„Das ist also Bologna“, denke ich reiseneblig im Kopf.
19 Grad, Regen. Im Kiosk hängen Schinken von der Decke, am Gleis patrouillieren zwei Soldaten. Wir haben etwas Zeit bis zum letzten Umstieg, ich übernehme die Gepäckwache. Seit etwa 24 Stunden tue ich etwas, was man nicht mal eben so tun sollte. Ich folge der Einladung einer fremden Person, die ich nur aus Mails und einigen Zoomgesprächen kenne. Erst nach Bayern, dann nach Italien. Genauer in das ländliche Umland von Arezzo. Das Gewicht meines Rucksacks ist erheblich, die Luft schiebt sich spürbar in meine Lunge. Die Menschenmenge rieselt gemächlich an mir vorbei. Ich warte auf Anzeichen für Gefahr, doch außer den beiden Soldaten und einem kleinen Trupp Securityleute sehe ich nichts. Es ist das übliche Bahnhofsgeschehen. Nur auf Italienisch. Binari. Pfeilsymbol. Servizio. WC-Symbol. Informazioni. Schaffnersymbol. Biglietti. Ticketsymbol. Uscita principale. Kein Symbol, also eine grundsätzliche Aussage? Eine prinzipielle Aussage? Kann hier nur ja nur irgendwas mit Herkommen oder Weggehen zu tun haben. Binari. Das Wort gefällt mir. Daniela ist die Person, die mich eingeladen hat. Matthias ist einer ihrer Mitarbeiter. Als die beiden zurückkommen, frage ich, was Binari bedeutet. „Gleis“, antwortet Matthias. Mir gefällt das Wort gleich noch mehr. Bi – Zwei – nari. „Zwei Naris ergeben ein Gleis“, denke ich. Später erfahre ich jedoch, dass „Narici“ „Nasenlöcher“ bedeutet und Binari, eigentlich eher „Spur“. Mein Kopf macht aus diesen Informationen einen Zug, der die Spuren abschnüffelt.
Bisher hatten wir keine Zeit, um miteinander zu sprechen. Der Zug von München bis Bologna war komplett ausgebucht, wir hatten keine Plätze zusammen. Doch nun sitzen wir einander im Zug nach Arezzo gegenüber. Draußen ist es bereits frühlingsgrün. Einzelne Berge und Hügel ragen in den hellgrauen Himmel. Matthias fragt mich nach Stationen meines Lebens, Daniela hört zu. Wann war was schwierig, wie hat sich was entwickelt? Ich bin nicht meinetwegen hier, deshalb verfolge ich den Anspruch, dass jede meiner Antworten auch der Klientin hilft, zu deren Wohn-, Hilfe- und Lebensort wir gerade fahren.
Es ist das erste Mal, dass ich so konkret als Helfer_in mit Helfer_innen zusammen bin. In der Regel bekomme ich E-Mails mit Fragen. Oder einer Bitte um Input. Wünschen nach Feedback, Meinung, Ideen aus meiner Perspektive als Viele, die das schon durch haben. Das, die schwierige Zeit. Die extrem angewiesene Zeit. Das, die Hilflosigkeit auf allen Ebenen. Manchmal auch die der Helfer- und Unterstützer_innen. Diesmal bin ich nicht Hannah, der (hoffentlich) hilfreiche Geist aus dem Internet, sondern Hannah, die_r zum Helfen kommt. So richtig mit Körper und Geist, Gepäck und Fahrtkostenthematik.
Als wir in Arezzo ankommen, werden wir abgeholt. Typisch deutsche Kinder- und Jugendhilfe: in einem alten VW-Bulli. Der Flashback scheppert sachte in meinem Hinterkopf, wird aber gut vom Zustand der Straßen und der Landschaft verstreut. Wir werden durchgerüttelt und fahren so enge Kurven, dass ein Wunder ist, dass wir niemanden dabei beobachten, wie sie_r aussteigt, das Auto hinten anhebt und auf der Stelle dreht.
Angekommen im Wohnhaus spüre ich das Summen in meinen Muskeln. Ich muss jetzt unbedingt liegen, die Augen schließen und den Gehörschutz unter den Kopfhörern haben. Mein Körper fährt noch Zug, meine Muskeln sollen verstehen, dass sie jetzt aufhören können, mich zu schützen. Obwohl alles neu ist. Fremd. Anders. Mein Körper schläft, bevor ich mich dazu entschließen kann.
*
Es gibt einen groben Plan. Darin trifft sich das Team und erlaubt mir, dabei zu sein, um einen Eindruck zu bekommen. Dieses Team ist besonders, weil Daniela und Matthias dabei sind. Sie sind nur ein Mal im Monat dabei, da kommen ganz bestimmte Themen auf den Tisch.
Danach gibt es ein Team mit der Klientin.
Wie wir da so sitzen, mit einem Tisch voller Nüsse und Kekse, Kaffee und Tee, einem Laptop und Notizenheftchen, fühle ich mich wie beim Plenum im Verlagskollektiv. R., Z. und A., die Jugendlichen in mir drin, können es kaum fassen. Das solls schon sein? DAS ist „Team“? Die verbotene Zeit? Die Zeit, in der niemand ansprechbar ist und man sich melden soll, wenn was ist, aber eigentlich wäre es jetzt richtig schlecht, wenn was wäre, weil es krass stört, also strengt man sich voll an, dass nichts ist, aber die Anstrengung macht alles schlimmer, also ist dann relativ schnell im Grunde alles was, aber man soll ja nicht stören, außer es wäre was, aber eigentlich wäre ja voll kacke, wenn jetzt was ist, weil es stört, also zerfasert man sich in tausend kleine durchsichtige Fäden, verschmilzt mit der Wand, dem Boden und der Decke und fragt sich vielleicht noch kurz, ob dieser kleine Tod nicht besser für immer wäre, weil man dann nie Gefahr läuft, jemals irgendwie zu stören, weil (man selbst) was ist.
Ich konzentriere mich. Sammle Eindrücke und Umstände, versuche die zeitgleiche Übersetzung für die italienischen Kolleginnen auszublenden. Schnell bin ich mir relativ sicher über die Quelle der Unsicherheiten und Momente des Unverständnisses zur Lage. Und erleichtert. Denn es ist nichts Großes. Nichts Schlimmes. Nichts, was nirgendwo sonst nicht auch passieren kann. Hier kann Information helfen. Verständnis über die Mechanik der dissoziativen Identitätsstörung. No need for special special „Das kann aber nur eine fachliche Fachperson leisten.“ Tatsächlich hat Danielas Gefühl gestimmt: Die Innensicht von jemandem, die_r Viele ist, kann das letzte Stückchen zum Verstehen- und Nachvollziehenkönnen entwickeln helfen.
Die Klientin hatte vor wenigen Jahren um Danielas Hilfe gebeten.
Die Diagnose stand bereits, als die Hilfe begann. Die Klient_in erlebt sich als viele und ist bis heute insgesamt instabil, obwohl die Hilfe kontinuierlich und sehr umfangreich geleistet wird. Wenn nicht Himmel und Hölle, so doch die eine oder andere lokale Mechanik wurde in gemeinsamer Anstrengung bewegt, um äußere Sicherheit für die Klient_in herzustellen. Aber wirklich besser geworden ist seitdem eher wenig. Krise folgt auf Krise. Niemand versteht wirklich so richtig, warum. Aber langsam kommt Erschöpfung auf. Reinkriechende Hilflosigkeit. Allgemeine Unsicherheit. Und die Frage „Helfen wir eigentlich richtig?“
Fachlich beurteilen kann ich das natürlich nicht. Sowas gehört in die Kategorie „special special fachliche Fachperson“ und die Einschätzung der Klientin.
Ich habe also geteilt, was ich mir als am ehesten zutreffend denke. Nämlich, dass man sich als Mensch ohne DIS und ohne Aufwachsen in konstant toxischem Stressniveau einfach nicht vorstellen kann, wie es ist am Leben zu sein, wenn das Stressniveau so viel niedriger ist und die dissoziative Identitätsstruktur zu stören beginnt.
Der Krankheitswert der DIS ist im Kern, nicht damit zurechtkommen zu können, wenn alles gut ist. Und zwar nicht wegen irgendeiner emotionalen, sozialen oder intellektuellen Einstellung, irgendwelcher Werte oder Persönlichkeitsmerkmale, sondern ganz schlicht und einfach, weil der ganze Körper in praktisch allen Funktionen daran angepasst ist, unter Stress – und zwar existenziell bedeutsamem Stress – zu leben.
Es erscheint widersinnig, ist aber für (komplex) traumatisierte Menschen einfach logisch und wichtig, Krisen zu haben – und wenn nötig auch zu produzieren, um in (genug) Stress zu kommen, um dann bestimmte Funktionen abrufen zu können. Das ist (soweit ich das von anderen Vielen und mir selbst mitbekomme) nie eine bewusste Entscheidung, sondern eher wie eine Art unbewusster Pfad oder das, was Ungeschlagene manchmal auch als Intuition bezeichnen. Bewusst oder unbewusst ist so gut wie immer klar: „Wenn die Lage komplett eskaliert, es saugefährlich ist, ALLES auf dem Spiel steht, ich richtig runter bin mit allem, dann wirds schon irgendwie gehen. Da kommt ein Wechsel oder so – irgendwie krieg ich das dann schon hin.“
So sind Menschen mit DIS durchs Leben gekommen, bevor die Gewalt oder die unsichere Lebenssituation endete. Der Körper hat gelernt: „Wenn mein Tank fast leer ist, fahr ich das beste Rennen (zur nächsten Tankstelle, wo ich mir dann nur ein ganz bisschen reinfülle, weil ich so ja am besten fahren kann).“
Wenn dann der Tank immer voll ist – die Person durchgehend weniger Stress hat – kommt manchmal (noch) gar kein Funktionsimpuls und die Person bekommt Probleme mit Dingen, die man sich als Mensch ohne DIS kaum vorstellen kann. Basics wie essen, trinken, Körperhygiene, soziale Interaktion und Kommunikation, Körpersignale bedarfsgerecht beantworten, können mal mehr, mal weniger unschaffbare Herausforderungen werden. Gleichzeitig werden aber die, gerade im Kontrast zum Scheitern vor diesen „Banalitäten“, viel krasseren Herausforderungen scheinbar mühelos gemeistert. Dass das so ist, gerade weil es die krasseren Herausforderungen sind, muss man einfach wissen, um es zu verstehen.
Diese Mechanik ist an sich nicht DIS-spezifisch. Viele Menschen kennen es, wenn sie in Zeiten chronischer Erschöpfung oder Überforderung oder Überreizung keine oder nicht genug Zeit und Raum zur Regeneration und Regulation bekommen. Irgendwann vermag es eben nur noch die Angst vor dem Jobverlust, der Deadline, der Strafe für Versagen, dem Stress mit jemandem, den man gern hat oder braucht, um das freizugeben, was es erfordert, um zu funktionieren.
Das Problem damit ist, dass es keine Energie ist, die man einfach so in sich drin hat und dann rauslässt, sondern ein Reflex, der körpereigene Ressourcen bereitstellt, um das Überleben zu sichern. Deshalb sind Menschen mit echtem Burn-out auch so profund körperlich krank und deshalb kommen so viele auch nach einer Therapie und viel Erholungszeit nie wieder an ihr altes Kraftniveau. Dieser Überlebensreflex zieht die nötige Energie aus dem, woraus der Körper sich selbst am Leben und in Integrität hält. Tiefer kann man nicht in die eigene Lebendigkeit eingreifen.
Bei Menschen mit DIS ist dieser Reflex an das geknüpft, was man im Allgemeinen als „Persönlichkeit“ bezeichnet, weil sie – so der Stand der Traumaforschung – in traumatischen (also extrem stressenden) Umständen aufgewachsen sind. In so einem Aufwachsen erlebt man nicht immer die gleichen Gründe für extremen Stress – aber man erlebt immer die ganz reale Wahrscheinlichkeit für extremen Stress in Abwechslung mit Momenten, denen das eigene Leben tatsächlich bedroht ist oder bedroht erscheint, wie das bei traumatischen Erfahrungen der Fall ist. Man entwickelt alle persönlichen Eigenschaften, mit denen man eben so auf die Welt kommt, in mehr oder weniger bewussten oder unbewussten Todesängsten und den damit einhergehenden Vermeidungsmotiven. Also in hohem Stressniveau und permanenter Anstrengung, das zu kompensieren.
Nun bringt das neue Leben ohne dieses Stressniveau also eine neue Grundlage hinein. Eine, mit der noch nicht viel Selbst_Erfahrung besteht. Eine, auf die der Körper noch nicht immer richtig im Sinne von „den Umständen, sozialen Erwartungen und den eigenen Fähig- und Fertigkeiten entsprechend angepasst“ reagieren kann. Selbstverständlich kommt es zum Scheitern. Zu „Symptomen“. Zu komplett widersprüchlichem Verhalten und einem sehr unausgewogenem Fähig- und Fertigkeitenprofil. Niemand, die_r sein Leben unter Wasser verbracht hat, macht ohne Anlass, Übung und Vorbild einen Spaziergang an Land.
Die gute Seite daran: Die Krisen zeigen Prozess an.
Die schwierige Seite: Krisen tun weh und können, ungenügend begleitet, wiederum das Potenzial haben zu traumatisieren.
Was steht also immer an in der Begleitung von Menschen mit DIS (und anderen (komplexen) Traumafolgestörungen? – Die Krisentäler abflachen und eine gute Begleitung sicherstellen.
Krisen lassen sich in dieser Phase nicht vermeiden. Es ist ein schöner Wunsch und eine wunderbare Eigenschaft, wenn man Menschen keinen Schmerz wünscht, aber in so einer Begleitung, in diesem so umfassend umwälzenden Entwicklungszeitraum, kann man ihn immer nur lindern. Und darüber trösten, dass er überhaupt da war. Und wieder da sein wird, bis er wieder weg ist. Und wiederkommt. Und wieder geht.
Man muss Krisen nachbesprechen, damit sie alle, die sie (mit)erlebt haben, verstehen können und damit die Dinge, an denen die betroffene Person ihre Vermeidungsstrategien trainiert, weniger werden. Die Person kann so lernen, dass man über Schwieriges sprechen kann. Weil es sagbar ist.
Krisen oder emotionale Einbrüche werden weniger schlimm, je besser man sie versteht. Je besser man sie versteht, desto eher werden sie vorhersehbar. Das Vermeidungsverhalten kann nachlassen, wenn man – durch das entstandene Verständnis und eine kompetente Anleitung – in die Lage versetzt wird, ein anderes Verhalten auszuprobieren. Neue Strategien zu entwickeln, neue Überzeugungen zu entwickeln und alte dafür abzulegen.
Es gibt eine – in meinen Augen – Superkraft, die die meisten Menschen ohne Komplextrauma und ohne dissoziative Störung an sich selbst komplett ignorieren: Sie wissen fast immer einfach, wenn etwas mit ihnen zu tun hat. Wenn sie etwas machen, dann wissen sie, dass sie das machen. Diese Menschen empfinden ihren Tag, ihr Leben an einem Tag, einer Woche, in einem x-beliebigen Zeitraum als etwas, das ihnen passiert, und zwar genau da, wo es passiert. In ihrem Zuhause, ihrem Arbeitsplatz, in der Natur, unter Freund_innen. Zu jeder Zeit. Menschen mit DIS haben diese Kraft (noch) nicht (so umfänglich). Sie müssen sie sich erarbeiten und dann auch noch darauf klarkommen, was es mit ihnen macht, sie zu haben.
Mit dieser „Superkraft“ oder etwas weniger idealisierend formuliert „Fähigkeit“ kommen viele Betreuer_innen in Hilfeeinrichtungen wie die, die ich in Italien besuchte, leisten Hilfen wie diese und nehmen dennoch an, sie müssten noch so viel mehr machen und schaffen und leisten. Obwohl sie das Wichtigste schon jeden Tag und immer machen: Sie sind da und leben mit sich selbst (mehr oder weniger) assoziiert. Egal, was sie machen, sie bieten ein Vor_Bild zum Leben in sicheren Umständen. Das ist sehr viel und in meinen Augen das, was keine stationäre oder ambulante Psychotherapie leisten kann (ohne den Rahmen der ethisch korrekten Behandlung zu verlassen).
Das bedeutet für die Hilfe, dass man sich nicht großartig auf die Extreme konzentriert – also die Krisen und das Trauma – sondern auf die Grundlagen. Die Grundversorgung und was es macht, wenn sie gemacht ist. Die Grundbedürfnisse und was es macht, wenn man sie spürt, wie man sie wahrnimmt, wie man sie, wann, wo und womit effizient und unter Berücksichtigung bestimmter Faktoren erfüllen könnte. Grenzen. Eigener Wille. Der Wille anderer Menschen. Alles Dinge, für die man Menschenkindern zig Jahre zum Erlernen einräumt. Menschen mit DIS müssen das nachholen. Sie müssen gewissermaßen nachreifen. Man darf nicht den Fehler machen zu glauben, dass sie über diese Basiskompetenzen verfügen, nur weil sie sie dann und wann unter (letzten Endes Todes-) Angst ausführen können. Die meisten können es nicht. Manche, so wie die Person, die das hier gerade schreibt, bis ins 30. Lebensjahr hinein nicht.
Die Teamzeit ist um. Alle atmen tief ein, manche stöhnen beim Aufstehen. „Das war jetzt ganz schön viel“, darüber sind wir uns alle einig. Draußen kommt die Sonne durch auseinanderziehende Wolken.
Jetzt wird gekocht, die Töpfe scheppern mir durch den Kopf. Zeit für eine Ressourcenpause. Zum ersten Mal stehe ich vor einem blühenden Pfirsichbaum und fotografiere zum ersten Mal eine große Mauerbiene.
*
Das Team mit der Klientin ist eine Situation mit Einschlägen bei mir.
Mein kleiner Stein im Schuh, R., findet es „krass cool“, dass die Klientin auch in der Runde sein darf und dass man das immer für alle machen sollte, denn „es geht ja um sie und das ist ja nur fair.“ Als ich ihr zeige, welche Hinweise es darauf gibt, dass es für die Klientin gleichzeitig auch eine Überforderung sein könnte, so beteiligt zu sein, weil sie gewissermaßen „liefern muss“, also auch Dinge aussprechen können muss, die sie vielleicht noch nicht aussprechen kann, weil sie sie noch nicht weiß oder fühlen kann oder sich noch gar nicht traut überhaupt darüber nachzudenken, trifft es R. unerwartet. Was mich wiederum überrascht. Direkt neben R. spüre ich eine unserer Klapsleichen und kapiere selber erst dann: „Ahja. Ja. R. kann sowas krass cool finden, weil es nicht R. war, die hat liefern müssen.“
Ich gehe etwas weiter von ihnen weg. Es geht jetzt nicht um uns. Das hier ist kein Zwangskontext. Keine geschlossene Einrichtung. Die Klientin ist erwachsen. Es ist keine eingeräumte Freiheit, dass sie sich an der Hilfe für sich selbst beteiligen darf. Es ist ihr Recht. Sie ist vielleicht noch nicht an dem Punkt, an dem sie das nicht mehr überfordert, aber Überforderung darf auch kein Grund sein, jemandem die Rechte nicht zugänglich zu machen. Das passt also schon. Nicht perfekt, nicht ohne Gnih und Gnah, aber alles andere wäre falsch.
Die Situation ist schwierig. Die Dissoziation der Klientin und ihre dumpf-ohnmächtige Stille erfassen alle im Raum. Ich zähle im Kopf bis 10 und prüfe, ob jemand etwas sagen will. Zähle noch einmal bis 10 und prüfe, ob sich jemand bewegt. Dann breche ich die Situation auf. Fenster auf, kurz etwas Bewegung im Raum. Dem Körper vermitteln: Hier ist kein Freeze nötig. Kein Durchhalten, Aushalten, alles ist beweglich und sicher.
Wir haben gerade über die grundlegende Versorgung gesprochen – das gehört dazu. Was passiert war, nennen manche „Energieübertragung“, manche machen unsere Spiegelneuronen dafür verantwortlich, manche sprechen von „Ansteckung“ oder von „psychologischer Übertragung“. Die Überforderungsreaktion der Klientin war die Dissoziation. Sie wusste nicht, was sie sagen soll, welche Antwort richtig ist, vielleicht auch, was gemeint ist mit den Fragen, die an sie gerichtet wurden. Vielleicht hat sie auch nicht ganz einordnen können, was die Fragen mit was (wem) von ihr zu tun haben könnten. Vielleicht hatte sie Impulse ganz andere Dinge anzusprechen, dann aber nicht gewusst, wie sie sie der Situation angemessen formulieren könnte. Vielleicht wollte sie im Grunde auch gar nicht da sein, hatte sich aber nun doch gewissermaßen verpflichtet, hier dabei zu sein. Und was kann man nur machen, wenn man irgendwo feststeckt und nicht körperlich ausbrechen kann – man verkrümelt sich, man „macht sich weg“. Man dissoziiert. Im Fall der Klientin praktisch übergangslos und automatisch.
Solche Situationen entstehen durch die Überforderung auf Klient_innenseite, aber auch durch Überforderung auf Helfer_innenseite. Da will man höflich sein und warten und der Klientin allen Raum lassen, ihr gewissermaßen „die Bühne bieten“. Da will man bloß keine Grenze berühren oder stressen. Und dann ist auch noch die Chefin da, da will man ja auch irgendwie passend performen – und bringt sich selbst und eben auch die Klientin damit in ein hohes Stresslevel, weil die persönliche Unsicherheit (unbewusst) als Reaktion auf einen unsicheren Raum eingeordnet wird.
Dass man sich zu einem Zweck und aufgrund bestimmter Kompetenzen und Arbeitsaufträge (also Dinge, die nichts mit den Personen der Helfer_innen zu tun haben) zusammengefunden hat, gerät dabei schnell aus dem Bewusstsein.
Wenn ich auf Seiten der Hilfe- oder Unterstützungsbeauftragten bin, verpasse ich solche sozialen Fallstricke in der Regel. Das war hier ganz praktisch, denn ich konnte das erklären. Diese dumpfe Stille und die folgende Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, vielleicht auch Ohnmachtsgefühle – die haben nichts mit dem Auftrag zu tun. Nichts damit, ob man etwas richtig oder falsch macht. Hier geht es um Angst, Unsicherheit, Unklarheit, Planlosigkeit, vielleicht auch fehlende Strukturen – und um fehlende Kommunikation, also Verbindung miteinander. Was logisch ist, wenn sich eine Partei (oder auch gleich noch die andere) in dem Gespräch gerade „weggemacht hat“.
Mein in der Regel informationsbasierter Fokus in solchen Situationen zeigt mir ziemlich zuverlässig auf, was ich tun kann oder was dran wäre zu tun. Ich werde auf zwischenmenschlichen Ebene nicht so schnell verunsichert, wenn mir jemand zeigt oder sagt, dass sie_r etwas nicht kann. Wenn etwas nicht geht, dann muss man gucken, wie man sich annähert. Für mich ist das eine relativ einfache Prüfung und Abgleichung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen und ein pragmatisch lösbares Thema.
Was man aber in dem Fall nicht ignorieren darf (nur weil man sich dann so toll produktiv fühlt), ist, dass es für die Klientin nicht nur eine pragmatische, sondern auch emotionale – traumalogische – Ebene hat. Sie fühlt und glaubt deshalb, dass sie etwas nicht kann. Zum Beispiel, sich selbst in den Grundlagen zu versorgen, bevor sie anstrengendere Dinge macht.
Die Realität ist, dass viele Menschen mit DIS die für die Grundversorgung nötigen Funktionen (Fähig- und Fertigkeiten) noch nicht zuverlässig abrufen und ausführen können. Dann kommen die Helfer_innen und sagen: „Du musst aber, das ist wichtig.“ Und die DIS-Klient_innen haben nur einen Bezugsrahmen zu dieser Erfahrung – ihre Lernerfahrungen im traumatisierenden Kontext. Für sie ist also ziemlich schnell klar: „Ich muss das jetzt hinkriegen, sonst passiert mir was Schlimmes – aber ich kann das nicht. Nicht so, nicht jetzt. Oh G’tt wenn ich das sage – oh nein, aber vielleicht auch, wenn ich nichts sage und nicht mitmache – also vielleicht JETZT GLEICH passiert was – ich weiß es ganz genau, jetzt bin ich dran. Ich werde sterben.“
Das ist eine traumalogische Annahmenkette. Das sind die Schlussfolgerungen, die ihnen früher das Leben gerettet haben, weil sie nicht davon ausgehen konnten, dass es nicht ihre Lebensbedrohung zur Folge haben könnte, wenn sie nicht machen oder schaffen, was andere (überlegene) Menschen von ihnen wollen, fordern, abverlangen.
Diese Traumalogik hat aber nicht nur die Erfahrungen der Klient_innen als Quelle, sondern auch bestimmte Traumawahrheiten über sich und andere Menschen. Eine Traumawahrheit könnte sein: „Ich kann nichts (wirklich/genug/gut/richtig) machen.“ Und eine weitere: „Andere Menschen übergehen immer meine Grenzen (sind also gefährlich für mich)“. Auf Helfer_innenseite ist man in diesen traumalogischen Annahmen immer der Arsch. Immer auf einer Ebene mit früheren Täter_innen. Und das ist ein sozialer Fallstrick, den man mit einem gewissen Kraftaufwand übersteigen muss. Geht man darauf ein, kommt man nicht weiter. Die Klient_innen können noch keine andere Ebene aufmachen – sie würden diese Gleichstellung nicht machen, hätten sie einen anderen Referenzrahmen für solche Situationen. Den müssen sie erst entwickeln und zwar in der Hilfeleistung, um die es geht. Der beste Weg also jemandem zu zeigen, dass sie_r keine Täter_in ist oder sich wie die früheren Täter_innen verhält, ist nicht gewaltvoll mit dieser Situation umzugehen.
In dem Fall der Basisversorgung ist das ganz schön aufzuzeigen, weil es um so etwas ganz Grundlegendes geht. Die Person mit DIS (oder anderer komplexer Traumafolgestörung) muss lernen können, wie sie sich selbst anfühlt und wozu sie fähig ist, wenn sie grundlegend versorgt ist. Sie kann es lernen, wenn sie immer grundlegend versorgt ist. Also muss sie sich jeden Tag damit befassen, ausreichend zu essen und zu trinken. Sie muss regelmäßig zur Toilette. Sie muss sich waschen, kämmen, die Zähne putzen. Sie muss frische Wäsche anziehen. Sie muss ihre Wohnung aufräumen und sauber machen bzw. halten. Ihre Hilfsmittel müssen immer vollständig, heil, sauber und verfügbar sein.
Eine Möglichkeit wäre, der betreffenden Person aufzuzwingen, dass sie das alles machen muss, „sonst läuft hier gar nichts (was ihr Spaß macht oder sehr wichtig für sie ist)“. Das ist der alltagsgewaltvolle Klassiker in vielen pädagogischen Einrichtungen. Da spielen oft gewaltlogische Schlüsse von Helfer_innen eine Rolle und aufgrund der Alltagsgewalten, mit denen Kinder zum Beispiel oft erzogen werden, fällt diese Umgangsweise selten wirklich als Helfergewalt auf. Hier wird das, was der Klientin wichtig ist, genommen, um ein gewünschtes Verhalten zu erzwingen und damit legitimiert, dass das gewünschte Verhalten das Ziel der Hilfe sei. Sie will ja gut leben. Die Gewaltlogik dahinter: „Für ein gutes Leben muss man halt auch was machen (was einem nicht gefällt/weh tut/unangenehm ist/schwer ist). Wer richtig sein will, muss sich richtig verhalten.“ Grundversorgung ist aber nicht nur ein Verhalten. Und Hilfe ist keine Dressurmaßnahme zur Vorbereitung auf eine Daueraufführung im Leben außerhalb der Einrichtung bzw. der Hilfemaßnahme.
Die bessere Möglichkeit ist, den Fokus auf die langfristigen Ziele der Klientin zu halten, die ja den Auftrag der Hilfe enthalten. Ein übliches Ziel von Menschen mit DIS ist, aus dem Überlebensmodus rauszukommen und dahin, auch gern am Leben zu sein. Es ist also sinnvoll, den Menschen dabei zu helfen, ihre Lebendigkeit als etwas kennenzulernen, das Qualitäten hat, die sich entsprechend der Umstände verändert. Zu Beginn spüren sie immer (nur?) den Überlebensmodus. Besonders, wenn es ihnen schlecht geht. Aber um die Chance zu bekommen, eine andere Qualität überhaupt kennenzulernen, müssen sie ihre Lebensumstände verändern. Und dabei geht es nicht nur um so große Dinge wie Kontakt zu Täter_innen beenden oder den Inneren, die nur Trauma kennen, einen Wunsch zu erfüllen oder es ihnen schönzumachen (damit im Inneren Ruhe ist). Sondern um genau die Faktoren, die bestimmen, ob es sich gut oder okay anfühlt, in der eigenen Haut zu stecken oder nicht.
Jede Umstandsveränderung bringt auch eine Zustandsveränderung. Ein Mal Hände waschen – zack, ganz andere Möglichkeiten der Interaktion mit der Mitwelt als mit dreckigen Händen. Ein Mal um den Block laufen – ganz andere Empfindung im Körper als vorher.
Das kann man als Helfer_in immer wieder vermitteln: „Du möchtest aus dem Überlebensmodus – du musst deinen Lebensmodus dafür erkennen können. Die Grundversorgung ist der wichtigste Schritt dafür. Lass uns mal schauen, welchen Schritt wir heute dafür probieren können. Was kannst du alleine? Wobei kann ich dir Hilfestellung (wie zum Beispiel Anleitung geben, Vormachen, Aufgabe in kleinere Teilschritte aufteilen, die Aufgabe über den Tag verteilt immer wieder versuchen, (emotional) Händchen halten) bieten?
Du möchtest das heute nicht probieren? Soll ich später am Tag nochmal fragen? Du denkst, du kannst das nicht? Ist die Aufgabe zu groß? Hast du inneren Stress deshalb? Kannst du formulieren/ausdrücken/aufschreiben, wie das für dich ist? Ist etwas davon pragmatisch lösbar? Welche innere Überzeugung traust du dich zu prüfen? Heute ist ja so vieles anders – vielleicht zeigt sich, dass der innere Stress/Druck/Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn du es unter den Umständen heute probierst. Oder morgen. Oder übermorgen.
Wenn du deine Grundversorgung schaffst, wird alles, was du am Tag vorhast, mehr Spaß machen. Du wirst mehr Kraft haben. Deine Chancen, weniger Symptome kompensieren zu müssen, steigen.“
In einer stationären 24-Stunden-Betreuung kann es geleistet werden, den ganzen Tag auf diese Herausforderungen einzugehen und dranzubleiben. Es gibt keinen Anlass, wie zu wenig Fachleistungsstunden oder starre Klinikstrukturen, irgendwo in der Mitte abzubrechen und die betreute Person aufgewühlt in ihren traumalogischen Schleifen und Traumawahrheiten über sich zurückzulassen.
Als Helfende_r hat man alle Zeit und allen Raum, um immer wieder auf den Grund für die Konzentration auf die Grundversorgung zurückzukommen und klarzumachen, dass die eigene Präsenz daraus entsteht, dass man dabei hilft, das Ziel für die Hilfe zu erreichen.
Erwachsenen Menschen mit DIS, die nicht in einer Zwangsmaßnahme stecken, steht es frei, sich gegen ihr Ziel zu entscheiden. Sie können sich selbst in ihrer Traumalogik bestärken und die Traumawahrheiten über sich aufrechterhalten. Das sind legitime Entscheidungen, die einem überlebbaren Leben nicht im Wege stehen. Aber vereinbar mit dem Hilfeauftrag an den Träger sind sie nicht. Dafür wird die Betreuung und die Unterkunft nicht zur Verfügung gestellt.
Es kann sinnvoll sein, eine Absprache darüber zu machen, wie lang der Zeitraum sein kann, in dem sich die betroffenen Personen gegen ihre Ziele der Hilfe entscheiden. So kommt man gemeinsam in die Lage zu prüfen, was die Gründe für diese Entscheidung sind und ob zusätzliche Arbeitsräume, etwa eine psycho-, ergo-, kunst- sozio-, *therapeutische Sitzung hilfreich sein könnten, um zu unterstützen, das eigene Ziel zu halten. Es kann aber auch sein, dass sich das Ziel verändert hat. Auch das kann mit dieser Absprache überprüft werden.
Grundsätzlich kann es gut sein, sich klarzumachen, dass wer keine Hilfe braucht, auch nicht um welche bittet. Aber nicht immer ist die Hilfe, um die gebeten wird, auch die, die gebraucht wird. Auch das ist Realität. Manchmal kann die bestmögliche Hilfe sein, herauszufinden, welche Hilfe wirklich oder zusätzlich noch gebraucht wird. Dann kommt man zwar nicht gemeinsam ans gesteckte Ziel, aber man hat der Person weiter.geholfen.
Wir gehen aus dem Team mit einer Idee für einen ersten Schritt, etwas zu versuchen.
Wieder tiefes Atmen. Seufzen. Langsam rausbewegte Anspannung bei allen.
Ich fotografiere zwei Wiesenschnaken, die mit der Erhaltung ihrer Art beschäftigt sind.
*
Später fahre ich mit Matthias zum Supermarkt. Wie bei uns zu Hause ist das mit einer längeren Autofahrt auf kaputten Straßen und der Konfrontation interessanter Vorstellungen anderer Autofahrer_innen verbunden. Der Supermarkt sieht aus wie die Art ländlicher Klüsten-Edeka, den es nur gibt, weil kein anderer Laden da ist. Bisschen abgeranzt, alles ein bisschen schrabbelig, aber das Wichtigste ist da.
Ich fotografiere einen Käsekuchen.
Am Abend holen wir Daniela von ihrer Wohnung ab und gehen essen.
Ich fotografiere eine Prachtkatze vor einer Prachttür und das einzige Gericht ohne Fleisch auf der Karte des Restaurants.
*
Am nächsten Tag sind alle da. Teamtag. Mit Kolleginnen und Praktikantin von einem anderen Team.
Wir wissen bereits, dass wir vertiefen, was wir am Tag zuvor besprochen haben. Warum sind die Basics so schwierig? Was hilft? Wie genau können die Helfer_innen das umsetzen?
Manche Fragen kommen noch dazu und machen die Zusammenhänge rund.
Zum Beispiel die Frage nach selbstverletzendem Verhalten. Niemand der Anwesenden kann (und möchte) es ertragen mit anzusehen, wie sich jemand verletzt.
Mich berührt der Schmerz, den eine Helferin beim Schildern einer solchen Situation ausdrückt. Eine Klapsleiche in mir würde sich vor Scham am liebsten gegen die Steinwand hinter ihr werfen. Ich walze den Abstand zwischen ihr und meiner Gegenwart aus. Es ist bald 20 Jahre her, dass wir zuletzt jemanden in die Lage gebracht haben, unseren Selbsthass und die Gewalt an uns selbst zu bezeugen. Jetzt ist Heute. Ich habe einen Auftrag.
Ich erkläre, dass zum sicheren Umfeld gehört, dass keine Gewalt ausgeübt wird. An einem sicheren Ort wird niemand verletzt. Die Helfer_innen nicht und auch die Klient_innen nicht. Das Verhalten darf passiv unterbrochen werden – nicht weil es „böses Verhalten“ ist, sondern weil es den Raum unsicher macht. In einem unsicheren Raum kann niemand die gesteckten Ziele erreichen. Sich nicht zu verletzen, ist ein Beitrag zum Ziel. Wenn sich jemand selbst verletzt (und Helfer_innen das miterleben müssen) übt die Person Gewalt aus und entscheidet sich entsprechend gegen das Ziel.
Die Helfer_innen helfen mit dem Unterbinden (etwa durch Schutz des Kopfes oder andere Körperteile) einen für die Person ungewohnten Zwischenschritt, eine ungewöhnliche Nuance in ihr Gewalt(er)leben einzubringen. Sie kann die Tätigkeit ausführen, sie aber nicht zum gewohnten Ende bringen. Die entstehende Irritation kann ein Fenster für alternatives Verhalten öffnen und die Haltung bzw. die Realität der Helfer_innen deutlicher machen. Für die Klient_innen mag die Selbstverletzung logisch und zwingend nötig sein – für die Helfer_in ist es Gewalt und die wird in einer sicheren Umgebung nicht geduldet. Keine_r der Helfer_innen bezeugt in diesem Haus Gewalt. Und zwar nicht, weil die Klient_innen so liebenswert sind oder weil die Helfer_innen das einfach so gerne hätten, sondern, weil die Grundlage für diesen Kontakt, für diese Hilfe und die Umstände vor Ort, eine der Sicherheit ist und bleiben soll.
Es ist nicht die angenehmste, doch vielleicht erst einmal die eindrücklichste Möglichkeit für eine Person mit DIS, eine Idee davon zu bekommen, was Sicherheit eigentlich ist und hier vor Ort bedeutet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist für sie Sicherheit etwas, das entsteht, wenn sie nicht erreichbar ist (weil sie dissoziiert ist). Wenn sie nichts fühlt, nichts denkt, nichts will. Und jetzt ist sie aber in einer Situation, in der sie auch dann sicher ist, wenn sie etwas fühlt, möchte oder denkt. Darauf wird sie in so einer Selbstverletzungssituation natürlich gewissermaßen brutal aufmerksam gemacht und kann es vielleicht eine ganze Weile lang weder verstehen noch begreifen. Sie wird nicht wissen, wie sie sich alternativ verhalten kann. Da hilft nur Wiederholung und Nachbesprechung. Immer wieder sagen: „Nein, das machen wir hier nicht. Hier ist ein sicherer Ort, hier wird niemand verletzt. Verletzung/Gewalt ist in diesem Haus keine Option. Ich bezeuge keine Gewalt in diesem Kontakt.“
Die Gründe für die Selbstverletzung sind bei der Durchsetzung dieser Grenze nicht relevant. Diskussionen darüber sind Kämpfe gegen Windmühlen. Auch hier wird es Trauma- und Gewaltlogik geben, die nicht zugänglich ist für die Realitäten, die hier und jetzt bestehen. Diese Logiken innerlich aufzulösen, gehört meiner Meinung nach in die traumatherapeutische Arbeit. In der pädagogischen Hilfe vor Ort funktioniert es besser, wenn man sich darauf konzentriert, welche Alternativen akut machbar sind. Selbstverletzung tritt immer in bestimmten Zuständen auf – Zustände sind veränderlich. Auch wenn die betreute Person mit DIS das selbst noch nicht wahrnehmen kann, wenn sie im Alltag viel „Zeit verliert“ und sich nicht (mit sich selbst assoziiert) erinnert, wie viele Selbstzustände sie am Tag warum und in welcher Form und Ausgestaltung annimmt.
Ich erkläre, dass die ganzen tollen Skills, auf die man beim Thema Selbstverletzung immer wieder trifft, aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) kommen und ebenfalls Zustandsveränderungen zur Folge haben sollen. Mal durch konzentrierte Selbstempfindung, mal durch gezieltes Lenken der Gedanken, der Wahrnehmung oder Konzentration auf bestimmte Aufgaben. Am Ende jeder Übung steht das Ziel einer Veränderung der Selbst- und Umweltwahrnehmung durch Emotionsregulation. Diese Skills sind super, wenn es um das Erleben von emotionalem Druck oder Anspannung geht.
Bei profund traumalogischem Selbsthass, traumabedingter Reinszenierung oder real bestehenden Ausschluss/Verlassenheits/Auslieferungs/Hilflosigkeitserfahrungen helfen sie hingegen kaum, sondern können die Anspannung noch verstärken und zu Momenten umfassender Überreizung führen, weil der Auslöser nicht aufgehoben oder verändert wird. In so einem Moment sind Erfahrungen sicherer Bindung und Selbstwirksamkeit der Hebel zur Zustandsveränderung. Soweit jedenfalls meine eigene Erfahrung und die von praktisch allen Vielen, die mit mir bisher über die Wirksamkeit von klassischer DBT gesprochen haben.
Wenn die Selbstverletzung also zum Beispiel als „nötig weil nicht anders verdient“ erklärt wird (also eine Wiederholung der Gewalt gemacht wird), kann es passen zu sagen, dass hier gerade niemand ist, die_r darüber urteilt, was wer verdient und also gar nichts gemacht werden muss. „Hier sind gerade nur du und ich. Wir sind hier an einem sicheren Ort, hier wird niemand verletzt. Ich finde, was jetzt nötig ist, ist [Grundversorgung] und dann [aktive Tätigkeit, positive Alltagsressourcen]. Komm, das machen wir jetzt. Willst du mit [Grundversorgungsaufgabe 1 (vielleicht was trinken) oder Grundversorgungsaufgabe 2 (vielleicht mal das Gesicht waschen)] anfangen?“
Von da aus lassen sich Alltags-orientierende Handlungsketten aufbauen, die den Selbstzustand verändern (Wechsel zu Alltagspersönlichkeiten möglich machen). Am Tagesende oder zur üblichen Reflexionszeit des Tages kann man dann nochmal so über die Situation sprechen, wie über jede andere Lernerfahrung. Denn auch wenn es vielleicht krasser wirkt als andere Momente am Tag, schließlich ist es ja auch gefährlicher – am Ende ist sich nicht zu verletzen oder zu gefährden, nichts anderes als sich grundzuversorgen. Das müssen alle wissen und immer im Kopf behalten, auch wenn solche Momente natürlich krass viel aufregender sind und ja auch alle (und nicht nur die betreute Person) betreffen (weil sie mit Gewalt zu tun haben).
Wieder gehen alle voll bis oben hin in die Pause. Diesmal mit turbulent italienischem Handgefuchtel über mangiare zum Tellerklappern und Aufdecken. Ich fotografiere den Po eines gebänderten Pinselkäfers.
Zum Nachtisch gibt es Crostata.
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Wir machen weiter mit den Fragen, die die Betreuer_innen noch haben.
Was ist mit Weglaufsituationen? Es gibt viele Menschen mit DIS, die Anteile haben, die scheinbar anlasslos oder allgemein unerwartet weglaufen. Worum geht es dabei?
Auch dieses Thema nehme ich, um die auch darin liegende Entscheidung gegen das Hilfeziel aufzuzeigen. Und was ist, was in diesem Zusammenhang für alle klar sein muss.
Erstens: Es gibt immer einen Auslöser, der real ist.
Zweitens: Weglaufsituationen sind so gut wie immer ein Versuch, Sicherheit herzustellen. Auch wenn das Weglaufen in einem maximal unsicherem Umstand passiert (stark befahrene Straße, in körperlich geschwächtem Zustand, ohne sicher erreichbare alternative Orte der Versorgung).
Drittens: Traumalogik besiegt Realität fast immer. Sie ist schneller, als sicherer erlebt und (siehe oben) die betroffene Person hat mehr Selbsterfahrung mit sich und ihrer Leistungsfähigkeit in (scheinbar) lebensbedrohlichen Situationen.
Durch die Helfer_innenbrille ergibt es überhaupt keinen Sinn, den Ort zu verlassen, wo alle eigenen Sachen sind, wo die Grundversorgung ohne Probleme möglich ist, um sich sicher zu fühlen. Mit der Traumabrille (also der Annahme von Todesangst als treibende Kraft) draufgeschaut ergibt es aber total Sinn, die Beine in die Hand zu nehmen, wenn man wo ist, wo man sich unsicher, ausgeliefert und hilflos fühlt. Es ist ein absolut logischer Schluss – nur leider nach einer fehlerhaften Einschätzung der Realität.
Jeder Mensch mit DIS muss über sich lernen, dass er diese „Traumabrille“, diese Kraft aus der Todesangst, schneller abruft als seine „rationale Brille“. Sein Körper, seine Psyche wird eine ganze Weile lang immer mehr Sicherheit in der Annahme finden, dass man ihm schaden will, dass er gefährdet ist, dass er nicht sicher ist, als in irgendwelchen anderen Ideen, Realitäten, Möglichkeiten.
Er muss es hinkriegen, sich selber etwas Zeit zum Prüfen seiner Gefühle und Annahmen zu verschaffen. Seine Helfer_innen können ihn darin immer nur damit begleiten, dass sie ihm ihre Einschätzung und Wahrnehmung der Situation mitteilen. Und dann anbieten, wie er sich darin bewegen könnte.
Wenn eine Person mit DIS noch sehr schnell in Traumareaktionen steckt, darf man von Helfer_innenseite nie davon ausgehen, dass sie schon von selber merkt, dass sie alle gernhaben. Dass sie schon von alleine denkt und glaubt, dass alle nur da sind, um ihr zu helfen. Dass sie sich schon von alleine dran erinnern kann, wer ihr wie oft und gut und umfassend und voller Liebe geholfen und Schönes für sie gemacht hat. In dem Moment, in dem ein Wechsel in einen Zustand, also zu einer anderen „Persönlichkeit“, passiert, die sich im Leben bedroht fühlt, spielen diese Erfahrungen (noch) keine (ausschlaggebende) Rolle. Diese Selbstzustände/Anteile/Persönlichkeiten können sich daran – an alles Gute und Verbindende – nicht erinnern. Manche kennen vielleicht noch nicht einmal die Betreuer_innen, von denen sie weggehen.
Mit diesem Verhalten wird für andere Anteile nicht in Frage gestellt, ob die Helfer_innen nett sind. Oder gut. Verhalten wie Weglaufsituationen, aber auch selbstverletzendes Verhalten, Verweigerung der eigenen Grundversorgung sind keine Aussage über die Qualität oder die Wirksamkeit der Hilfe, sondern über das Ausmaß der Hilflosigkeit, mit der Situation anders als so – die eigene Ziele verwerfend, sich selbst und andere gefährdend, traumalogisch – umzugehen.
Ziel der Hilfemaßnahme (und evtl. auch einer zusätzlichen Traumatherapie) muss also sein, die Hilflosigkeit in diesen Momenten zu verringern. Gemeinsam mit der Klientin zu überlegen: Was kann ich machen, wenn ich mich gefährdet fühle? Wie können mir die Betreuer_innen dabei helfen? Wie kann ich „da sein“ (nicht dissoziiert sein) und mich sicher fühlen?
Auch in diese Teamrunde kommt die Klientin am Ende mit hinein.
Wir beginnen mit einer Befindlichkeitsrunde, in der ich merke, wie hart ich hier gerade selbst am Wind segle, als sie sagt, dass sie sich ausgeschlossen fühlt.
Ich war 16 als ich in einer ähnlichen Lage war. Viele Leute haben über mich geredet und mich angeguckt während ich vorgeführt befragt wurde, während ich dachte, dass man aktiv an meiner seelischen Ermordung arbeitete und nirgendwohin konnte. Diese Situation, die ich als Videoaufnahme besitze und noch nicht ansehen konnte, hat mich traumatisiert. Ich bin bis heute nicht fertig mit der Aufarbeitung. Und jetzt sitze ich hier und tue der Klientin das an? Ist es wirklich das Gleiche? Wo sind die Unterschiede? – Alter, Kontext, allgemeine Gestaltung. Sie ist dabei, sie wurde gefragt. Es gibt die Einwilligung und Zustimmung. Ich führe sie nicht vor. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass ich keine special Fachperson bin, die der Weisheit letzten Schluss erzählt. Ich bin hier, um den Helferinnen eine Perspektive, meine Erfahrungen und Ideen zu vermitteln, nicht, um ihnen zu sagen, wie sie es richtig machen würden.
Die Ausgeschlossenheit ergibt sich aus dem Auftrag der Klientin. Die Helfer_innen helfen. Sie bekommt die Hilfe. Beide Parteien haben unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Beide Seiten bekommen die gleichen Informationen von mir – aber sie müssen unterschiedliche Dinge damit machen. Das ist das trennende Element. Das ist real, aber nicht lebensbedrohlich. Und auch etwas, das in meiner Situation früher ganz anders gelaufen ist.
Wir gehen mit einem versicherten Konsens über die allgemeine und wohlwollende Verbundenheit auseinander.
Ich lehne mich innerlich ein bisschen an R., die den Druck der Klapsleichen von mir abschirmt und halte ihr meine Hand hin. Jemand macht ein Foto von der Landschaft um das Haus.
Am Abend gehe ich wieder mit Daniela und Matthias essen.
Diesmal fotografiere ich vorher zwei andere Katzen.
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Am nächsten Tag regnet es wieder. In Norditalien gibt es Überschwemmungen. Ich schaue nach, ob es meine Rückreise verkompliziert und ärgere mich, dass ich nicht schon früher angefangen habe, Italienisch zu lernen. Es sollte aber alles klappen.
Ich lese bis sich eine Möglichkeit ergibt, die Klientin ohne Hilfeüberbau zu treffen. Ich darf zu ihr in die Wohnung, notiere mir aber im Geist, dass das eventuell schon ein Tick zu viel sein könnte. Pragmatisch gesehen wäre es kalt und oll geworden, wenn ich vor der Tür hätte bleiben müssen – emotional musste sie aber ein Stück ihres privaten Rückzugraumes für mich freigeben, obwohl sie mich nicht kennt und keinen Grund hat, mich oder Situationen mit mir als sicher einzuordnen. Vielleicht hätten wir das Treffen besser verschieben müssen auf eine Zeit, in der wir im Garten hätten sitzen können.
Unser Gespräch wird trotzdem nett. Als ich den Eindruck habe, dass sie erschöpft ist, gehen wir. Ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich mit Lisa, einer der Praktikantinnen, nach Arezzo zum Rumgucken fahre. Ein bisschen Erholung vorher ist genau die Grundversorgung, über die wir in den Tagen zuvor gesprochen haben.
Arezzo ist alt wie das Dorf beim Wohn- und Hilfehaus. Bisschen angerottet überall, aber auch aufgehübscht und modern. Ein bisschen wie in der Bielefelder Innenstadt, nur dass der Age-Gap nicht 18hundert vs. 50er bis 70er Jahre ist, sondern 13hundert vs. heute. Ich finds schön, wie mich die Straßen und Häuser mit den Leuten von so weiter Vergangenheit verbinden. Damals gab es sicherlich auch schon hundische Ladenchefs.
In der Innenstadt finden wir verschiedene Geschäfte, am Rand einen Park mit schöner Aussicht. Mittendrin den Dom, dessen Innenausstattung außerordentlich beeindruckend ist. Wir essen ein winziges, sehr sehr gut schmeckendes Eis.
In einem kleinen Laden kaufen wir regionale Spezialitäten, für die mein Mann nie Geld ausgegeben hätte, und finden uns stark und erwachsen, weil uns die Schinken über dem Kopf nicht zum Kotzen gebracht haben. Für uns nehmen wir ein mehr als faustgroßes Stück Baiser mit. In der Tüte sieht es aus wie ein Stück harte Wolke.
Am Abend gehen wir mit Daniela und Matthias in das Gasthaus eines anderen Ortes. Die Ereignisse des Vortages bewegen die beiden noch und auch dieser Tag war nicht so einfach. Ich bin müde. Ein letztes Mal esse ich ein Pastagericht und konzentriere mich auf die Tatsache, dass ich das hinkriege. Es ist alles anders als sonst, aber in den für mich wesentlichen Punkten noch vertraut genug, um nicht zu erstarren oder die Orientierung zu verlieren. Im italienischen Fernsehen läuft eine Debatte über Meloni und Musk. Ich kann nicht herausfinden, ob sie kritisch geführt wird oder nicht.
Nach unserer Verabschiedung schiebt sich meine Sorge um die Rückfahrt noch eine ganze Weile gegen den Schlaf. Mit einigem Gepopel kriege ich die Verbindung in die Deutsche Bahn-App und immerhin auch die italienischen Tickets in die Trenitalia-App. Da steht zwar noch nicht, worüber ich mir die meisten Sorgen mache – nämlich die Gleisnummer, damit ich einschätzen kann, wie viel Verspätung okay und wie viel ein Problem ist – aber immerhin. Am nächsten Tag würde ich bei Mastodon nachfragen. Manchmal hat man ja Glück.
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Am nächsten Tag drückt mir Daniela ein Osternest in die Hände. Dann sagen wir Tschüss, Ciao und Auf Wiedersehen und fahren mit einem Fiat kaum größer als mein Aixam über die Hoppelstraße nach Arezzo.
Ich drücke Daniela zum Abschied und klatsche mit Matthias ab. Die beiden haben heute noch viel auf dem Zettel, ich bin froh, nur eine Aktivität schaffen zu müssen: 20 Stunden lang und durch 3 Länder Zugfahren.
Ich kenne weiterhin nur das Abfahrtgleis des ersten Zuges und reize mein Hoffen auf Glück bei Mastodon aus. Und tatsächlich konnte jemand helfen. Die Gleise stehen in Italien einfach immer erst kurz vor knapp fest. Gnah. 😅 Aber ich kann mir den Status der Züge jeweils anzeigen lassen und dort kann ich auch die Gleisangaben am frühsten finden.
Alles klappt ohne Probleme. Es gibt interessante Momente, zum Beispiel einen Servicewagenmann, der 10 Minuten vor Ankunft in Bologna noch seelenruhig in den Gang reinsteuert und Kaffee verkauft, obwohl der halbe Wagen da aussteigen will. Oder auch eine junge Person, die ihr Kaninchen dabeihat und zum Streicheln rausholt. Aber insgesamt bin ich zu müde, um viele weitere Informationen oder Reize aufzunehmen. Ich schaue mir viele Alpenstücke an, lese zwei Geschichten in meinem Buch und bestimme endlich den Skorpion, den Daniela zwei Tage vorher aus dem Aufenthaltsraum getragen hat.

In Innsbruck warte ich zwei Stunden auf den Nachtzug, der fährt erst drei Stunden später los. Das Liegen tut mir gut. Natürlich werde ich von der Grenzkontrolle wach, aber selbst nicht kontrolliert. Klar, ne weiße weibliche Einzelperson, da ist wohl nicht viel Gefährdungspotenzial drin.
Als ich aufwache, sind wir bei Würzburg. Als ich zu Hause bin, habe ich eine Reise von 24 einhalb Stunden gemacht. Mein Mann bekommt seine Mitbringsel, ich ein Mittagfrühstück. Das Osternest von Daniela ist süß. Gut, dass ich es mir erst zu Hause in Ruhe angeguckt habe.
Ich bin froh, dass ich sie in echt getroffen habe.
Dankbar, dass sie mich eingeladen hat, diese Selbst- und Lebenserfahrung zu machen.
Zufrieden mit meiner Leistung.
Glücklich, dass es mir heute so gut geht, dass ich das machen konnte.