ein Fisch unter Elefanten – mein Prozess der Annahme der Autismusdiagnose

Am Dienstag war Autism-Awareness-Day und meine sozialen Medien ziemlich voll mit Posts über das Telefon als Barriere, das Puzzleteil als Symbol, das bitte nicht mehr benutzt werden soll und vielen Erklärungen zu Meltdowns und Stimming.
Ich habe an dem Tag das aktuelle Heft „autismus verstehen“ gelesen.
In dem Heft gibt es aber auch einen Text zum Prozess der Annahme und Akzeptanz nach der Autismusdiagnose. Petra Lachinger beschreibt ihn dort als den fünf Phasen der Trauer ähnlich. Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression, Annahme – am Ende ein lebenslanges Ding, das mal mehr, mal weniger beschäftigt.

Ich habe meine eigene Akzeptanz reflektiert und dabei bemerkt, dass mein Annahmeprozess genauso traumalogisch wie mein Verdachtsprozess und mein Umgang heute damit ist. Und dass das vielleicht anders wäre, hätte unsere Gesellschaft ganz allgemein mehr Autismus-Awareness.

Mein Verdacht autistisch zu sein, hatte sich entwickelt, weil ich mich als Ursache eines Problems wahrgenommen habe, das offenbar nur ich überhaupt hatte.
Die Traumalogik dieses Komplexes ist für mich ganz offensichtlich: Ich muss schuld sein, dass ich ein Problem wahrnehme. – Ich stelle mir das Problem selbst her, weil mit mir etwas nicht stimmt. – Ich strenge mich nicht genug an, um es zu verhindern, weil ich leiden will. – Ich will den Schmerz ja offensichtlich, warum rede ich mir dann ein, ich wolle ihn nicht …

Ich habe nicht einen Moment darüber nachgedacht, ob meine Therapeutin vielleicht irgendetwas falsch macht. Sie war von den Menschen, die mit mir gearbeitet haben, weder die Erste, die sowohl fachlich als auch menschlich gut mit mir gearbeitet hat, noch die Erste, die gut mit mir gearbeitet und trotzdem nicht richtig verstanden hat.
Ich hatte es nur zwei Mal mit wirklich schlechten Psychotherapeut_innen zu tun. Der eine hat sexualisierte Gewalt an mir ausgeübt, die andere hat mich emotional gewaltvoll behandelt. Das war beides schlimm und alles – hat aber am Ende in Bezug auf mein Selbstbild nichts großartig irritiert. Mit Gewalt umzugehen, war ich so gewohnt, dass ich mir damals schnell erklären konnte, warum sie passiert war. Ich bin halt scheiße – was soll auch anderes passieren. So ist es richtig – so funktioniert die Welt. Wenn es anders läuft, ist was im Busch.

Wenn zwei Personen alles so richtig wie möglich machen, aber doch nichts Richtiges dabei herauskommt, ist es wahrscheinlich, dass sie das Falsche tun. Da mir die Therapie grundsätzlich half, war es also logisch anzunehmen, ich müsste nur eine Kleinigkeit lernen, um den letzten Schritt zu schaffen.

Als ich anfing, mich in den Diagnostikprozess zu begeben, kämpfte ich mir der Überzeugung, dass ich jahrelang die Ressourcen und Kräfte von Menschen verschwendet habe, die sich sehr um mich und mein Weiter.Leben bemüht haben. Undankbar kam ich mir vor. Dreist, anmaßend. Und so, als ob ich mich nun einer so grundlegenden Beschissenheit meiner Selbst stellte, die ich selber, obwohl ich schon um sie wusste, einfach nie wirklich in Umfang und Bedeutung begriffen hatte. Ich war absolut bereit dazu zu hören: Du kannst es einfach nicht und wirst es nie können.
Heute frage ich mich, ob das vielleicht ein Aspekt von Leugnung ist.
In Wahrheit bin ich nicht autistisch (oder anders anders als die anderen Menschen) – in Wahrheit bin ich so scheiße unfähig, wie ich mich selbst (sicherheitshalber, traumagewohnheitsmäßig) finde.
Denn gleichzeitig hatte ich mich wissenschaftlich kritisch belesen und mich letztlich aufgrund der genetischen Komponente (eines meiner Geschwister ist ebenfalls hochbegabt und autistisch) für die Abklärung entschieden.
Logisch war mir klar, dass es genetisch und auf Grundlage meiner Probleme viel wahrscheinlicher war tatsächlich autistisch zu sein, als grundsätzlich unfähig. Aber die Leugnung dieser logischen Klarheit, hat mir ermöglicht, einen emotionalen Abstand herzustellen, der mir Sicherheit gab.

Ganz sicher war es auch ein Aspekt von Vermeidung, denn mir war schon klar, was diese Diagnose zusätzlich für mich auch bedeutet. Was es im Rückblick auf mein Leben und meine Arbeit in therapeutischen Kontexten bedeuten würde.
Es war so viel leichter für mich, mich als Problem anzunehmen und dafür zu beschämen, als mal ganz grob und diffus in die Richtung zu denken, dass die Gesellschaft, dieses Stückchen Welt um mich herum, mich einfach 30 Jahre lang genau so im Stich gelassen hat, wie ich es – heimlich, versteckt, unterdrückt, negiert, verleugnet, beschämt, bestraft – gefühlt habe. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Gewalt, sondern auch in Bezug auf mich als Individuum.
Dass mein Gefühl richtig war, hat mich direkt nach der Diagnosestellung dekompensieren lassen. Denn damit umzugehen, überstieg meine Lebenskompetenzen. Ich habe nicht gedacht: Ich bin so geil, habs ja gleich gewusst – alles Dilettanten! Oder: Oh yeah, ich bin schlau – jetzt kommt meine Rache an allen, die mir nicht gerecht geworden sind.

Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe vor allem gefühlt und davon viel zu viel gleichzeitig, unbenennbar und existenziell bedrohlich.
Mein Leben nach der Gewalt war praktisch komplett um die Psychotherapie herum aufgebaut, weil mir von allen Seiten vermittelt worden war, dass nur so eine lebenswerte Zukunft für mich überhaupt denkbar sei. Und dann verstand ich, dass diese eine letzte stabilisierende Säule – dieses einzige Ding, das mir trotz allem nicht-ganz-Verstehen meiner Therapeutin auch geholfen hat – nicht wirklich funktionieren kann, weil ich dafür nicht passe. Obwohl ich mich so anstrengte. Obwohl ich wirklich alles immer so aktiv bearbeitete, wie ich konnte.

Es folgte meine letzte schwere Depression mit akuter Suizidalität und meine letzte gewaltvolle Psychiatrieerfahrung. Die mit mehr Bewusstsein für Autismus und autistische Menschen vermutlich gar nicht so gewaltvoll geworden wäre.
Genauso wie der tagesklinische Aufenthalt danach. Der Klinik-Gau, der mich bis heute rasend wütend macht, weil ich Verletzungen wie diese einfach nicht mehr traumalogisch abhaken kann – und will.
Und auch nicht sollte. Niemand sollte nach so einer Klinikerfahrung nach Hause gehen und denken: Ja, ich bin da halt nicht richtig gewesen – ich bin halt immer überall falsch. Ich darf auch nicht von anderen erwarten, dass sie sich auf mich einstellen – was denk ich denn, wer ich bin?

Die psychologische Begleitung, die ich nach der Diagnose hatte, war letztlich, was mir geholfen hat, Schritte aus meiner Traumabubble zu schaffen. Ich konnte schrittweise so auseinanderschälen, wie ich das benötigte, wo mein autistisches Er_Leben Anpassungen von meiner Umwelt erforderte und welche Themen besser traumatherapeutisch aufzugreifen sind.
Das war meine Phase der Verhandlung und damit auch eine Phase der aktiven Interaktion mit meinen Diagnosen und den auch identitätsstiftenden Aspekten davon. Es fiel mir zunehmend leichter, mich nicht als mehr oder weniger skurrilen Traumarest zu begreifen, der in allen Bereichen des Lebens struggelt, weil das Trauma alles beschädigt hat und neu aufgebaut und ausentwickelt werden muss. Ich konnte mich auch davon lösen anzunehmen, dass ausschließlich die traumasensible Interaktion mit mir hilfreich und gut für mich wäre und alles andere nur deshalb nicht funktionieren würde, weil ich ja so beschädigt traumatisiert bin.

Ich begann jede Situation, die schwierig für mich war als eine Art Handel oder Austausch zu betrachten. Also als etwas, das nicht primär etwas mit mir, meiner Persönlichkeit oder meinem Sein zu tun hat, sondern als etwas, das prinzipiell erst einmal gemacht werden muss/soll/kann/darf und deshalb immer erstmal okay ist. Egal, was ich dabei wie un.gewollt kommuniziere oder auch nicht.
In meinem Fall ging es dabei vorrangig darum, meine existenziellen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Also genau die Basics, die die meisten Leute gar nicht groß als herausfordernd erleben – und deshalb nur bei ganz kaputten, kranken, unfähigen Leuten überhaupt als herausfordernd annehmen – in Routinen einzubetten, die ich mag. Die mir gefallen. Die mir Kraft geben. Und sie dann auf Traumareste hin zu prüfen.
Dass in dem Prozess herauskam, dass der Großteil meiner Alltagsbelastung und Hauptauslöser für dissoziative Symptome in sensorischer Überreizung und dauerhaft abgezwungener Überforderung begründet war, hat mich damals erst einmal sehr gestärkt. Okay, ich bin kein Traumarest, der zu nichts weiter fähig ist – ich habe einfach nie gelernt, mich an meine eigene Wahrnehmung von etwas anzupassen. Wenn ich das tue, gehts mir so viel besser und ich kann so viel mehr machen.

Im Traumakontext ging es bei diesem Prozess immer darum, Traumalogik aufzudecken. Also das Innen zu finden, das noch traumareaktiv agiert, es zu orientieren und dann einen Handlungsweg aufzubauen, der alternativ ist.
Mein tagtägliches Alltagstrauma als unerkannt autistisches Kind war aber nicht so kleinteilig. Es war keine Abfolge wiederkehrender Monotraumata, die jeweils ein Innen hervorgebracht hat bzw. einen Trigger, den man entschärfen muss, um dann zu gucken: Okay, wie kriegen wir das bewusster hin? Wie können wir uns orientiert halten und die Sache erledigen (wie die meisten anderen Menschen auch)?

Niemals war in dieser Auseinandersetzung die Frage, ob und wenn ja, wann und wie ich überhaupt die Chance habe, nicht durch Überreizung oder soziale Überforderung schon dissoziiert zu sein. Nie war die für alle so ganz normale Alltagsumgebung, als nur mit unfassbarem Kraftaufwand kompensierbare Belastung mitgedacht.

Ich lebe in einem Umfeld, das nie gehört, gerochen, gesehen, gespürt, geschlussfolgert, angenommen, überlegt, interagiert und kommuniziert hat wie ich – aber in jeder Situation, zu jeder Zeit und um jeden Preis auf meiner Seite von mir verlangt zu können, was es selbst kann. Schon als Kind bin ich als Fisch unter Elefanten aufgewachsen, denen nie in den Sinn kam, dass ich jeden Tag – ganz unabhängig davon, ob sie mich misshandelt haben oder nicht! – mit Todesangst wegen ganz realem Sauerstoffmangel umgehen musste.
Das ist ein Leben, das einfach nicht verletzungsfrei sein kann. Und das auch nicht allein dadurch veränderbar ist, dass ich darum weiß und mir mehr Inseln (Teiche? 😅) schaffe, in denen ich ganz ich sein kann und von anderen Menschen deshalb weder beschämt noch pathologisiert werde.

Heute, 9 Jahre nach der Diagnosestellung, habe ich meinen Autismus noch nicht vollständig angenommen, weil er mir selbst noch nicht vollständig in allen Aspekten immer bewusst ist. Ich denke nach wie vor erst, dass ich ein unfähiges Stück Scheiße bin und gehe erst dann in die Prüfung, wenn mir diese negative Selbstverortung als belastend auffällt. Und selbst diese Prüfung mache ich nicht in der Annahme, ich sei ein Fisch unter Elefanten – also eine Person, die sich an Dinge anpassen muss, an die sie sich nie vollständig anpassen kann – sondern wie eine komplizierte Rechenaufgabe voller Annahmen, unsicherer Intuition und konstant auf Traumalogik durchleuchtete Impulse. Denn ich weiß einfach nicht, wie Elefanten ticken. Nicht wirklich. Und deshalb weiß ich nicht, worin sie sich von mir unterscheiden. Ich weiß eigentlich immer nur, was sie von mir als abweichend wahrnehmen und wahlweise witzig, nervig, störend, peinlich, abstoßend oder bedrohlich empfinden. Das kann aber an meinem Autismus liegen, an meiner Traumafolgestörung oder anderen Eigenschaften von mir und den Kontexten, in denen wir uns bewegen.
Bis ich weiß, dass etwas von meinen Belastungen auch Autismusbedingt ist, vergeht oft sehr viel Zeit und frustrierendes Herumprobieren an mir selbst.

Mein nicht-autistisches Umfeld spanne ich damit nur selten ein. Es ist mir einfach zu belastend und manchmal auch zu verletzend.
Auch das ist Teil des Annahmeprozesses. Ich muss nicht nur akzeptieren können, dass ich so bin, wie ich bin und was es für mich bedeutet, so zu sein, wie ich bin. Ich muss auch die Realität akzeptieren, dass nicht-autistische Menschen einfach nie die Quelle für Miteinander, Selbst- und Umweltverständnis sein können, die ich brauche und mir oft wünsche.

Meine Vorstellung von mir als „vom Trauma geheilte Person“ musste ich nach der Diagnose auch revidieren. Die selbstbestimmte Frau, die ihr Trauma überwunden, das Leben anpackt, sich against all odds verwirklicht und ihren Weg in den Sonnenuntergang geht, war schon immer eine Trope, die ich ehrlich gesagt eher als lesbische Fantasie interessant fand. You know – Xena 😅
Ich bin aber keine Frau. Ich weiß noch gar nicht, wann ich wirklich bin und immer um mich kämpfen will ich auch nicht müssen. Aber selbstbestimmt möchte ich sein. Und das ist als autistischer Mensch unter überwiegend nicht-autistischen Menschen nicht das gleiche wie für nicht-autistische Menschen. So etwas als gesetzt annehmen zu müssen, ist einfach nicht fair. Ich will das nicht annehmen.
Muss es aber doch in manchen Bereichen, weil man sich im Angesicht unbewusster Mehrheiten nicht um alle Veränderungen gleichzeitig kümmern kann.

Für mich ist es viel, gelegentlich mal solch einen Text zu schreiben oder bei einer Lesung oder einem Vortrag darüber zu sprechen. Aber damit das allgemeine Bewusstsein zu steigern oder gar die Welt zu verändern, erscheint mir utopisch und anmaßend. Ich betrachte es eher als eine Art Teichrandgestaltung. Als Elefantenfesten Strand sozusagen. Wer möchte, soll können.

Es wäre schön, würden Elefanten das auch für mich tun.
Aber zur Annahme meiner Diagnose.n gehört auch die Annahme der Realität, in der sie entstanden sind und eine Funktion erfüllen.

das innere Chaos begreifen – ein Plädoyer gegen die Demokratisierung des Inneren

Anfang der Woche sah ich die Formulierung der „Demokratie im Inneren“ mal wieder im Kontext der Traumaheilung und DIS. Wenig verwunderlich, denn diese Formulierung, diese Zielsetzung zum inneren Frieden gibt es schon lange in der Welt.
Ich halte sie für problematisch und schreibe hier, warum.

Zwei Dinge.
Erstens ist Demokratie eine Herrschaftsform. Eine Struktur, um Macht in einer Gruppe (Gesellschaft) herzustellen, anzuerkennen, durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.
Traditionell ist keine Herrschaftsform gewaltlos. Wo Herrschaft ist, ist auch Macht und wo Macht ist, ist Gewalt. Demokratie, aber auch Diktaturen oder Autokratien und viele andere *kratien können sozusagen als Verwaltungssystematiken gedacht werden. Ein ganz spezieller Zettelkasten, in denen die Rechte und Pflichten, Verbote und Gebote des Zusammenlebens ganz spezifischen Menschen(gruppen) zugeordnet werden. Bereits diese Gruppierung und Zuordnung sehe ich als gewaltvolle Praxis an, da sie zu gewalttypischer Distanzierung führt, die ihrerseits sowohl als Funktion als auch als Ziel zur Weiterführung von Gewalt als System einzuordnen ist.
Die Zuordnung von Rechten und Pflichten, Ver- und Geboten ist in der Folge als Privilegierung bzw. Deprivilegierung zu sehen. Also etwas, das sowohl die getane Zuordnung in Gruppen definiert als auch aufrechterhält. So durften bereits in den frühen Demokratien verschiedene Personengruppen nicht wählen und hatten deshalb praktisch keine Möglichkeiten, ihrer Deprivilegierung auf demokratischem Wege entgegenzuwirken. Die Folgen waren unvermeidbare Aufstände, Kämpfe, Kriege. – Gewalt.

Nun mögen manche einwerfen, dass solche Demokratien heute gar nicht mehr existieren. Sklaverei wurde ja abgeschafft und das Frauenwahlrecht gibt es ja auch. Darauf möchte ich zum einen mit einem Mini-Serien-Tipp antworten: „Amend, the fight for america“ [Esquireartikel] und zum anderen daran erinnern, dass erst 2019 bestimmte Gruppen von betreuten und behinderten Menschen ihre Stimme bei der Europawahl abgeben durften. Und dass Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren auch zum Volk gehören. Weiterhin ist wählen zu dürfen auch in unserem Land keine Selbstverständlichkeit für alle gleich. [Tagesschauartikel]
Demokratie war nie von allen, für alle vom Volk gedacht und wird entsprechend auch bis heute nicht für alle angewandt, um Fragen des Zusammenlebens, Wirtschaftens und Ge.Waltens zu beantworten. Demokratie war schon immer ein Werkzeug, den mächtigsten Positionen in einer Gesellschaft den größten Einflussradius zu verschaffen. Nicht: den mächtigsten Menschen – aber den mächtigsten sozialen Positionen sowie darin begründete Ideen und Werte, die von (heute) mehrheitlich gewählten Gruppen (Parteien) (die wiederum mit viel Machteinsatz von ihren Ideen und Werten überzeugt haben) zu Taten kommen. Also dann irgendwann Gesetze oder Verbote werden und Gruppen der Gesellschaft privilegieren oder deprivilegieren.

All dem liegt weiterhin wie dereinst in den ersten Demokratien unserer westlichen Kulturen die Idee zugrunde, dass die mächtigsten die Richtigsten sind und deshalb immer schon eher Recht haben als andere. Hinzu kommt noch der „die Mehrheit hat immer Recht“-Gedanke, der meiner Meinung nach schon deshalb ein Fehlschluss ist, weil die Mehrheit in der Regel einfach nur immer die Macht hat. Eine Mehrheit kann Minderheiten zerstören, entrechten, ausschließen usw. Das gibt ihr kein Recht – aber eine mächtige Mehrheit braucht auch nicht darauf warten, dass ihr Recht gegeben wird – sie kann es sich einfach nehmen.

Und hier kommen wir zu meinem zweiten Punkt und in einem Bogen zur persönlichen inneren Struktur.

Du hast vielleicht gerade deine DIS-Diagnose oder pDIS-Diagnose oder wie auch immer benannte „Anteile-nach-Trauma“-Diagnose bekommen. Du weißt von einem oder mehren Anteilen, die irgendwie dauernd in dein Leben hineinfunken oder dir Entscheidungen unmöglich machen. Oder du spürst immer wieder, dass du mit Erinnerungen geflutet wirst, die dich quälen oder dass du dein Leben einfach nicht genießen oder bestimmte Therapiefortschritte nicht machen darfst. Ständig ist Krieg in deinem Inneren und du wünschst dir vor allem Ruhe, Frieden, Einigkeit, Harmonie.
Und dann liest du die Formulierung „Demokratie im Inneren“ und du denkst: „Ahja Demokratie, so machen wir das ja im Außen mit allen möglichen Entscheidungen. Alle sagen, was sie wollen und dann machen wir, was die meisten wollen und damit müssen alle zufrieden sein, denn so läuft es nun einmal.“

Das denkst du aber vielleicht nicht, wenn du gerade mit den tausenden Menschen in ganz Deutschland gegen die demokratisch gewollte gewählte AFD auf die Straße gehst, oder? Da gehst du ja hin, weil du sie nicht gewählt hast und nicht willst, dass sie so viel bestimmen dürfen wie die AFD, die sich CDU/CSU nennt. – Die du ja vielleicht auch schon nicht gewählt hast, die du aber irgendwie hingenommen hast, weil du ja mit deiner Stimme für SPD, Grüne oder Linke schon noch ein Gegengewicht herstellen konntest. Hast du jedenfalls gedacht. Sie habens ja versprochen. Im Wahlkampf. Wo sie jedem potenziell Wählenden alles erzählt haben, was sie hören wollten.
Aber vielleicht machens sie es ja noch wahr. Große Veränderungen dauern ja.

Nun spielen wir den Gedanken mal weiter, als hättest du keine demokratiekritische Haltung und du versuchst diese Demokratie in deinem Inneren herzustellen.
Okay: Welche Konflikte gibt es bei euch? Welche Entscheidungen müsst ihr treffen? Welche Überzeugungen und Werte sind für euch bei Abstimmungen relevant? Welche Parteien habt ihr im Inneren? Welche Koalitionen und welche Oppositionen gibt es? Habt ihr eine Struktur in euch, die eure Entscheidungen legitimiert? (Also eine Legislative, eine Justiz?) Habt ihr eine Struktur in euch, die dafür sorgt, dass sich alle von euch (auch, aber vor allem die Minderheiten, die Verlierer jeder Mehrheitsabstimmung) an eure Entscheidungen halten? (Also eine Polizei oder Armee?) Wie prüft ihr, ob eure Entscheidungen nicht totaler Quark sind?
Was macht ihr, wenn trotz innerer Demokratie gar nicht die Ruhe eintritt, die ihr haben wollt?
Wie geht ihr mit Aufständen, Großdemos und gewaltvollen Attacken um? Welcher Instanz, welcher Stelle außerhalb von euch selber, überlasst ihr in dem Fall die Kontrolle (die Macht) über euch?

Allein diese Fragen für sich beantworten zu können, erfordert unfassbar viel Wissen über „die Anderen“, über euch als System und über euch als Menschenkörper sowie das Leben als Mensch in der gesellschaftlichen Position, in der ihr lebt. Es ist überfordernd und zwangsläufig auch frustrierend. Denn gerade am Anfang, vor allem wenn auch noch PTBS oder andere traumabedingte Belastungsstörungen wie Essstörungen, Süchte, dysfunktionale Beziehungsmuster oder Persönlichkeitsstrukturen unreflektiert wirken und gebraucht werden, um den Tag zu überstehen, kommt man nicht „auf einen grünen Zweig“ beim inneren Demokratieaufbau. Viele halten sich dann für therapieunfähig oder in Annahmen über generelle Unfähigkeit bestätigt oder schlicht für einen hoffnungslosen Fall.
Dabei ist das, was da oft passiert in meinen Augen eine total gute, gesunde, heile Reaktion. Wozu denn ein System der Herrschaft etablieren, wenn doch im Inneren gerade eigentlich alle nur mal die Nase in den Wind oder den Kopf aus dem Sand stecken und die Augen aufmachen? Die Anfangszeit rund um die Diagnosestellung ist doch vor allem deshalb so grauslig: Da sind auf einmal welche, die irgendwas machen und wollen und man versteht nicht, wieso und wozu – und wenn doch, dann ist man erstmal total erschreckt und will das alles vielleicht gar nicht.
Warum zu dem Zeitpunkt erst mal alles kontrollieren? Alles ordnen, Posten verteilen, gruppieren, mit Namen versehen, wer keinen hat, umbenennen, wer peinlich oder verräterisch klingt und Regeln nebst Strafen aufstellen?
Für mich ist das eine gewaltvolle Traumareaktion. Man kriegt Schiss wegen des Kontrollverlustes und die Reaktion ist der Versuch Kontrolle herzustellen. Dabei ist die bedürfnisgerechte Reaktion auf diese Furcht, diesen Schiss, eigentlich, sich zu versichern. Also nicht diesen Schritt zu machen: „Ich will die Kontrolle nicht verlieren – also sichere ich mir die Kontrolle.“ – sondern: „Ich habe Angst vor Kontrollverlust, also begebe ich mich in eine sichere Umgebung, einen versichernden Kontakt, in dem ich keine Angst vor dem Kontrollverlust haben muss.“

Diese Art der Analyse eigener Bedürfnisse können komplex traumatisierte Menschen mit DIS, pDIS, DDNOS etc. in der Regel gar nicht vornehmen, weil sie ihre Grundbedürfnisse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht als solche (für) wahr.nehmen, einordnen und kongruent befriedigen können.
Die meisten können auf Angst – egal wovor und egal, wie bewusst ihre Auslöser für sie sind – nicht anders als traumareaktiv re.agieren.
Was bedeutet das aber für den Aufbau innerer Strukturen für den Systemfrieden?

Das bedeutet erst einmal, dass die bestehenden inneren Strukturen verstanden, wertgeschätzt und akzeptiert werden müssen, wie sie sind und sich zu überlegen, was „innerer Systemfrieden“ diesbezüglich überhaupt sein kann.

Dazu gehört auch eine grundlegende Akzeptanz für inneres Chaos zu entwickeln – und auch von Außen innerlich chaotisch gelassen zu werden, solange dadurch kein körperlicher Schaden für die Person und deren Mitmenschen entsteht. So manches „Chaos“ ist in Wahrheit eine Expedition von Innens nach Außen oder Versuche des Andockens an die Gegenwart. Was ich selber auch oft als Chaos wahrgenommen habe (und manchmal noch so empfinde) ist der Versuch herauszufinden, wie ich was eigentlich wahrnehme und für mich allein bewerte – während ich aber gleichzeitig merke: „Oh Shit, ich kann das aus mir allein heraus gar nicht.“ Dass ich so etwas merke und dann innerlich ganz zerwurschtelt in meinem Wollen und Können und Fühlen und Denken bin, ist per se überhaupt kein Problem, solange ich sicher und versorgt herumprobieren kann, was ich wie will und brauche und möchte. Es ist weder ein spezieller Spezialaspekt meines Vieleseins, noch etwas psychologisch Pathogenes – es ist ein vollkommen normaler Lern- und Selbst.Erfahrungsvorgang.

Einer, der auch beim Kompetenzaufbau zur alltagsorientierten Überlebenssicherung hochgradig relevant ist.
Priorisieren, rechnen, strategische Überlegungen anstellen, Planung über mehrere Tage hinweg – das sind Fähig- und Fertigkeiten, die eine umfängliche Hirn- bzw. Körperfunktion erfordern. Dafür müssen bei sehr vielen komplex traumatisierten Menschen erst einmal passende neuronale Netzwerke entstehen. Denn chronisch toxisches Stresserleben (wie beim Aufwachsen in traumatisierenden Lebensumfeldern üblich) verhindert dies. Viele komplex traumatisierte Menschen wirken vielleicht so, als wären diese Aufgaben kein Problem – sie sind es aber und sie versteckt von Grund auf (neu) zu lernen, weil Außenstehende sie erwarten, ist ein ungeheuer großer Kraftaufwand.

Das Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur bzw. Er_Leben, das von dissoziativer Selbst- und Umweltwahrnehmung beeinflusst ist, bedeutet sehr viele Herausforderungen, die die meisten nicht komplex traumatisierten Menschen mehr oder weniger unkompliziert und liebevoll begleitet in ihren ersten Lebensjahren meistern. Das heißt, dass auch das Verständnis von diesen Menschen für „Viele“, was das angeht, oft nicht groß ist. Man redet nicht oft darüber, auf welcher Basis „die Ungeschlagenen“ ihr Leben und sich selbst auf die Kette kriegen, weil sie sie oft schon einem Alter aufgebaut haben, in denen niemand von ihnen erwartet, ihre Herausforderungen zu beworten. Meiner Meinung nach heißt das für „späte Neulernende“: Ihr solltet das auch nicht machen müssen, um darin unterstützt und gesichert zu werden.

Und das – das Nichtbeworten und das Beobachten, um zu verstehen ohne einzugreifen – ist die Haltung, die ich für den Anfang der Auseinandersetzung für zielführend halte. Sowohl von Außenstehenden als auch allen im System.
Aus dem, was sich mit dieser Haltung vor mir aus meinem Inneren auftut, ist keine Demokratie oder sonst wie strukturierte Herrschaft aufzubauen. Nicht ohne ein Bewusstsein dafür zu bekommen, was für heftige Ein- und Übergriffe ich damit vornehme – und was für Spannungen ich aufbaue, halte und gewaltvoll legitimiere, die früher oder später wieder zurückkommen.

Mit diesem Plädoyer möchte ich nicht sagen, dass eine „innere Demokratie“ zu wünschen oder zu haben falsch ist. Wer das für sich erreicht hat und zufrieden ist, ist in meinen Augen deshalb kein schlechter Mensch.
Das macht meine Aussage über die Gewalt, die Demokratie bedeutet, auch nicht kleiner. Aber vielleicht ist dieser Beitrag eine Stimme für diejenigen, die nichts mitbestimmen dürfen, weil sie sehr traumanah erleben oder weil sie etwas (noch) nicht hinbekommen im Außen oder weil sie von den Bestimmenden der inneren Demokratie bislang nicht gehört wurden.

Und vielleicht ist dieser Text auch ein Impuls, sich mit Konzepten von radikaler Fürsorge, Communitycare und anarchistischer Gruppenorganisation auseinanderzusetzen. Denn letztlich brauchen wir als Viele primär gar nicht die Kontrolle über uns, um in dieser Welt zu bestehen, sondern Sicherheit, Fürsorge, Raum zum Wachsen und Freiheit für den ganz eigenen Selbstausdruck.

Fundstücke #89

Wie geklauter Raum fühlt sich das hier an.
Mein rechter Arm tut weh vom Klicken, ich habe sehr viel herumgeklickt in den letzten Tagen. Setzen, Sims 4 spielen, recherchieren, wie man als Einzelperson einen Verlag gründet, ohne bankrott zu gehen, wenn etwas schiefgeht. Damit ist mein Kopf gefüllt. Meistens.
Wenn ich den Computer ausmache, dann denke ich übers Schwangerwerden nach und darüber, dass ich nicht darüber nachdenken will, ob überhaupt irgendwas von all den Dingen, die in meiner köpfischen Eventuellvielleicht-So-könnte-es-gehen-Planung sind, funktionieren kann, wenn ich schwanger bin. Oder Elternteil. Denn würde ich denken, dass dann nichts funktioniert, dann würde ich es einfach lassen. Einfach hinschmeißen und gucken, ob ich dann noch lebe.

Das klingt heftig, aber ich meine damit nicht, dass ich mich wirklich frage, ob ich dann noch lebe. Meine Zweifel bestehen eher darüber, ob ich dann – so ganz ohne diesen Stress – eigentlich gerade in der Lage bin, mich lebendig, real körperlich zu fühlen. Und gewissermaßen auch: echt.
Denn im Moment fühle ich mich häufiger in mir selbst dissoziiert. Meine Verbindungen in mir, Hannah, die_r mal die Rosenblätter waren, sind weiterhin stabil. Trotzdem frage ich mich zuweilen, ob das wirklich ich bin, die_r organisiert und stützt und moderiert und tröstet und versichert und setzt und prüft und koordiniert und die Trauer über jedes verlorene Ei allein gestaltet, während sie_r hin- und herfühlt, wie ES damals war. Es ist schwierig für mich, abzugleichen, welches Level von Dissoziation normal ist. Wo ist die Grenze? Ich erlebe mich gerade nicht ich-fremd dabei. Aber die Situation ist mir-fremd deluxe, mit 5 von 5 Sternen für Originalität.
Ich komme klar, alles ist belastend, aber wirklich nicht des Todes krass überfordernd schlimm. Alles ist scheiße, aber lösbar. Alles ist unbefriedigend und ungeil, aber dann halt doch nicht alles.
Weird.

Der Zeit_Raum, den ich hier geklaut habe, ist meine Pause. Gleich gehts weiter. Danach noch weiter. Und dann mache ich wieder eine Pause und atme und dann mache ich etwas anderes.
Vielleicht das Vogelhaus reparieren.

Montagabend

Es ist spät, als ich von der Fahrschule nach Hause fahre. Spät, dunkel und eisschneeregnerisch. Vor mir stieben die Flocken ins Licht, als würde ich mit Warp 5 durch die Galaxie fliegen, der Tacho steht bei 35 km/h.
Mein Unterricht geht von 18 bis 21:30 Uhr, ich fahre immer schon um 17 los. Wildes Niedersachsen, da muss man durch, hier ist alles weit voneinander entfernt.

Ich denke oft, wie leicht mir hier etwas passieren kann. So kurz vor der Hochzeit, das wär doch kacke. Danach aber auch.

Ich bin allein auf dieser weltallschwarzen Strecke einzig gerahmt von den Leitposten links und rechts. Mal mit, mal ohne blauen Reflektor. Es ist nicht still und das ist auch gut so. Im Klang meiner Pusteheizung finde ich angenehme Kongruenz. Durchgehendes Rauschen, das habe ich auch in mir gerade.
Die Arbeit, der Haushalt, die Projekte. Bewerbungen, Fahrschule, Hochzeit. Noch 3 Wochen, dann machen wir Urlaub. Ich will alles geschafft haben bis dahin, denn nichts von dem Stress, der Aufregung, der Unsicherheit, der Unzufriedenheit und Aufreibungsnotwendigkeit will ich ins neue Jahr mitnehmen.

Ob ich meine Theorieprüfung noch im Dezember machen kann?

Ich will mit dem Partner und den Hunden, NakNak* – bis dahin noch?, am Strand spazieren gehen. Will ausschlafen, mittagsschlafen, frühschlafen, durchschlafen.

Meine Nachbarin war da und hat mit meinen Haaren operiert. Einen Buzzcut hat man im Leben frei, ich glaube, im Sommer ist es soweit.
Ich werde eine fitte, fette Person mit 3 mm Haarbelag auf der Kopfhaut sein und vielleicht wird alles anders. Nicht deshalb, aber damit. So, wie jetzt, mit der Zahnlücke.
Oh G’tt, wie der Zahn gestunken hat, meine Fresse, das war heftig. Und als Frau Doktor sagte, das wäre der Eiter, war es noch heftiger. Über ein Jahr ist der Zahn gestorben oder vielleicht schon tot gewesen. Ganz schön widerlich. Mein toter schwarzer Stummelbert.

Mein Mund fühlt sich noch an wie ein fremdes Zuhause und wenn ich kräftig Puls habe, spüre ich es in der Lücke. Denn natürlich ist das Stück der provisorischen Brücke gleich an Tag 2 abgebrochen und ich kann diese Woche nicht mal eben einen Tag freinehmen. Kann und will und möchte. Ich kann nicht, wegen der Fahrschule, will nicht wegen dem Gefummel am Kopf und möchte nicht, weil ich es unseren Gästen am Wochenende schön machen will. Putzi putzi blitzi blanki, hier hat sich einiger Wohlfühlschmodder angesammelt, das muss ja nicht sein.

Eigentlich ist es doch ganz schön so.
Vieles ist viel, aber nur noch die Arbeit eine zehrende Wartesache voller Unklarheiten und Gemuddel. Aber es wird. Irgendwie wird es ja immer.

Ich fahre auf unseren Parkplatz vor dem Haus, schalte alles ab und lausche auf das Knistern des Eisschneeregens. Da drinnen warten 3 Jemande auf mich. Ein warmes Bett, ein Abendbrot. Ein Morgen mit Übermorgen drin.

Ich bin froh.

Fortfahren

Für mich war es okay, für die Kinder der absolute Horror. Und so dann irgendwann auch für mich. Schwankende Netzabdeckung, kein Telefonnetz. Keine Fluchtmöglichkeit aus meinem eigenen Kopf, der Körper erschöpft vom Radfahren den ganzen Tag.

Eigentlich das, was ich die ganze Zeit wollte. Nur nicht in so einem Moment. So einem Moment wachsender Überzeugung, dass die Erinnerung eigentlich doch die Gegenwart ist, weil so vieles gleich ist. Nicht nur Um- und Gegenstände, sondern auch das Gefühl. Die Angst, die Starre, die Fluchtunmöglichkeit, der unerträgliche Zwiespalt über den Sinn und Unsinn nach Hilfe zu rufen, weil ja NOCH nichts passiert ist, aber mit Sicherheit bald. Was ja aber in der Regel belächelt, abgetan, nicht verstanden, nicht einmal geglaubt wird. Heute wie damals.

Ich bin süchtig. Seit ich 15 Jahre alt bin, sind Beruhigungsmittel mein allgemein legitimierter Fluchtweg. Selbstverständlich reise ich mit Tabletten im Gepäck. Und auf jeden Fall habe ich uns aus diesem Zustand rausgeschossen. Richtig weit weg. Nirgendwohin.

Am nächsten Morgen überlegte ich, wovor ich da eigentlich flüchtete. Es sind die Gefühle, ja, aber doch auch die Gedanken. Die Schlüsse, zu denen ich kommen könnte, würde ich mehr über dieses eine spezielle Kapitel in meiner Gewaltgeschichte wissen. Die Urteile, die ich fälle, obwohl sie mir nicht zustehen. Die Ungerechtigkeit in all dem, die mit nichts, von nichts und niemandem irgendwie ausgeglichen werden kann, weil Gewalt einfach keiner Sachlogik folgt, sondern sich selbst.

Das ist womit ich bis heute keinen guten, gesunden, wohlwollend, ruhenden Umgang habe. Der Umstand, dass es SO scheißegal ist, was ich eigentlich erinnere und wie kongruent oder beweisbar – am Ende ist es immer nicht wiedergutmachbar, weil es kein gutes Vorher gab. Jedes Erinnern ist ein Klecks mehr auf der Scheißekleckerburg. Und die steht nicht an einem Meer, das sie abträgt.

Aus Erinnerungen an Gewalterfahrungen kann man keine Waffe machen. Keine Werkzeuge, nichts. Nichts, was wirklich nutzbar ist. Außer als Gegenstück, als Grenzpfeiler sozusagen.

Ich wollte und will irgendwie noch immer meine eigene Geschichte kennen. Alles davon. Weil ich annehme, dass ich dadurch vollständiger werde. Aber ich will mich nicht wissentlich und willentlich mit Scheiße vervollständigen. Ich will nicht Teil davon gewesen sein und dann auch noch für immer bleiben. Und darüber denken, was die Kinder denken. Und schon gar nicht fühlen, was die Kinder deshalb und dazu fühlen.

Über mir fliegen Gänse in Formation. Die Sonne scheint, die Luft ist kühl und feucht. Ich bin froh, dass die Nacht vorbei ist. Dass ich, im wahrsten Sinne des Wortes, fortfahren kann. Dass es eben doch meine Wahl ist und bleibt, wie und wann und wozu ich mich dem Erinnern widme.

orgastischer Overload

Es ist die totale Überflutung, in die ich mich hineinschmeiße, wie sonst nur ins Schwimmbad. Das ist so klar wie ebenjenes Schwimmbadwasser, aber seien wir doch ehrlich: Sonst würde ich das auch nicht machen.

Am Mittwoch eine Lesung in Dresden, am Donnerstag eine Übernachtung in fremder Umgebung bei neuen Leuten, am Freitag ein Intensivplenum bei der Arbeit, die im Moment außerordentlich anstrengend ist.
Aber, oh Adrenalin. Du süße Wunderdroge, bereitgestellt in Hülle und Fülle. Bereit mich zu betäuben, zu beflügeln und mich damit so nah an meine Vorstellung von „Normal“ zu bringen. <3 Ohne dich wäre das nicht möglich. Ohne dich wäre das alles hier ein Albtraum. Ich würde vermutlich fühlen, wie weh mir alles tut. Würde vergessen, was mein Plan ist, würde meine Ziele aufgeben, würde mich hassen, weil ich meinen eigenen Erwartungen nicht nachkommen kann.

Ich glaube, dass ich zu selten kommuniziere, wie groß meine Abhängigkeit von Stresshormonen für mein Alltagsfunktionieren ist. Und was das für Auswirkungen auf meine Gesundheit hat. Und mein soziales Umfeld. Und letztlich auch für mich. Denn natürlich ist mir klar, dass auch mein Körper nicht dafür gemacht ist. Und sowieso: Der Absturz kommt immer. Ich weiß, wie mein Wochenende wird. Und, dass ich meinen Akku, meine Energiereserven, nicht wieder aufgefüllt bekomme. Bis zur nächsten Lesung am 4. August in Lübeck (18 Uhr, Café Brazil) werde ich mich im Ladevorgang befinden. Um mich dann erneut komplett zu verausgaben. Weil ich will, weil ich kann und weil es sich einfach gut anfühlt, alles zu geben, was ich habe. Ich liebs einfach. Es ist so schön, sich nicht tot zu fühlen. Oder halbtot. Oder in Wahrheit tot, doch zwangsbelebt von Reflexen und automatisierten Skripten. Und das zusammen mit den Dingen, die mir gefallen. Die mir wichtig sind. Für die ich mich entschieden habe.
I LOVE IT!
Für diese Momente habe ich gekämpft. Die waren mir das Überleben wert und wichtig.
Dass ich sie nicht bekomme, ohne dass mein Körper in den absoluten Overdrive schaltet, dafür kann ich nichts. Glaube ich. Denn egal, wie langsam ich es angehe, wie zart und bedacht ich mit mir umgehe – der Schalter kippt irgendwann einfach.
Und warum weiter dagegen ankämpfen? Es hat keinen Sinn, setzt mir nur ein weiteres Ziel, das ich nicht erreichen kann.

Also rein da. In den gezielten Reizrausch. In das orgastische Flimmern, das mein Blut zum Glitzern bringt und eine bunte Eindruckswolke in meinem Geist hängenlässt. Heute ist heute. Es ist keine Gewaltwolke. Wenn ich später hineingreife, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wehtun. Es wird Glücksmomente rieseln, Freude regnen, mich dankbar und satt machen. Ich werde etwas von der Welt kosten und schon früh genug merken, was ich davon verdauen kann und was nicht. Das Jetzt ist eins mit Morgen drin. Ich bin nicht mehr allein. Alles ist lösbar. Und wenn nicht, dann ist das eben so. Ich kann immer suchen, wenn ich noch nichts gefunden habe.

Ich habe mich entschieden, diese Momente zu wollen und zu genießen. Gerade weil so viele andere Momente in meinem Alltag genau die gleiche Wirkung auf mich haben, dann aber schier unerträglich sind.
Diese Momente werden nicht weniger oder mehr, leichter oder einfacher, wenn ich darauf verzichte. Im Gegenteil. Je mehr ich mich schone, desto schlimmer wird der Absturz, desto größer die Kluft zwischen der Welt und mir. Und desto sinnloser wird die Schonung, die Vermeidung selbst. Denn was soll ich denn mit einem vollen Akku, der nicht benutzt wird? Warum nie vom Vorrat essen?

Ja, ich muss aufpassen. Ja, meine Energiereserven von Dingen angefasst, die bei anderen noch nicht an die Reserven gehen. Ja, mein traumatisierter Körper hat ein ganz eigenes Energieniveau. Mein autistisches Gehirn hat eine Verdrahtung, die auch im Ruhezustand erheblich viel mehr Energie zieht, als nicht-autistische.
Aber das ist alles zu einem Zweck da: Lebendigkeit. Interaktion und Kommunikation mit der Mitwelt.
Nicht nur dann und wann, sondern immer.
Auch, so wie jetzt. Ein bisschen betäubt. ein bisschen durch, aber ganz da. Mittendrin. Im Leben.

#2. „Sie sind schon so (sehr) weit.“

Ich saß vor der Kinoleinwand, die Brummschleife direkt über meinem Kopf und versuchte die Menschen im Saal zu erfassen. „Alles Freund_innen. Alles Gemögte. Alles ‚die Richtigen‘.“ sagte ich mir und hoffte einfach, dass das auch stimmt.
Meine zweite Lesung, sie lief gut. Ich war zufrieden mit dem Ablauf, den Räumlichkeiten, den kontrollierbaren Kontrollverlusten, mir selbst. „Sie sind schon sehr weit“, sagte meine Therapeutin am nächsten Tag und wieder hoffte ich das Beste. Was auch sonst?

Etwa, dass ich mich frage: „Weit“ von wo nach wo? Weit im Vergleich zu wem? Weit in Bezug worauf? Heißt „weit“ so viel wie „hoch“? Gibt es dann auch ein „tief“? „Links“ oder „rechts“? Nah?
Was ist die Einheit, in der gemessen wird? In welcher Norm bin ich schon (seit wann? Jetzt? Oder schon länger? Hab ich einen wichtigen Moment verpasst? Ich habe nichts mitgekriegt – hätte ich?) sehr weit?
Wie weit ist „sehr weit“? Gibt es auch „mittel weit“? „Bisschen weit“? Wie viel liegt zwischen „sehr weit“ und „weit“? Geht es um Symptome? 5 Mal Traumacrash am Tag ist „nicht mal losgelaufen“, aber zweimal die Woche ist „sehr weit“?

Meine Therapeutin kennt mich seit 2012. Wenn sich jemand zu meiner Entwicklung äußern darf, dann sie. Und doch will ich es nicht hören. Dass unser Kontakt von Normierung geprägt ist, gehört dazu. Sie soll mich anhand von Normen beurteilen, sie hat gar keine andere Wahl, wenn sie ihre Arbeit von der Krankenkasse bezahlt und anderen Menschen in irgendeiner Form verlässlich beurteilen lassen will. Ich muss mich darauf verlassen, dass sie meine Fortschritte normiert, denn sonst weiß sie nicht, ob unsere Arbeit meine Entwicklung unterstützt oder nicht. Ich bin auf ihre Normierungsfähigkeit angewiesen.

Ich aber möchte nichts darüber wissen.
Es verunsichert mich. Es verschiebt meinen Fokus und führt mich in Normkrisen. Zurück in Traumawahrheitskreisel und daraus entstehender Angst vor eigener Überheblichkeit, Eitelkeit, Stolz, Selbstüberschätzung.
Es fällt mir leichter meine Leistungen und Schwächen anzuerkennen, wenn ich sie mir unter den Aspekten von „Kraftaufwand“, „Effizienz“ und „Auswirkung“ anschaue. Wenn ich mich also frage:
Was hat es mich gekostet? Worauf habe ich verzichtet?
Konnte ich es umsetzen, wie gedacht? Hatte mein Plan Schwächen? Konnte ich diese Schwächen aus mir heraus auffangen oder brauchte ich Unterstützung?
Ist eingetreten, was ich mir gewünscht hatte? Wenn nein, hat es geschadet? Wenn ja, ist der Schaden behebbar? Wie viel Energie kostet es mich, diesen Schaden zu beheben?
Wenn eintrat, was ich mir wünschte: Hat es sich angefühlt, wie ich es wollte? Wenn ja, ist das ok für mich? Wenn nein, warum nicht? Wenn es sich nicht angefühlt hat wie gewünscht, warum nicht? Habe ich das beeinflussen können?

Ich verstehe, dass es in unserer Gesellschaft üblich erscheint, ein Leben wie meins mit einem Verständnis von einem Krankheitsverlauf zu betrachten. Sich zu denken: „Ach Mensch, 2010 standen hier noch krud wirre Murkstexte aus Gefühlsbrei und krassem Leidensdruck durch Symptome aller Art – jetzt lesen sie in einem Kino aus ihrem zweiten Buch, ganz alleine und selbstorganisiert. Da ist echt Entwicklung passiert – ein langer (weiter) Weg geschafft.“ Und das stimmt auch. Aber sagt im Grunde nichts. Entwicklung wäre ja schließlich auch passiert, wenn wir keine Bücher geschrieben hätten. Keine Arbeit gefunden hätten. Keine Ausbildung geschafft hätten. Auch dann wäre es ein langer Weg von damals bis heute gewesen. Auch das wäre Leistung, Entwicklung, Prozess gewesen. Vielleicht auch Heilungsweg.

Es ist so schwierig immer wieder klar zu halten, dass eine DIS das Ergebnis umfassender physiologischer Anpassung an spezifische Einflüsse ist. Es ist keine Krankheit, die man rückgängig machen oder aufheben kann. Ich werde also nie von „Genesung“ sprechen können, nie unverändert, nie neuro_normalisiert werden.
Ich werde immer besser lernen mein Verhalten, meine Interaktion und Kommunikation an die Norm anzupassen und meine Reaktionen bestimmten Normen entsprechend zu gestalten. Das wird immer zu meinem Weg gehören und vermutlich ziemlich wahrscheinlich, denn Gesellschaft wandelt sich immer, werde ich ihn bis zum Ende meines Lebens gehen, um zu überleben. Denn das ist mein erklärtes Ziel und natürliche Funktion all meiner Systeme: Überleben.
Wie jedes andere System, jeder andere Mensch auch.

Wenn man meine Lebenszeit als allgemeine Wegstrecke zugrunde legt, bin ich jetzt bei Meter 37 von etwa 83. Gehen wir davon aus, dass ich mich zunehmend daran gewöhnen werde, relevante Anpassungsleistungen zu vollbringen (oder ihre Vermeidung zu perfektionieren) sowie mit höherem Alter von Leistungsansprüchen verschiedener Art entlastet zu werden, dann ja, habe ich nicht mehr so viel vor mir, das so herausfordernd ist wie jetzt. Vielleicht die Hälfte etwa.
„Gesund“ gewesen wäre ich aber lieber früher. Viel früher.
Ich habe von meinen 37 Lebensmetern 23 mit gezielter Umentwicklung und Normentanz verbracht. Oft weil es so wie es war, einfach schlimm war, meistens, weil als Ursache dafür irgendeine mehr oder weniger zwingend zu verändernde Unnormalität angenommen wurde. Ich unnormal, meine Familie unnormal, mein Er_Leben unnormal.

Mein Lebensweg führt mich da nicht heraus. Ich komme nicht bei „Normal“ an „je weiter ich bin“ und ich wünsche es mir auch immer seltener. Einfach, weil meine Kräfte zur Umsetzung dieses Wunsches nicht mehr ausreichen. Ich werde schlicht älter. Kann Normierungsdruck eigentlich nur noch mit aktivistischer Frechheit und Glitzerkanonen oder herablassender Intellektualisierung begegnen – denn so merken nicht sehr viele Menschen, dass ich einfach nicht mehr so viel, so schnell, mit so viel Kraft kann.

Es dennoch zu versuchen gehört zu der Krankenrolle, die mir zugeschrieben wird, aber dazu. Ich darf so lange unnormal krank sein, wie ich bin, aber ich muss auch alles dagegen tun (wollen).
Diesem ableistischen Anspruch zu entsprechen, normalisiert mich in manchen Kontexten. Patient_innen gehen halt in Behandlung. Mein eigenes Ansinnen an meine Behandlung als mich ermächtigend, kann ich dort nicht einbringen, ist für manche vielleicht sogar noch nie gedacht.

Für mich ist Selbstermächtigung, was ich brauche, um mir eigene Normen zu geben. Und durchzuhalten, dass ich sie für mich etabliere. Mich selber mit Kraft dafür versorge. Mir selbst den Rücken stärke, wenn jemand sie angreift. Dafür muss ich nicht wissen, „wie weit ich schon bin“ – dafür muss ich er_leben. Und üben. Und immer wieder ausagieren. Ob bei Lesungen oder meiner Kleiderwahl, unter Freund_innen oder bei der Arbeit.

Deshalb will ich das nicht hören.

Fragmente einer Ausnahmesituation

In den Quetschfalten der letzten Wochen hat es mich manchmal überrollt.
Ja, mein Partner ist nicht gestorben – aber es hätte passieren können und
Meine liebe kleine alte NakNak* mit ihrem Krumpelfuß und dem leisen Stöhnen beim Aufstehen und Hinlegen – auch noch nicht tot, aber
Traumafachtag in München, warum ist das alles so kompliziert, achso achso aha, hmm, naja, aber da kann man ja was machen – einfach nur
Mein Buch ist veröffentlicht, jetzt
Buchmesse, hoppla ich bin Teil von etwas und
Oh, wir sind eine Gruppe mit Gruppenthings, da kann
Münster, Spiegel, False Memory, Wahrheit, Wissen, Wichtigtuer, was für ein Karussell oh man, oh man. Alles auf die Leseliste, das ist
Buchmesse, oh, ah, hui mit Aufzeichnung – obwohl ich so
Gruppenthings gonna always Gruppenthing aua uff oje oje oje

All die Dinge der letzten Monate, die außerhalb von mir passiert sind.
Über nichts konnte ich wirklich zu Ende nachdenken oder eine emotionale Verbindung entwickeln. Ich kenne das schon – es gibt einfach Phasen im Leben, da hat man viel im Zwischenspeicher und rumpelt in der eigenen Außenschale umher. Dass das ein Ausnahmezustand ist, habe ich erst am Sonntag begriffen. Nachdem es einen Konflikt gab, den ein jugendliches, aggressives Innen begann und durchzog bis ich die Kontrolle wieder übernehmen konnte. Solche Wechsel sind mir zuletzt vor 12–13 Jahren passiert. Als mein Leben eine endlose Kette von Ausnahmen, eine ganze Existenz im Zwischenspeicher war.
Diese Zeiten sind vorbei. Solche Wirrungen nicht mehr irrelevant. Ich erlebe meine Ausnahmesituation eingebettet in die Alltage und Er_Leben.srealitäten anderer Menschen. Deshalb geht es auch um Anpassungsleistungen. Also darum zu maskieren, zu funktionieren, während mir meine Grundlagen für die Kraft dazu fehlen und über Extrameilen beschafft werden müssen.

Bei allem Frohsein darum, dass ich jetzt nicht mehr allein im Bullergeddo wohne, eine Arbeit habe und viele Menschen kenne, mit denen mich viel verbindet, wäre ich jetzt gerne wieder an genau dem Punkt. Denn von da aus konnte ich mich immer fallen lassen. Wusste immer: „Ob ich mich jetzt aufreiße oder später oder ganz oder gar nicht, es ist im Grunde egal.“ Niemand hat nach mir gefragt, niemand auf mich gewartet, niemand etwas von mir gewollt.
Menschen sind in mein Leben gekommen, weil ich gegeben habe. Obwohl niemand darum gebeten oder darauf gewartet hat.
Das war insgesamt einfacher für mich.
Auch weil es selten vorkam, dass explizit mehr von mir verlangt wurde, als ich sowieso gegeben habe.

Ich wollte immer mehr von mir. Und habe das auch Stück für Stück geschafft.
Jetzt bin ich daran gewöhnt, viel geben zu können.
Und mein Umfeld in Teilen auch.
Sich jetzt an ein niedrigeres Niveau zu adaptieren, fällt mir schwer.

Es sind gerade tatsächlich nur 3 Stunden Konzentration, die ich aufbringen kann. Es ist gerade tatsächlich so, dass ich nicht die ganze Zeit um die möglichen Gefühle und Gedanken anderer Menschen kreise. Sondern darum, meine eigenen überhaupt mal zu empfinden und erkennen zu können. Wenn mir etwas nicht angetragen wird, denke ich nicht darüber nach. Wenn mich niemand anspricht, spreche ich nicht. Ich denke nicht in Wörtern für den Fall, dass ich jemandem davon erzählen will oder muss oder möchte, sondern in dem mir eigenen Irgendwie so.

Früher hätte ich das gemacht und mich dafür bestraft. Denn ich wollte ja mehr – weil ich sollte. Einfach nur arbeitsunfähig sein, einfach nur chronisch erkrankt sein, dafür muss es echte Anlässe geben – die habe ich mir nie an.erkannt, weil sie mein Umfeld nicht an.erkannt hat.
Heute erkennt mein Umfeld das an – und ist zuweilen verunsichert, mich so zu erleben. Freund*innenschaften werden in Frage gestellt, gemeinsame Pläne ob ihrer Umsetzbarkeit generell bezweifelt, meine gesteckten Ziele hinterfragt. Es wird bedauert, wenn ich unter einen Instagrampost schreibe, dass ich viel geschafft und wenig ganz und gar miterlebt habe in der letzten Zeit. Während ich denke: „Leute! Was denkt ihr denn, wie ich gerade durchs Leben gehe? – Mir ist vor wenigen Wochen der Partner – mein von mir geliebter, mein in mein Leben reingebackener Mitmensch – fast gestorben. Ich habe genau in der Zeit eine Retraumatisierung erlebt, die ich jetzt noch mit viel Kraftaufwand aufarbeite. Meine in den letzten 15 Jahren immer da gewesene Assistenzhündin knabbert ihr letztes Stück Lebenszeit. Seit 3 Jahren leben wir in einer Pandemie, die unsere Teilhabe- und Teilgabemöglichkeiten begrenzt – worüber unser Umfeld nur noch aus Höflichkeit nachdenkt. Was denkt ihr denn, wie viel Raum noch in mir drin ist? Wie viel von mir gerade irgendwo anders drin sein kann?“

Ich denke, dass ich viel gebe, wenn ich mich aus dem Rückzug reiße und Pläne oder Vorhaben nicht aufgebe. Wenn ich weiter ehrenamtlich arbeite. Wenn ich mich nicht krankschreiben lasse.
Gleichzeitig merke ich, dass ich mich auch dazu zwinge. Die Angst zu fallen und nie wieder aufstehen zu können – dieses Traumafragment, aus dem ich meine ganze Überlebenskraft, meinen ständigen Antrieb, ziehe – die wirkt unfassbar stark im Moment.
Manchmal rede ich auch mir ein, besonders jetzt aktiv zu bleiben, würde helfen. War ja schließlich das, was sie in der Psychiatrie mit mir gemacht haben: Wenig schlafen, viel Programm. Sinnvolles tun. Sich selber hinter irgendein aktives Handeln stellen.

Tatsächlich will ich aber nur schlafen oder liegen und mein Gesicht in den Bauchflausch von NakNak* halten, während ich Bubi die Öhrchen streichle. So wäre es gerade gut.
Aber wenn es so ist, ist es schon nach 2 Minuten nicht mehr auszuhalten.
Und die Dissoziation fängt mich auf.
Meistens passend.
Und nun auch mal total schwierig für andere.

Aber wäre das nicht passiert, hätte ich es nicht verstanden.
Ist das der Preis?

die interne Fachveranstaltung

Nun gab es also eine interne Fachveranstaltung. Wir fuhren nach München, trafen uns und sprachen zwei Tage miteinander.
Die Absage wurde nicht diskutiert, die Zeit lieber für konstruktiven Austausch genutzt.

Ich habe mich oft an meine Arbeit erinnert gefühlt. Das Plenum, das Ringen um den roten, den gelben und den eigenen Faden. Das stetige Mit- und Ausschwingen, was ist wichtig und was erscheint nur so. Der Wunsch nach Harmonie, Einigkeit und Verbundenheit, der sich an Vorbehalten, Unsicherheiten und kritischen Positionen vorbeischiebt und das Vorwärtskommen zu einem zuweilen belastend langsamen Prozess macht.
Doch es hat mich auch gefreut. Sehr sogar, denn so finde ich, muss es weitergehen. Plenum, Arbeitsgruppen, Plenum, Ergebnisse mit.teilen, vertreten und weiter zum nächsten Plenum.

Ich glaube nicht, dass es hilft, einander in Gruppen und Grüppchen über den deutschen Sprachraum verstreut zu kennen, aber nicht regelmäßig auch zu kontaktieren und interagieren. Gruppen und Grüppchen, die aus Gründen geschlossen und deshalb argwöhnisch betrachtbar sind. Es ist nicht nachhaltig, einander nur auf Tagungen und Konferenzen zu treffen und ein einigermaßen halbgares „Weiter so!“ zuzustecken. Vor allem, wenn wir Kritikpunkte haben. Haltungen nicht nachvollziehen können. Un- oder Halbwissen erkennen. Gefahren sehen. Und einfach mehr voneinander wünschen und wollen. Vielleicht auch brauchen.

In den beiden Tagen habe ich mich nicht als „Konferenz-Betroffene_r“ gefühlt und das hat mir sehr gutgetan. Ich war nicht als Stellvertreter_in da und auch nicht als jemand, die_r dafür sorgt, dass „die“ „uns“ nicht vergessen. Ich wollte bestimmte Aspekte nachvollziehen können und schauen, wie ich in all dem hilfreich sein könnte. Nun bin ich zurück und frage mich, ob diese Rolle, diese Position okay so war. Hätte ich mehr von der Verwirrung, den traumareaktiven Mails an mich erzählen sollen? Doch so etwas sagen sollen wie: „Wir dürfen nicht vergessen, dass das jetzt gerade weiter passiert“? War ich zu sachbezogen und damit nicht hilfreich für die Betroffenen, die nicht eingeladen waren? Hätte ich etwas von dem diffusen Druck erzählen sollen, mit dem ich umgehe, weil ich schon so lange in der Bubble unterwegs, aber kaum so richtig wirklich und in echt hands on, jetzt machen wir was zusammen, dabei bin?

Ich hatte Gründe das nicht zu tun und rechtfertige mich auch nicht dafür. Dazu sitze ich hier einfach schon viel zu lange, viel zu allein und exponiert in der Öffentlichkeit. Meine Unabhängigkeit ist mein Privileg. Meine Stigmatisierung als zu krank, um glaubhaft zu sein, meine Freiheit. Aber um als hilfreiche_r und vertrauenswürdige_r Arbeitspartner_in gedacht zu werden, ist das nicht sonderlich hilfreich.
Und auch, um in Kontakt und kritischen Austausch mit anderen Betroffenen (die Öffentlichkeitsarbeit machen (wollen)) zu kommen, nicht.

Alles läuft immer so „fastheimlich“. Mit unfassbar langen Zähnen, mit extrem sensibilisierten Vorfühlerchen, so viel Angst vor … ja was eigentlich? Manchmal weiß ich das einfach nicht und ausgesprochen wird es nie. Auch aus Gründen vermutlich. Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur: Es ist schwierig. Und es wird nicht leichter, wenn man nicht darüber spricht.

Ich hoffe, dass wir das in Zukunft tun. Alle.
Miteinander.

note on: Hannah mach doch auch endlich was

Urlaub also. Und das Auto ist wieder heil. Back to normal?
Ich bin so runter mit allem, dass nichts mehr normal laufen kann. Bin genervt von Sprachnachrichten, genervt von Nachfrage-, Abklär-, Soll das so-, Entscheide du-Mails. Bin ohne jeden Überblick, was die aktivistische Community in Sachen „Aufklärung der Massen über rituelle Gewalt“ so auf die Füße stellt, werde aber dauernd auf das Instagramvideo und YouTube hingewiesen und seit Wochen per Mail angeschrieben, was ich denn denke, finde, glaube, machen will, auch in der Causa Schweiz/Satanic Panic/Missinformation deluxe. Bin verwirrt, weil immer noch niemand zwischen Interessen und Positionen unterscheidet. Denke die meiste Zeit „Hä?“ und spüre dem Rutschen dieser Bubble von mir weg nach.

Gefühlt steht mal wieder auf dem Spiel, dass niemand mehr glaubt, es gäbe organisierte Rituelle Gewalt. Gefühlt muss die DIS-Diagnose schon wieder verteidigt werden. Gefühlt sind Behandler_innen in Gefahr. Gefühlt ist alles ganz dramatisch und muss jetzt ganz schnell irgendwie eingefangen werden und Aktion Aktion von allen! Jetzt hier und gleich und mit voller Durchschlagskraft, weil so muss man das doch machen. Mit aller Gewalt gegen die Gewalt!
Weil uns das ja zuverlässig immer irgendwas bringt.

Es ist extrem herausfordernd für mich, meine Solidaritäten beieinander zu behalten in dieser so sehr verstreuten, schnellen, kurzlebigen Community. Aus der ich persönlich niemanden wirklich kenne und für die ich gefühlt auch einfach nicht (gut, aktiv, laut, offen, echt, kompetent) genug bin. Die Währung ist „lieb“. Ist Freund_in, treue Follower*innenschaft, privates Kennen und Mögen, soziales Feelgood, Bestätigung. Und ich habe nur Überzeugung und Solidarität auf Faktenbasis. Das reicht nicht, um als Nichtfeind_in an.erkannt zu werden. Vor allem nicht in Zeiten wie diesen.

Meine Solidaritäten sind systemisch. Ich stelle so etwas wie „Viele Stimmen“ auf die Beine, während ich ein unfassbar schwieriges, schmerzhaftes Buch schreibe, das der Community helfen soll, fast Vollzeit in einem Verlag arbeite, der ebenfalls vielen Communitys solidarisch zur Seite steht und eine Podcastreihe ausrichte, die der Community helfen soll, das Stigma selber aufzulösen. Ich bezahlte das Supportticket für die nun abgesagte Tagung, damit andere Betroffene auch kommen können. Obwohl ich als Mitmacher_in auch kostenlos reingekommen wäre.
Sich nicht wie Menschen, die mit sozialer Bestätigung handeln, zu beteiligen, heißt nicht zu schweigen. Oder unsolidarisch zu sein. Oder sich nicht zu interessieren. Oder doof zu finden, was andere machen.

Schon, dass ich diesen Text schreibe, um das zu erklären, ist für mich eins von vielen Zeichen dafür, dass ich gerade traumanah fühle. Ich erkläre mich einer diffusen Gruppe, die mich als Individuum gar nicht erst erfasst, sondern einfach nur als Masse hinzugewinnen will, obwohl ich schon längst dabei bin. Nur eben nicht so wie sie. Klassisches Ding in meinem Leben. Drinnen und Draußen sein gleichzeitig.

Jetzt aber gehe ich erst einmal rein. In meinen Urlaub. Erarbeite mir zurück, mich jeden Tag zu pflegen, mich gesund und ausreichend zu ernähren, zu bewegen und mich selbst zu spüren. Meine Gedanken zu hören, meine Ideen zu erforschen. Und dann schreibe ich das mit den Interessen und Positionen auf. Und warum uns die Beschäftigung damit weiter bringen kann, als eine Wall of Hashtags und Solidaritäten aufgrund von „lieb“.