ – „Also würde es dich stören.“ – „Vermutlich.“

Im Abteil ist es kalt und dunkel. Ich hole mein Tablet hervor und beginne zu arbeiten. Das Rauschen ebbt ab. Mein Körpergefühl dämpft sich runter. Irgendwann bleiben wir stehen, weil vor uns ein Zugunfall passiert ist. Wir werden umgeleitet. Alles läuft routiniert ab. Keiner der Reisenden hat mit einer reibungslosen Fahrt gerechnet, die Bahnmitarbeiter_innen haben Übung. Ich arbeite weiter, freue mich über diese Extrazeit im Kühlen.
Der Zug macht einen Umweg über meine Endhaltestelle zum Richtungswechsel. Ich bin 20 Minuten früher als geplant da. Das Glück, das mir am Montag bei der Fahrschulprüfung gefehlt hat, habe ich also heute. Schön.

Als mich die Hitze überall anfasst, beginnt auch das Rauschen in mir drin wieder. Mein Rucksack piekst mir in die Schultern, die Schuhe reiben über meine Fußoberseiten. Die Kopfhörer pressen mein Gesicht auf den Knochen, das T-Shirt schabt über meinen Bauch. Das Piepen des Parkscheinautomaten ist mir noch durch das Noise Cancelling zu laut.
Ich will nach Hause und im Dunkeln liegen. Und arbeiten. Und mit Freund_innen reden. Und Sookie anfassen. Und mich besser fühlen als jetzt.

Zu Hause ist niemand. Als ich ankomme, ist es still und dunkel im Haus. Ich könnte arbeiten. Könnte wen anrufen. Könnte mich hinlegen. Könnte was essen. Am Ende sitze ich in der Küche und warte auf das Ende vom Schmerz am Leben zu sein.

Skill Regression

Das klingt wie ein langsamer Prozess. Jeden Tag ein bisschen weniger Skill. Tatsächlich aber ist es jeden Tag ein weiterer Skill, eine weitere Fähig- oder Fertigkeit, die ich nicht mehr zuverlässig abrufen kann. Die mich einfach verlässt und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, wiederkommt.

Dazu gehören sichtbare Dinge – ich fahre im Moment so Auto, als hätte ich erst eine Fahrstunde gehabt – die sich aus dem Verschwinden unsichtbarer Dinge ergeben – ich komme mit der Reizverarbeitung nicht hinterher. Kann meine sozialen und meine Verhaltens-Skripte weder schnell genug aussuchen, noch prüfen, noch sicher mit der aktuellen Kommunikation und Situation in Einklang bringen.
Ich bin im Moment überwiegend wieder auf dem Stand der selbstleeren Reflexantworten aus der allgemeinen Satzbausteinkiste, sobald ein bislang nicht näher definierter Punkt überschritten ist. Und wann der überschritten ist, entscheidet der Punkt von sich aus.
Wieder prozessiere ich die Situationen und Gespräche des Tages mit stundenlanger, manchmal tagelanger Verspätung.

Ich kann keine Probleme lösen, weil ich die geistige Zusammenstellung der dazugehörenden Komponenten und Möglichkeiten nicht hinbekomme. Stellt mir jemand eine Wie-Frage, leert sich mein Denken, statt dass sich das für mich eher übliche Gedankengebäude aufbaut, in dem ich mich sonst bewege. Je nach Dringlichkeit der Frage breitet sich die Leere bis ins Sprechenkönnen aus und ich komme nicht einmal mehr an meine Phrasenkiste heran. Da ist einfach nichts mehr.

Skill Regression kenne ich bisher nur aus massiven depressiven Episoden.
So empfinde ich mich aber gerade nicht. Ich fühle mich nicht erschöpft und auch nicht depressiv.
Eher verwirrt und ängstlich. Isoliert auch. Mir ist oft langweilig, aber meine offenen Arbeiten sind zu schwer.

Mein Auto ist schon seit Wochen in der Werkstatt. Schwimmen oder ausgedehnte Spaziergänge sind entsprechend abhängig davon, wie ich das Angebot meines Partners mich immer zu fahren, in Einklang bringen kann mit seinem Wunsch nach Ausschlafen und nicht lange auf ich warten müssen. Das ist eine Wie-Frage. Ich schaffe es nicht, sie zu lösen. Mein Partner gibt mir keine Vorgaben, um meine Freiheit nicht einzugrenzen. Also passiert gar nichts. Die Häute in unserem Haushalt sind zu dünn für Streit darüber, wie belastend Strukturlosigkeit für mich ist. Und jedem Streit folgt eine Wie-Frage.

Ich würde gern den Begleitermenschen kontaktieren. Aber mit dem bin ich im Konflikt, weil wir immer nur Kontakt haben, wenn es mir schlecht geht und es sich zunehmend, wie ein Mitleidskontakt anfühlt. Auch wenn er vielleicht keins empfindet. Für mich entsteht dennoch die immer empfangende Rolle und die möchte ich nicht haben.
Jetzt wäre es gut, wenn ich einfach nur empfangen müsste. Aber es würde auch diese Rolle stärken.
Wie-Frage von the horizon, also passiert gar nichts.

Ich versuche mich selber damit zu trösten, dass es noch nicht so schlimm ist, dass ich nicht ständig nach außen so zerfalle, wie ich es innerlich bin. Als die neue Fahrlehrerin zum Beispiel dachte, es wäre eine gute Idee mich mit einem anderen Auto als sonst üben zu lassen. Als die neue Fahrlehrerin in dem neuen Auto passiv-aggressiv auf ihre Enttäuschung über mein schlechtes Fahren reagierte. Als ich in der Fahrstunde eine Panikattacke bekam, weil ich tatsächlich schon vor mir sah, dass sie mir wehtun würde. Als mein Partner nach dieser Fahrstunde sagte, ich sollte es abhaken. Als ich nach Hause kam und Sookie tatsächlich immer noch tot war.

Es ist ein Trost, von dem ich weiß, dass er mich nicht wirklich tröstet, sondern nur versichert.
Aber hey – wenigstens das?

Prozess

Der Lauf der Dinge.
Eine Bewegung. Prozess aus Prozessen für Prozesse, mit bei an in und um Prozesse herum. Ich könnte ihn „das Leben“ nennen, doch dieses Wort erscheint mir oft zu aufgeladen. Das Leben geht weiter – der Lauf der Dinge mäandert und hat das Leben in sich. Er wandelt, schlängelt, drückt, zieht, trägt, hält, wiegt, entwickelt und vergeht. Und mehr. Es ist immer mehr.

Als wir uns für das Leben entschieden, entschieden wir uns auch für die Hingabe zum Lauf der Dinge. Ich finde oft Trost in der Vorstellung, dass meine Existenz wie eine kleine Luftblase in diesem großen, universellen Strom fließt. Egal, wie einsam ich mich fühle – ich weiß, dass ich ins Universum gehöre. In die große weltliche Gemeinschaft all dessen, was lebt.
Aber Sookie lebt jetzt nicht mehr. Ihre Reise im großen Strom hat sie an einen Punkt getragen, den ich noch nicht erreicht habe – obwohl wir beide einander so nah waren. Ab jetzt ist nichts von dem, womit ich mich in der Welt bewege, womit ich sie erfahre und einschätze, anwendbar, wenn es um Sookie geht. Und das verunsichert mich.

In den letzten Wochen hatte ich oft Gedanken und Fragen, die nicht sicher zu beantworten sind. So etwas ist für mich immer sehr ungünstig, weil ich nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Nach einem Weg für eine Antwort zu suchen. Über mögliche Lösungen aus den Konflikten, die dabei entstehen, auszusteigen oder sie zu befrieden.
Und jeden Tag gibt es Dinge, die ich zum ersten Mal ohne Sookie mache. Jeden Tag werde ich daran erinnert, dass ich diese Fragen noch nicht sicher beantwortet habe. Weil sie nicht zu beantworten sind. Jeden Moment bewege ich mich in einem Zweig des Laufs der Dinge, der ganz grundsätzlich neu ist. Fremd. Verunsichernd. Während alles unbeirrt weiterströmt, weil auch dieser Prozess, der gerade mit mir passiert, dazugehört.

Ich bringe gerade viel Kraft dafür auf, in dieser meiner Transformation niemanden zu stören. Die Menschen, mit denen ich heute überwiegend zu tun habe, kennen mich nicht ohne den Boden unter den Füßen, den Sookies Anwesenheit mir gegeben hat. Sie sollen nicht merken, wie viel größer, wie viel unsicherer, wie viel anstrengender jeder meiner Schritte jetzt ist. Sie sollen nicht wissen, dass ich sie nicht als meinen Boden, meine erste feste Basis im Leben empfinde, sondern eher wie günstig liegende Trittsteine. Haltestangen. Lose Taue, deren Enden mich unvorhergesehen streifen und aus schierem Glück in der Lage sind, mich dann und wann in Kontakt zu bringen.

Ich versuche mich nicht mit Arbeit zu betäuben. Und auch nicht mit dem ständigen Input aus Podcasts, wissenschaftlichen Artikeln und Instagram-Reels, der mich üblicherweise im Kontakttraining hält. Das fällt mir im Moment sogar ganz leicht, denn es gibt gerade nicht viel, das hängenbleibt, umfassend verarbeitet wird oder mich mit dem Gefühl von tieferem Sinn erfüllt.
Ich bin sehr verlangsamt in der Reizverarbeitung, muss länger als sonst darüber nachdenken, wie ich fühle oder welche Gedanken ich in bestimmten Situationen hatte. Sehr ungünstig in einer Fahrschulstunde. Problematisch für eine Partnerschaft. Unpraktisch in der ersten Woche am neuen Arbeitsplatz. Nachteilig für Gruppenprojekte, den Podcast, meine Ehrenämter. Gefährlich für meinen Schutzmantel aus So-tun-als-ob.

 

der Meltdown in der Fahrstunde

„Eine schwierige Seite von Selbsterkenntnis ist, dass sie nicht alle teilen. Nur weil man selbst etwas über sich verstanden hat, haben das nicht auch alle anderen.“ Mit diesem Gedanken verließ ich die Schwimmhalle und lief zum Auto. Darin hatte ich anderthalb Stunden zuvor mit meiner Therapeutin telefoniert, nachdem ich meinen ersten öffentlichen Meltdown seit 2016 hatte. Während meiner vorletzten Fahrschulstunde vor der Prüfung.

*

Es ist schwierig offen damit zu sein, dass ich „so etwas“ habe. Meltdowns. Oder, wie es andere Menschen nennen: Ausraster. Nervenzusammenbrüche. Durchdrehen. Keine Beherrschung über mich. Es gibt viele Aspekte in meinem Leben, in denen Kontrollverlust eine Rolle spielt und jeder davon ist belegt mit Scham und einer sich darunter kristallisierenden Schicht Selbsthass.

Ein Meltdown ist scheiße. Es ist scheiße für alle um mich herum, wenn er passiert, weil er passiert – nicht wegen all der Dinge, die dazu führen, dass er passiert. Die sind nämlich immer mein Problem. Mein ganz persönliches, mein hochindividuelles Problem. So wird es mir jedenfalls oft von den direkt Betroffenen gerahmt. Klar, die hatten ja Angst. Vor mir. Vor dem Unbekannten. Die waren ja überfordert. Mit mir. Dem Unbekannten. Den Konsequenzen. Den unbekannten. Sie erleben sich nicht als Teil der Umstände, die zum Meltdown geführt haben, warum sollten sie also annehmen, sie hätten etwas damit zu tun?

Im schlimmsten Fall wollten sie mir nichts Böses, wollten nur helfen. Das ist für mich wirklich der allerschlimmste aller Fälle. Denn Menschen, die aus guten Absichten heraus handeln, können manchmal nicht annehmen, dass ihre Handlung vielleicht nicht gut ist.
Menschen können ihre guten Absichten nur mit viel Nähe vermitteln. Man muss einander sehr nahe stehen, um sich gegenseitig so wahrzunehmen und zu erleben, dass die Absichten eine relevante Rolle spielen. Menschen, die davon ausgehen, dass ich erkennen könnte, wie gut sie mir gegenüber eingestellt sind, gehen auch von dieser Nähe aus. Dieser gegenseitigen Perspektive, diesem gegenseitigen Verstehen. So nah komme ich Menschen in der Regel aber nicht, denn es kostet mich enorm viel Kraft. Die ich auch nicht lange aufbringen und halten kann. Die Absichten anderer Menschen werden dadurch zu Anmerkungen zur Übersetzung – nicht zum Rahmen der Grundhandlung, bildlich gesagt. Eine Lebensrealität, die die meisten Menschen einfach nicht teilen. Nicht verstehen.

Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich der einzige Mensch, der sich diese Annahmen aktiv denkt, aktiv im Bewusstsein hält, aktiv in die möglichen Antworten, Reaktionen und Optionen der Interaktion einarbeitet. Der einzige Mensch mit einem inneren Regal voller Skriptphrasen für Menschen, die es gut mit mir meinen und von mir via Sprache vermittelt bekommen müssen: „Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst.“ Gerade nach einem Meltdown im sozialen Nahraum denke ich das und muss aufpassen, nicht in die Strudel jugendlicher Verzweiflungspaniken zu geraten. Dadrin denke ich nämlich auch, dass das nie aufhört. Dass ich gefährlich bin, mich fernhalten sollte. Dieses Vorhaben von Kontakt lassen sollte. Dass ich es nicht verdient habe, nach all den Chancen zuvor. Dass es ich es in Wahrheit vielleicht auch nie verdient, sondern immer nur geklaut habe. Dass ich nie genug bin und immer zu viel.

Dass ein Meltdown mir passiert wie ihnen, erleben die von mir oft überraschend und schmerzlich getroffenen Menschen nicht. Dass ich erst im Nachhinein und das nach einigen Stunden Analyse und Durcherzählen der Situation, selbst weiß, was die Anzeichen waren (und das eigentlich nur, wenn es um Situationen geht, die nicht zu weit von meinem Alltagsgeschehen weg sind) – und dies nicht bedeutet, dass ich den nächsten Meltdown abwenden kann – entspricht einfach nicht der Er_Lebensrealität der meisten Menschen.
Weil ich die Quelle ihrer Überforderung bin, weil ich ihre Wahrnehmung der Situation bestimmt habe, nehmen sie an, ich hätte über mich bestimmen können. Das ist ein Irrtum. Aber den Täter*innen Tätigen spricht man so etwas nicht gern zu. Ohnmacht. Angst. Hilflosigkeit. Vor sich selbst. Denn würde man das tun, dann würde das Schuldkonzept nicht mehr funktionieren. Verantwortung wäre schwieriger zu klären. Wieder.Gutmachung und Reparation müsste ein gegenseitiger Prozess sein. Alle wären Teil des Vorhers, des Geschehens und des Nachhers.

Ich habe zuletzt als Jugendliche auch andere Menschen im Meltdown verletzt. Bevor sich mehrere Erwachsene auf mich draufgeworfen haben, um mich mein Verhalten zu unter.brechen.
Inzwischen passieren die meisten meiner Meltdowns unsichtbar. Vor dem Computer, bei der Arbeit, manchmal im Laden, manchmal am Bahnhof. Deswegen unterscheide ich zwischen dem „öffentlichen Meltdown“ und „den anderen“.
Heute verletze ich mich nur noch selbst, denn eine erwachsene Person, die schreit, wird nicht angefasst. Ich kann mich selbst regulieren. Auch mit Selbstverletzung. Eine erwachsene Person, die man abstoßend, gruselig, gewaltvoll, ängstigend findet, lässt man alleine, um sich selbst zu schützen. Auch wenn es bedeutet, mich in einem schlimmen Zustand gewissermaßen zu verlassen, ist das für mich das Beste.
Wer mich in so einem Moment anders einordnet – sagen wir frech, enttäuschend unvernünftig, uneinsichtig, „in Wahrheit ganz kontrolliert/ganz bewusst um die Umstände“, narzisstisch motiviert, den eigenen Vorteil abzuringen – redet in der Regel weiter auf mich ein, kommt möglicherweise noch körperlich auf mich zu und/oder begrenzt meine Möglichkeiten mich zu bewegen oder die Situation zu beeinflussen. Diese Menschen merken nicht, dass sie mich in dem Moment sensorisch fluten und so gewissermaßen foltern. Meine Grenzen nicht nur berühren, sondern komplett ignorieren. Dass sie mir eine Einsicht abzwingen wollen, die ich nicht habe oder falsch finde. Dass sie ein Verhalten von mir fordern verlangen, das meinem Willen und mir zuwiderläuft. Sie meinen es nur gut. Oder haben Recht. In ihrer Logik, ihrer Wahrnehmung des Moments bin ich das Problem, weil ich ihre Hilfe, ihre Annäherung abwehre, mit der doch wieder alles gut werden könnte.

*

Es fällt mir schwer, aber ich habe einen aushaltbaren Punkt gefunden, seit ich meine „Zusammenbruch-Symptomatik“ als „Not-Aus“, das aktiviert wird, weil ich mich zu lange nicht traue, das „Stopp-Aus“ oder gar das „Ich fühle mich nicht mehr gut-Aus“ zu aktivieren, einordne. Niemand hat die Kontrolle, über das körpereigene „Not-Aus“. Darin bin ich anderen Menschen gleich. Alle Menschen haben so einen Punkt. Nur die Wege dahin sind unterschiedlich und unterschiedlich beeinflussbar.

Mein Wissen um mich und meine „Not-Aus“-Symptomatik hilft mir, eine Grenze zu anderen Menschen zu ziehen. Ob „nicht sprechen“, „nicht fühlen“, Krampfanfälle, Shutdowns oder Meltdowns – sie haben nichts mit den Personen um mich herum zu tun. Ich erlebe diese Symptome nicht, wegen der Leute und deren reiner Personality. Die Symptome sind keine sozialen Botschaften. Sie sind Körperreaktionen auf extremen Stress. Die Leute können es mir nur leichter oder schwerer machen, damit umzugehen. Und leider machen es sich Menschen, die einander nicht gut (genug) verstehen, ziemlich zuverlässig schwerer.
Und je älter ich werde, desto schwerer fällt es anderen Menschen, überhaupt in Betracht zu ziehen, dass ich mich nicht immer „zusammenhalten kann“. Die Lebenserfahrung ist ja eigentlich, dass man immer weniger von Dingen überrascht, erschreckt, erfreut, aufgeregt, empört, überanstrengt, überreizt … wird. Bei mir ist das scheinbar nicht so. Nicht wirklich. Eher habe ich manchmal den Eindruck, dass ich nach wie vor viele Situationen wie ganz neue Situationen erlebe. So, als ob ich sie noch nie zuvor erlebt hätte. Was ich ja – außer in dem äußert unwahrscheinlichen Fall, dass ich in einer Zeitschleife festhänge, in der doch alles exakt gleich wiederholt wird – auch wirklich so nie zuvor erlebt habe. Die wenigsten Situationen sind genau gleich. Es ist immer etwas anders. Entsprechend ist mein Stresslevel einfach immer etwas erhöht. Denn wo eine Abweichung ist, ist die zweite, dritte, vierte in der Regel nicht weit. Und auf jede reagiere ich gewissermaßen.

Seit Jahrzehnten lasse ich Menschen mit der Aufzählung von Abweichungen in Ruhe. Ich teile meine Beobachtungen nicht mehr. Lasse mir nicht anmerken, ob sie mich beunruhigen oder erfreuen. Ich habe in Kliniken trainiert, sie passieren und ohne Urteil ziehen zu lassen – bis ich gemerkt habe, dass ich das nur kann, wenn ich depersonalisiert bin. Ich habe verstanden, dass die meisten nicht-autistischen Menschen Abweichungen nicht von Unterschieden trennen und generell einfach mit sehr viel mehr Unschärfe zurechtkommen können als ich.
Ich schaffe viel Anpassungsleistung durch die Hinnahme und Kompensation dieser Umstände. Aber auch ein Gefühl falscher Sicherheit bei anderen im Kontakt mit mir. Ein Grund, weshalb Menschen von meinen Meltdowns und anderen Kontrollverlusten überrascht werden. Sie kommen für sie unerwartet. Aus heiterem Himmel. Sie haben keine Chance auf meine Selbsteinsicht und so auch nie auf mein Verständnis für die Dinge, die ich erlebe.
Andererseits wollen sie sie auch gar nicht haben. Sie können damit ja im überwiegenden Teil ihres Lebens gar nichts anfangen. Wozu also drum bemühen? Ich würde sie andersherum vermutlich auch nicht haben wollen, wäre ich nicht ständig und in allen Aspekten mit ihnen konfrontiert.

*

Zwei Dinge waren in dem Gespräch im Auto vor der Schwimmhalle passiert. Zwei hilfreiche Dinge.

Meine Therapeutin hat uns zu unserer Verletzung befragt. Ich war aus dem Fahrschulauto gestiegen und hatte mit der flachen Hand gegen eine Metallkonstruktion geschlagen. Das Hämatom ist etwa 2 2-Euro-Stücke groß und drückt auf die Sehnen vom kleinen und dem Ringfinger der Hand. Es tat immer noch weh und wurde im Inneren vor allem als Strafe gerahmt.
Das Interesse meiner Therapeutin hat das beendet. Eine Strafwunde wird nicht beachtet. Eine verdiente Verletzung nicht ver.sorgt. Böse Mädchen werden nicht gefragt, obs (noch) wehtut.

Außerdem hat sie jemandem, die_r es hören musste, gesagt, dass sie nicht glaubt, dass diese Situation mit mehr Anstrengung abzuwenden gewesen sei.
Für mich war das im Kontakt mit ihr versichernd – für das Innen erlösend. Mit diesem Gefühl von sozialer Klarheit in dem Kontakt, entstand genug Kraft und Sicherheitsgefühl bei mir, um mich in die lösungsorientierte Kommunikation mit der Fahrschule einzubringen. Ich konnte von missachteten Grenzen und verlorenem Vertrauen in den Fahrlehrer sprechen und akzeptieren, dass er um sich selbst kreist in seiner Überraschung und Überforderung. Durch die Versicherung meiner Therapeutin wurde der Kontakt zum Fahrlehrer (und der Fahrschulchefin) nicht zur einzigen Quelle von Wahrheit über die Situation. Ich wurde auch von jemandem gehört und das verlief nicht im Stummen, Uneindeutigen ohne jede Bedeutung.
Die Grenze zwischen den anderen Menschen und mir war wieder hergestellt, es entstand ein Gefühl von Ordnung und Klarheit. Wir haben eine Lösung gefunden, wie wir die letzte Fahrstunde vor der Prüfung machen und wann der Fahrlehrer und ich uns wiedersehen, um darüber zu sprechen. Wir werden uns vermutlich beide entschuldigen, ein Eis essen und wieder versichert darüber sein, dass wir einander wirklich nie Böses wollten. Und mit dieser Feststellung von Offensichtlichkeiten werden wir, befriedigt über die Bestätigung unserer Wünsche an die soziale Umwelt, auseinandergehen.

Wut und Traumawahrheit

„Wut hat etwas mit den eigenen Grenzen zu tun“.
Noch eine Woche später hänge ich daran fest wie im Knäuel dicker, zähklebriger Seile. Einfarbig. Im Halbdunkel zunehmender Erkenntnis. Ich habe Angst.
Das kenne ich nämlich. Wut als Auslöser. Nachdenken über Wut als Einstieg in kreiselnde Kaskaden aus Traumashit und Kontrollverlust, an dessen Ende nur Erschöpfung und Dissoziation stehen.
Dabei kann ich gut wütend sein. Allein. Für mich. Ich kann sie fühlen, ich kann sie einordnen. Alles kein Problem – solang es um mich geht und ich das Problem bin. Dann nämlich kenne ich mich aus, weiß, was zu tun ist, fühle mich halbwegs kongruent.

Wut als Reaktion auf die Berührung, Irritation, Verletzung eigener Grenzen – das ist schwierig.
Schon Grenzen zu haben, ist wirklich schwierig für mich. Nicht mehr so viel wie früher, aber es gibt noch genug Momente im Verlauf einer Woche, im Zuge von sozialen Kontakten, körperlicher oder geistiger Umtriebigkeit, in denen ich es zum Kotzen finde, dass ich nicht einfach alles immer gleichzeitig kann. Einfach immer verfügbar sein und mitmachen, das ist der Modus, den ich, den wir, auch heute noch ständig anstreben. Obwohl wir ihn noch nie erreicht haben und vermutlich, sehr wahrscheinlich, auch nicht erreichen werden.
Menschen sind begrenzt. Das macht Grenzverletzungen so schlimm und zuweilen auch traumatisch. Wenn der äußere Rand von etwas verletzt wird, verliert, was auch immer dahinter ist, an Schutz. Keinen vollumfänglichen Schutz zu haben, ist ein Problem. Ein unter Umständen lebensbedrohliches Problem.

Die Gewalt, in der ich aufgewachsen bin und auch die Gewalt, in der ich heute als autistischer Mensch, noch immer lebe, verzerrt mein Verhältnis zur Wahrnehmung dieser Bedrohung und auch meine Bewertung dieses Problems.
Das ist die Abzweigung zu Themen wie Narzissmus, Ideen von Omnipotenz, aber auch gnadenloser Selbstzerstörung aus Selbsthass. Denn viele Täter_innen vermitteln ihren Opfern, dass ihre Grenzen ein Problem sind. Ein Anlass, ein Grund, eine Rechtfertigung, eine Eigenschaft, die es zu verlieren gilt. Und vor allem Kinder, deren Eltern die Täter_innen sind, haben keine andere Möglichkeit, als das zu glauben. Sie übernehmen die Perspektive des Außen auf sich und versuchen eine Kongruenz herzustellen. Nicht weil sie Opfer sind oder noch nicht sehr schlau, sondern weil sich so Identität und Selbstbild entwickeln. So machen Menschen das. Ohne Feedback vom Rand ihrer Selbst, gibt es keine Kenntnis darüber. Und ohne Kenntnis keine Meinung, kein Wert – keinen Ansatz für eine eigene Haltung oder eigene Wünsche an sich. Ohne berührte, gespürte, erklärte und verstandene Grenzen gibt es also auch keine Möglichkeit des Wissens darüber. Und ohne Wissen darum gibt es weniger Selbstverständnis, was dann wiederum zu einem Problem wird, wenn man in soziale Interaktion und Kommunikation geht. Dann ist es nämlich ganz praktisch, eine Idee von sich zu haben, um eine Idee von anderen Menschen zu bekommen und sich ihnen grenz-wahrend, verständnisvoll und konfliktarm zu nähern.

Ich gehöre zu den Menschen, denen oft vermittelt wurde, Dinge zu können.
Meine Hochbegabung gepaart mit meinem (Überlebens)Willen, die Dinge richtig zu machen, hat mich für viele Menschen älter und reifer, allgemein kompetenter wirken lassen, als ich war. Ich wurde sehr oft extrem überfordert, habe sehr oft sehr viel zu wenig Unterstützung, Anleitung oder Führung beim Erlernen neuer Dinge, beim Lösen von Problemen und dem Prozessieren von Selbst_Erfahrungen bekommen. Das war in meiner Kindheit, Jugend, jungen Erwachsenenzeit für viele Menschen – Betreuer_innen, Behandler_innen, Freund_innen wie Täter_innen gleich – einfach ein sehr kongruenter Umgang mit mir.
Selbstverständlich war Wut als Reaktion auf Grenzverletzungen wie diese dann immer ein massives Problem. Und hatte aus Sicht der Menschen um mich herum, immer nur mit mir selbst zu tun. Wurde als Ausdruck von Undankbarkeit vor dem Geschenk der Aufmerksamkeit, die man „den Reiferen“ / „den Cleveren“/ „den Verständigeren, mit denen man so gut reden kann, weil sie alles so tiefgreifend verstehen“ gibt, angenommen und entsprechend bestraft. In der Traumaklinik genauso wie in der Wald- und Wiesenklapse. In meiner Familie* genauso wie in meiner Familie°. In meinem Freundeskreis genauso wie in fremden Kontexten.

Es ist eine elendige Situation, wenn man so leben muss. Wissend, dass man eben nicht alles immer kann. Aber doch muss, weil es der einzige Weg, der einzige Anlass für andere Menschen ist, mit einem_einer in Kontakt zu gehen. Ob nun gewaltvoll oder nicht. Die Kontaktbedürfnisse verschwinden ja nicht, nur weil Kontakt auch gefährlich sein kann. Sie nehmen vielleicht ab oder richten sich auf ungefährliche Dinge, aber da bleiben sie und müssen befriedigt werden.

Wie umfassend, wie zuweilen sogar quälend weit über die eigenen Grenzen der Kontakt mit anderen Menschen für mich ist, habe ich erst nach der Autismusdiagnose und der Aufarbeitung des Klinik-GAU wirklich verstanden. Da gab es so eine Wutsituation ja auch. Und damit meine ich nicht den Meltdown im Büro der Oberärztin, sondern die Wochen davor. In denen ich, die_r sowieso massiv in der Krise war, mich noch dazu verpflichtet hatte, wenigstens annehmbare_r Patient_in zu sein. Mit zu wenig Ruhe, mit zu viel Menschenkontakt, zu viel Anpassung an Sozialperformances, die weder Sinn noch Nutzen für mich hatten und – klar, selbstverständlich, so ist mein Leben – so viel Kraft für Selbsterklärung, Wissensvermittlung und Barrierenkompensation.
Ich war die ganze Zeit in dem Modus, der mir schon als ganz kleines Kind das Leben gerettet und mir die Anpassung an lebensfeindliche Umfelder ermöglicht hat – und ich hatte das bemerkt. Und als Problem erkannt, denn niemand würde eine Klinik für Psychosomatik als allgemein lebensfeindlich einordnen. Da sollte es mir ja besser gehen, ich sollte behandelt werden, ich sollte Hilfe erhalten.
Dieser Widerspruch ist die berührte Grenze.
Ich brauche eindeutige Verhältnisse. Brauche Klarheit. Dann fühle ich mich sicher. An dem Aufenthalt war überhaupt nichts klar – außer, dass ich das Problem war. Und das kannte ich ja schon. Indem ich meine Behandlungszeit damit verbrachte, meine Grenzen niederzuschleifen und mich dafür zu hassen, wenn ich Widerstände von innen spürte (bzw. den Hass an den Innens zelebrierte, die ihren Widerstand auch nach außen hätten tragen können), stellte ich Kongruenz für mich her. Klarheit. Sicherheitsgefühle. Ich bewahrte andere Grenzen in mir. Kann ja nicht angehen, dass meine Traumawahrheiten über mich selbst falsch sind. Ich muss mich (meine Grenzen) verletzen. Es muss wehtun. Das gehört dazu. (Denn das Umfeld verletzt sie ja auch.)

Wut als Schutzreaktion anzunehmen, fällt mir also noch schwer, weil diese Perspektive viele Traumawahrheiten in Frage stellen würde.
Das Monster in mir wäre vielleicht keins. Das unwürdige Viech in mir vielleicht doch, was meine Therapeutin seit Jahren sieht. Selbst mein Selbsthass wäre nichts weiter als ein Schutzschild vor dem ableistischen Hass, den andere mir gegenüber ausgelebt haben.

Und wie soll ich dann weiterleben?

das Helferding

„Aus jeder Therapie nimmt man etwas mit“, dachte ich im Zug nach Hause „Aus jeder.“
Während die feuchtgrünen Felder und Wiesen am Fenster vorbeiglitten, dachte ich an unser erstes „Mami-Ding“ und daran, was für ein verkorkstes Scheißding das insgesamt war. Kinder- und Jugendpsychiatrie, halb von zu Hause weg, halb mittendrin. 3 Suizidversuche überstanden, den 4. schon in Planung, gerade entlassen, aber doch noch zu Gesprächen mit der Psychologin hinbestellt.

Sie war klein, hatte dunkle Haare und Augen. Sie hatte nichts Blendendes an sich, nichts Überforderndes. Die Gespräche waren ruhig, auch wenn sie es nicht sein konnten. Und irgendwann wollten sie nicht mehr von da weg. Wollten immer nur noch da sein. In dieser Ruhe, dieser Anwesenheit, die nichts überreizte, niemanden überforderte. Vielleicht ginge das? Vielleicht könnten sie für immer bei ihr bleiben? Sie waren ja eh nicht gewollt zu Hause. Aber bei ihr waren sie ja immer willkommen.
Alles wäre besser, wenn sie ihre Mutter wäre.

Ich spürte R.s Druck im Oberkörper, während ich mir ihre Erinnerungen daran ansah. „Alles wäre besser gewesen, wenn wir damals jemanden gehabt hätten, die_r uns im Leben willkommen geheißen hätte.“ Sie verkrampfte und drehte sich aus unserem Kontakt.
Ich weiß aber auch so, wie es weiterging.
Jemand hatte es der Psychologin gesagt und sofort bereut. Einerseits, weil der Verrat gegenüber der Familie* so ungeheuerlich war, dass er von den Dunkelbunten sofort bestraft wurde und andererseits weil die Psychologin sich abgrenzte und keine Termine mehr anbot. „Nichts gewonnen – alles verloren“, sagte Z. deren vibrierender Puls halb in meinem verschwand. „Ab da gings nur noch bergab.“

Bergab, das klingt, als wären sie damals noch auf einem gewissen Niveau gewesen. Hätten nicht schon die Arme zerschnitten, die Schullaufbahn kaputt, die Familienbande zerfetzt, den Glauben an ein lebenswertes Leben zerstört gehabt. Aber es stimmt irgendwie doch. Sie konnten nicht mehr so tun als ob. Diese so kraftgebende Fähigkeit haben sie verloren. Sie konnten sich selbst nichts mehr vormachen. Sich keine Idee mehr von einem Kontakt machen, der etwas zum Besseren verändern könnte.
Also haben sie es nicht mehr gemacht.
R. hatte sich in ihrer Abwehr bestätigt gefühlt, Z. keinen Kontakt mehr nach Außen. Das ganze System wurde von dem, was sich in der Zeit praktisch wie von selbst entwickelte, überschrieben. Heim- und Klinikablauf förderliches Funktionieren während Täter*innen zufriedenzustellen waren, war wichtiger. Ob als Klapsleiche oder Jugendliche_r, die_r einfach immer gut mitmacht, um gut mitzumachen, weil das Leben ja erstmal aus nichts anderem mehr bestand, war keine Wahl, die sie getroffen und auch nicht gelebt haben.

Ich schaute mir noch ein Mal die Liste der unausgesprochenen Dinge zur Psychotherapie an. Die hatte ich zusammengetragen, weil wir in unserer Therapie besprachen, wie wir woran arbeiten können in der nächsten Zeit. Die Krankenkassenstunden sind verbraucht, wir warten und hoffen auf den FSM.

Wir haben feste Positionen für die Psychotherapie und den Kontakt mit der Therapeutin.
Eine davon war bis vor einigen Monaten noch, dass wir solche unausgesprochenen Dinge nicht aussprechen. Egal, ob wir seit 12 Wochen oder 12 Jahren mit jemandem in Kontakt sind.
„Es ist gefährlich – man verliert einfach zu viel, wenn man solche Dinge sagt.“, das war Z.s Argument, als wir uns damit befasst hatten, ob wir diese Liste wirklich machen und mit der Therapeutin teilen. „Wenn wir heute etwas verlieren, ist das nicht so umfassend wie früher“, argumentierte ich – die gut schnacken hat, weil sie ja eh keine Ahnung hat, wie R. sich ganz richtig und gewohnt frustrierend einbrachte.
Ich habe es dann doch gemacht. Schließlich sind wir nicht nur wegen all der Dinge, die uns gesagt wurden, sondern auch wegen all der Dinge, die nie gesagt wurden in Traumatherapie.

Unsere Positionen haben fast alle etwas mit Performance, mit Kommunikation und Interaktion zu tun.
Keine davon zwingt unser Gegenüber zu etwas, alle beziehen sich auf uns und das, was wir zulassen können. Wir leben nicht nach Schweigegeboten und unterliegen auch keinen Redeverboten – aber wir schützen uns vor Verletzungen und Gefahren, die durch Transparenz entstehen.
Schon das zu teilen war schwierig. Obwohl es so logisch ist. Und überhaupt kein Geheimnis oder etwas, das sonst wie überraschend für unsere Therapeutin oder irgendwen sein dürfte. Aber mit dem Aussprechen wird nicht nur unsere Position sichtbar, sondern auch die Angst und die Nichtbereitschaft dafür, Verletzungen hinnehmen zu müssen. Der Umstand, dass wir etwas wollen, aber nicht … so.
Nicht so wie A., die sich von einem Behandler hat missbrauchen lassen, wie Z., die sich von einer Behandlerin hat wegstoßen lassen, wie ich, die sich nie gegen die Fehlannahmen und Falschbehandlungen von Behandler_innen gewehrt hat – immer mit der Traumawahrheit im Kopf, es gehöre dazu, dass es weh tut. So sei es nun mal. Dieses Leben. Als Patientin, als Geholfene, als Empfänger_in, die froh sein kann.

So viel von unserem Behandlungsweg war in sich traumatisierend schmerzhaft und so viel von dem motivierenden Selfcaresprech, der mir mitunter begegnet, setzt gewissermaßen eine Bereitschaft zum Schmerz voraus. Therapie soll nicht schön sein. Angenehm. Die soll weh tun, die soll mich von meinen Illusionen runterholen, egal welcher Natur sie sind. Die soll mir alle möglichen irrigen Annahmen klarmachen und mir helfen, zu neuen Ansichten zu kommen.
In all dem ist die Beziehungsebene zu meiner jetzigen Behandlerin aber nie als Teil der Beziehungsgeschichte betrachtet, die ich mit früheren Behandler_innen hatte.
Wir konnten gut in die gemeinsame Arbeit einsteigen und drinbleiben, weil wir keine zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut haben. Sie war und wird von uns immer wieder dahingehend gedacht, dass sie Teil des Raumes ist. In gewisser Weise also eine Art Möbel, das zur Interaktion und Kommunikation fähig ist – aber nicht zur Verletzung. Sobald wir damit konfrontiert werden, dass sie ein Mensch ist, kommen wir in Stress. Weil Menschen einfach zur Verletzung fähig und wir damit in Gefahr sind.
Diese Realität weit genug zu verdrängen und sich dennoch zu öffnen für die Arbeit ist herausfordernd und ich glaube so auch nur möglich mit einer dissoziativen Störung.

Nun ist das Ziel aber die Dissoziation in meinem Leben weitgehend zu entstören.
Ich muss schauen, auch jetzt noch, nach der ganzen Arbeit und allem, ob die Dissoziation meiner Therapeutin nicht doch langsam auch eher störend, als hilfreich ist.

das innere Chaos begreifen – ein Plädoyer gegen die Demokratisierung des Inneren

Anfang der Woche sah ich die Formulierung der „Demokratie im Inneren“ mal wieder im Kontext der Traumaheilung und DIS. Wenig verwunderlich, denn diese Formulierung, diese Zielsetzung zum inneren Frieden gibt es schon lange in der Welt.
Ich halte sie für problematisch und schreibe hier, warum.

Zwei Dinge.
Erstens ist Demokratie eine Herrschaftsform. Eine Struktur, um Macht in einer Gruppe (Gesellschaft) herzustellen, anzuerkennen, durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.
Traditionell ist keine Herrschaftsform gewaltlos. Wo Herrschaft ist, ist auch Macht und wo Macht ist, ist Gewalt. Demokratie, aber auch Diktaturen oder Autokratien und viele andere *kratien können sozusagen als Verwaltungssystematiken gedacht werden. Ein ganz spezieller Zettelkasten, in denen die Rechte und Pflichten, Verbote und Gebote des Zusammenlebens ganz spezifischen Menschen(gruppen) zugeordnet werden. Bereits diese Gruppierung und Zuordnung sehe ich als gewaltvolle Praxis an, da sie zu gewalttypischer Distanzierung führt, die ihrerseits sowohl als Funktion als auch als Ziel zur Weiterführung von Gewalt als System einzuordnen ist.
Die Zuordnung von Rechten und Pflichten, Ver- und Geboten ist in der Folge als Privilegierung bzw. Deprivilegierung zu sehen. Also etwas, das sowohl die getane Zuordnung in Gruppen definiert als auch aufrechterhält. So durften bereits in den frühen Demokratien verschiedene Personengruppen nicht wählen und hatten deshalb praktisch keine Möglichkeiten, ihrer Deprivilegierung auf demokratischem Wege entgegenzuwirken. Die Folgen waren unvermeidbare Aufstände, Kämpfe, Kriege. – Gewalt.

Nun mögen manche einwerfen, dass solche Demokratien heute gar nicht mehr existieren. Sklaverei wurde ja abgeschafft und das Frauenwahlrecht gibt es ja auch. Darauf möchte ich zum einen mit einem Mini-Serien-Tipp antworten: „Amend, the fight for america“ [Esquireartikel] und zum anderen daran erinnern, dass erst 2019 bestimmte Gruppen von betreuten und behinderten Menschen ihre Stimme bei der Europawahl abgeben durften. Und dass Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren auch zum Volk gehören. Weiterhin ist wählen zu dürfen auch in unserem Land keine Selbstverständlichkeit für alle gleich. [Tagesschauartikel]
Demokratie war nie von allen, für alle vom Volk gedacht und wird entsprechend auch bis heute nicht für alle angewandt, um Fragen des Zusammenlebens, Wirtschaftens und Ge.Waltens zu beantworten. Demokratie war schon immer ein Werkzeug, den mächtigsten Positionen in einer Gesellschaft den größten Einflussradius zu verschaffen. Nicht: den mächtigsten Menschen – aber den mächtigsten sozialen Positionen sowie darin begründete Ideen und Werte, die von (heute) mehrheitlich gewählten Gruppen (Parteien) (die wiederum mit viel Machteinsatz von ihren Ideen und Werten überzeugt haben) zu Taten kommen. Also dann irgendwann Gesetze oder Verbote werden und Gruppen der Gesellschaft privilegieren oder deprivilegieren.

All dem liegt weiterhin wie dereinst in den ersten Demokratien unserer westlichen Kulturen die Idee zugrunde, dass die mächtigsten die Richtigsten sind und deshalb immer schon eher Recht haben als andere. Hinzu kommt noch der „die Mehrheit hat immer Recht“-Gedanke, der meiner Meinung nach schon deshalb ein Fehlschluss ist, weil die Mehrheit in der Regel einfach nur immer die Macht hat. Eine Mehrheit kann Minderheiten zerstören, entrechten, ausschließen usw. Das gibt ihr kein Recht – aber eine mächtige Mehrheit braucht auch nicht darauf warten, dass ihr Recht gegeben wird – sie kann es sich einfach nehmen.

Und hier kommen wir zu meinem zweiten Punkt und in einem Bogen zur persönlichen inneren Struktur.

Du hast vielleicht gerade deine DIS-Diagnose oder pDIS-Diagnose oder wie auch immer benannte „Anteile-nach-Trauma“-Diagnose bekommen. Du weißt von einem oder mehren Anteilen, die irgendwie dauernd in dein Leben hineinfunken oder dir Entscheidungen unmöglich machen. Oder du spürst immer wieder, dass du mit Erinnerungen geflutet wirst, die dich quälen oder dass du dein Leben einfach nicht genießen oder bestimmte Therapiefortschritte nicht machen darfst. Ständig ist Krieg in deinem Inneren und du wünschst dir vor allem Ruhe, Frieden, Einigkeit, Harmonie.
Und dann liest du die Formulierung „Demokratie im Inneren“ und du denkst: „Ahja Demokratie, so machen wir das ja im Außen mit allen möglichen Entscheidungen. Alle sagen, was sie wollen und dann machen wir, was die meisten wollen und damit müssen alle zufrieden sein, denn so läuft es nun einmal.“

Das denkst du aber vielleicht nicht, wenn du gerade mit den tausenden Menschen in ganz Deutschland gegen die demokratisch gewollte gewählte AFD auf die Straße gehst, oder? Da gehst du ja hin, weil du sie nicht gewählt hast und nicht willst, dass sie so viel bestimmen dürfen wie die AFD, die sich CDU/CSU nennt. – Die du ja vielleicht auch schon nicht gewählt hast, die du aber irgendwie hingenommen hast, weil du ja mit deiner Stimme für SPD, Grüne oder Linke schon noch ein Gegengewicht herstellen konntest. Hast du jedenfalls gedacht. Sie habens ja versprochen. Im Wahlkampf. Wo sie jedem potenziell Wählenden alles erzählt haben, was sie hören wollten.
Aber vielleicht machens sie es ja noch wahr. Große Veränderungen dauern ja.

Nun spielen wir den Gedanken mal weiter, als hättest du keine demokratiekritische Haltung und du versuchst diese Demokratie in deinem Inneren herzustellen.
Okay: Welche Konflikte gibt es bei euch? Welche Entscheidungen müsst ihr treffen? Welche Überzeugungen und Werte sind für euch bei Abstimmungen relevant? Welche Parteien habt ihr im Inneren? Welche Koalitionen und welche Oppositionen gibt es? Habt ihr eine Struktur in euch, die eure Entscheidungen legitimiert? (Also eine Legislative, eine Justiz?) Habt ihr eine Struktur in euch, die dafür sorgt, dass sich alle von euch (auch, aber vor allem die Minderheiten, die Verlierer jeder Mehrheitsabstimmung) an eure Entscheidungen halten? (Also eine Polizei oder Armee?) Wie prüft ihr, ob eure Entscheidungen nicht totaler Quark sind?
Was macht ihr, wenn trotz innerer Demokratie gar nicht die Ruhe eintritt, die ihr haben wollt?
Wie geht ihr mit Aufständen, Großdemos und gewaltvollen Attacken um? Welcher Instanz, welcher Stelle außerhalb von euch selber, überlasst ihr in dem Fall die Kontrolle (die Macht) über euch?

Allein diese Fragen für sich beantworten zu können, erfordert unfassbar viel Wissen über „die Anderen“, über euch als System und über euch als Menschenkörper sowie das Leben als Mensch in der gesellschaftlichen Position, in der ihr lebt. Es ist überfordernd und zwangsläufig auch frustrierend. Denn gerade am Anfang, vor allem wenn auch noch PTBS oder andere traumabedingte Belastungsstörungen wie Essstörungen, Süchte, dysfunktionale Beziehungsmuster oder Persönlichkeitsstrukturen unreflektiert wirken und gebraucht werden, um den Tag zu überstehen, kommt man nicht „auf einen grünen Zweig“ beim inneren Demokratieaufbau. Viele halten sich dann für therapieunfähig oder in Annahmen über generelle Unfähigkeit bestätigt oder schlicht für einen hoffnungslosen Fall.
Dabei ist das, was da oft passiert in meinen Augen eine total gute, gesunde, heile Reaktion. Wozu denn ein System der Herrschaft etablieren, wenn doch im Inneren gerade eigentlich alle nur mal die Nase in den Wind oder den Kopf aus dem Sand stecken und die Augen aufmachen? Die Anfangszeit rund um die Diagnosestellung ist doch vor allem deshalb so grauslig: Da sind auf einmal welche, die irgendwas machen und wollen und man versteht nicht, wieso und wozu – und wenn doch, dann ist man erstmal total erschreckt und will das alles vielleicht gar nicht.
Warum zu dem Zeitpunkt erst mal alles kontrollieren? Alles ordnen, Posten verteilen, gruppieren, mit Namen versehen, wer keinen hat, umbenennen, wer peinlich oder verräterisch klingt und Regeln nebst Strafen aufstellen?
Für mich ist das eine gewaltvolle Traumareaktion. Man kriegt Schiss wegen des Kontrollverlustes und die Reaktion ist der Versuch Kontrolle herzustellen. Dabei ist die bedürfnisgerechte Reaktion auf diese Furcht, diesen Schiss, eigentlich, sich zu versichern. Also nicht diesen Schritt zu machen: „Ich will die Kontrolle nicht verlieren – also sichere ich mir die Kontrolle.“ – sondern: „Ich habe Angst vor Kontrollverlust, also begebe ich mich in eine sichere Umgebung, einen versichernden Kontakt, in dem ich keine Angst vor dem Kontrollverlust haben muss.“

Diese Art der Analyse eigener Bedürfnisse können komplex traumatisierte Menschen mit DIS, pDIS, DDNOS etc. in der Regel gar nicht vornehmen, weil sie ihre Grundbedürfnisse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht als solche (für) wahr.nehmen, einordnen und kongruent befriedigen können.
Die meisten können auf Angst – egal wovor und egal, wie bewusst ihre Auslöser für sie sind – nicht anders als traumareaktiv re.agieren.
Was bedeutet das aber für den Aufbau innerer Strukturen für den Systemfrieden?

Das bedeutet erst einmal, dass die bestehenden inneren Strukturen verstanden, wertgeschätzt und akzeptiert werden müssen, wie sie sind und sich zu überlegen, was „innerer Systemfrieden“ diesbezüglich überhaupt sein kann.

Dazu gehört auch eine grundlegende Akzeptanz für inneres Chaos zu entwickeln – und auch von Außen innerlich chaotisch gelassen zu werden, solange dadurch kein körperlicher Schaden für die Person und deren Mitmenschen entsteht. So manches „Chaos“ ist in Wahrheit eine Expedition von Innens nach Außen oder Versuche des Andockens an die Gegenwart. Was ich selber auch oft als Chaos wahrgenommen habe (und manchmal noch so empfinde) ist der Versuch herauszufinden, wie ich was eigentlich wahrnehme und für mich allein bewerte – während ich aber gleichzeitig merke: „Oh Shit, ich kann das aus mir allein heraus gar nicht.“ Dass ich so etwas merke und dann innerlich ganz zerwurschtelt in meinem Wollen und Können und Fühlen und Denken bin, ist per se überhaupt kein Problem, solange ich sicher und versorgt herumprobieren kann, was ich wie will und brauche und möchte. Es ist weder ein spezieller Spezialaspekt meines Vieleseins, noch etwas psychologisch Pathogenes – es ist ein vollkommen normaler Lern- und Selbst.Erfahrungsvorgang.

Einer, der auch beim Kompetenzaufbau zur alltagsorientierten Überlebenssicherung hochgradig relevant ist.
Priorisieren, rechnen, strategische Überlegungen anstellen, Planung über mehrere Tage hinweg – das sind Fähig- und Fertigkeiten, die eine umfängliche Hirn- bzw. Körperfunktion erfordern. Dafür müssen bei sehr vielen komplex traumatisierten Menschen erst einmal passende neuronale Netzwerke entstehen. Denn chronisch toxisches Stresserleben (wie beim Aufwachsen in traumatisierenden Lebensumfeldern üblich) verhindert dies. Viele komplex traumatisierte Menschen wirken vielleicht so, als wären diese Aufgaben kein Problem – sie sind es aber und sie versteckt von Grund auf (neu) zu lernen, weil Außenstehende sie erwarten, ist ein ungeheuer großer Kraftaufwand.

Das Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur bzw. Er_Leben, das von dissoziativer Selbst- und Umweltwahrnehmung beeinflusst ist, bedeutet sehr viele Herausforderungen, die die meisten nicht komplex traumatisierten Menschen mehr oder weniger unkompliziert und liebevoll begleitet in ihren ersten Lebensjahren meistern. Das heißt, dass auch das Verständnis von diesen Menschen für „Viele“, was das angeht, oft nicht groß ist. Man redet nicht oft darüber, auf welcher Basis „die Ungeschlagenen“ ihr Leben und sich selbst auf die Kette kriegen, weil sie sie oft schon einem Alter aufgebaut haben, in denen niemand von ihnen erwartet, ihre Herausforderungen zu beworten. Meiner Meinung nach heißt das für „späte Neulernende“: Ihr solltet das auch nicht machen müssen, um darin unterstützt und gesichert zu werden.

Und das – das Nichtbeworten und das Beobachten, um zu verstehen ohne einzugreifen – ist die Haltung, die ich für den Anfang der Auseinandersetzung für zielführend halte. Sowohl von Außenstehenden als auch allen im System.
Aus dem, was sich mit dieser Haltung vor mir aus meinem Inneren auftut, ist keine Demokratie oder sonst wie strukturierte Herrschaft aufzubauen. Nicht ohne ein Bewusstsein dafür zu bekommen, was für heftige Ein- und Übergriffe ich damit vornehme – und was für Spannungen ich aufbaue, halte und gewaltvoll legitimiere, die früher oder später wieder zurückkommen.

Mit diesem Plädoyer möchte ich nicht sagen, dass eine „innere Demokratie“ zu wünschen oder zu haben falsch ist. Wer das für sich erreicht hat und zufrieden ist, ist in meinen Augen deshalb kein schlechter Mensch.
Das macht meine Aussage über die Gewalt, die Demokratie bedeutet, auch nicht kleiner. Aber vielleicht ist dieser Beitrag eine Stimme für diejenigen, die nichts mitbestimmen dürfen, weil sie sehr traumanah erleben oder weil sie etwas (noch) nicht hinbekommen im Außen oder weil sie von den Bestimmenden der inneren Demokratie bislang nicht gehört wurden.

Und vielleicht ist dieser Text auch ein Impuls, sich mit Konzepten von radikaler Fürsorge, Communitycare und anarchistischer Gruppenorganisation auseinanderzusetzen. Denn letztlich brauchen wir als Viele primär gar nicht die Kontrolle über uns, um in dieser Welt zu bestehen, sondern Sicherheit, Fürsorge, Raum zum Wachsen und Freiheit für den ganz eigenen Selbstausdruck.

Feierabende sind echt

Der Tag beginnt still. Ich halte mein Gesicht ganz weich vom Schlaf in das cremige Beige der Morgensonne und bilde mir ein, dass ich ihre Wärme fühlen könnte. Die Schritte der Hunde knirschen über das gefrorene Gras. Mein Atem schwebt weiß in der Luft.

Ein weiterer Tag allein zu Hause.
Ich schüttle NakNak*s Morgentablette aus der Tüte und stecke mir die Frückstücksäpfel für die Hunde in den Pulli. Ich trage sie rauf in mein Büro. Sie fressen, ich stelle mich ins Rauschen des Wasserkochers. Kaffee, Computer und los. Klick, klick, klick, tipp tipp tipp, klick. Die Geräusche meiner Arbeit sind wie kleine Wellen um mich herum in einem Meer von Stille in einem unendlich freundlichen Ist. Draußen ein Wintertraum in Pastell.

Irgendwann muss ich sprechen und die Schönheit des Seins ist zerstört. Alles, was bis eben einfach nur da war, ist plötzlich belebt und unvorhersehbar. Jetzt erfordert es Adjektive. Wachsamkeit. Schein.
Als wäre ein Schalter umgelegt, bin ich ein Fremdkörper.
Ich versuche, eine Form zu finden. Wandle und handle mich in die neue Situation hinein, versuche mich anzupassen. Anzugleichen. Alles im Fluss unter einer festen Schicht Freundlichkeit. Aufmerksamkeit. Wachsamkeit.

Die ersten Trigger mischen sich in mich hinein. Meine Muskeln verhärten sich und reißen an den Gelenken. Ich atme sie raus, schüttle sie weg. Schaue in den weichblauen Himmel und finde Trost in den Erinnerungen an die Realität ohne Andere.
Die Zeit vergeht, irgendwann ist es okay. Ich bin okay. Bin drin. Kann gut mitgehen. Schaffe alles, will noch mehr. Dann ist die Arbeit zu Ende. Nichts mehr zu wollen. Der Arm tut weh, die Luft ist verbraucht, Bubi schiebt seinen Kopf an mich. Zeit für eine Hunderunde.

Als ich einfach loswill, schießt mir etwas Schmerzliches durch den Kopf. Ich schaue nicht hin. Als ich NakNak* runtertrage, denke ich daran, wie ich vielleicht bald irgendwann ein Kind hier runtertrage, das genauso schwer und warm ist wie sie. Ich ziehe sie an und hoffe, dass mein Auto fährt, als wir in den schneeeisweißharten Garten gehen.
Es klappt, wir fahren. Im Rauschen der Heizung sitzend überlege ich, ob ich mir das vielleicht doch mal angucke. Wie schmerzhaft kanns sein. So in echt. Ich mach ja alles, was ich will. Obwohl das immer wieder hochkommt. Es wird mir zu dicht in mir. Ich fange an, irgendwas zu fühlen, das nicht zum Autofahren passt und breche die Überlegung ab. Ich habe nächste Woche einen Therapietermin. Klappe zu. Thema erstmal wieder erledigt.

NakNak* stakst aus dem Auto, Bubi verfolgt sofort eine unsichtbare Linie auf dem Waldboden. Ich höre einen Podcast und beobachte die Hunde bei ihrer Wanderung von Marke zu Marke. Langsam komme ich wieder da an, wo der Tag begonnen hatte. Präsenz inmitten aller Dinge. Die eigenen Veräußerlichkeiten als Zone zwischen Gegenwart und Zukunft. Irgendwann bin ich so zufrieden, dass ich damit spiele.
Dann fahren wir nach Hause. Vorbei an flauschigen Kühen und dampfenden Häusern.

Wieder zu Hause könnte ich so viel machen, aber mache gar nichts davon. Ich sitze auf der Couch und streichle Bubis großen Kopf auf meinem Schoß. Ich will es ganz in mich einsinken lassen, wie ich gerade nichts mache und niemand von denen, die darauf warten, etwas dagegen tun kann. Denn ich bin hier und sie nicht. Selbst wenn sie mich sehen würden – selbst wenn sie wüssten, dass ich hier gerade gar nichts tue – sie müssten sich etwas überlegen. Ich nicht.
Ich segle auf einer kruden Überheblichkeitswelle, fühle mich mächtig und stark – obwohl ich genau weiß, dass ich hier gerade Traumarealitäten mit Realitätswahrheiten mische. Ich werde nicht beobachtet. Feierabende sind echt.