die Reise nach Italien

„Das ist also Bologna“, denke ich reiseneblig im Kopf.
19 Grad, Regen. Im Kiosk hängen Schinken von der Decke, am Gleis patrouillieren zwei Soldaten. Wir haben etwas Zeit bis zum letzten Umstieg, ich übernehme die Gepäckwache. Seit etwa 24 Stunden tue ich etwas, was man nicht mal eben so tun sollte. Ich folge der Einladung einer fremden Person, die ich nur aus Mails und einigen Zoomgesprächen kenne. Erst nach Bayern, dann nach Italien. Genauer in das ländliche Umland von Arezzo. Das Gewicht meines Rucksacks ist erheblich, die Luft schiebt sich spürbar in meine Lunge. Die Menschenmenge rieselt gemächlich an mir vorbei. Ich warte auf Anzeichen für Gefahr, doch außer den beiden Soldaten und einem kleinen Trupp Securityleute sehe ich nichts. Es ist das übliche Bahnhofsgeschehen. Nur auf Italienisch. Binari. Pfeilsymbol. Servizio. WC-Symbol. Informazioni. Schaffnersymbol. Biglietti. Ticketsymbol. Uscita principale. Kein Symbol, also eine grundsätzliche Aussage? Eine prinzipielle Aussage? Kann hier nur ja nur irgendwas mit Herkommen oder Weggehen zu tun haben. Binari. Das Wort gefällt mir. Daniela ist die Person, die mich eingeladen hat. Matthias ist einer ihrer Mitarbeiter. Als die beiden zurückkommen, frage ich, was Binari bedeutet. „Gleis“, antwortet Matthias. Mir gefällt das Wort gleich noch mehr. Bi – Zwei – nari. „Zwei Naris ergeben ein Gleis“, denke ich. Später erfahre ich jedoch, dass „Narici“ „Nasenlöcher“ bedeutet und Binari, eigentlich eher „Spur“. Mein Kopf macht aus diesen Informationen einen Zug, der die Spuren abschnüffelt.

Bisher hatten wir keine Zeit, um miteinander zu sprechen. Der Zug von München bis Bologna war komplett ausgebucht, wir hatten keine Plätze zusammen. Doch nun sitzen wir einander im Zug nach Arezzo gegenüber. Draußen ist es bereits frühlingsgrün. Einzelne Berge und Hügel ragen in den hellgrauen Himmel. Matthias fragt mich nach Stationen meines Lebens, Daniela hört zu. Wann war was schwierig, wie hat sich was entwickelt? Ich bin nicht meinetwegen hier, deshalb verfolge ich den Anspruch, dass jede meiner Antworten auch der Klientin hilft, zu deren Wohn-, Hilfe- und Lebensort wir gerade fahren.

Es ist das erste Mal, dass ich so konkret als Helfer_in mit Helfer_innen zusammen bin. In der Regel bekomme ich E-Mails mit Fragen. Oder einer Bitte um Input. Wünschen nach Feedback, Meinung, Ideen aus meiner Perspektive als Viele, die das schon durch haben. Das, die schwierige Zeit. Die extrem angewiesene Zeit. Das, die Hilflosigkeit auf allen Ebenen. Manchmal auch die der Helfer- und Unterstützer_innen. Diesmal bin ich nicht Hannah, der (hoffentlich) hilfreiche Geist aus dem Internet, sondern Hannah, die_r zum Helfen kommt. So richtig mit Körper und Geist, Gepäck und Fahrtkostenthematik.
Als wir in Arezzo ankommen, werden wir abgeholt. Typisch deutsche Kinder- und Jugendhilfe: in einem alten VW-Bulli. Der Flashback scheppert sachte in meinem Hinterkopf, wird aber gut vom Zustand der Straßen und der Landschaft verstreut. Wir werden durchgerüttelt und fahren so enge Kurven, dass ein Wunder ist, dass wir niemanden dabei beobachten, wie sie_r aussteigt, das Auto hinten anhebt und auf der Stelle dreht.

Angekommen im Wohnhaus spüre ich das Summen in meinen Muskeln. Ich muss jetzt unbedingt liegen, die Augen schließen und den Gehörschutz unter den Kopfhörern haben. Mein Körper fährt noch Zug, meine Muskeln sollen verstehen, dass sie jetzt aufhören können, mich zu schützen. Obwohl alles neu ist. Fremd. Anders. Mein Körper schläft, bevor ich mich dazu entschließen kann.

*

Es gibt einen groben Plan. Darin trifft sich das Team und erlaubt mir, dabei zu sein, um einen Eindruck zu bekommen. Dieses Team ist besonders, weil Daniela und Matthias dabei sind. Sie sind nur ein Mal im Monat dabei, da kommen ganz bestimmte Themen auf den Tisch.
Danach gibt es ein Team mit der Klientin.

Wie wir da so sitzen, mit einem Tisch voller Nüsse und Kekse, Kaffee und Tee, einem Laptop und Notizenheftchen, fühle ich mich wie beim Plenum im Verlagskollektiv. R., Z. und A., die Jugendlichen in mir drin, können es kaum fassen. Das solls schon sein? DAS ist „Team“? Die verbotene Zeit? Die Zeit, in der niemand ansprechbar ist und man sich melden soll, wenn was ist, aber eigentlich wäre es jetzt richtig schlecht, wenn was wäre, weil es krass stört, also strengt man sich voll an, dass nichts ist, aber die Anstrengung macht alles schlimmer, also ist dann relativ schnell im Grunde alles was, aber man soll ja nicht stören, außer es wäre was, aber eigentlich wäre ja voll kacke, wenn jetzt was ist, weil es stört, also zerfasert man sich in tausend kleine durchsichtige Fäden, verschmilzt mit der Wand, dem Boden und der Decke und fragt sich vielleicht noch kurz, ob dieser kleine Tod nicht besser für immer wäre, weil man dann nie Gefahr läuft, jemals irgendwie zu stören, weil (man selbst) was ist.

Ich konzentriere mich. Sammle Eindrücke und Umstände, versuche die zeitgleiche Übersetzung für die italienischen Kolleginnen auszublenden. Schnell bin ich mir relativ sicher über die Quelle der Unsicherheiten und Momente des Unverständnisses zur Lage. Und erleichtert. Denn es ist nichts Großes. Nichts Schlimmes. Nichts, was nirgendwo sonst nicht auch passieren kann. Hier kann Information helfen. Verständnis über die Mechanik der dissoziativen Identitätsstörung. No need for special special „Das kann aber nur eine fachliche Fachperson leisten.“ Tatsächlich hat Danielas Gefühl gestimmt: Die Innensicht von jemandem, die_r Viele ist, kann das letzte Stückchen zum Verstehen- und Nachvollziehenkönnen entwickeln helfen.

Die Klientin hatte vor wenigen Jahren um Danielas Hilfe gebeten.
Die Diagnose stand bereits, als die Hilfe begann. Die Klient_in erlebt sich als viele und ist bis heute insgesamt instabil, obwohl die Hilfe kontinuierlich und sehr umfangreich geleistet wird. Wenn nicht Himmel und Hölle, so doch die eine oder andere lokale Mechanik wurde in gemeinsamer Anstrengung bewegt, um äußere Sicherheit für die Klient_in herzustellen. Aber wirklich besser geworden ist seitdem eher wenig. Krise folgt auf Krise. Niemand versteht wirklich so richtig, warum. Aber langsam kommt Erschöpfung auf. Reinkriechende Hilflosigkeit. Allgemeine Unsicherheit. Und die Frage „Helfen wir eigentlich richtig?“

Fachlich beurteilen kann ich das natürlich nicht. Sowas gehört in die Kategorie „special special fachliche Fachperson“ und die Einschätzung der Klientin.
Ich habe also geteilt, was ich mir als am ehesten zutreffend denke. Nämlich, dass man sich als Mensch ohne DIS und ohne Aufwachsen in konstant toxischem Stressniveau einfach nicht vorstellen kann, wie es ist am Leben zu sein, wenn das Stressniveau so viel niedriger ist und die dissoziative Identitätsstruktur zu stören beginnt.
Der Krankheitswert der DIS ist im Kern, nicht damit zurechtkommen zu können, wenn alles gut ist. Und zwar nicht wegen irgendeiner emotionalen, sozialen oder intellektuellen Einstellung, irgendwelcher Werte oder Persönlichkeitsmerkmale, sondern ganz schlicht und einfach, weil der ganze Körper in praktisch allen Funktionen daran angepasst ist, unter Stress – und zwar existenziell bedeutsamem Stress – zu leben.

Es erscheint widersinnig, ist aber für (komplex) traumatisierte Menschen einfach logisch und wichtig, Krisen zu haben – und wenn nötig auch zu produzieren, um in (genug) Stress zu kommen, um dann bestimmte Funktionen abrufen zu können. Das ist (soweit ich das von anderen Vielen und mir selbst mitbekomme) nie eine bewusste Entscheidung, sondern eher wie eine Art unbewusster Pfad oder das, was Ungeschlagene manchmal auch als Intuition bezeichnen. Bewusst oder unbewusst ist so gut wie immer klar: „Wenn die Lage komplett eskaliert, es saugefährlich ist, ALLES auf dem Spiel steht, ich richtig runter bin mit allem, dann wirds schon irgendwie gehen. Da kommt ein Wechsel oder so – irgendwie krieg ich das dann schon hin.“
So sind Menschen mit DIS durchs Leben gekommen, bevor die Gewalt oder die unsichere Lebenssituation endete. Der Körper hat gelernt: „Wenn mein Tank fast leer ist, fahr ich das beste Rennen (zur nächsten Tankstelle, wo ich mir dann nur ein ganz bisschen reinfülle, weil ich so ja am besten fahren kann).“

Wenn dann der Tank immer voll ist – die Person durchgehend weniger Stress hat – kommt manchmal (noch) gar kein Funktionsimpuls und die Person bekommt Probleme mit Dingen, die man sich als Mensch ohne DIS kaum vorstellen kann. Basics wie essen, trinken, Körperhygiene, soziale Interaktion und Kommunikation, Körpersignale bedarfsgerecht beantworten, können mal mehr, mal weniger unschaffbare Herausforderungen werden. Gleichzeitig werden aber die, gerade im Kontrast zum Scheitern vor diesen „Banalitäten“, viel krasseren Herausforderungen scheinbar mühelos gemeistert. Dass das so ist, gerade weil es die krasseren Herausforderungen sind, muss man einfach wissen, um es zu verstehen.

Diese Mechanik ist an sich nicht DIS-spezifisch. Viele Menschen kennen es, wenn sie in Zeiten chronischer Erschöpfung oder Überforderung oder Überreizung keine oder nicht genug Zeit und Raum zur Regeneration und Regulation bekommen. Irgendwann vermag es eben nur noch die Angst vor dem Jobverlust, der Deadline, der Strafe für Versagen, dem Stress mit jemandem, den man gern hat oder braucht, um das freizugeben, was es erfordert, um zu funktionieren.
Das Problem damit ist, dass es keine Energie ist, die man einfach so in sich drin hat und dann rauslässt, sondern ein Reflex, der körpereigene Ressourcen bereitstellt, um das Überleben zu sichern. Deshalb sind Menschen mit echtem Burn-out auch so profund körperlich krank und deshalb kommen so viele auch nach einer Therapie und viel Erholungszeit nie wieder an ihr altes Kraftniveau. Dieser Überlebensreflex zieht die nötige Energie aus dem, woraus der Körper sich selbst am Leben und in Integrität hält. Tiefer kann man nicht in die eigene Lebendigkeit eingreifen.

Bei Menschen mit DIS ist dieser Reflex an das geknüpft, was man im Allgemeinen als „Persönlichkeit“ bezeichnet, weil sie – so der Stand der Traumaforschung – in traumatischen (also extrem stressenden) Umständen aufgewachsen sind. In so einem Aufwachsen erlebt man nicht immer die gleichen Gründe für extremen Stress – aber man erlebt immer die ganz reale Wahrscheinlichkeit für extremen Stress in Abwechslung mit Momenten, denen das eigene Leben tatsächlich bedroht ist oder bedroht erscheint, wie das bei traumatischen Erfahrungen der Fall ist. Man entwickelt alle persönlichen Eigenschaften, mit denen man eben so auf die Welt kommt, in mehr oder weniger bewussten oder unbewussten Todesängsten und den damit einhergehenden Vermeidungsmotiven. Also in hohem Stressniveau und permanenter Anstrengung, das zu kompensieren.

Nun bringt das neue Leben ohne dieses Stressniveau also eine neue Grundlage hinein. Eine, mit der noch nicht viel Selbst_Erfahrung besteht. Eine, auf die der Körper noch nicht immer richtig im Sinne von „den Umständen, sozialen Erwartungen und den eigenen Fähig- und Fertigkeiten entsprechend angepasst“ reagieren kann. Selbstverständlich kommt es zum Scheitern. Zu „Symptomen“. Zu komplett widersprüchlichem Verhalten und einem sehr unausgewogenem Fähig- und Fertigkeitenprofil. Niemand, die_r sein Leben unter Wasser verbracht hat, macht ohne Anlass, Übung und Vorbild einen Spaziergang an Land.

Die gute Seite daran: Die Krisen zeigen Prozess an.
Die schwierige Seite: Krisen tun weh und können, ungenügend begleitet, wiederum das Potenzial haben zu traumatisieren.

Was steht also immer an in der Begleitung von Menschen mit DIS (und anderen (komplexen) Traumafolgestörungen? – Die Krisentäler abflachen und eine gute Begleitung sicherstellen.
Krisen lassen sich in dieser Phase nicht vermeiden. Es ist ein schöner Wunsch und eine wunderbare Eigenschaft, wenn man Menschen keinen Schmerz wünscht, aber in so einer Begleitung, in diesem so umfassend umwälzenden Entwicklungszeitraum, kann man ihn immer nur lindern. Und darüber trösten, dass er überhaupt da war. Und wieder da sein wird, bis er wieder weg ist. Und wiederkommt. Und wieder geht.

Man muss Krisen nachbesprechen, damit sie alle, die sie (mit)erlebt haben, verstehen können und damit die Dinge, an denen die betroffene Person ihre Vermeidungsstrategien trainiert, weniger werden. Die Person kann so lernen, dass man über Schwieriges sprechen kann. Weil es sagbar ist.
Krisen oder emotionale Einbrüche werden weniger schlimm, je besser man sie versteht. Je besser man sie versteht, desto eher werden sie vorhersehbar. Das Vermeidungsverhalten kann nachlassen, wenn man – durch das entstandene Verständnis und eine kompetente Anleitung – in die Lage versetzt wird, ein anderes Verhalten auszuprobieren. Neue Strategien zu entwickeln, neue Überzeugungen zu entwickeln und alte dafür abzulegen.

Es gibt eine – in meinen Augen – Superkraft, die die meisten Menschen ohne Komplextrauma und ohne dissoziative Störung an sich selbst komplett ignorieren: Sie wissen fast immer einfach, wenn etwas mit ihnen zu tun hat. Wenn sie etwas machen, dann wissen sie, dass sie das machen. Diese Menschen empfinden ihren Tag, ihr Leben an einem Tag, einer Woche, in einem x-beliebigen Zeitraum als etwas, das ihnen passiert, und zwar genau da, wo es passiert. In ihrem Zuhause, ihrem Arbeitsplatz, in der Natur, unter Freund_innen. Zu jeder Zeit. Menschen mit DIS haben diese Kraft (noch) nicht (so umfänglich). Sie müssen sie sich erarbeiten und dann auch noch darauf klarkommen, was es mit ihnen macht, sie zu haben.
Mit dieser „Superkraft“ oder etwas weniger idealisierend formuliert „Fähigkeit“ kommen viele Betreuer_innen in Hilfeeinrichtungen wie die, die ich in Italien besuchte, leisten Hilfen wie diese und nehmen dennoch an, sie müssten noch so viel mehr machen und schaffen und leisten. Obwohl sie das Wichtigste schon jeden Tag und immer machen: Sie sind da und leben mit sich selbst (mehr oder weniger) assoziiert. Egal, was sie machen, sie bieten ein Vor_Bild zum Leben in sicheren Umständen. Das ist sehr viel und in meinen Augen das, was keine stationäre oder ambulante Psychotherapie leisten kann (ohne den Rahmen der ethisch korrekten Behandlung zu verlassen).

Das bedeutet für die Hilfe, dass man sich nicht großartig auf die Extreme konzentriert – also die Krisen und das Trauma – sondern auf die Grundlagen. Die Grundversorgung und was es macht, wenn sie gemacht ist. Die Grundbedürfnisse und was es macht, wenn man sie spürt, wie man sie wahrnimmt, wie man sie, wann, wo und womit effizient und unter Berücksichtigung bestimmter Faktoren erfüllen könnte. Grenzen. Eigener Wille. Der Wille anderer Menschen. Alles Dinge, für die man Menschenkindern zig Jahre zum Erlernen einräumt. Menschen mit DIS müssen das nachholen. Sie müssen gewissermaßen nachreifen. Man darf nicht den Fehler machen zu glauben, dass sie über diese Basiskompetenzen verfügen, nur weil sie sie dann und wann unter (letzten Endes Todes-) Angst ausführen können. Die meisten können es nicht. Manche, so wie die Person, die das hier gerade schreibt, bis ins 30. Lebensjahr hinein nicht.

Die Teamzeit ist um. Alle atmen tief ein, manche stöhnen beim Aufstehen. „Das war jetzt ganz schön viel“, darüber sind wir uns alle einig. Draußen kommt die Sonne durch auseinanderziehende Wolken.
Jetzt wird gekocht, die Töpfe scheppern mir durch den Kopf. Zeit für eine Ressourcenpause. Zum ersten Mal stehe ich vor einem blühenden Pfirsichbaum und fotografiere zum ersten Mal eine große Mauerbiene.

große schwarze Biene mit bläulichem Flügel

*

Das Team mit der Klientin ist eine Situation mit Einschlägen bei mir.
Mein kleiner Stein im Schuh, R., findet es „krass cool“, dass die Klientin auch in der Runde sein darf und dass man das immer für alle machen sollte, denn „es geht ja um sie und das ist ja nur fair.“ Als ich ihr zeige, welche Hinweise es darauf gibt, dass es für die Klientin gleichzeitig auch eine Überforderung sein könnte, so beteiligt zu sein, weil sie gewissermaßen „liefern muss“, also auch Dinge aussprechen können muss, die sie vielleicht noch nicht aussprechen kann, weil sie sie noch nicht weiß oder fühlen kann oder sich noch gar nicht traut überhaupt darüber nachzudenken, trifft es R. unerwartet. Was mich wiederum überrascht. Direkt neben R. spüre ich eine unserer Klapsleichen und kapiere selber erst dann: „Ahja. Ja. R. kann sowas krass cool finden, weil es nicht R. war, die hat liefern müssen.“
Ich gehe etwas weiter von ihnen weg. Es geht jetzt nicht um uns. Das hier ist kein Zwangskontext. Keine geschlossene Einrichtung. Die Klientin ist erwachsen. Es ist keine eingeräumte Freiheit, dass sie sich an der Hilfe für sich selbst beteiligen darf. Es ist ihr Recht. Sie ist vielleicht noch nicht an dem Punkt, an dem sie das nicht mehr überfordert, aber Überforderung darf auch kein Grund sein, jemandem die Rechte nicht zugänglich zu machen. Das passt also schon. Nicht perfekt, nicht ohne Gnih und Gnah, aber alles andere wäre falsch.

Die Situation ist schwierig. Die Dissoziation der Klientin und ihre dumpf-ohnmächtige Stille erfassen alle im Raum. Ich zähle im Kopf bis 10 und prüfe, ob jemand etwas sagen will. Zähle noch einmal bis 10 und prüfe, ob sich jemand bewegt. Dann breche ich die Situation auf. Fenster auf, kurz etwas Bewegung im Raum. Dem Körper vermitteln: Hier ist kein Freeze nötig. Kein Durchhalten, Aushalten, alles ist beweglich und sicher.
Wir haben gerade über die grundlegende Versorgung gesprochen – das gehört dazu. Was passiert war, nennen manche „Energieübertragung“, manche machen unsere Spiegelneuronen dafür verantwortlich, manche sprechen von „Ansteckung“ oder von „psychologischer Übertragung“. Die Überforderungsreaktion der Klientin war die Dissoziation. Sie wusste nicht, was sie sagen soll, welche Antwort richtig ist, vielleicht auch, was gemeint ist mit den Fragen, die an sie gerichtet wurden. Vielleicht hat sie auch nicht ganz einordnen können, was die Fragen mit was (wem) von ihr zu tun haben könnten. Vielleicht hatte sie Impulse ganz andere Dinge anzusprechen, dann aber nicht gewusst, wie sie sie der Situation angemessen formulieren könnte. Vielleicht wollte sie im Grunde auch gar nicht da sein, hatte sich aber nun doch gewissermaßen verpflichtet, hier dabei zu sein. Und was kann man nur machen, wenn man irgendwo feststeckt und nicht körperlich ausbrechen kann – man verkrümelt sich, man „macht sich weg“. Man dissoziiert. Im Fall der Klientin praktisch übergangslos und automatisch.

Solche Situationen entstehen durch die Überforderung auf Klient_innenseite, aber auch durch Überforderung auf Helfer_innenseite. Da will man höflich sein und warten und der Klientin allen Raum lassen, ihr gewissermaßen „die Bühne bieten“. Da will man bloß keine Grenze berühren oder stressen. Und dann ist auch noch die Chefin da, da will man ja auch irgendwie passend performen – und bringt sich selbst und eben auch die Klientin damit in ein hohes Stresslevel, weil die persönliche Unsicherheit (unbewusst) als Reaktion auf einen unsicheren Raum eingeordnet wird.
Dass man sich zu einem Zweck und aufgrund bestimmter Kompetenzen und Arbeitsaufträge (also Dinge, die nichts mit den Personen der Helfer_innen zu tun haben) zusammengefunden hat, gerät dabei schnell aus dem Bewusstsein.
Wenn ich auf Seiten der Hilfe- oder Unterstützungsbeauftragten bin, verpasse ich solche sozialen Fallstricke in der Regel. Das war hier ganz praktisch, denn ich konnte das erklären. Diese dumpfe Stille und die folgende Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, vielleicht auch Ohnmachtsgefühle – die haben nichts mit dem Auftrag zu tun. Nichts damit, ob man etwas richtig oder falsch macht. Hier geht es um Angst, Unsicherheit, Unklarheit, Planlosigkeit, vielleicht auch fehlende Strukturen – und um fehlende Kommunikation, also Verbindung miteinander. Was logisch ist, wenn sich eine Partei (oder auch gleich noch die andere) in dem Gespräch gerade „weggemacht hat“.

Mein in der Regel informationsbasierter Fokus in solchen Situationen zeigt mir ziemlich zuverlässig auf, was ich tun kann oder was dran wäre zu tun. Ich werde auf zwischenmenschlichen Ebene nicht so schnell verunsichert, wenn mir jemand zeigt oder sagt, dass sie_r etwas nicht kann. Wenn etwas nicht geht, dann muss man gucken, wie man sich annähert. Für mich ist das eine relativ einfache Prüfung und Abgleichung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen und ein pragmatisch lösbares Thema.
Was man aber in dem Fall nicht ignorieren darf (nur weil man sich dann so toll produktiv fühlt), ist, dass es für die Klientin nicht nur eine pragmatische, sondern auch emotionale – traumalogische – Ebene hat. Sie fühlt und glaubt deshalb, dass sie etwas nicht kann. Zum Beispiel, sich selbst in den Grundlagen zu versorgen, bevor sie anstrengendere Dinge macht.

Die Realität ist, dass viele Menschen mit DIS die für die Grundversorgung nötigen Funktionen (Fähig- und Fertigkeiten) noch nicht zuverlässig abrufen und ausführen können. Dann kommen die Helfer_innen und sagen: „Du musst aber, das ist wichtig.“ Und die DIS-Klient_innen haben nur einen Bezugsrahmen zu dieser Erfahrung – ihre Lernerfahrungen im traumatisierenden Kontext. Für sie ist also ziemlich schnell klar: „Ich muss das jetzt hinkriegen, sonst passiert mir was Schlimmes – aber ich kann das nicht. Nicht so, nicht jetzt. Oh G’tt wenn ich das sage – oh nein, aber vielleicht auch, wenn ich nichts sage und nicht mitmache – also vielleicht JETZT GLEICH passiert was – ich weiß es ganz genau, jetzt bin ich dran. Ich werde sterben.“
Das ist eine traumalogische Annahmenkette. Das sind die Schlussfolgerungen, die ihnen früher das Leben gerettet haben, weil sie nicht davon ausgehen konnten, dass es nicht ihre Lebensbedrohung zur Folge haben könnte, wenn sie nicht machen oder schaffen, was andere (überlegene) Menschen von ihnen wollen, fordern, abverlangen.
Diese Traumalogik hat aber nicht nur die Erfahrungen der Klient_innen als Quelle, sondern auch bestimmte Traumawahrheiten über sich und andere Menschen. Eine Traumawahrheit könnte sein: „Ich kann nichts (wirklich/genug/gut/richtig) machen.“ Und eine weitere: „Andere Menschen übergehen immer meine Grenzen (sind also gefährlich für mich)“. Auf Helfer_innenseite ist man in diesen traumalogischen Annahmen immer der Arsch. Immer auf einer Ebene mit früheren Täter_innen. Und das ist ein sozialer Fallstrick, den man mit einem gewissen Kraftaufwand übersteigen muss. Geht man darauf ein, kommt man nicht weiter. Die Klient_innen können noch keine andere Ebene aufmachen – sie würden diese Gleichstellung nicht machen, hätten sie einen anderen Referenzrahmen für solche Situationen. Den müssen sie erst entwickeln und zwar in der Hilfeleistung, um die es geht. Der beste Weg also jemandem zu zeigen, dass sie_r keine Täter_in ist oder sich wie die früheren Täter_innen verhält, ist nicht gewaltvoll mit dieser Situation umzugehen.

In dem Fall der Basisversorgung ist das ganz schön aufzuzeigen, weil es um so etwas ganz Grundlegendes geht. Die Person mit DIS (oder anderer komplexer Traumafolgestörung) muss lernen können, wie sie sich selbst anfühlt und wozu sie fähig ist, wenn sie grundlegend versorgt ist. Sie kann es lernen, wenn sie immer grundlegend versorgt ist. Also muss sie sich jeden Tag damit befassen, ausreichend zu essen und zu trinken. Sie muss regelmäßig zur Toilette. Sie muss sich waschen, kämmen, die Zähne putzen. Sie muss frische Wäsche anziehen. Sie muss ihre Wohnung aufräumen und sauber machen bzw. halten. Ihre Hilfsmittel müssen immer vollständig, heil, sauber und verfügbar sein.

Eine Möglichkeit wäre, der betreffenden Person aufzuzwingen, dass sie das alles machen muss, „sonst läuft hier gar nichts (was ihr Spaß macht oder sehr wichtig für sie ist)“. Das ist der alltagsgewaltvolle Klassiker in vielen pädagogischen Einrichtungen. Da spielen oft gewaltlogische Schlüsse von Helfer_innen eine Rolle und aufgrund der Alltagsgewalten, mit denen Kinder zum Beispiel oft erzogen werden, fällt diese Umgangsweise selten wirklich als Helfergewalt auf. Hier wird das, was der Klientin wichtig ist, genommen, um ein gewünschtes Verhalten zu erzwingen und damit legitimiert, dass das gewünschte Verhalten das Ziel der Hilfe sei. Sie will ja gut leben. Die Gewaltlogik dahinter: „Für ein gutes Leben muss man halt auch was machen (was einem nicht gefällt/weh tut/unangenehm ist/schwer ist). Wer richtig sein will, muss sich richtig verhalten.“ Grundversorgung ist aber nicht nur ein Verhalten. Und Hilfe ist keine Dressurmaßnahme zur Vorbereitung auf eine Daueraufführung im Leben außerhalb der Einrichtung bzw. der Hilfemaßnahme.

Die bessere Möglichkeit ist, den Fokus auf die langfristigen Ziele der Klientin zu halten, die ja den Auftrag der Hilfe enthalten. Ein übliches Ziel von Menschen mit DIS ist, aus dem Überlebensmodus rauszukommen und dahin, auch gern am Leben zu sein. Es ist also sinnvoll, den Menschen dabei zu helfen, ihre Lebendigkeit als etwas kennenzulernen, das Qualitäten hat, die sich entsprechend der Umstände verändert. Zu Beginn spüren sie immer (nur?) den Überlebensmodus. Besonders, wenn es ihnen schlecht geht. Aber um die Chance zu bekommen, eine andere Qualität überhaupt kennenzulernen, müssen sie ihre Lebensumstände verändern. Und dabei geht es nicht nur um so große Dinge wie Kontakt zu Täter_innen beenden oder den Inneren, die nur Trauma kennen, einen Wunsch zu erfüllen oder es ihnen schönzumachen (damit im Inneren Ruhe ist). Sondern um genau die Faktoren, die bestimmen, ob es sich gut oder okay anfühlt, in der eigenen Haut zu stecken oder nicht.
Jede Umstandsveränderung bringt auch eine Zustandsveränderung. Ein Mal Hände waschen – zack, ganz andere Möglichkeiten der Interaktion mit der Mitwelt als mit dreckigen Händen. Ein Mal um den Block laufen – ganz andere Empfindung im Körper als vorher.
Das kann man als Helfer_in immer wieder vermitteln: „Du möchtest aus dem Überlebensmodus – du musst deinen Lebensmodus dafür erkennen können. Die Grundversorgung ist der wichtigste Schritt dafür. Lass uns mal schauen, welchen Schritt wir heute dafür probieren können. Was kannst du alleine? Wobei kann ich dir Hilfestellung (wie zum Beispiel Anleitung geben, Vormachen, Aufgabe in kleinere Teilschritte aufteilen, die Aufgabe über den Tag verteilt immer wieder versuchen, (emotional) Händchen halten) bieten?
Du möchtest das heute nicht probieren? Soll ich später am Tag nochmal fragen? Du denkst, du kannst das nicht? Ist die Aufgabe zu groß? Hast du inneren Stress deshalb? Kannst du formulieren/ausdrücken/aufschreiben, wie das für dich ist? Ist etwas davon pragmatisch lösbar? Welche innere Überzeugung traust du dich zu prüfen? Heute ist ja so vieles anders – vielleicht zeigt sich, dass der innere Stress/Druck/Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn du es unter den Umständen heute probierst. Oder morgen. Oder übermorgen.
Wenn du deine Grundversorgung schaffst, wird alles, was du am Tag vorhast, mehr Spaß machen. Du wirst mehr Kraft haben. Deine Chancen, weniger Symptome kompensieren zu müssen, steigen.“

In einer stationären 24-Stunden-Betreuung kann es geleistet werden, den ganzen Tag auf diese Herausforderungen einzugehen und dranzubleiben. Es gibt keinen Anlass, wie zu wenig Fachleistungsstunden oder starre Klinikstrukturen, irgendwo in der Mitte abzubrechen und die betreute Person aufgewühlt in ihren traumalogischen Schleifen und Traumawahrheiten über sich zurückzulassen.
Als Helfende_r hat man alle Zeit und allen Raum, um immer wieder auf den Grund für die Konzentration auf die Grundversorgung zurückzukommen und klarzumachen, dass die eigene Präsenz daraus entsteht, dass man dabei hilft, das Ziel für die Hilfe zu erreichen.
Erwachsenen Menschen mit DIS, die nicht in einer Zwangsmaßnahme stecken, steht es frei, sich gegen ihr Ziel zu entscheiden. Sie können sich selbst in ihrer Traumalogik bestärken und die Traumawahrheiten über sich aufrechterhalten. Das sind legitime Entscheidungen, die einem überlebbaren Leben nicht im Wege stehen. Aber vereinbar mit dem Hilfeauftrag an den Träger sind sie nicht. Dafür wird die Betreuung und die Unterkunft nicht zur Verfügung gestellt.
Es kann sinnvoll sein, eine Absprache darüber zu machen, wie lang der Zeitraum sein kann, in dem sich die betroffenen Personen gegen ihre Ziele der Hilfe entscheiden. So kommt man gemeinsam in die Lage zu prüfen, was die Gründe für diese Entscheidung sind und ob zusätzliche Arbeitsräume, etwa eine psycho-, ergo-, kunst- sozio-, *therapeutische Sitzung hilfreich sein könnten, um zu unterstützen, das eigene Ziel zu halten. Es kann aber auch sein, dass sich das Ziel verändert hat. Auch das kann mit dieser Absprache überprüft werden.

Grundsätzlich kann es gut sein, sich klarzumachen, dass wer keine Hilfe braucht, auch nicht um welche bittet. Aber nicht immer ist die Hilfe, um die gebeten wird, auch die, die gebraucht wird. Auch das ist Realität. Manchmal kann die bestmögliche Hilfe sein, herauszufinden, welche Hilfe wirklich oder zusätzlich noch gebraucht wird. Dann kommt man zwar nicht gemeinsam ans gesteckte Ziel, aber man hat der Person weiter.geholfen.

Wir gehen aus dem Team mit einer Idee für einen ersten Schritt, etwas zu versuchen.
Wieder tiefes Atmen. Seufzen. Langsam rausbewegte Anspannung bei allen.
Ich fotografiere zwei Wiesenschnaken, die mit der Erhaltung ihrer Art beschäftigt sind.

zwei Wiesenschnaken auf der Wiese während der Paarung

*

Später fahre ich mit Matthias zum Supermarkt. Wie bei uns zu Hause ist das mit einer längeren Autofahrt auf kaputten Straßen und der Konfrontation interessanter Vorstellungen anderer Autofahrer_innen verbunden. Der Supermarkt sieht aus wie die Art ländlicher Klüsten-Edeka, den es nur gibt, weil kein anderer Laden da ist. Bisschen abgeranzt, alles ein bisschen schrabbelig, aber das Wichtigste ist da.
Ich fotografiere einen Käsekuchen.

Eine

Am Abend holen wir Daniela von ihrer Wohnung ab und gehen essen.
Ich fotografiere eine Prachtkatze vor einer Prachttür und das einzige Gericht ohne Fleisch auf der Karte des Restaurants.

*

Am nächsten Tag sind alle da. Teamtag. Mit Kolleginnen und Praktikantin von einem anderen Team.
Wir wissen bereits, dass wir vertiefen, was wir am Tag zuvor besprochen haben. Warum sind die Basics so schwierig? Was hilft? Wie genau können die Helfer_innen das umsetzen?
Manche Fragen kommen noch dazu und machen die Zusammenhänge rund.

Zum Beispiel die Frage nach selbstverletzendem Verhalten. Niemand der Anwesenden kann (und möchte) es ertragen mit anzusehen, wie sich jemand verletzt.
Mich berührt der Schmerz, den eine Helferin beim Schildern einer solchen Situation ausdrückt. Eine Klapsleiche in mir würde sich vor Scham am liebsten gegen die Steinwand hinter ihr werfen. Ich walze den Abstand zwischen ihr und meiner Gegenwart aus. Es ist bald 20 Jahre her, dass wir zuletzt jemanden in die Lage gebracht haben, unseren Selbsthass und die Gewalt an uns selbst zu bezeugen. Jetzt ist Heute. Ich habe einen Auftrag.

Ich erkläre, dass zum sicheren Umfeld gehört, dass keine Gewalt ausgeübt wird. An einem sicheren Ort wird niemand verletzt. Die Helfer_innen nicht und auch die Klient_innen nicht. Das Verhalten darf passiv unterbrochen werden – nicht weil es „böses Verhalten“ ist, sondern weil es den Raum unsicher macht. In einem unsicheren Raum kann niemand die gesteckten Ziele erreichen. Sich nicht zu verletzen, ist ein Beitrag zum Ziel. Wenn sich jemand selbst verletzt (und Helfer_innen das miterleben müssen) übt die Person Gewalt aus und entscheidet sich entsprechend gegen das Ziel.
Die Helfer_innen helfen mit dem Unterbinden (etwa durch Schutz des Kopfes oder andere Körperteile) einen für die Person ungewohnten Zwischenschritt, eine ungewöhnliche Nuance in ihr Gewalt(er)leben einzubringen. Sie kann die Tätigkeit ausführen, sie aber nicht zum gewohnten Ende bringen. Die entstehende Irritation kann ein Fenster für alternatives Verhalten öffnen und die Haltung bzw. die Realität der Helfer_innen deutlicher machen. Für die Klient_innen mag die Selbstverletzung logisch und zwingend nötig sein – für die Helfer_in ist es Gewalt und die wird in einer sicheren Umgebung nicht geduldet. Keine_r der Helfer_innen bezeugt in diesem Haus Gewalt. Und zwar nicht, weil die Klient_innen so liebenswert sind oder weil die Helfer_innen das einfach so gerne hätten, sondern, weil die Grundlage für diesen Kontakt, für diese Hilfe und die Umstände vor Ort, eine der Sicherheit ist und bleiben soll.

Es ist nicht die angenehmste, doch vielleicht erst einmal die eindrücklichste Möglichkeit für eine Person mit DIS, eine Idee davon zu bekommen, was Sicherheit eigentlich ist und hier vor Ort bedeutet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist für sie Sicherheit etwas, das entsteht, wenn sie nicht erreichbar ist (weil sie dissoziiert ist). Wenn sie nichts fühlt, nichts denkt, nichts will. Und jetzt ist sie aber in einer Situation, in der sie auch dann sicher ist, wenn sie etwas fühlt, möchte oder denkt. Darauf wird sie in so einer Selbstverletzungssituation natürlich gewissermaßen brutal aufmerksam gemacht und kann es vielleicht eine ganze Weile lang weder verstehen noch begreifen. Sie wird nicht wissen, wie sie sich alternativ verhalten kann. Da hilft nur Wiederholung und Nachbesprechung. Immer wieder sagen: „Nein, das machen wir hier nicht. Hier ist ein sicherer Ort, hier wird niemand verletzt. Verletzung/Gewalt ist in diesem Haus keine Option. Ich bezeuge keine Gewalt in diesem Kontakt.“

Die Gründe für die Selbstverletzung sind bei der Durchsetzung dieser Grenze nicht relevant. Diskussionen darüber sind Kämpfe gegen Windmühlen. Auch hier wird es Trauma- und Gewaltlogik geben, die nicht zugänglich ist für die Realitäten, die hier und jetzt bestehen. Diese Logiken innerlich aufzulösen, gehört meiner Meinung nach in die traumatherapeutische Arbeit. In der pädagogischen Hilfe vor Ort funktioniert es besser, wenn man sich darauf konzentriert, welche Alternativen akut machbar sind. Selbstverletzung tritt immer in bestimmten Zuständen auf – Zustände sind veränderlich. Auch wenn die betreute Person mit DIS das selbst noch nicht wahrnehmen kann, wenn sie im Alltag viel „Zeit verliert“ und sich nicht (mit sich selbst assoziiert) erinnert, wie viele Selbstzustände sie am Tag warum und in welcher Form und Ausgestaltung annimmt.

Ich erkläre, dass die ganzen tollen Skills, auf die man beim Thema Selbstverletzung immer wieder trifft, aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) kommen und ebenfalls Zustandsveränderungen zur Folge haben sollen. Mal durch konzentrierte Selbstempfindung, mal durch gezieltes Lenken der Gedanken, der Wahrnehmung oder Konzentration auf bestimmte Aufgaben. Am Ende jeder Übung steht das Ziel einer Veränderung der Selbst- und Umweltwahrnehmung durch Emotionsregulation. Diese Skills sind super, wenn es um das Erleben von emotionalem Druck oder Anspannung geht.
Bei profund traumalogischem Selbsthass, traumabedingter Reinszenierung oder real bestehenden Ausschluss/Verlassenheits/Auslieferungs/Hilflosigkeitserfahrungen helfen sie hingegen kaum, sondern können die Anspannung noch verstärken und zu Momenten umfassender Überreizung führen, weil der Auslöser nicht aufgehoben oder verändert wird. In so einem Moment sind Erfahrungen sicherer Bindung und Selbstwirksamkeit der Hebel zur Zustandsveränderung. Soweit jedenfalls meine eigene Erfahrung und die von praktisch allen Vielen, die mit mir bisher über die Wirksamkeit von klassischer DBT gesprochen haben.

Wenn die Selbstverletzung also zum Beispiel als „nötig weil nicht anders verdient“ erklärt wird (also eine Wiederholung der Gewalt gemacht wird), kann es passen zu sagen, dass hier gerade niemand ist, die_r darüber urteilt, was wer verdient und also gar nichts gemacht werden muss. „Hier sind gerade nur du und ich. Wir sind hier an einem sicheren Ort, hier wird niemand verletzt. Ich finde, was jetzt nötig ist, ist [Grundversorgung] und dann [aktive Tätigkeit, positive Alltagsressourcen]. Komm, das machen wir jetzt. Willst du mit [Grundversorgungsaufgabe 1 (vielleicht was trinken) oder Grundversorgungsaufgabe 2 (vielleicht mal das Gesicht waschen)] anfangen?“
Von da aus lassen sich Alltags-orientierende Handlungsketten aufbauen, die den Selbstzustand verändern (Wechsel zu Alltagspersönlichkeiten möglich machen). Am Tagesende oder zur üblichen Reflexionszeit des Tages kann man dann nochmal so über die Situation sprechen, wie über jede andere Lernerfahrung. Denn auch wenn es vielleicht krasser wirkt als andere Momente am Tag, schließlich ist es ja auch gefährlicher – am Ende ist sich nicht zu verletzen oder zu gefährden, nichts anderes als sich grundzuversorgen. Das müssen alle wissen und immer im Kopf behalten, auch wenn solche Momente natürlich krass viel aufregender sind und ja auch alle (und nicht nur die betreute Person) betreffen (weil sie mit Gewalt zu tun haben).

Wieder gehen alle voll bis oben hin in die Pause. Diesmal mit turbulent italienischem Handgefuchtel über mangiare zum Tellerklappern und Aufdecken. Ich fotografiere den Po eines gebänderten Pinselkäfers.

Hinterteil des gebänderten Pinselkäfers, der aus einer rosa Blüte herausschaut

Zum Nachtisch gibt es Crostata.

Crostata, ein Kuchen mit Kreizmuster aus Teig drauf, ähnlich wie eine Linzer Torte

*

Wir machen weiter mit den Fragen, die die Betreuer_innen noch haben.
Was ist mit Weglaufsituationen? Es gibt viele Menschen mit DIS, die Anteile haben, die scheinbar anlasslos oder allgemein unerwartet weglaufen. Worum geht es dabei?

Auch dieses Thema nehme ich, um die auch darin liegende Entscheidung gegen das Hilfeziel aufzuzeigen. Und was ist, was in diesem Zusammenhang für alle klar sein muss.
Erstens: Es gibt immer einen Auslöser, der real ist.
Zweitens: Weglaufsituationen sind so gut wie immer ein Versuch, Sicherheit herzustellen. Auch wenn das Weglaufen in einem maximal unsicherem Umstand passiert (stark befahrene Straße, in körperlich geschwächtem Zustand, ohne sicher erreichbare alternative Orte der Versorgung).
Drittens: Traumalogik besiegt Realität fast immer. Sie ist schneller, als sicherer erlebt und (siehe oben) die betroffene Person hat mehr Selbsterfahrung mit sich und ihrer Leistungsfähigkeit in (scheinbar) lebensbedrohlichen Situationen.
Durch die Helfer_innenbrille ergibt es überhaupt keinen Sinn, den Ort zu verlassen, wo alle eigenen Sachen sind, wo die Grundversorgung ohne Probleme möglich ist, um sich sicher zu fühlen. Mit der Traumabrille (also der Annahme von Todesangst als treibende Kraft) draufgeschaut ergibt es aber total Sinn, die Beine in die Hand zu nehmen, wenn man wo ist, wo man sich unsicher, ausgeliefert und hilflos fühlt. Es ist ein absolut logischer Schluss – nur leider nach einer fehlerhaften Einschätzung der Realität.

Jeder Mensch mit DIS muss über sich lernen, dass er diese „Traumabrille“, diese Kraft aus der Todesangst, schneller abruft als seine „rationale Brille“. Sein Körper, seine Psyche wird eine ganze Weile lang immer mehr Sicherheit in der Annahme finden, dass man ihm schaden will, dass er gefährdet ist, dass er nicht sicher ist, als in irgendwelchen anderen Ideen, Realitäten, Möglichkeiten.
Er muss es hinkriegen, sich selber etwas Zeit zum Prüfen seiner Gefühle und Annahmen zu verschaffen. Seine Helfer_innen können ihn darin immer nur damit begleiten, dass sie ihm ihre Einschätzung und Wahrnehmung der Situation mitteilen. Und dann anbieten, wie er sich darin bewegen könnte.

Wenn eine Person mit DIS noch sehr schnell in Traumareaktionen steckt, darf man von Helfer_innenseite nie davon ausgehen, dass sie schon von selber merkt, dass sie alle gernhaben. Dass sie schon von alleine denkt und glaubt, dass alle nur da sind, um ihr zu helfen. Dass sie sich schon von alleine dran erinnern kann, wer ihr wie oft und gut und umfassend und voller Liebe geholfen und Schönes für sie gemacht hat. In dem Moment, in dem ein Wechsel in einen Zustand, also zu einer anderen „Persönlichkeit“, passiert, die sich im Leben bedroht fühlt, spielen diese Erfahrungen (noch) keine (ausschlaggebende) Rolle. Diese Selbstzustände/Anteile/Persönlichkeiten können sich daran – an alles Gute und Verbindende – nicht erinnern. Manche kennen vielleicht noch nicht einmal die Betreuer_innen, von denen sie weggehen.
Mit diesem Verhalten wird für andere Anteile nicht in Frage gestellt, ob die Helfer_innen nett sind. Oder gut. Verhalten wie Weglaufsituationen, aber auch selbstverletzendes Verhalten, Verweigerung der eigenen Grundversorgung sind keine Aussage über die Qualität oder die Wirksamkeit der Hilfe, sondern über das Ausmaß der Hilflosigkeit, mit der Situation anders als so – die eigene Ziele verwerfend, sich selbst und andere gefährdend, traumalogisch – umzugehen.
Ziel der Hilfemaßnahme (und evtl. auch einer zusätzlichen Traumatherapie) muss also sein, die Hilflosigkeit in diesen Momenten zu verringern. Gemeinsam mit der Klientin zu überlegen: Was kann ich machen, wenn ich mich gefährdet fühle? Wie können mir die Betreuer_innen dabei helfen? Wie kann ich „da sein“ (nicht dissoziiert sein) und mich sicher fühlen?

Auch in diese Teamrunde kommt die Klientin am Ende mit hinein.
Wir beginnen mit einer Befindlichkeitsrunde, in der ich merke, wie hart ich hier gerade selbst am Wind segle, als sie sagt, dass sie sich ausgeschlossen fühlt.
Ich war 16 als ich in einer ähnlichen Lage war. Viele Leute haben über mich geredet und mich angeguckt während ich vorgeführt befragt wurde, während ich dachte, dass man aktiv an meiner seelischen Ermordung arbeitete und nirgendwohin konnte. Diese Situation, die ich als Videoaufnahme besitze und noch nicht ansehen konnte, hat mich traumatisiert. Ich bin bis heute nicht fertig mit der Aufarbeitung. Und jetzt sitze ich hier und tue der Klientin das an? Ist es wirklich das Gleiche? Wo sind die Unterschiede? – Alter, Kontext, allgemeine Gestaltung. Sie ist dabei, sie wurde gefragt. Es gibt die Einwilligung und Zustimmung. Ich führe sie nicht vor. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass ich keine special Fachperson bin, die der Weisheit letzten Schluss erzählt. Ich bin hier, um den Helferinnen eine Perspektive, meine Erfahrungen und Ideen zu vermitteln, nicht, um ihnen zu sagen, wie sie es richtig machen würden.
Die Ausgeschlossenheit ergibt sich aus dem Auftrag der Klientin. Die Helfer_innen helfen. Sie bekommt die Hilfe. Beide Parteien haben unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Beide Seiten bekommen die gleichen Informationen von mir – aber sie müssen unterschiedliche Dinge damit machen. Das ist das trennende Element. Das ist real, aber nicht lebensbedrohlich. Und auch etwas, das in meiner Situation früher ganz anders gelaufen ist.

Wir gehen mit einem versicherten Konsens über die allgemeine und wohlwollende Verbundenheit auseinander.
Ich lehne mich innerlich ein bisschen an R., die den Druck der Klapsleichen von mir abschirmt und halte ihr meine Hand hin. Jemand macht ein Foto von der Landschaft um das Haus.

Landschaftsaufnahme, dramatischer Wolkenhimmel, sanfte grüne Hügel und Bäume

Am Abend gehe ich wieder mit Daniela und Matthias essen.
Diesmal fotografiere ich vorher zwei andere Katzen.

hellblond-rote Katze neben zwei großen Terracotta-Kübeln auf der Straße

getigerte Katze, die direkt in die Kamera schaut und auf einem Tisch sitzt, umgeben von Terracotta-Kübeln

*

Am nächsten Tag regnet es wieder. In Norditalien gibt es Überschwemmungen. Ich schaue nach, ob es meine Rückreise verkompliziert und ärgere mich, dass ich nicht schon früher angefangen habe, Italienisch zu lernen. Es sollte aber alles klappen.
Ich lese bis sich eine Möglichkeit ergibt, die Klientin ohne Hilfeüberbau zu treffen. Ich darf zu ihr in die Wohnung, notiere mir aber im Geist, dass das eventuell schon ein Tick zu viel sein könnte. Pragmatisch gesehen wäre es kalt und oll geworden, wenn ich vor der Tür hätte bleiben müssen – emotional musste sie aber ein Stück ihres privaten Rückzugraumes für mich freigeben, obwohl sie mich nicht kennt und keinen Grund hat, mich oder Situationen mit mir als sicher einzuordnen. Vielleicht hätten wir das Treffen besser verschieben müssen auf eine Zeit, in der wir im Garten hätten sitzen können.
Unser Gespräch wird trotzdem nett. Als ich den Eindruck habe, dass sie erschöpft ist, gehen wir. Ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich mit Lisa, einer der Praktikantinnen, nach Arezzo zum Rumgucken fahre. Ein bisschen Erholung vorher ist genau die Grundversorgung, über die wir in den Tagen zuvor gesprochen haben.

Arezzo ist alt wie das Dorf beim Wohn- und Hilfehaus. Bisschen angerottet überall, aber auch aufgehübscht und modern. Ein bisschen wie in der Bielefelder Innenstadt, nur dass der Age-Gap nicht 18hundert vs. 50er bis 70er Jahre ist, sondern 13hundert vs. heute. Ich finds schön, wie mich die Straßen und Häuser mit den Leuten von so weiter Vergangenheit verbinden. Damals gab es sicherlich auch schon hundische Ladenchefs.

Rauhhaardackel, der in einer offenen Ladentür sitzt

In der Innenstadt finden wir verschiedene Geschäfte, am Rand einen Park mit schöner Aussicht. Mittendrin den Dom, dessen Innenausstattung außerordentlich beeindruckend ist. Wir essen ein winziges, sehr sehr gut schmeckendes Eis.

eine Kugel Schokoladeneis in einem Pappbecher

In einem kleinen Laden kaufen wir regionale Spezialitäten, für die mein Mann nie Geld ausgegeben hätte, und finden uns stark und erwachsen, weil uns die Schinken über dem Kopf nicht zum Kotzen gebracht haben. Für uns nehmen wir ein mehr als faustgroßes Stück Baiser mit. In der Tüte sieht es aus wie ein Stück harte Wolke.

großes Baiser-Stück in einer braunen Papiertüte

Am Abend gehen wir mit Daniela und Matthias in das Gasthaus eines anderen Ortes. Die Ereignisse des Vortages bewegen die beiden noch und auch dieser Tag war nicht so einfach. Ich bin müde. Ein letztes Mal esse ich ein Pastagericht und konzentriere mich auf die Tatsache, dass ich das hinkriege. Es ist alles anders als sonst, aber in den für mich wesentlichen Punkten noch vertraut genug, um nicht zu erstarren oder die Orientierung zu verlieren. Im italienischen Fernsehen läuft eine Debatte über Meloni und Musk. Ich kann nicht herausfinden, ob sie kritisch geführt wird oder nicht.
Nach unserer Verabschiedung schiebt sich meine Sorge um die Rückfahrt noch eine ganze Weile gegen den Schlaf. Mit einigem Gepopel kriege ich die Verbindung in die Deutsche Bahn-App und immerhin auch die italienischen Tickets in die Trenitalia-App. Da steht zwar noch nicht, worüber ich mir die meisten Sorgen mache – nämlich die Gleisnummer, damit ich einschätzen kann, wie viel Verspätung okay und wie viel ein Problem ist – aber immerhin. Am nächsten Tag würde ich bei Mastodon nachfragen. Manchmal hat man ja Glück.

*

Am nächsten Tag drückt mir Daniela ein Osternest in die Hände. Dann sagen wir Tschüss, Ciao und Auf Wiedersehen und fahren mit einem Fiat kaum größer als mein Aixam über die Hoppelstraße nach Arezzo.
Ich drücke Daniela zum Abschied und klatsche mit Matthias ab. Die beiden haben heute noch viel auf dem Zettel, ich bin froh, nur eine Aktivität schaffen zu müssen: 20 Stunden lang und durch 3 Länder Zugfahren.

Ich kenne weiterhin nur das Abfahrtgleis des ersten Zuges und reize mein Hoffen auf Glück bei Mastodon aus. Und tatsächlich konnte jemand helfen. Die Gleise stehen in Italien einfach immer erst kurz vor knapp fest. Gnah. 😅 Aber ich kann mir den Status der Züge jeweils anzeigen lassen und dort kann ich auch die Gleisangaben am frühsten finden.

Alles klappt ohne Probleme. Es gibt interessante Momente, zum Beispiel einen Servicewagenmann, der 10 Minuten vor Ankunft in Bologna noch seelenruhig in den Gang reinsteuert und Kaffee verkauft, obwohl der halbe Wagen da aussteigen will. Oder auch eine junge Person, die ihr Kaninchen dabeihat und zum Streicheln rausholt. Aber insgesamt bin ich zu müde, um viele weitere Informationen oder Reize aufzunehmen. Ich schaue mir viele Alpenstücke an, lese zwei Geschichten in meinem Buch und bestimme endlich den Skorpion, den Daniela zwei Tage vorher aus dem Aufenthaltsraum getragen hat.

Euscorpius italicus, kleiner Skorpion auf hellem Steinboden
Euscorpius italicus

In Innsbruck warte ich zwei Stunden auf den Nachtzug, der fährt erst drei Stunden später los. Das Liegen tut mir gut. Natürlich werde ich von der Grenzkontrolle wach, aber selbst nicht kontrolliert. Klar, ne weiße weibliche Einzelperson, da ist wohl nicht viel Gefährdungspotenzial drin.

Als ich aufwache, sind wir bei Würzburg. Als ich zu Hause bin, habe ich eine Reise von 24 einhalb Stunden gemacht. Mein Mann bekommt seine Mitbringsel, ich ein Mittagfrühstück. Das Osternest von Daniela ist süß. Gut, dass ich es mir erst zu Hause in Ruhe angeguckt habe.

Ich bin froh, dass ich sie in echt getroffen habe.
Dankbar, dass sie mich eingeladen hat, diese Selbst- und Lebenserfahrung zu machen.
Zufrieden mit meiner Leistung.
Glücklich, dass es mir heute so gut geht, dass ich das machen konnte.

Weltautismustag 2025

Gestern ist mir bewusst geworden, dass schon 10 Jahre vergangen sind, seit die Autismusdiagnose feststeht. Soweit meine eigene Autism Awareness.

10 Jahre, das fühlt sich komisch an, weil es gleichzeitig viel und wenig Zeit war.
Ich habe einige Texte geschrieben, wenn Weltautismustag war und ich finde sie alle gut. Und wichtig. Sie machen meine Entwicklung, meine Auseinandersetzung nachvollziehbar und ich freue mich darüber, das geschafft zu haben. Auseinandersetzung und Entwicklung.

Als ich „worum es geht“ geschrieben habe, war ich am Ende meiner Arbeit dazu, wie ich so lange nicht als autistisch erkannt werden konnte. Und was das bedeutet. Worum es dabei ging. Warum mir das immer noch weh tut. Was ich akzeptieren muss, während nicht autistische Menschen nichts akzeptieren müssen.
Das Buch war ein guter Schlusspunkt für meine Auseinandersetzung zum Warum.

Jetzt schreibe ich über das Wie. Jetzt kann ich das.
Seit meine Therapeutin und ich den Autismus mitdenken, seit meine Therapeutin besser verstanden hat, funktioniert die Traumatherapie für mich.
Ich habe kein stressbedingtes Fieber mehr nach den Stunden. Ich kann mich an die Stunden erinnern. Ich kann sagen, worüber ich sprechen möchte. Ich kann außerhalb der Stunden ausprobieren, was helfen könnte und meine Erfahrungen damit vermitteln. Ich kann mich körperlich und seelisch fühlen, obwohl es nach wie vor schwierig für mich ist, von ihr beobachtet zu werden. Der ganze Druck über die Möglichkeit, sie in ihrem Eindruck, ihren Annahmen über mich zu enttäuschen, ist nur noch sehr selten da. Und wenn – dann kann ich das sagen. Und in ihrer Reaktion Sicherheit finden. Ich kann sie dann verstehen. Und ihr glauben.

In den letzten Jahren konnte ich mich meinen Traumatisierungen als Erfahrungen widmen. Nicht mehr nur als abstrakt diffuse, eindeutig schlechte, falsche, schlimme, unaushaltbare Symptomquelle. Als Ursprung allen Übels. Sondern als Momente, die mit Empfindungen, Gedanken und Emotionen, mit Ideen und Überzeugungen zu tun hatten.
Das tut mir gut. Ich kann sagen, dass ich an einem Punkt bin, an dem ich mein Leben in die Hand nehmen kann, um es zu befühlen. Nicht wie ein Stück frische Lava, sondern wie ein Fossil. Nicht betäubt von Dissoziation, nicht erschöpft von Vermeidung und Kompensation, sondern von Sicherheitsgefühl ermutigt und gestärkt von inzwischen auch angenehmen Selbsterfahrungen.

Ohne die Kaskade der Klarheit über mich selbst nach der Diagnosestellung wäre ich da nicht angekommen. Ohne die Anpassungen, die meine Therapeutin leistet, erst recht nicht.

Dass ich eine Mitwelt brauche, in der sich andere Menschen an mich anpassen und sich anstrengen müssen, etwas dafür zu tun, dass etwas für mich erlebbar wird – zugänglich, verständlich, möglich, aushaltbar, erträglich – das ist eine brachiale Erkenntnis für mich gewesen. Eine, die ich abgewehrt habe, bis ich bemerkte, dass diese Abwehr ableistisch ist. Und eine Wiederholung. Eine Selbstverletzung.
Ich arbeite inzwischen in einem Inklusionsbetrieb. Der Prozess um diese Stelle und mein Wechsel von der freien Buchwirtschaft dahin hat mir sehr deutlich aufgezeigt, wie umfassend ich mich überstreckt habe, um überhaupt ins Arbeitsleben der Nichtbehinderten zu kommen. Dass ich sehr wohl massive Schwierigkeiten in der Selbstorganisation habe. Sehr wohl Unterstützung bei der Definition und Verteidigung von Leistungsgrenzen brauche.
Dass diese ganze Arbeitsnummer überhaupt nur funktioniert, wenn ich jemanden dafür an der Seite habe. Wenn mein Mann die Kraft hat, meine Kraftverluste zu kompensieren. Wenn meine Freund_innen mich an die Beiderseitigkeit unseres Kontaktes erinnern. Wenn meine Projektfreund_innen mich an die Allerseitigkeit von Verantwortung erinnern und mich dabei unterstützen, nicht in soziale Fallen zu geraten, die mich letztlich ausbrennen.

Für mich ist es nach wie vor ein heikles Unterfangen, meine Behinderung, speziell den Autismus, zu benennen und anderen Menschen zu vermitteln, was ich brauche. Immer noch ist das ein Trauma-Autismus-Mischpunkt.
Ich will nicht stören – tut mir leid, dass ich existiere, ich weiß, das nervt so hart (Trauma)
Ich muss stören, denn nichts hier ist so gemacht, dass mein Existieren kein Problem ist oder zu Problemen führt, die andere Menschen möglicherweise an den Gedanken bringen, dass es besser wäre, ich würde nicht existieren. (Autismus)
Ich wünschte ich wäre unsichtbar (Trauma)
Ich wünschte meine Behinderung wäre sichtbar (Autismus)

Besonders in diesen Momenten – den Momenten, in denen ich es sagen muss, wenn ich meine Selbstfürsorge, meine Gesundheit, meine seelische Integrität ernst nehmen will – brauche ich, dass sich andere für mich mit anstrengen.
Ich brauche, dass sie es nicht persönlich nehmen. Dass sie den Impuls der Abwehr als die Kraft nutzen, die es erfordert, auf mich zuzugehen. Dass sie nicht ihre Selbsterfahrungen in einer ähnlichen oder auch der gleichen Situation zur Grundlage nehmen, um einzuschätzen, wie es für mich ist.
Denn erst dann fühle ich mich nicht mehr bedroht oder gefährdet. Erst dann komme ich in den Zustand, in dem ich selbst überhaupt die Chance habe, mich selber zu fühlen und ganz bewusst zu erfahren, was mit mir passiert. Wie sich das anfühlt, diese Erfahrung zu machen. Was das für eine Erfahrung ist. Wie ich in dieser Situation bin. Nur so komme ich überhaupt in die Lage, die Situation zu erinnern und beschreiben zu können.

Wie umfassend ist, was mir unmöglich wird, wenn ich es nicht sage, macht mich inzwischen traurig. Für mich selbst. Um mich selbst. Obwohl ich auch verstehe, dass mein Crip Privilege da eine Rolle spielt – es ist einfach oft besser so unsichtbar behindert zu sein, weil in unserer Gesellschaft behindert zu sein mit scheiße sein gleichgestellt ist, darüber brauche ich nichts mehr schreiben.
Aber gerade weil ich das verstehe, macht es mich traurig. Denn mehr als Überleben sichert mir auch mein Crip Privilege nicht.
Jetzt, wo meine dissoziative Störung zurückgeht und ich auch mehr und mehr Zugang zu Erinnerungen an meine Jugend und Kindheit habe, wird mir bewusst, was ich für ein Leben hatte bis die Therapie wirklich funktioniert hat. Es war nicht immer schlecht und schlimm. Aber lebenswert halt auch nur bedingt.

Wäre ich kein autistischer Mensch, wäre es sicher ganz anders für mich gelaufen.
Aber wäre meine Umwelt, meine Mitmenschen nicht behindertenfeindlich, dann auch.

so

Jemand soll

bloss nicht

kommen.

Eine Traurigkeit. Eine Agonie so dicht, dass es sich nach Ersticken anfühlt.
Eine sumpfige Schicht unter meinem Alltagstrallala.
Wenn ich mit mir allein bin, quillt sie durch die Risse in meinem Selbst.
„Ein anhaltender emotionaler Flashback“ Schlaubi-Hannah sitzt in ihrem Intellekt-Gummiboot und nutzt jede Gelegenheit, um den Auftrieb zu erhöhen.
Der emotionale Flashback, das Kernstück der komplexen PTBS. Das Ding, das eigentlich alles an dieser Therapie, diesem Leben, diesem Heilen so schwer macht. Der Kack, den man so schwer vermitteln kann an Leute, die weniger Schattierungen von Elend und Leid kennen. Der Scheiß, der nur entstehen kann, wenn es nicht nur einmal kurz schlimm war. Sondern

eigentlich,

in Wahrheit,

wenn man ehrlich ist,

LEIDER,

egal, wie es dann im Einzelnen, Konkreten war,

immer

immer

immer

(((schlimm)))

war.

Das Wissen um dieses Symptom macht den Boden von meinem Gummiboot durchsichtig. Ermöglicht mir Sichtkontakt. Gibt mir die Chance, einen Bezug herzustellen und zu erkennen, wo er spontan passiert ist. Was der Auslöser war und was ein Auflöser sein könnte.
Wenn es um emotionale Flashbacks geht, brauche ich nicht überlegen, ob es ein Geräusch, ein Geruch, ein Gegenstand, eine soziale Situation war, die sie ausgelöst hat. Ich muss wissen und verstehen, wie sich für mich angefühlt hat, was ich erlebt habe. In meinem Alltag. Meinem Jetzt. Sonst ergibt es keinen Sinn und ist nur verwirrend und belastend.

Es hat mit der Operation angefangen. Schon vorher. Ein bisschen. Wie eine Welle von seichtem Gewässer. Weit weg. Schwach. Zu wenig für meinen Relevanzrahmen. Zu wenig für mich, um zu begreifen, dass jemand in mir, ich, etwas fühlt. Jemand soll – bloß nicht – da sein. Kann bitte – auf gar keinen Fall – irgendjemand – NIEMAND – mich – sehen? Wer kommt? Wer kommt nicht? Kommt jemand? WER? Was passiert? Passiert DAS? Nein Ja Immer immer immer für immer immer immer seit immer immer immer
Und als mein Stein im Schuh, der in Wahrheit ein Gebirge ist, zu einem Lehmklümpchen geworden war, wurde aus der kleinen sachten Welle – dem Wellchen irgendwo im fernen Traumascheißeland – eine Überschwemmung, die ewige Sümpfe hinterließ. Ziehend kalte klamme Sumpftraurigkeit. Schwappende Lähmung. Unendlich tiefes Elend. Verlassenheitsgefühle, die sich wie ätzendes Gas anfühlen. Wie eine ganz eigene Todesfalle.
„Es wird niemand kommen“, das könnte so gut helfen, wenn es helfen würde. Aber es soll ja jemand kommen. Jemand soll ja da sein. Nur nicht so. So

so

SO

wie immer

damals immer

In diesem Sumpf k.lebt nicht nur ein Innen. Ein Opferkind. Ein Kinderinnen im Traumafreeze. Eine einzige Erfahrung, die ich prozessieren muss. Ein Blick, ein Reality-Check und zack bumm trilili sigh of relief.

Das ist etwas, das ich aus meinem Leben kenne und runterdrücke bis ich nicht mehr kann. Dann breche ich kurz zusammen und gehe weiter. Weil keiner kommt. So wie ich das brauche. Will. Möchte.
Ich kann nicht vorleben, wie der Umgang sein könnte. Wie diese Traurigkeit, diese wirre Widersprüchlichkeit zwischen Wollen, Durchhalten, Aushalten, Warten, Hoffen und Wünschen, Realitäten, Ängsten und Nöten, irgendwie geklärt werden kann. Wie die weggehen kann. Denn in meinem Leben geht sie – in Bezug auf ganz andere Sachen – weit weniger traumatische Grauenhaftigkeiten – ja auch nicht weg.
Außer mir ist niemand

so

für mich da.

Das ist nicht genug für eine Auflösung.
Aber das kann ich durch die kleine Scheibe in meinem Gummiboot vermitteln. In den Sumpf einsickern lassen.
Ich bin da.
Ich bin so.

So wie jetzt.

Reblog: Infos zum „Fonds Sexueller Missbrauch“ von Paula Rabe

Das „Ergänzende Hilfesystem„(EHS) unterstützte seit 2013 von sexualisierter Gewalt Betroffene, wenn andere Leistungsträger (wie z.B. Versorgungsämter oder Krankenkassen) nicht (mehr) halfen, bzw. helfen wollten. Bis zu 10.000 Euro (plus maximal 5000 Euro bei behinderungsbedingtem Mehrbedarf)

Infos zum „Fonds Sexueller Missbrauch“

Diagnose: Problemverschiebung, Selbstdiagnosen nach Konsum von Internetcontent sind nicht das Problem

„Ich bin Jenni und ich bin ein nicht menschlicher Anteil im System“, kommt es aus dem Smartphone. Ich sitze im Zug und scrolle Insta-Reels soweit der Empfang reicht. Es ist nicht das erste Reel zum Thema DIS und auch nicht das Letzte, das mir in den nächsten 20 Minuten präsentiert wird.

Ich merke, dass es mir schlecht damit geht. Spüre, wie hilflos und ohnmächtig ich mich vor dieser Flut von Videos junger, häufig normschöner Menschen fühle, die so scheinbar selbstbewusst und fröhlich so viel Desinformation, Vorurteile und falsche Vorstellungen von Psyche reproduzieren. Aber dann kommt ein Golden Retriever Welpe, der durch eine Wiese tapst. Auggie, eine Quakerparrot-Dame, die ihren Bacon Pancakes-Tanz macht. Tahism, der mich mit so traurigem Scheiß zum Lachen bringt. Und so vergeht eine halbe Stunde. 30 Sekunden „Ich bin nie einsam – ich bin viele“, 3 Minuten politisches, 2 Minuten AI generierter Inhalt, der nicht als solcher gekennzeichnet ist, 3 Minuten Tiere. Ein Tanzvideo zu 5 Zeichen von Autismus, die ich als autistischer Mensch weder habe noch in den Diagnosekriterien finden würde.
Der Algorithmus gibt alles. Habe ich erst einmal eines dieser Videos ganz angesehen und mir auch die Kommentare darunter durchgelesen, kommen immer neue. Erst von dieser einen Person, dann von allem, was den Hashtag drunter hat. Ob ich will oder nicht. Ob diese Videos absoluter Unsinn, schädigender Müll oder perfekte Meisterwerke nach wer weiß wie viel Arbeit sind oder nicht. Erfüllt meine Interaktion mit der App die Kriterien für Interesse, werde ich damit gestopft, solange ich online bin.
Was ich in Bezug auf Hundewelpen und diskriminierte Personengruppen, die sonst nirgendwo Gehör bekommen, kaum problematisch finde, ist in Bezug auf DIS, aber auch andere Erkrankungen ein echtes Problem.[1]

Gerade ist im „Harvard Review of psychiatry“ ein Artikel mit dem Titel „Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment“[2] erschienen. Ein Artikel, der thematisiert, wie der Konsum von Videos zum Thema DIS (in US-Amerika DID) auf Plattformen wie TikTok und YouTube mit der Selbstdiagnose einer DIS zusammenhängt.
Die Autor*innen schreiben: „An emerging concern, however, is that inaccurate and misleading social media discourse on DID may provide a new impediment to effective diagnosis and treatment via what Chevalier called the “looping effect” of social media on psychiatric diagnosis. In this effect, lay and inaccurate mental health claims on social media ultimately influence professional discourse and practice; the sheer ubiquity of misleading claims about DID on social media may convince mental health consumers and practitioners alike.“ – sinngemäß: Weil es mehr Stuss als fundierte Inhalte gibt, wird auch mehr Stuss geglaubt. Und zwar nicht nur bei bestimmten Personengruppen, sondern von allen. Auch Fachpersonen. Das, dieser von Chevalier so genannte „looping effect“, ist ein massives Problem für Betroffene jeder Störung, die selten ist und/oder eine gewisse Varianz im Erscheinungsbild hat.

Ich möchte in diesem Text jedoch ein bisschen umfassender auf das Thema schauen.
Für mich hat dieser Komplex ein Was, ein Wie, ein Warum und eine persönliche Komponente, weil ich selbst mit zwei der Diagnosen lebe, die aktuell als die Krankheiten besprochen werden, mit der man sich bei Nutzung von Social Media gewissermaßen „sozial ansteckt“. Aber auch, weil ich als Blogger_in und Podcasthost tätig bin.

Das Was – Selbstdiagnose oder (Selbst)Identifikation?

Eine Selbstdiagnose ist das Ergebnis laienhafter Beurteilung von Merkmalen, Symptomen oder Prozessen, mit oder ohne Zuhilfenahme dafür geeigneter oder ungeeigneter Hilfsmittel.
In der Auseinandersetzung mit Social Media als angenommenen Ausgangspunkt für Selbstdiagnosen psychiatrischer Diagnosen stellt sich mir die Frage, ob es nicht zu viel ist, die Annahme einer eigenen Betroffenheit von Medienkonsument_innen als Selbstdiagnose einzuordnen. Wird hier Selbstidentifikation überhöht, um eine Problembeschreibung zu generieren, von der man sich mehr Anerkennung verspricht, wenn sie danach klingt, als würden sich die Kranken zu Doktor_innen erklären?

Was ist was?

Eine Selbstdiagnose kann im professionellen Diagnostikprozess dabei helfen, die eigene Perspektive auf das Erleben bestimmter Symptome, Merkmale und Prozesse zu kommunizieren und mit der Fachperson und ihrer Einschätzung abzugleichen.
Eine Selbstdiagnose ist in keinem Fall gleichzusetzen oder in ihrer Aussagekraft gleichzustellen mit einer professionell zustande gekommenen Diagnose durch eine qualifizierte Fachperson. Dieser Umstand ist jedoch keine Aussage darüber, welche Diagnose die per se richtige im Sinne von „die zutreffende“ ist. Zu jeder Diagnose gehört das Potenzial der Fehldiagnose. Das gilt für Selbstdiagnosen genauso wie für Diagnosen nach professioneller Diagnostik. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fehldiagnose höher bei der Selbstdiagnostik, weil Laien nicht die entsprechende Ausbildung und die nötige Anleitung haben. Zudem erfordert jede Diagnostik eine gewisse Objektifizierung der betreffenden Person, die aus sich selbst heraus praktisch unmöglich zu leisten ist. Das Nachdenken und auch das Beobachten der eigenen Person ist immer subjektiv.

Die (Selbst)Identifikation oder auch Selbstzuschreibung passiert bei Menschen meistens vor- oder unbewusst. Also unabsichtlich und intuitiv. Es ist die menschliche Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen und ihrer Gefühle, aber auch in die Haltung von Menschengruppen hineinzuversetzen, die dazu führt, dass sich Zugehörigkeitsgefühle entwickeln oder auch nicht. Die Herausbildung einer eigenen Identität wäre unmöglich ohne die Fähigkeit der Selbstzuschreibung bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten, die dazu beitragen, dass man sich als anderes Subjekt als die Subjekte um sich herum erleben kann.
Selbst(bestimmte) Identifikation dient also sowohl der Grenzziehung zu anderen Menschen („Ich bin nicht du“), aber auch der Definition von Grenzen („Wir sind beide Menschen, die Blumen mögen.“)

Social Media – die Echokammer, in der man im Kreis läuft

Die gesamte Architektur von Social-Media-Plattformen dient der Verschiebung verschiedener Grenzen im Individuum, während künstliche Grenzen durchgesetzt und aufrechterhalten werden. So können Nutzende zwar den Eindruck haben, sie würden etwa bei Instagram und TikTok oder früher auch Twitter und Facebook auf verschiedenste Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe treffen – tatsächlich aber sprechen sie immer in künstlich generierten Kohorten, die sie selbst spiegeln. Dieser Umstand wurde bereits vor Jahren breit diskutiert, als der Begriff der „Filterblase“ dafür gefunden wurde.
Diese digital generierten Filterblasen führen zu kommunikativen Echokammern, in denen der inhaltliche Fokus für Themen und Inhalte immer schärfer verengt wird. Bestimmte Haltungen oder Meinungen oder Perspektiven darauf können dann kaum noch als extrem, desinformiert oder problematisch konfrontiert werden. Es fehlt an Möglichkeiten des Abgleichs und der Korrektur. Gleichzeitig gibt es weiterhin sehr viele Möglichkeiten der Identifikation und Zugehörigkeitsempfindung. Man bekommt zu keinem Zeitpunkt den Anstoß zur neuerlichen Selbstdefinition.

Die digitale Filterblase kann ein Individuum nicht durchdringen. Die Kontrolle darüber, zu welcher Blase ein_e Nutzer_in gehört, übernehmen Code und Maschine, die von Konzernen mit ganz eigenen Interessen bestimmt funktionieren. Lediglich die eigene Echokammer und ihre bestimmende Wirkung kann in Teilen beeinflusst werden. Hierbei spielen die verbrachte Zeit, Umfang, persönliche Beteiligung und ein kontrastreiches Portfolio der verfolgten Accounts eine Rolle.

Im Kontext der problematisierten Selbstdiagnose mit psychischen Krankheiten wird in dem oben erwähnten Text von „Kindern und Jugendlichen“ (children and young people) gesprochen. Einer Personengruppe, bei der sogenannte „Zwischenidentitäten“ die Norm sind, also die Entwicklung der Identität eine bestimmende Rolle im Alltag einnimmt.
Für diese Personengruppe ist social media ein Spiegelkabinett, das sie schneller und eindeutiger zu einem Identitätsgefühl führt als es die analoge Kommunikation und Interaktion je könnte.
Als verstärkender Faktor wird in dem Artikel übrigens die COVID19-Pandemie genannt. Eine Zeit, in der das analoge Leben von vielen Menschen in westlichen und kapitalistisch starken Gesellschaften als unangenehm fremdbestimmt und ungewohnt angstvoll erlebt wurde. Besonders von Kindern und Jugendlichen, deren Schutz und Unterstützung zu spät und wenig passiert ist. Das Smartphone und der endlose Schwall von dem, was sich gut und passend, zugehörig und kongruent anfühlt – das war für eine spezifische Gruppe Kinder und Jugendlicher verfügbarer als die analoge Peergroup und gemeinsame Aktivitäten, die ebenfalls der Identitätsbildung dienlich sind.

Wie können wir – wie müssen wir über uns sprechen?

DID bzw. DIS, die dissoziative Identitätsstörung, wird an vielen Stellen im Internet, auch hier in meiner Präsenz, selten als Krankheit beschrieben. Bei mir ergibt sich diese Darstellung aus einem soziologischen und psychiatriekritischen Diskurs heraus. Ich differenziere zwischen dem medizinischen Blick auf mich als pathologisierter Körper und dem Blick, den ich selbst aufgrund meiner Selbst- und Umweltwahrnehmung auf mich habe.

Bei anderen Betroffenen erfolgt die Selbstbeschreibung als „nicht krank“ manchmal aus einer ableistischen Abwehr heraus. Also der Weigerung, sich als krank zu bezeichnen, weil sie Krankheit mit Minderwertigkeit verbinden. Wieder andere verstehen ihren Zustand, genauer gesagt ihre Symptome als naturgegeben (im Sinne von „vom Leben mit Trauma so gewachsen“) und ihren Lebensstil entsprechend absolut individuell und eben nicht pathologisch. Hier gibt es häufig Anknüpfungspunkte an ableistische und opferfeindliche Grundhaltungen, die der Abgrenzung dienen.
Es gibt auch Betroffene, die gar kein Interesse daran haben, sich überhaupt zu erklären oder die fachliche Konstruktion und Diskurse weder durchdringen können (oder wollen) noch Fachbegriffe verwenden, um ihr Selbstempfinden zu beschreiben.

Diese Selbstpositionierungen sind einerseits von vielen Betroffenen überhaupt nicht reflektiert oder als relevant empfunden. Andererseits können sie von jenen, die sie reflektiert haben und als relevant empfunden werden, in 30 bis 60-Sekunden-Videos oder Formaten niemals umfassend kommuniziert werden. Selbst ausgeschrieben in Text oder eingesprochen zu einem Audiobeitrag ist es Betroffenen nicht möglich, diese individuelle Positionierung immer so mitzuvermitteln, dass sie den Ansprüchen moderner Kommunikation in sozialen Netzwerken oder Plattformen wie Blogs und Podcasts gerecht werden.
Je länger, komplexer und umfassender ein Beitrag ist, desto schlechter klickt er sich. Es sind aber die Klickzahlen, die darüber entscheiden, wie viele Menschen welcher Filterblasen damit erreicht werden. Die Reichweite ist für Plattformen wie YouTube und Instagram wiederum die relevante Größe, um finanzielle Interessen zu verfolgen. Interessen, die viele Content Creator_innen und Influencer_innen teilen.

Die (Selbst)Darstellung auf Plattformen als Person mit DIS ist entsprechend erfolgreicher, wenn die DIS als eine persönliche (möglichst gar nicht mal so unsympathische) Eigenschaft kommuniziert wird. Als etwas, dessen Symptomatik relatable, also zur (Selbst)Identifikation einladend ist. Denn nur wenn Zuschauer_innen sich eindeutig verbunden oder auch abwehrend bzw. allgemein emotional reizend nicht verbunden fühlen, schauen sie bis zu Ende, kommentieren und teilen den Beitrag.

der Vibe – die Realität?

Selbstidentifikation ist es daher, was meiner Meinung nach in der Mehrheit der Fälle passiert, wenn eine junge Person nach einigen Videos der Ansicht ist, eine DIS oder Anteile davon zu haben. Es fühlt sich gut für sie an. Richtig. Passend. Zugehörig. Dann kann es doch nicht falsch sein? – Leider ja, leider doch. Und die Konsequenzen daraus, was manche Menschen machen, weil sie denken, sie hätten eine bestimmte Krankheit oder Eigenschaft oder Behinderung oder auch einen bestimmten Status, obwohl das nicht stimmt, ist ein Problem. Vor allem in Bezug auf Medien, die mit Reichweite und entsprechender Verantwortung einhergehen.

Eine Selbstdiagnose denke ich als etwas, das nach der Selbstidentifikation einen Schritt weitergeht und ohne konkreten Leidensdruck unter den spezifischen Aspekten, die als identisch empfunden werden, gar nicht gemacht wird. Denn wenn es sich einfach nur gut anfühlt, dann ist es kein Problem.
Wer also so weit geht, dass sie_r sich in Selbsttests und den Moloch der Diagnostik nach unabsehbar langer Fachpersonensuche begibt, hat wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit Leidensdruck und den Wunsch oder den Bedarf an professionellem Abgleich.
Was das Problem dabei sein soll, wenn belastete Menschen etwas gegen ihre Belastung tun und machen, was ihnen bei einer Selbstdiagnose mit Selbsttests zwangsläufig zusätzlich mitgeteilt wird („Dieser Test ersetzt keinen Arztbesuch. Suchen Sie zur Sicherheit eine professionelle Fachperson und besprechen Ihre Ergebnisse mit ihr_m.“) – das erschließt sich mir in der Sache nicht.

Die Diagnostik dissoziativer Störungen erfordert umfassendes und fundiertes Training. Wer sich nicht damit befasst hat, sollte es als Fachperson auch nicht anbieten. Von diesen Fachpersonen gibt es jedoch nicht viele. Diese Diagnostik gehört nicht zur Standardausbildung.
So werden mehr Patient_innen, die darum bitten, zur Belastung in einer bestehenden Mangellage. Das macht jedoch weniger die verstärkte Nachfrage zum Problem, sondern die weiterhin unzureichende Ausbildung und Verfügbarkeit von Fachpersonen, die in der Lage sind, dieser Nachfrage zu entsprechen, wie es auch die Autor_innen in dem Artikel beschreiben.

Die Problematisierung des Verhaltens junger Menschen auf der Suche nach Entlastung und Klärung, so wie es zuletzt in NZZ[3] passierte, ist meiner Meinung nach eine Verantwortungsverschiebung von Seiten derer, die strukturell besser aufgestellt sind, die Mangelsituation sowohl der Allgemeinbevölkerung als auch den politisch Verantwortlichen sichtbar zu machen. Und zudem auch nur deshalb überhaupt anschlussfähig in der Gesellschaft, weil Krankheit und Behinderung weiterhin nicht als Teil der Norm(alität) akzeptiert und inkludiert wird.

das Wie – Video ist nicht gleich Video

Gleiches gilt für die inhaltliche Beurteilung von Medienprodukten zum Thema. In der Community von Menschen mit verschiedenen Diagnosen im Zusammenhang mit Traumafolgestörungen finden regelmäßig umfangreiche Kritiken über Filme und Bücher statt, die desinformieren oder Vorurteile verbreiten. Es ist für Allys oder auch Unbeteiligte (als Filmemacher_innen, Drehbuchautor_innen, Künstler_innen etc.) leicht in Kontakt zu kommen und es besser zu machen. Leider wollen und können die wenigsten – selbst jene, die mit Betroffenen sprechen – sich wirklich in die Vielfalt dieser Community und die wissenschaftlichen Fakten aller relevanten Aspekte begeben und sich selbstkritisch mit ihrem Projekt auseinandersetzen. So kommt es immer wieder zu Filmen oder Projekten, die gut gemeint und letztlich doch schlecht bis schädigend sind, weil sie doch wieder Klischees oder Desinformationen reproduzieren.

Für Betroffene, die außer einem Handy, etwas Freizeit und dem Willen etwas zu teilen nichts haben hingegen, gibt es in der Regel keine Budgets über Förderungsprogramme oder Ähnliches. Es sind also überwiegend laieninformierte Laienproduktionen, die subjektive Er_Lebensrealitäten inszenieren bzw. kommunizieren und sollten als solche auch verstanden und beurteilt werden.

Dieser Umstand ist das Konzept von YouTube und jüngeren Social-Media-Plattformen.
Die breite Akzeptanz dieser Plattformen entspringt dem großen Selbstidentifikationspotenzial. Aus diesem Potenzial ergeben sich viele Möglichkeiten der kapitalistischen Ausbeutung. Dieser Motivation folgend, gab es in den vergangenen 20 Jahren eine zunehmende Professionalisierung. Es ist ein Beruf geworden, YouTube oder Instagramvideos zu produzieren. Nicht immer sind diese Professionalisierung und die wirtschaftlichen Zusammenhänge dieser Creator_innen zu erkennen. Der unprofessionelle Look eines Videos kann heute durchaus zum Konzept gehören, die inhaltliche Fragwürdigkeit die Key component des gesamten Kanals sein.
Man tut gut daran, sich bei jedem Video zu fragen, wen oder was man am Ende kaufen, glauben oder akzeptieren soll. Diese Selbstbefragung gehört zu den Medienkompetenzen, die zunehmend weniger Menschen anwenden – und in Bezug auf einen Konsum von Medien, die kurz, emotionalisierend, endlos und unvorhersehbar auf die_n Konsumenten einwirken, auch gar nicht umfassend angewendet werden können.

Im Zusammenhang mit der Problematisierung von Selbstdiagnosen psychischer Krankheiten kann in der Folge eigentlich nur eine Forderung zur Lösung gestellt werden: Psychische Krankheit bzw. psychische Gesundheit darf nicht mehr Thema in Laienproduktionen sein. Nur so können schließlich Desinformation und der erwähnte „looping effect“ verhindert werden.

Meiner Meinung nach wäre dies ein Rückschritt und eine Übergriffigkeit in die Rechte erkrankter und/oder behinderter Menschen.
Warum sollte Julia ihre LEBENSVERÄNDERNDE Morgenroutine und Hannes seinen Trainingstag in der selbst gebauten Survivalhütte zeigen dürfen, aber Lana nicht, was ihre x-te Operation am behinderten Körper mit ihrer Seele macht, oder Hannah, welche Themen sie nach 21 Jahren Komplextrauma beschäftigen? Warum darf Julia wirkungslose Kosmetik und Hannes gesponsortes Werkzeug zeigen, ohne das als Werbung zu kennzeichnen, aber Lana nicht, welche Tools ihr in depressiven Episoden helfen? Und wie soll durchgesetzt werden, dass Hannah nur noch fachlich korrekt und makellos rein veröffentlicht, ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung und die allgemeine Pressefreiheit einzuschränken?

Oder ist es letztlich das, worum es geht?

das Warum – Nichtbehinderte gonna nicht behindert

Mir fehlt in diesem oben zitierten wissenschaftlichen Artikel, aber auch in Artikeln, die sich damit befassen, dass immer mehr junge Leute nach einer ADHS- oder Autismus-Diagnostik suchen, die Anerkennung der Lebensrealität behinderter und chronisch kranker Menschen als eine, die praktisch ohne öffentlichen Resonanzraum ist.

In meiner diesjährigen „Neujahrsansprache“ schrieb ich, dass mich die Nichtstofflichkeit des Internets gereizt hat, dieses Weblog anzulegen und regelmäßig zu schreiben. Ich hatte außer meiner Psychotherapie keinen sicheren Raum für meinen authentischen und selbstbestimmten Selbstausdruck und auch nur sehr überschaubare Möglichkeiten der Beteiligung an kritischer Debatte über die Diagnose DIS und ihrer Implikationen. Ich wollte niemanden stören, nicht zu viel sein – aber ich wollte mit eigenen Augen sehen, dass, was ich tue, ist.
Es war ein Leben voller nicht kompensierbarer Barrieren und Ausschluss, das mich ins Internet statt in eine Interessengemeinschaft oder einen Verein gehen ließ, und es ist der Umstand, dass sich daran nur wenig grundsätzlich geändert hat, dass es weiterhin so ist.

Das unbeauftragte und in aller Regel auch unbezahlte Teilen persönlicher Einsichten und Meinungen ist bei mir aus einer Einsamkeit entstanden, die ganz spezifisch für autistische und komplex traumatisierte Menschen ist. Ich weiß nur durch den Austausch mit anderen Blogger_innen und Social Media Content-Creator_innen mit Behinderung, dass es ihnen (primär) auch unabhängig von ihrem Erfolg so geht.

Es sind primär nicht behinderte Menschen, die Social-Media-Plattformen nutzen. Die meisten Content Creator_innen sind nicht behinderte Menschen. Psychische Gesundheit und Krankheit, Behinderung und Diskriminierung sind neue Themen, die im Zuge von Bemühungen um (für nicht behinderte, weiße, privilegierte Zielgruppen) gefälliges Diversity-Mainstreaming überhaupt Eintritt gefunden haben.
Entsprechend ist bis heute der Anteil von Content marginalisierter Personen mit dem Thema psychischer Krankheit oder Behinderung im Vergleich zum Content der Sparten Lifestyle und Reisen, Gaming und Popkultur, Unterhaltung und Bildung allgemein marginal.
Insofern sind auch die im oben erwähnten Artikel genannten Zahlen über eine „boomende DID Community“ mit etwas Salz und Pfeffer zu genießen. Ein Klick ist kein nachhaltig wirkender Konsum. Ein abgeschlossenes Abo bedeutet nicht automatisch auch eine_n aktive_n Konsument_in des Produktes. Zahlen aus dem US-amerikanischen Kontext sind nicht 1 zu 1 anwendbar auf Deutschland.

Selbst sehr große deutsche Accounts mit dem Thema DIS senden primär an eine in Relation gesehen nur furzgroße Filterblase hinein, die nur durch bestimmte Faktoren erweitert werden kann. Denn DIS haben nicht viele Menschen. Und von diesen wenigen Menschen sind nicht alle auf Social-Media-Plattformen aktiv. Und von denen, die aktiv sind, wollen gar nicht mal alle mit diesem Thema konfrontiert sein. Um also einen Riesenaccount mit dem Thema DIS zu bekommen, müssen Menschen ohne DIS angesprochen werden. Die müssen relaten können. Und das hinzukriegen, ist ein unfassbar hartes Brett. Weil nicht behinderte Leute immer ihre Maßstäbe anlegen an das, was behinderte Menschen erzählen. Als Creator_in, Influencer_in, Blogger_in, Podcaster_in muss man das ertragen/dissoziieren/für sich nutzen können oder wollen. Mit Zufall, intuitiv erstelltem Knallercontent, Talent oder Glück hat das absolut nichts zu tun. Es ist Arbeit. Eine Arbeit, die behinderte Menschen für nicht behinderte Menschen machen, damit andere behinderte Menschen davon profitieren können. Und zwar nicht im Sinne von „hihi haha witziiiich – dark Klapsi/Behindi-Humor“, sondern im Sinne von: „Ich bin nicht allein. Es gibt Worte, Bilder, Möglichkeiten zu benennen, was ich wahrnehme. Ich kann verbunden sein mit dieser Welt.“

die persönliche Komponente – eine „boomende Community“?

Im Internet, speziell auf Social Media, gibt es keine Communitys. Dort gibt es Publikum. Zielgruppen, die erreicht oder nicht erreicht werden.
Menschen, die auf Social Media Geld verdienen (wollen), haben die Begrifflichkeit der Community eingeführt, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Follower_innen, Konsument_innen, Zuschauer_innen haben, zu validieren. Diese Validierung führt zu einer Verharmlosung sowie der Verschleierung dessen, was dort meiner Ansicht nach tatsächlich passiert. Die umfassende Degradierung zum Resonanzkörper.

Die Resonanz: Überwiegend positiv.
Zu meiner schönsten Zeit auf Twitter gehörte Instagram zur positiven Wohlfühlecke des Internets. Katzenfotos, Essen, die schönsten Momente – alles fein. Immer.
Logisch – einkaufen, konsumieren soll sich gut anfühlen. Muss sich gut anfühlen, sonst macht es niemand. Inzwischen ist die Gier der Konzerne so groß wie ihre fehlende Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Heute ist auch Instagram für bestimmte Personengruppen kein rein schöner angenehmer Ort zum Im-Kreis-gehen und schöne Dinge „finden“.

Shitstorms that hit the fan, ohne dass jemand zum Saubermachen kommt

Cybermobbing, deep fakes, Shitstorms, Follower_innen, die Behörden mit ausgedachten Geschichten über Content Creator_innen beschäftigen, bis diese im echten Notfall zögerlich oder falsch reagieren, Rufmord, Stalking, Doxxing – digitale Gewalt hat viele Formen, und sie trifft immer Menschen.
Während die neckische Ute, die allen das Outfit zeigt, mit dem sie den Tag rockt, dahingehend frech augenzwinkernd sagen kann: „Huh, dafür krieg ich bestimmt wieder aufs Dach, aber ich sags trotzdem: Ich liebe Lederschuhe.“ – überlegt sich die hübsche Lifestyle-Influencerin Greta mit dem Stalker, der ihr seit Jahren nachstellt, ohne dass sie etwas dagegen tun kann, wo sie überhaupt drehen kann, ohne zu viel über ihren Aufenthaltsort nachvollziehbar zu machen. Beide bedenken eine ihrer Tätigkeit gewissermaßen inhärente Erfahrung bzw. Gefahr: Abwehr, Dislikes, den Shitstorm, die Möglichkeit einer konkreten Gefahr für Leib und Leben wegen etwas, woran sie nicht gedacht haben oder was sie schlicht auch gar nicht kontrollieren können.

Das an sich ist in unserer Gesellschaft etwas, das ich abstoßend und unserem Miteinander als Menschen unwürdig empfinde. Alle Menschen sollten sich immer sicher miteinander fühlen bei dem, was sie für sich und andere tun. Dass es Orte oder im Fall von Social-Media-Plattformen Kommunikationsräume gibt, die als individuell gefährlich gedacht und einfach hingenommen werden, finde ich inakzeptabel.

In den mehr als 10 Jahren, die ich hier meinen Weblog selbst hoste, selbst verwalte, selbst und inzwischen von Spenden unterstützt bezahle, musste ich mich bereits mit Angriffen befassen, die mich nicht nur verletzt und verunsichert haben, sondern gewissermaßen auch weiter in die Einsamkeit drängten, aus der ich mit meinem Schreiben heraustrete.
Statt mein Schreiben als Arbeit zur Kompensation meiner sozialen Behinderung anzuerkennen, wurde sie zu einem narzisstisch motivierten Akt erklärt, der eine generelle und gewissermaßen skrupellose sowie selbst erniedrigende Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung als nette, kluge oder tragisch gebeutelte, bemitleidenswerte Person beweist.
Statt zu sehen, dass ich mich durch meine Texte mit mir selbst verbinde, mich kennenlerne und als selbstwirksam erlebe, wie ich es sonst nirgendwo im Leben konnte, hieß es, ich würde schreiben, um mich nicht zu spüren und von meinen „wirklichen Problemen“ abzulenken.
Statt nachzufragen oder sonst wie in Erfahrung zu bringen, ob ich mit meiner Arbeit Geld verdiene, wurde und wird einfach angenommen und über mich erzählt, ich würde hier scheffeln und nur behaupten, dass ich in Armut gelebt habe.

All dem liegt die Annahme zu Grunde, dass ich und die Dinge, die ich hier teile, in Wahrheit gar nicht sein können. Ich schreibe nicht wie Annabell, die auf TikTok ihre Anteile wie Soapcharaktere vorstellt und dann einen Föhn in die Kamera hält – ich kann gar nicht viele sein.
Ich beschreibe nicht haarklein – ich deute nicht mal implizit irgendwie an, wie ich in dunklen Kellern von Kuttenmännern willenlos gequält wurde – ich kann gar keine organisierte Gewalt erlebt haben.
Ich kann zwei drei wissenschaftliche Zusammenhänge zu Trauma, Gewalt und Dissoziation in ein paar geraden Sätzen erläutern – ich kann ja gar kein Laie sein, die_r sich aus Gründen seit über 20 Jahren damit befasst.
So wie ich sage und mitteile, wie es ist, kann es in Wahrheit gar nicht sein – weil andere meine Lage anders empfinden als ich, weil sie was anderes machen würden als ich, weil ihre Vorstellungen von Angemessenheit anders sind als meine … what ever.

Ich kann als Sender_in nie ganz beeinflussen, was bei wem wie ankommt.
Der Clash zwischen anderen Menschen und mir ist meinem Leben und meinem Selbstausdruck so sehr eingewoben – es hat keinen Sinn für mich, diese anderen Menschen zum Maßstab in dieser Sache zu machen. Das Stereotyp über Menschen mit DIS ist da draußen. Die Ideen über Blogger_innen, Podcaster_innen, Content Creators und Influencer_innen auch. Es gibt keine Möglichkeit, keinen Grad von Professionalisierung und was weiß ich, damit sie als so unzutreffend begriffen werden, wie sie sind. Vor allem, wenn es Menschen gibt, die gar nicht mal so sehr darunter leiden, sondern sogar davon profitieren können. Und wollen.

Ohne Community keine Community

Gäbe es tatsächlich Communitys auf Social Media, würden diese Leute bereits keine desinformierenden Accounts mehr betreiben. Wären Traumafolgestörungen weniger kontrovers diskutiert und das Leben mit Behinderung oder chronischer Krankheit insgesamt weniger individualisiert, würde unter einem so unsäglich umfassend desinformierenden Video, wie ich es zur Einleitung zitierte, nicht nur Ermutigung, Beifall, Zuspruch und Danksagungen stehen, sondern auch mal die Frage, ob die Person mal nach den Latten an ihrem Zaun gucken kann. Was ihr eigentlich einfällt, Profit aus dem Leiden anderer zu generieren. Ob sie sich nicht schämt, so schädigende Vorurteile zu reproduzieren und anderen zu schaden. Wie sie gedenkt, den Schaden an der Community zu reparieren. Da stünden Literaturhinweise. Fakten. Wäre nicht nur wohlfühliges Mitgefühl, damit diese arme gequälte Seele auch mal was Schönes im Leben spürt. Da wäre Verantwortung Thema und Debattenkern.

Tatsächlich kenne ich nur wenige medienschaffende Betroffene, die sich dazu wirklich umfassend Gedanken gemacht haben und auch regelmäßig dazu anhalten, ihren Content kritischer Prüfung auszusetzen. Diese so oft beschworene Soli unter Betroffenen im Internet, die gibt es nicht.
Es gibt Zugehörigkeitsgefühl, Interesse und aufrichtige Anteilnahme. Aber gegenseitige Anteilgabe, Fürsorge, Verantwortungsübergabe, real konkreten Austausch zur Frage des gegenseitigen Miteinanders gibt es nicht. Das sind aber Kernaspekte vom Leben in einer Community.
Kommen, wenn eine_r weint. Putzen, wenn eine_r nicht kann. Ein Projekt für alle zusammen machen, sich gegenseitig einen Garten oder eine andere versorgende, nährende, gut tuende Grundlage anlegen. Sich gegenseitig vor anderen verteidigen. Übereinander wohlwollend sprechen. Sich gegenseitig auf Fehler hinweisen. Sich gegenseitig Wachstum oder Veränderung zumuten. Sich dabei ganz konkret helfen oder unterstützen. Antworten, wenn man angesprochen wird. Das ist Community.

Anderen zuhören, damit es sich gut oder aushaltbar anfühlt, am Leben zu sein, ist kein gemeinschaftliches Verhalten. Das ist Konsum. Das ist sozial parasitär. Komplett egal, ob man sich als Viele erlebt oder nicht, ob man behindert ist oder nicht. Es hat absolut nichts mit dem Konzept von „Community“ zu tun. Dieses Verhalten wird aber von Social-Media-Plattformen gebraucht und gefördert.

Und weiter?

Selbstdiagnosen und Mehraufwand für professionelle Diagnostiker_innen sind nicht das Problem, um das man sich in Bezug auf alle Risiken und Nebenwirkungen von geschlossenen Kommunikationssystemen wie Social-Media-Plattformen kümmern muss.
Die Profis werden es schon schaffen, sich nicht mit unnötigen Diagnostiken kaputtzuarbeiten. Niemandes Leid muss als belastend markiert werden, um die bestehende Unterversorgung zu verändern.

Aber werden wir als psychisch kranke, behinderte, ausgegrenzte Menschen es schaffen, mit- und füreinander da zu sein, wie wir uns das wünschen? Wie wir das brauchen? Wenn es uns in letzter Konsequenz dann doch wichtiger ist, von „den Richtigen“ geliked zu werden?
Wenn es doch so viel leichter ist, den unangenehmen Stuss wegzuwischen?

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Quellen

[1] Briana L. Snyder, Stacey Marie Boyer, Jennifer E. Caplan, M. Shae Nester, Bethany Brand,
It’s not just a movie: Perceived impact of misportrayals of dissociative identity disorder in the media on self and treatment,
European Journal of Trauma & Dissociation, Volume 8, Issue 3, 2024, 100429, ISSN 2468-7499, https://doi.org/10.1016/j.ejtd.2024.100429.
(https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2468749924000528)

[2] Salter, Michael PhD; Brand, Bethany L. PhD; Robinson, Matt PhD; Loewenstein, Rich MD; Silberg, Joyanna PhD; Korzekwa, Marilyn MD. Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment. Harvard Review of Psychiatry 33(1):p 41-48, 1/2 2025. | DOI: 10.1097/HRP.0000000000000416 (https://journals.lww.com/hrpjournal/fulltext/2025/01000/self_diagnosed_cases_of_dissociative_identity.4.aspx)

[3] Interview mit Psychologe Holger Richter, NZZ, 06.02.2025 (https://www.nzz.ch/feuilleton/psychisch-krank-wokeness-und-der-anstieg-an-diagnosen-wie-adhs-ld.1869384)

der Moment, der noch nie war

R. ist mein Stein im Schuh.
Wenn sie darüber redet, wie das für sie war, dass sie niemand verstanden hat, dann spüre ich das wie ein besonders heftiges Stechen ihrer Härte. Peripher, aber deutlich.
Die Verschlossenheit, die sie in Bezug auf DIE ALLE hat und hält, war und ist bis heute manchmal noch ein echtes Hindernis in Hilfe- und Unterstützungskontexten.
Sie würde es nie sagen, mir jedoch ist es total klar: Das frühere Unverständnis der Menschen über ihre Gefährdung hätte ihr das Leben kosten können. Uns. Mir.
Was man ihr, uns, mir in Medien, Schule, Sportverein beigebracht hat: „Sag was, wenn jemandem oder dir etwas Schlimmes passiert.“, das hat sie gemacht. Sie hat gesagt, dass anderen etwas passiert. Und weder sie noch die Menschen haben gemerkt, verstanden, gewusst, dass sie diese anderen war. Niemand hat geholfen.

So ein folgenschweres Missverständnis ist nicht nur „ein harter Schlag“ oder etwas, was das Ego ein bisschen anklatscht, wer ist schon gern unverstanden dies das. Solche Erfahrungen lösen nicht nur Enttäuschung aus. Sie führen auch dazu, dass man sich auf sich allein zurückzieht. Annimmt, die Menschen würden wollen, dass man gefährdet ist. Glaubt, die Gefährdung, die (angenommene) Lebensgefahr sei von allen (also von der ganzen Welt) gewollt. Die Todesangst gewünscht.
Ich reagiere auf solche Annahmen mit Depression, Angst, Suizidalität. R. mit Wut, Härte und authentisch kompromissloser Konsequenz. Nicht einen Filter hält sie noch hoch, wenn sie merkt, dass sie, dass wir, dass ich nicht verstanden, gehalten, getragen werde.

Innere wie R. sind es, die ich bei Vorhaben wie der Operation, aber auch der Traumatherapie möglichst weit raushalte. Noch weiter als aus anderen Interaktionen mit anderen Menschen.
Zum Einen, weil ihre Wut in der Regel zu Problemen führt, die meine kommunikativen Fähig- und Fertigkeiten weit überschreiten. Was sich unter anderem daraus ergibt, dass ich dieses Gefühl nicht mir, sondern ihr zugehörig empfinde und erst nach bewusster Reflexionszeit und manchmal auch erst nach einer Besprechung mit meiner Therapeutin den Anlass überhaupt erkenne und verstehe.

Zum Anderen, weil R. einfach bis heute nicht richtig orientiert ist. Sie kann im Heute agieren, kann den ganzen „Wissen Sie welches Jahr wir haben“-Reigen vortanzen, ohne einen Zweifel aufkommen zu lassen. Aber für sie geht es nach wie vor bei jedem Kontakt, der irgendwie und sei es noch so abstrakt darum geht, dass ihr, uns, mir jemand in irgendeiner Form hilft oder etwas unternimmt, was sie, wir, ich nicht alleine kann, um Leben und Tod.
Wenn diese mit Hilfe oder Unterstützung oder irgendeinem anderen mich betreffenden Ding beauftragten Menschen irgendetwas nicht können, nicht schaffen, nicht wollen – egal ob intentional oder natürlich bedingt – beginnt ein inneres Wiederleben von Traumatisierungen. Davon merke ich, Hannah, bis heute nichts. Ich merke nur R., die es wiederum als flutend und massiv überfordernd erlebt und reagiert. Ihre Reaktion, also die innere Schutzreaktion, macht mir wiederum Angst, weil ein Wechsel zu ihr für mich Kontrollverlust und relativ spezifische zwischenmenschliche Konsequenzen bedeutet.
R. geht im Zweifel nämlich auch einfach aus dem Kontakt und bringt absolut keine Motivation dafür auf, die Kraft zur angepassten Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen aufzubringen. Wer sich im Kontakt mit ihr nicht darum bemüht und kümmert, sie in ihrem authentischen Ausdruck zu verstehen, bekommt von ihr auch kein Bemühen. Sie behält diese Energie für sich, um selbstständig handlungsfähig zu bleiben.
Traumalogisch absolut sinnvoll. Alltagskommunikations-logisch ebenfalls absolut sinnvoll. Sozial und in Bezug auf jede Option der Kontaktgestaltung hingegen eine absolute Katastrophe.
Jedenfalls für mich. Denn R. markiert diese Kontakte den Energieaufwand nicht wert, den die reparierende oder wieder-verbindende Kommunikation für mich bedeutet, die_r in so einem Fall alle Kraft einfach aufbringt, egal, ob ich sie wirklich habe oder nicht. Bis das nicht „wieder gut“ ist, kann ich nichts anderes machen, als daran zu denken, Gespräche in meinem Kopf durchzuanalysieren, Aussprachen im Kopf üben, um auf jede Möglichkeit des Gesprächsverlaufs vorbereitet zu sein und mich auf Alternativen bzw. andere Lösungen zu konzentrieren. Das ist in der Regel die Phase, in der ich dann missverstanden werde, weil die allgemeine erste Annahme ist, ich sei durch mein Trauma so beziehungsunsicher, dass ich Konflikte nicht ertragen kann. Tatsächlich aber kann ich die Emotionalisierung von Konflikten kaum ertragen, weil sie eine oft überaus kräftezehrende Übersetzungshürde für mich darstellt und ich nicht davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber das überhaupt weiß, versteht, berücksichtigt oder, wenn es bekannt ist, nicht als Waffe gegen mich einsetzt.

Mal ganz davon abgesehen ist es mir peinlich, wenn R. übernimmt und meinen Körper steuert. R. erlebt sich als 13 Jahre alt und allein gegen die ganze Welt am eigenen Weiterleben überhaupt interessiert. Das ist einfach kein guter Zustand, wenn man inzwischen überwiegend mit Menschen zu tun hat, die es verletzen würde, würde man ihnen Desinteresse an unserer Lebendigkeit unterstellen. So wie es R.s Grundannahme über DIE ALLE ist.

Es ist R., die sich ohne jeden Skrupel hinstellt und sagt, dass es Helferversagen gibt. Wie es wirkt. Dass es mit.schuldig macht. Dass es Teil des Unrechts ist, das Opfern von zwischenmenschlicher Gewalt passiert. R. ist die einzige Seite von mir, die Entschuldigungen von Erzieher_innen, früheren Psychotherapeut_innen und auch Betreuer_innen goutieren würde. Die Einzige, die sich nicht mal dafür schämt zu sagen, dass sie das gerne hätte.
Sie kann das, weil sie sich sehr weit entfernt von diesen Menschen erlebt. Ihre Wut und ihre harte Verschlossenheit schützen sie davor, jemals wieder irgendetwas von DEN ALLEN zu brauchen.

Sie schützen sie aber nicht davor, etwas zu bekommen, wenn sie, wir, ich es brauche.
Die Situation im Krankenhaus, die Operationsvorbereitung und die Pflege danach, war so ein Moment des Bekommens. Einer der Ersten, die ich so je wahrgenommen habe.

Man ist auf allen Ebenen auf mich zugekommen. Nicht ein Schritt in dem ganzen Voruntersuchungsprozess, der Aufnahme und Vorbereitung war gehetzt oder ungeduldig mit mir. Man hat für alles immer wieder meinen Konsens abgewartet. Immer jede alternative Möglichkeit erklärt und über alle Ressourcen aufgeklärt. Alles, was ging, ging auch wirklich. Sobald ich unsicher wurde, wurde ich versichert – ohne dass ich meine Verunsicherung erklären oder entschuldigen musste.
Es war nicht im Fokus, was mich verunsichert hat, sondern dass ich weiß, worüber ich mir sicher sein kann.
Das an sich war bereits außerordentlich wohltuend für mich. Es hat verhindert, dass ich in den traumalogischen Schluss rutsche, die Kontrolle über Unkontrollierbares behalten zu müssen. Diejenigen, die in der Verantwortung für mich waren, haben sie auch übernommen und meinen Konsens darüber immer wieder abgefragt. Ich hatte bis zum Schluss das Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, ob dieser Weg zum Eingriff oder der Eingriff selbst passiert oder nicht.

Offenbar habe ich beim Aufwachen immer wieder gesagt, ich hätte Angst, dass ein Täter da wäre oder käme. Daran habe ich keine Erinnerung.
Aber ich erinnere, dass eine Stationsschwester mir dann im Patient_innenzimmer gesagt hat, dass sie aufpassen würden, dass niemand käme. Dass ich bei ihnen sicher sei.
Der kleine R.-Stein in meinem, naja, meiner Krankenhaus-Laufsocke, war deutlich spürbar, aber nicht relevant für mich. Ich war noch eine ganze Weile nicht richtig wach und dissoziierte abwechselnd mit Schlafsequenzen.

Und dann gab es den Moment, in dem mein Mann egomäßig leicht angedötscht am Bettrand saß und erzählte, wie er beim Betreten der Station erst einmal klar und unmissverständlich gefragt wurde, ob er auch wirklich mein Mann sei.
Das war dann der Moment, in dem der kleine Stein zu einem kleinen Lehmklumpen wurde.

die Operation

„Was mir passiert ist – sieht man das innen?“
Das fragte ein Innen, das sich für mich wie eine feste Wattenebelwand anfühlt und immer wieder in den Spalt zwischen der Welt und mir geriet.
Keines der Gespräche mit Ärztinnen, Schwestern und Pfleger_innen, die ich für diesen Tag geübt hatte, enthielt diese Frage. Zu keinem Zeitpunkt wollte ich, dass DAS überhaupt irgendwie Thema wird.

Mir war Abstand wichtig. Sachlichkeit, Objektivität. Mein Fokus lag darauf, meine behinderungsbedingten Bedarfe als etwas zu kommunizieren, was unbeachtet zu Problemen und unerwarteten Entwicklungen führen kann. Ich wollte den reibungslosen Ablauf ermöglichen, der für alle wichtig und gut ist.
Voruntersuchung, Narkose, Operation, Aufwachen. Für mich waren das Checkpoints, an denen ich so unauffällig wie möglich ein- und auschecken wollte. Soweit das mit der Unauffälligkeit eben geht, wenn Gehörschutz, schweres Tier und „Bitte nicht unerwartet anfassen“ zu den Bedarfen gehört.

Ich schäme mich für meine Bedarfe. Bewege mich ständig in Sorge und Angst darüber, die Grenzen des Systems zu berühren, die jeder Klinik inne sind.
In dieser Klinik wurde mir die Angst an vielen Stellen genommen. War nie nötig, dass ich meine Grenzen rechtfertigend erklären musste. Nur nennen musste ich sie. Das fiel mir zunehmend leichter, je öfter ich in Kontakt mit den Behandler_innen und ihrem Team war, denn sie kamen auf mich zu.
In meiner Akte stand bereits nach dem ersten Beratungsgespräch „PTBS Z. n. sex. Missbrauch“, ohne dass ich das genau so aussprechen musste. Es hat gereicht, einen früheren Befund nach einer Gewalterfahrung zu teilen und zu sagen, dass das nicht die einzige Erfahrung war.
Bei jeder Untersuchung fragte die Gynäkologin danach, ob ich bereit bin und beschrieb, was sie tat und wozu. Meine Aufgabe war nicht, einfach alles passieren zu lassen, sondern darauf zu achten, wie es mir geht, damit ich rechtzeitig sagen kann, wenn ich eine Pause brauche oder etwas weh tut. Mir hilft es generell, wenn mein Auftrag an mich als Patient_in ist, meine Selbstwahrnehmung und die Kommunikation dessen zu gewährleisten.

Trotzdem habe ich so lange wie möglich nichts von der DIS und dem Autismus gesagt. Ich wollte keine Bilder entstehen lassen, die mich zu einem Subjekt machen. In einem System wie einer Klinik ist man als Patient_in immer ein Objekt der Behandlung. Jede Subjektivierung führt zu verschobenen Grenzen und praktisch jede verschobene Grenze birgt Verletzungsrisiken für beide Seiten.
Daher mein Anspruch an Objektivität. Mein ständiger Bezug auf Lösungen für Probleme, die ich durch meine Bedarfe entstehend annehme.

Dass ich eine Operation brauchen würde, kam überraschend. Es gab keine andere Behandlungsmethode, um meinen Kinderwunsch zu erfüllen. Und so wurde aus Terminen dann und wann zur Blutabnahme und Ultraschalluntersuchungen eine gynäkologische Operation, die direkt auch der weitergehenden Diagnostik diente.

Es ging mir schlecht und zunehmend schlechter in der Zeit vor dem Termin.
Kurz vor diesem Thema war ich in der Therapie sehr konkret befasst mit meinen Erfahrungen. Hatte über Tage hinweg mit massiven emotionalen Flashbacks und Überforderungsgefühlen zu tun, selbst als sich mir keine Bildfragmente des Erlebten mehr aufdrängten.
Und dann das.
Eine geplante Auslieferung. Eine gezielte Ohnmacht. Ein vorhersehbarer Fokus auf meine Genitalien. Absehbare Schmerzen. Bekannte Risiken für Flashbacks, dissoziative Krampfanfälle und Wechsel in möglicherweise desorientierte Selbstzustände. In einem Rahmen, in dem ich mit meinem Inneren nicht relevant bin für das, was da passieren soll.

Ich war aber relevant für die Menschen dort. Das hat mich überrascht. Und jetzt, wo alles vorbei ist, freut es mich auch.
Es war ein ambulanter Eingriff. Ich war die erste Patient_in.
Mein Mann und ich fuhren in den Anfang vom Sonnenaufgang und hörten Musik, die das Fahren einem Videospiel ähnlich machte. Eine Schwester trennte uns freundlich und leitete mich in das Patientenzimmer.
Alles war ruhig. Das Licht noch gedimmt, die Mitpatientin lieb und grenzbewusst. Ich konnte mich in Ruhe umziehen und merken, wann ich meinen Gehörschutz brauchte. Geholfen hat auch der Bent, über den ich hier bereits geschrieben habe. Ich konnte ihn auf dem Oberkörper behalten, bis ich nicht mehr bei Bewusstsein war. Ich glaube nicht, dass ich ohne ihn noch mit den Schwestern in der Anästhesie hätte sprechen können. Die fanden ihn klasse. Einer Schwester gefiel auch mein Gehörschutz. Alle waren mir liebevoll zugewandt und ließen mir Raum zu verstehen, was gerade mit mir passierte.

Ich hatte Angst als das Narkosemittel einsetzte. Und ich hatte offenbar extrem viel Angst als die Wirkung nachließ. Später erfuhr ich, dass ich einen Flashback ausagiert habe und einen Krampfanfall hatte. Von einer Ärztin für Gynäkologie und Psychosomatik, die einige Stunden später zu mir geschickt wurde.
Die Ärztin war offenbar selbst krank. Das war eine heftige Erfahrung, die ich allerdings nicht allein machen musste. Mein Mann war dabei. Wir haben unseren Eindruck an die vertretende Ärztin und eine Pflegerin weitergegeben und schreiben auch nochmal eine Nachfrage mit informierendem Charakter an die Klinik. Sicher ist sicher.

Ich habe das Narkosemedikament nicht schnell und gut abgebaut. Statt nach 4 bis 6 Stunden konnte ich erst 11 Stunden später nach Hause gehen.
Immer wieder wechselten sich Dissoziation und Sedierung ab. Ich musste mich oft übergeben. Erst spät kamen wir auf die Idee, um ein Medikament gegen Übelkeit zu bitten.
Irgendwo dazwischen kam die Ärztin, die mich in der Kinderwunschklinik untersucht und nun operiert hatte, zu mir, um mir zu sagen, wie es gelaufen ist.
Ich hörte, dass alles gut gegangen sei und auch die Diagnostik keine weiteren Probleme aufzeigte. Und merkte, wie das Innere sich mit dem Druck des Gedankens „Jetzt oder nie“ vorschob, um diese Frage zu stellen.

„Nein. Man sieht wirklich gar nichts davon. Es ist alles soweit gut.“
Heute merke ich erst, wie unfassbar wichtig es war, das zu erfahren.

Kurzrezension „Das Helfernetzwerk“ von Quendolin Winter

Cover des Buches "das Helfernetzwerk", mehrere Fotos mit weißem Rand umrahmen den Titel, die Stimmung ist ruhig, klar und strahlt Verbindlichkeit aus„Das Helfernetzwerk“ ist ein Handbuch, das eine komprimierte Übersicht über sämtliche Unterstützungsleistungen des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems bietet. Auf über 300 Seiten finden sich sämtliche Angebote, ihre gesetzliche Grundlage und Kostenträger sowie der jeweilige Fokus der Hilfe oder Unterstützung sinnhaft strukturiert und klar formuliert.

Ein Buch, das gut in Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und anderen informierenden Kontexten aufgehoben ist, aber auch bei Betroffenen komplexer Traumafolgestörungen, die sich selbstständig einen Überblick verschaffen wollen.

die Eckdaten:
„Das Helfernetzwerk“
Quendolin Winter
erschienen im Selbstverlag
ISBN: 978-3-00-081262-0
Preis: 29,99 €

 

Viele-Sein – Episode 95 – mit Felice Meer über Wut

Wut

Wut, die starke Primäremotion. Das Gefühl, das Grenzen aufzeigt und verteidigen lässt. Die Kraftquelle zur Selbstverteidigung.
In dieser Episode teilen Felice und Hannah, welche Erfahrungen sie in Therapie und Alltagsleben mit dieser Emotion gemacht haben.

CN: In dieser Episode werden Gewalt- und Bedrohungserfahrungen teils konkret, teils in Andeutung geschildert. [ca. Minute 26 bis 28 und 34 bis 37]

Kapitel:

00:00:00 Intromusik
00:00:09 Begrüßung, Einleitung
00:09:15 Wut und Trauma
00:14:00 Wut statt Angst – die Drachin in Felice
00:33:12 Angst vor Wut – Hannahs Psychiatriegewalt-Erfahrung
00:41:17 Wut und Grenzen
00:54:00 Wut und Kontrollverlust
01:07:32 Wut und die politische Lage
01:18:22 Ausleitung und Verabschiedung

Transkript

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