Hannahs Neujahrsansprache

Ich begann zu bloggen, weil mir die Idee gefiel, in einem nicht-stofflichen Raum zu sprechen und einen Ausdruck für das zu finden, was ich erlebte. Etwas zu erschaffen, das nicht physisch berührbar sein würde und dennoch zweifellos da.
Mich erfreut bis heute wie meine Worte hier zu etwas werden, das andere erreichen und berühren kann, ohne dass ich als Person bekannt oder körperlich anwesend bin. Wie es kommt, dass manche Menschen schon seit vielen Jahren mitlesen und so zu einer ebenfalls nicht körperlich anwesenden, doch zweifellos wirkenden Kraft geworden sind.

Ich wollte hier mal aufklären.
Was ist eine DIS und was bedeutet es damit zu leben?
Das hat mir aber keinen Spaß gemacht, denn schon bald wurde mir klar, dass Aufklärung eine Grundhaltung anderen Menschen gegenüber voraussetzt, die ich nicht habe.
Ich glaube nicht daran, dass Menschen nur genug wissen müssen, um weiterzukommen, Fehler zu meiden oder sich selbst zu verbessern in Gebaren, Normen und Werten.
Ich glaube daran, dass Menschen sind, wie sie sind, weil sie sein können, wie sie sind. Ich glaube also eher an Umstände. Natur. Reiz, Reaktion. Ursache und Wirkung. Freiheit und ihre Grenzen.
Wissen ist darin ein Werkzeug von vielen. Etwas, das zum Selbstausdruck und zur Erweiterung des Eigenen genutzt werden kann, aber nicht die Voraussetzung dafür ist.

Relevant erscheint mir entsprechend bis heute, dass ich hier nicht erzähle, welches Diagnosekriterium sich an welchen Aspekten meines Alltages oder meines Selbst- und Umwelterlebens erfüllt, sondern wie ich mich fühle. Was ich denke. Was mir wichtig ist. Wie ich bestimmte Erfahrungen in mir erfasse und einordne.
Mich stets und ständig entlang der Diagnose zu definieren bedeutet für mich auch die Objektifizierung der Diagnostik an mir weiterzuführen. Ganz so, als sei die psychiatrisch medizinische Ordnung etwas, das alleinig und allumfassend Relevanz für mein konkretes Existieren als Subjekt hätte. Was sie nicht hat.
Ich wäre auch dann noch, wer und wie ich bin, gäbe es diese Diagnose nicht.
Ich hätte auch dann Worte und Empfindungen, Meinung und Urteile zu dem, was ich erlebe.

Mein Blog ist nun seit etwa 14 Jahren online.
Es ist mein Tagebuch, mein Knotenpunkt für innere Kommunikation. Mein Podest zum Teilen meiner Erlebnisse, Ideen und Meinungen. Ein Ort, an dem andere Menschen in Kontakt mit mir treten können.
Und eine Projektionsfläche.

Ich werde von vielen Vielen, Behandler_innen und Verbündeten hier wahrgenommen. Viele von ihnen haben ein Bild von meinen Motiven und meiner Person, die nicht zutreffen.
In den letzten Jahren kam es immer wieder vor, dass ich damit konfrontiert wurde und darüber nachdenken musste, wie ich mich dazu verhalte. Schreibe ich öffentlich darüber? Teile ich meine Gedanken und Gefühle dazu? Was macht es aus, wenn ich über bestimmte Dinge so schreibe, wie ich sie empfinde? Wem könnte ich schaden, wem nützen? Wie groß ist überhaupt mein Einfluss hier? Wie groß meine Verantwortung als eins der Urgesteine in der Multi-Blogbubble? Für und gegen wen spreche ich hier?

Ich habe mich dazu entschieden, das, was ich hier mache, als Selbstvertretung zu etablieren. Hier stehe ich allein. Du darfst mitlesen, mitdenken, mitfühlen – aber meine Stimme gehört mir. Klingt stark, nicht? Abgegrenzt. Klar. Sicher.
Das klingt so gar nicht nach einer Vermeidungshaltung, oder? So überhaupt nicht, als wäre das nicht auch eine Entscheidung aus Angst vor dem Konflikt – gerade, weil ich allein hier stehe. Gerade, weil sich selbst als Viele zu erleben, eine Psychodiagnose, eine Behinderung und chronische Erkrankung zu haben, zu ganz spezifischen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen führt. Auch und gerade innerhalb der eigenen Peergroup. Wer nichts hat, guckt den Gleichen ganz besonders auf den Teller. Das hat fast nie mit Missgunst oder persönlicher Abneigung zu tun. Aber mit den Umständen, der Gesellschaft, dem Umfeld, in dem es zur gemeinsamen Gleichheit kommen konnte.
Und gegen die kann ich hier kaum mehr tun, als meine Sicht darauf zu teilen und die An.teil.nahme anderer Menschen zu ermöglichen.

Mein Anliegen der Selbstvertretung hat mich in den letzten Jahren auch zuverlässig darüber hinweggetröstet, dass ich mich schon lange nicht mehr als Teil der Selbsthilfe- und Aktivismus-Bubble fühle. Obwohl ich inzwischen Teil einer analogen Selbsthilfegruppe bin und mit „Vielesein“ eine Plattform aufgebaut habe, die auch den politischen Austausch und persönliche Verbindung ermöglicht.
Ich muss anerkennen, dass die Debatten zu Gewalt, ihren Folgen und der Prävention inzwischen massiv fragmentiert und unterkomplex in den sozialen Medien, exklusiv in Vereinsstrukturen oder teils presse-ethisch fragwürdig in TV- und Rundfunkformaten stattfinden.
Und komme nicht umhin zu beachten, dass sich kritisch dazu zu äußern nicht deshalb schwierig und für manche sogar unmöglich ist, weil es mit einer konkreten Gefahr einhergeht, sondern weil sich niemand mehr auf öffentliche Fürsprache, Solidarität und ganz konkreten Schulterschluss verlassen kann. Und will.

Und soll.
Denn wie schon vor 14 Jahren gibt es auch heute noch Einzelpersonen und Gruppen, die Interesse daran haben, dass über Gewalt und ihre Folgen in einer Weise gesprochen und gewertet wird, die davon betroffene Menschen pathologisiert, Gewalt als alltägliches Geschehen negiert und Taten in einem Normensystem ohne Bezug zu ihren Folgen für die gesamte Gesellschaft bewertet.
Musste ich mich früher damit befassen, was die False Memory Foundation warum will, sind es heute Vertreter_innen der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und Journalist_innen, deren Antrieb zur Berichterstattung offensichtlich nicht die objektive Aufarbeitung von Sachinformation ist.

In den letzten Jahren sind einige Publikationen veröffentlicht worden, in denen wiederholt behauptet wird, die DIS-Diagnose sei eine Art wissenschaftlicher Kunstfehler. Therapeut_innen würden ihren Patient_innen einreden, dass sie Gewalterfahrungen gemacht haben, um sie so lange wie möglich in psychotherapeutischer Behandlung zu behalten. Und diesen Umstand missbrauchen, um die Wissenschaft zu unterwandern und eine politische Agenda voranzutreiben.
Die politische Agenda: Opfern von Gewalt glauben, solidarisch mit ihnen sein, ihnen helfen, wenn sie das möchten.
Für mich klingt das nicht nach einer Agenda, der man sich mit unbedingtem Willen zum Abbruch widmen muss, während der Faschismus nicht mal mehr anklopft, sondern unbehelligt im Bundestag ein und aus geht.
Für mich klingt das nach etwas, das unsere Gesellschaft braucht, um Gewalt zu verstehen. Um ihre Folgen zu begreifen und in einen Prozess zu kommen, in dem Fragen danach gestellt werden, wie wir miteinander leben wollen. Wie wir ganz praktisch und verbindlich füreinander da sein können, wollen und sollen.

Ich gehe davon aus, dass man Falschbehandlung und missbräuchliches Verhalten von Psychotherapeut_innen und politisch motivierten Akteur_innen besser in einer Gesellschaft aufdecken und verhindern kann, die einander vertraut, glaubt und stützt.
Meiner Meinung nach braucht es für gegenseitiges Vertrauen, Glauben und Stützen auch das öffentliche Sichtbarmachen der eigenen Haltung, Meinung und Solidarität. Sich hinter einem Mandat oder dem Status, der mit einer bestimmten Profession einhergeht, zu verstecken, ist ein Privileg, das die, die am meisten unter Diskriminierung und Gewalt leiden, nicht haben.
Höfliches, professionelles, unpolitisches, taktisches Schweigen ist im Angesicht von Angriffen auf die gesamte Gesellschaft und ihr Miteinander nicht klug, karriereförderlich oder überlebenswichtig. Es ist Schweigen. Eine Stille, eine Lücke. Ein Nichts, wo etwas sein muss, wenn man in jeder Lebenslage gut versorgt und gesichert mit den Mitmenschen leben möchte.

Ich möchte leben. Deshalb bin ich hier und dafür schreibe ich hier.
Primär für mich, doch ob ich will oder nicht, immer auch für andere. Für andere Viele, für andere autistische und komplex traumatisierte Menschen.
In der nächsten Zeit werde ich, wie immer allein und alleinverantwortlich, einige Texte veröffentlichen, die kritisch sind. Es wird um Publikationen gehen, die von Journalist_innen sind und um Publikationen, die von Menschen sind, die sich als Aufklärer_innen gerieren.

Zur besseren Einordnung hier eine Vorstellung meiner Person, die ich so nirgendwo im Blog stehen habe:

Ich schreibe unter dem Pseudonym Hannah C. Rosenblatt.
Der Name gefällt mir und er kam zu mir in einer Zeit, in der ich mich damit befasste, zum Judentum zu konvertieren. Ich habe letztlich keinen Gijur durchlaufen, weil ich meine nicht binäre Geschlechtsidentität und pansexuelle Präferenz in vielen jüdischen Kontexten nicht offen leben könnte. Ich bin nicht jüdisch geboren und ich lebe seit vielen Jahren auch nicht mehr nach jüdischen Gesetzen.
Ich bin eine weiße Person und betrachte die Privilegierung, die damit einhergeht, als etwas, das mich zu spezifischer Aufmerksamkeit, bestimmten Verhaltensweisen und einem kritischen Bildungsauftrag in Bezug auf die Leben nicht-weißer Menschen sowie kolonialer Verbrechen und rassistisch motivierter Gewalt verpflichtet.

Aktuell bin ich 38 Jahre alt.
Die DIS-Diagnose erhielt ich nach 7 anderen Diagnosen im Verlauf einer über anderthalb Jahre lang andauernden Behandlung in einer qua Struktur geschlossenen Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich war 16 Jahre alt und hatte zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Suizidversuche überlebt.
Diese Diagnose wurde in den folgenden Jahren mit umfassender Diagnostik und auf meinen eigenen Wunsch hin auf ihre Richtigkeit geprüft und in der Folge bestätigt.
Weitere Diagnosen sind Ängste und Depressionen gemischt und eine inzwischen chronische Essstörung. 2015 wurde außerdem die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung (im Sinne eines Asperger-Syndroms) gestellt.

Seit ich in traumatherapeutischer Behandlung bin, steht im Raum, ob ich Rituelle Gewalt erlebt habe. Stand heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass dem nicht so ist.
Die Gewalterfahrungen, die ich gemacht habe, fanden in meiner Herkunftsfamilie, meinem allgemeinen Lebensumfeld, in Psychiatrien, den Büros von Psychotherapeut_innen und einem organisierten Kontext sexueller Ausbeutung statt.
Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema Ritueller Gewalt hat mich dafür sensibilisiert, sowohl theoretisch als auch praktisch konkret damit umzugehen. Das bedeutet, dass ich Quellen für jede Aussage einfordere, echte Fälle recherchiere und mich politisch dafür interessiere, weshalb ideologisch motivierte Taten (zu denen für mich neben religiösen auch rassistische und politisch rechte Motive gehören) nicht in einer eigenen Kategorie erfasst und in der Kriminalstatistik geführt werden.

Der Umstand, dass ich bereits als Jugendliche mit der DIS-Diagnose umgehen musste, hat erheblich dazu beigetragen, dass ich die Besonderisierung (das Othering) von Menschen mit dieser Diagnose ablehne. Sei es, ob die Betroffenen das selbst machen oder es ihnen aufgezwungen wird. Für mich sind Menschen mit DIS keine besonders starken Überlebenden. Keine kuriosen Sonderfälle. Meiner Meinung nach brauchen die wenigsten Menschen mit DIS eine spezielle psychotherapeutische Behandlung, Betreuung oder zwischenmenschliche Fürsorge. Meiner Erfahrung nach führt eine solche Besonderisierung in den meisten Fällen zu Gewalt an diesen Menschen, die besonders durch die knappen Ressourcen im Hilfesystem häufig legitimiert wird und entsprechend verdeckt bleibt.
Im kleinen Rahmen biete ich pädagogischen Teams, die sich in so einer Dynamik erkennen, meine Perspektive als Betroffene und Hilfestellung zur Auflösung an.

Ich bin hier als Autorin tätig. Außerdem habe ich zwei Bücher veröffentlicht. „Aufgeschrieben“ und „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“. Unter meiner Verantwortung läuft seit 2015 der Podcast „Viele-Sein, ein Podcast zum Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur“.

Ich habe 16 Jahre in Armut gelebt.
Keine meiner Veröffentlichungen führt zu finanziellem Gewinn. Jede meiner Arbeiten ist in Teilen durch Spenden unterstützt, doch überwiegend von mir selbst finanziert.
Dank eines entschlossenen Schulleiters, einer angemessenen Begleitung und einer motivierten Lehrer_innenschaft habe ich eine Berufsausbildung machen können. Derzeit arbeite ich dank des Teilhabegesetzes in einem geförderten Arbeitsverhältnis in der IT-Branche.
Die Vorträge, Lesungen und Workshops, die ich in meiner Freizeit anbiete, werden überwiegend von anderen Betroffenen und ihren Unterstützer_innen besucht. Mir ist eine sachliche, faktenorientierte Auseinandersetzung mit den Themen Trauma, Gewalt und Behinderung wichtig, wenn es um Fragen der Hilfestellung und Aufarbeitung geht.

Mir liegt nichts daran, andere Menschen bloßzustellen oder ihren Ruf zu beschädigen.
Ich bin solidarisch mit Betroffenen und Überlebenden jeder Form von Gewalt, weil ich Gewalt für ein Problem halte. Dieses Problembewusstsein erwarte ich von allen Menschen gleich.

Im letzten Jahr habe ich mich dazu entschlossen, mein Konfliktvermeidungsverhalten zu beenden. Ich habe erkannt, dass es mir nur bedingt nutzt und anderen, denen es schlechter geht als mir, sogar schadet. Meine Hoffnung ist, dass auch andere Menschen den Mut finden, einen solchen Beschluss zu fassen und ihr Schweigen zu bestimmten kritischen Punkten beenden.

mit Kraft, ohne Zucken

„Eigentlich geht der aber noch“, denkt eine sachte Wolke über meine Schulter hinweg. Er, der dunkelblaue Wäscheoktopus aus Kunststoff, den mir meine Eltern bei unserem letzten Kontakt geschenkt haben. Das ist 14, vielleicht sogar 15? Jahre her. Ich drücke ihn tiefer in den Gelben Sack.

Im Badezimmer hängt nun eine neue kleine Wäschespinne am Kippfenster. Aus Edelstahl. Geschenkt vom Freund, Partner, Ehemann.
Der uns vorhin mit Quatschmachen über ein Christkind, das er gerade beim Einbruch in unser Wohnzimmer beobachtet hätte, kurz vor den Lachkrampf gebracht hat. Und gleich, das weiß ich aber noch nicht, unser Lieblingsspiel mit uns spielen wird, bevor wir sein Lieblingsessen zu Weihnachten kredenzt bekommen.
Ich denke an die Bettwäsche, die mir meine Tante zum 18. Geburtstag in die Wohngruppe geschickt hat. Dunkelblau, mit einfachem Sonne, Mond und Sterne-Muster. Längst nicht mehr Biber, seit Jahren zunehmend löchrig. „Die geht noch“ schwappt es nach jeder Wäsche, jedem Trocknen, jedem Zusammenlegen, jedem Neuaufziehen über mich drüber.
„Es war ein beknacktes Geschenk für einen 18. Geburtstag.“, „Aber es war eins. Hätte ja auch nichts kommen können.“, „Ja, ich habe das eigentlich nicht verdient.“ Ich schließe die Tür zu diesen Inneren. Ich will sie nicht fühlen, will mich nicht so fühlen.

Diese kleinen Alltagsgegenstände, die sich in jedem Haushalt ansammeln, irgendwann einfach wegkönnen und eben nicht mehr wegmüssen, weil sie wegsollen. Weil eine Therapeutin, Betreuerin, Helferin, Vertraute, Freundin argwöhnt, ob an dem Geschenk ein geheimer Code klebt. Ein impliziter Imperativ, der mich zur Kontaktaufnahme zwingt. Weil ein Therapiekonzept erfordert, nichts Verbindendes zu früheren Täter_innen zu besitzen.
Ich habe in der Verweigerung, diese Dinge wegzuschmeißen, meinen ersten Aufstand geübt. Mein erstes „Nein, du, ihr könnt mich mal – ICH entscheide das!“, gedacht, gefühlt und dann auch gemacht. Und gewartet, was sie machen würden. Mich verletzen? Oder nur rausschmeißen? Wegstoßen? Verlassen? Mir nicht helfen? – Wäre eh passiert. Mich zu halten, war nie möglich, egal, was für ein liebes Mädchen eine liebe Patientin ich gewesen wäre.
Am praktischen Ende meines Leidensdrucks hatte ich einen Haushalt, den ich mit Hartz-4 bestreiten musste, nachdem ich ihn mit der absurd niedrigen Erstausstattungspauschale aufgebaut hatte. Mit 18. Nach etwa 4 Jahren Heim-Klapse-Ping-Pong und einer Symptomatik jenseits von stabiler Entscheidungsfähigkeit. Kleinigkeiten, die bei solchen Aufforderungen zur Bereinigung Befreiung Entfernung von solchen Dingen nie wirklich eine Rolle gespielt haben. Komisch eigentlich. Dabei ging es doch immer um mein Bestes. Alles haben, was ich ganz banal und alltäglich brauche, gehörte irgendwie kaum dazu.

Mein Handy zeigt eine Nachricht mit Foto. Eine zweite Freundin hat ein Päckchen von mir unter ihren Baum gelegt. Eine dritte hat ein Briefchen von mir bekommen. Mein Partner hat auch Geschenke von mir bekommen. Und ich kann trotzdem Ende dieser Woche zum Chaos Communication Congress fahren. Und muss mich nicht einschränken. Brauche keine Geschenke, um mich zu versorgen. Jetzt sind Geschenke einfach immer schön. Und ich kann Menschen, die sich über meinen Besitz und ob ich ihn haben sollte auslassen, sagen, dass sie anmaßend und grenzüberschreitend sind. Mit Kraft in Brust und Bauch. Ohne Zucken.

Deshalb kann er weg. Der Oktopus.
Wenn jemand guckt, um zu prüfen, ob er noch da ist und wir es überhaupt wert waren, können wir ja sehen, wie es um Kraft und Zucken bestellt ist.

Grenzen, Limits, Möglichkeiten

Was ich vergessen hatte, war, dass unser Zug in unserer Herkunftsstadt halten würde.
Und dass sich mit dem Öffnen der Waggontüren die Zeit zurückdrehen würde. Dass alles sein würde wie vorher, als wäre das wie Normalität nun einmal funktioniert. You never know anything. Alles ist immer möglich.

Zum Glück.
Es war möglich, stützenden Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Veränderungen zu suchen und zu finden. Angst zu fühlen. Traurigkeit zu fühlen. Fremdheit zu fühlen. Vermissen zu fühlen. Verrat wahrzunehmen. Und weiterhin einen festen Stand in mir selbst zu haben. Zu sein und zu bleiben und zu werden, wie ich sein will. Belastbar. Konfrontierbar. Berührbar. Kontaktierbar.

20 Jahre später ergibt diese komische Therapie-Übung mit den Seilen, die man vor sich auf den Boden legen sollte, Sinn. Endlich kapiere ich: Das ist gemeint – Die Möglichkeit, dass da nicht nur die Dinge möglich sind, die ich so gut kenne, dass ich sie in aller Gründlichkeit fürchten und vermeiden kann, sondern auch Dinge, die ich noch gar nicht oder nur vage kenne. Und dass es etwas gibt, das ziemlich genau und deutlich aufzeigt, wo das eine anfängt und das andere aufhört: Grenzen.
Und nicht: Limits.

Ich weiß, dass viele Menschen diese Worte synonym verwenden, doch please hold the line – Ich habe einen Punkt. Einen wichtigen.
Denn für viele komplex traumatisierte Menschen gibt es so etwas wie Grenzen des Möglichen nicht – es gibt viel mehr points of no return. Eskalationsstufen, die mit Bewusstlosigkeit enden. Mit Dissoziation, mit Betäubung, mit Meltdown, Shutdown, Überdosis, Suizidversuch, reale Todesnähe.
Die Grenze, die Menschen in chronisch toxischem Stress permanent (zu) managen (glauben) ist die zwischen Leben und Tod. Und das ist ein Limit. Da geht es um ein Kontingent, das irgendwann einfach aufgebraucht ist. Nicht um Möglichkeiten.

Dieser Umstand ist es, der Helfenden, Begleitenden und manchmal auch Behandelnden schwer einsichtig ist. Vor allem, wenn die Gewalt, die Traumatisierung, das traumatisierende Umfeld nicht mehr besteht. Und wenn da doch Anteile sind, die den blauen Himmel und die bunten Schmetterlinge so toll finden können. Und eh viel tolle Alltagsstabilität da ist und tralla la.

Gerade Alltagsstabilität ist für viele Viele so lange ein Thema von Limits, weil sie nicht mit Grenzen aufgewachsen sind. Man kann nur sehen, was man kennt und auch Vorstellungen nur von dem entwickeln, was man schon einmal erfahren hat.
Deshalb war diese Übung damals vor 20 Jahren für mich auch ziemlicher Käse. Wie um alles in der Welt hätte ich diesen doppelten Geistes-Rittberger hinkriegen sollen? Erstmal die Abstraktion vom Seil auf dem Boden vor meinen Füßen hin zu dem, was berührt wird, wenn mir was im Leben passiert und von mir eingeordnet werden muss. Was ich damals ja kaum mitgekriegt habe. Und als ich es mitgekriegt habe, nicht einordnen konnte, weil meine Affektverarbeitung gestört ist und ich außer den Grundemotionen keins meiner Gefühle ohne aktives Nachdenken einordnen kann.

Und – nichts, kein einziger Aspekt in meinem damaligen Leben hatte nichts mit Limits zu tun. Ich hatte menschlichen Kontakt nach Stundenlimit – Therapie, Betreuung, Lehrplanzeiten. Meine Unterkunft, meine allgemeine Versorgung, meine körperliche Integrität – alles hing davon ab, wie weit ich meine Limits ausstreichen konnte. Es musste immer genug sein, um allen, die (ihre Arbeitskraft und -zeit) in mich investiert haben, mit Erfolgen bei der Stange zu halten, weil es so schwer, so herausfordernd war, mit mir klarzukommen. Und gleichzeitig genug, um jenen, die mir diese Räume zu nutzen gewährt haben, den grenzenlosen Zugriff auf meinen Körper und meinen Geist zu überlassen.

Also. Ja.
Wie hätte ich das früher verstehen können. Gar nicht.
Vielleicht war selbst dieser Moment im Zug ein Glückstreffer?
Oder ein erster Treffer? Wie Babys erster Schritt nach viel Hochziehen und Umfallen, komisch Weitermurksen und Wackeln und plötzlich, endlich, haben sich die neuronalen Netzwerke passend gekabelt und es klappt immer wieder?
Oder hab ichs schon ganz lange und es ist mir jetzt endlich auch selbst mal aufgefallen?

Alles ist immer möglich.

die Fragen und die Antworten

„When I thought I know the answers, they changed the questions.“ Das stand auf einer Karte, die mir eine Therapeutin geschenkt hat. Da war ich fast 18 und hatte außer der Nische im Doppelzimmer der Ballerburg keinerlei Bezugspunkte. Ich reagierte beliebig, verstand nicht, wieso sie diese Karte angemessen fand, wusste nicht, was sie mir damit sagen will. War mir allerdings sehr sicher darüber, dass sie mich weder aufheiterte noch bei etwas half. In dem Zusammenhang war die Karte vielleicht eine Manifestation dessen, was dieser therapeutische Kontakt letztlich war: Unnütz, zynisch, pseudo-nah.

Neulich dachte ich wieder an die Karte.
Es gab eine außerordentlich großzügige Spende für „Viele Leben“, meine Podcastinterviewreihe, in der ich mit Vielen spreche, die ein besonderes Thema haben. Weil ich für meine Arbeit daran bezahlt werden möchte, produziere ich immer erst dann eine Ausgabe, wenn sie finanziert ist. Die Interviews mache ich, wenn ich kann. Ich bin sehr frei in dieser Arbeit und froh, dass weder Zeitdruck noch die Ansprüche Dritter definierende Größen sind.
Doch ich denke auch über Sympathie nach und darüber, ob es nicht besser für das Projekt wäre, würde ich einfach nur im Hintergrund rummachen und jemand anderes stellt es nach außen dar. Oder wenn ich statt eines Podcasts ein Buch daraus mache. Oder wenn ich es ganz lasse.

Ich dachte an diese dusslige Karte, weil mir auffiel, dass ich selbst die Fragen ändere, sobald ich Antworten habe. Und schlimmer noch: Wenn es die richtigen Antworten sind.

In meiner inneren Traumalogik kann es nicht sein, dass ich etwas richtig mache. Oder wenigstens prinzipiell richtig. Sobald ich etwas mache und nichts Schlimmes passiert, stimmt was nicht. Und wenn mir nicht selbst auffällt, was nicht stimmt, dann fange ich an danach zu suchen. Und immer immer immer finde ich mich selber. Ich stimme nicht. Ich bin der Fehler in dem Ganzen. Nicht [beliebiges Attribut einfügen] genug. Nie. Punktum.

Dinge machen, ist gruselig.
Ich weiß das und mache sie in der Regel trotzdem. Manche Menschen finden das gut, den meisten ist es egal. Es ist für mich selbst ein riesen Ding, denn es gibt dieses „trotzdem“. Ich mache die Dinge nicht einfach, sondern mache sie trotzdem. So sind es immer zwei Dinge, die ich da mache.
Wenn man etwas trotzdem macht, dann muss man die ganze Zeit gleichzeitig gegen die eigene Vermeidung, den eigenen Selbsterhaltungstrieb ankämpfen. Man muss ihn niederdrücken, weil man sonst keine Dinge machen kann. Wenn mir das leicht fällt, bedeutet es in meinem Fall immer, dass ich umfassend dissoziiere, während ich es mache. Ich mache die Dinge wie und als jemand, die_r dieses „trotzdem“ nicht mitmacht. Ich mache meine Anstrengungen als Einsmensch für mich selbst unsichtbar, unspürbar, pseudo-weg. Wann immer etwas unsichtbar wird, verliert es Relevanz. Bietet keinen Anlass mehr beachtet und geprüft zu werden. Ich vernachlässige also etwas, das eigentlich von großer Relevanz für mein Überleben ist und das ist dann doch einigermaßen ungünstig. Also, wenn man leben möchte.

„Viele Leben“ habe ich angefangen, weil ich die Realitätsbezüge in der Außendarstellung von Menschen, die sich als Viele erleben, vermisse. Meine Frage ist: „Welche Leben(sthemen) haben Menschen mit (p)DIS?“
und nicht „Wie sollten die Lebensthemen von Menschen mit (p)DIS rübergebracht werden?“. Ich hatte mir sogar eine Antwort dazu überlegt, warum ich mich auf die Inhalte konzentriere und weniger auf die massengerechte Darreichung. – Ich bin einfach kein super sympathisches Massenmäuschen. Ich bin ein Sachstandsmonolith – und das ist okay so.
Ich hatte also nicht nur Antworten auf meine eigenen Fragen, sondern auch noch Antworten, die anerkennend und wertschätzend mir selbst gegenüber waren.

Da arbeite ich mich jetzt wieder hin.
Und im September gibts die 4. Ausgabe „Viele Leben“.

gute Chancen auf Zahnshit

Vielleicht ist es ein Zahn. Unbemerkt verstorben in meinem Mund, entzündet meinen Gesichtsnerv reizend. Totenruhe neu interpretiert. Lang wirke das Modernde.

Gegen 1 kann ich es nicht mehr aushalten. Mein Nerv ist ruhig, der Zahn nicht. Mir ist schwindelig vom Schmerzmittel, es ist Montagnacht, mein Inneres summt. Am Sonntagmorgen hatte ich meine Sachen schon gepackt. Mein Magen, mein Bauch, mein Kopf, mein Gesicht, alles tat weh. Und dann nicht mehr so stark. Wir fuhren nicht ins Krankenhaus, sondern tranken lauwarmen Kamillentee zu zimmerwarmem Haferbrei. Schauten einen Film von 1985 und schliefen mitten am Tag 6 Stunden durch.
Die Wahrscheinlichkeit am Wochenende an einen Bereitschaftsarzt zu geraten, der die Gesamtlage falsch einschätzt, erschien zu groß. Mein Partner, dessen heftiges Bluthusten aus der kranken Lunge, initial für „aus dem Mund kommend“ gehalten wurde und ich, die_r bei egal welchem Notfall auch immer eine Psychodiagnose mit auf dem Zettel stehen hat, haben damit so unsere Erfahrungen. Und es ging gut.
Bis 1 Uhr morgens.

Ich begann nach dem zahnärztlichen Notdienst zu suchen. Ging runter, um meinen Partner zu wecken. Der war noch wach und schnell genauso verwirrt wie ich. Denn so einfach ist das mit der notfallmäßigen Versorgung mitten in der Nacht nicht. Schon gar nicht für Zähne, das offenbar allgemein zu vernachlässigende Spezialorgan des menschlichen Körpers. So kam es, dass wir um dreiviertel 2 vor einer dunklen Praxis standen und lernten, dass der Notdienst, der von Samstag um 8 Uhr bis Montag 8 Uhr zuständig war, in Wahrheit nur am Samstag von 10 bis 12 Uhr Patient_innen behandelte. Wie auch die Praxis, die für die Stadt Notdienst hatte.
Wir lernten außerdem, dass „Zähne nachts immer schwierig ist“. Und dass uns die 116 117 nur bestätigen konnte, dass eine Vorstellung beim Arzt dringlich angeraten sei – aber niemanden in ganz Niedersachsen vermitteln konnte.

Knapp – ganz ganz knapp – wirklich um Haaresbreite – entging ich einer wutbürgerlichen Empörungsentladung. Mein Partner blieb ruhig, konnte nicht glauben, dass das jetzt wirklich nicht zu lösen sei. Er googelte für Bremen, ich dachte an die anstehende Krankenhausreform, die die Versorgung von kranken Menschen verbessern soll, indem weniger Versorgungsangebot gemacht wird. Dann googelte er für Nordrheinwestfalen und ich nach dem Gefahrenpotenzial von dem Medikamentenmix, den ich bis zum nächsten Morgen noch einnehmen könnte.
Ich entschied, dass ich eine akute Magenruptur schon rechtzeitig mitkriegen und Ohnmachten, Leber- und Nierenüberbelastung überleben würde. Wir fuhren also nach Hause, um die nächsten 3 Stunden, bis wir uns auf den Weg zu meiner Zahnärztin machen könnten, zu überstehen.

Tatsächlich bin ich eingeschlafen. Ein Bett mit verstellbarem Kopfteil – Gold.
Als ich den Lattenrost damals gekauft habe, hatte ich an Schmerztage gedacht, an denen ich vom Bett aus arbeiten muss – nicht an Erstickungsängste und die Notwendigkeit, nicht so viel Blutdruck auf meine Zähne auszuüben. Trotzdem – gut, dass ich ihn habe. Er hat auch in dieser Situation sehr geholfen.

5 Uhr morgens fuhren wir los. Um 7 öffnet die Praxis. 120 km Hoppellandstraße, Bundesstraße, Autobahn. Erst im Dunklen, dann im Dunkelblauen, bald im Hellgrauen, besprenkelt mit immer mehr Beleuchtungspunkten. Ich strenge mich an, mit meinem Partner zu sprechen. Er soll nicht müde werden, sich gut mit mir fühlen. Ich möchte, dass er merkt, dass er das nicht wirklich umsonst macht, obwohl er es nicht-autistisch betrachtet, komplett umsonst macht. Denn natürlich hätten wir auch bis um 7 schlafen und dann wieder zu der Dorfpraxis fahren können, die wir in 10 Minuten mit dem Auto erreichen. Aber um 7 Uhr morgens hat auch meine Zahnärztin auf. Die weiß, dass ich eine konkrete Ansprache brauche, wenn ich Schmerzen habe, übernächtigt bin und Medikamente intus habe. Die weiß, dass sie mir schon mit Kleinigkeiten sofort Todesangst macht, die ganz real sind, in meinem Körper wirken und die Behandlung traumatisch werden lassen kann. Die weiß, dass ich bei ihr bin, weil ihre Behandlung in meinen Abwägungen darüber, was der effizienteste und am wenigsten belastende Weg ist, das Problem, das Unwohlsein, die Krankheit anzugehen.

Abwägungen wie diese sind vor allem in dem Umfang für nicht-autistische, nicht traumatisierte, nicht chronisch kranke Menschen oft nicht 1 zu 1 nachvollziehbar. Und ich habe das internalisiert. Meine Grundannahme in solchen Situationen ist bis heute: Ich stelle mich an, mache mich besonders, ich mache unnötige Umstände, ich überstrapaziere die Güte anderer Menschen, ich muss entsprechend ganz besonders dankbar, lieb, demütig sein. Alles organisieren, alles fürs Wohlbefinden derer tun, die mir helfen. Das ist das Mindeste und in Wahrheit – ganz unter uns – nicht im Ansatz genug.
Und diese Grundannahme ist generell. Betrifft also auch meinen Partner, meine Freund_innen, meine Therapeutin – alle. Immer. Und weil ich weiß, dass manche von ihnen davon verletzt sind, weil sie ja aus ihrer Sicht immer nur Gutes für mich wollen und vielleicht auch nie (bewusst) so über mich gedacht haben, habe ich auch ein schlechtes Gewissen darüber. Und weiß gleichzeitig doch sehr sicher: Diese Grundannahme ist so wenig falsch wie richtig.
Leider. Es ist einfach verflixt mit mir, meiner komischen Merkwürdigkeit m Autismus und dieser Traumasache. Das Generelle sitzt nie da, wo die stets Generalisierenden es erwarten und das Konkrete bestimmt das Konkretisierende, nämlich mich. Schwierig schwierig.

Zum Glück habe ich schon viele selbstbestimmte Entscheidungen treffen und absichern können.
Meine Freundin K. teilt Räume ihres Wohnraums mit mir, wenn ich in der Stadt bin. So kann ich sie an Therapietagen besuchen, bei ihr arbeiten und übernachten, wenn ich für die Arbeit noch weiter wegfahren muss. Und wir, mein Partner und ich können bei ihr auf ein Bett fallen, wenn wir um 7 Uhr morgens nach 2 Stunden Fahrt erfahren, dass wir erst um 11 in die Praxis können.
Nicht aufzuwiegen dieses doppelte eternal Glücksgold in life.

Der Termin selbst bringt nur einen Verdacht, noch keine ganz feste Sicherheit darüber, was den Nerv initial gereizt hat. Aber die Chancen stehen gut auf Zahnshit.
Mir wäre das ganz lieb, denn ich habe prinzipiell lieber lösbare Probleme bekannter Größe, als kompliziert bis unlösbare Probleme unbekannter Größe.
Nun beginnen wir also eine Antibiose und haben das Ziehen der Nervleiche im Zahn geplant.
Derweil betrachte ich im Stillen den Spaten, mit dem ich auch diesen Zyklus für meine Erschwangerung begraben muss und versuche meine Enttäuschung mit Rationalisierung zu lindern. Es soll einfach auch diesmal nicht sein. Irgendwas Gutes findet sich schon noch daran. Irgendwie. Bald. Hoffentlich.
Das wär schön.

die Bewerbung

Spät am Abend sitze ich am Computer und schreibe eine Bewerbung. Kein neuer Job. Ein Assistenzhund.
Nun also doch. Vielleicht. Wenn.
Und wenn.

Es sind klassische Hundevermittlungsfragen, die der Verein stellt. Wer, wie, wo? Was sind die Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf das Tier? Und die Frage, wie meine Krankheit denn aussieht.
Es wühlt mich auf. Macht mich unsicher.
Ich schreibe auf wie ich wohne und das Bewusstsein um meinen Platzreichtum umspült mich mit Scham. Es geht mir so gut und ich will noch mehr. Meine Lebensumstände sind so stabil, so gesichert und gestützt und was will ich: etwas anderes.

Meine Krankheit ist chronisch, deshalb begreife ich sie als Behinderung.
Meine Traumafolgestörung ergibt sich aus psychischen wie physischen Anpassungen an für mich ungünstige Lebensumstände. Wieder spüre ich Scham und wie viel Anstrengung es mich kostet, trotzdem weiterzuschreiben. Ich weiß inzwischen sehr sicher, dass meine Symptomatik nicht unüberwindbar sein muss, um als solche anerkannt zu werden. Weiß, dass ich, um als Mensch mit Behinderung verstanden und anerkannt zu werden, nicht in Asche und Ohnmacht leben muss. Es darf mir gut gehen. Ich darf gut eingepackt in Fürsorge, Unterstützung und Freiheiten leben und gleichzeitig anerkennen, dass es Punkte gibt, die davon für mich ganz persönlich einfach nicht berührt sind.
Aber diese Punkte sind mir peinlich. Sie berühren Aspekte meines Seins und Erlebens, die schon mein ganzes Leben eine Rolle spielen und konstant Teil der konflikthaften Interaktion mit anderen Menschen sind.
Seit ein paar Wochen spulen sich diese Erfahrungen in einer ständigen Wiederholung in mir ab. Egal, was ich mache, ich nehme die innere Abwertung wahr und den Druck, den sie aufbaut. Nach 15 Jahren, in denen ich mich über meinen Hund daraus orientieren, versichern und beruhigen konnte, baut sich der Strudel wieder auf und ich gerate in die gleichen kommunikativen Momente der Ohnmacht und Starre wie vorher. Es kostet unfassbar viel Kraft, trotzdem weiterzumachen. Mich trotzdem zu ver- und umsorgen. Mich trotzdem zu behandeln, als wäre ich es wert. Mit anderen Menschen zu sprechen, als wäre ich es wert. Mir etwas vorzunehmen und zu versuchen, als sei es nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, bescheuert, abstoßend oder unsinnig, gerade, weil ich es tue. Mich nach Misserfolgen oder Fehlern nicht massiv zu verletzen oder meinen Suizid als unausweichlich notwendig einzuschätzen.

Ich weiß, was da los ist. Weiß, dass ich das in der Therapie zum Thema machen muss.
Es ist in dieser Lage keine Lösung, einen Assistenzhund zu haben. Aber ein Umgang. Ein anderer als Selbstverletzung, Vermeidung oder ein mentaler Zehnkampf jeden Tag, an dem es keine Momente der Regulierung, keine Augenblicke allgemeiner Okayheit gibt. Es ist ein Umgang, der mir in den letzten Jahren ermöglicht hat, hier herzukommen. In eine stabile fürsorgliche Partner_innenschaft, in eine Arbeitsstelle, die mich fördert und auf mein autistisches Erleben zugeschnitten ist. In ein therapeutisches Momentum, in dem für mich real annehmbar ist, dass ich an den Dingen arbeiten kann, die mich belasten. In eine Situation, in der ein Assistenzhund nicht nur gut arbeiten, sondern auch gut leben kann.

Diese Bewerbung ist nur ein erster Schritt für ein erstes Gespräch.
Dieses Mal habe ich nicht die Zeit für eine Selbstausbildung. Und dieses Mal möchte ich einen Hund, der weniger reizoffen ist, als Sookie es war. Ich brauche jetzt keinen Hund mehr, um zu lernen, wann Umstände wirklich aufregend und möglicherweise überfordernd sind. Heute brauche ich einen Hund, der mich in meinem Bedürfnis nach Beruhigung und Versicherung unterstützt. Ich denke also über eine andere Rasse nach und eine entsprechende Zucht.
Das ganze Vorhaben wird eine Zeit dauern. Jemand anderes wird die Ausbildung für mich übernehmen und ich die süßeste und härteste Zeit mit diesem Hund nicht miterleben.
Ich muss mir noch genau überlegen, ob ich das wirklich so möchte oder als etwas akzeptiere, das anders einfach nicht geht.

Aber nichts machen, weil ich unsicher bin, ist genau das, was ich jetzt nicht machen will.
Gerade jetzt ist es wichtig, mir keine Traumawahrheiten zu bestätigen.

das Wiedersehen

21 Jahre und eine Handvoll Zeitspaghetti.
So lange haben wir uns nicht gesehen. Wobei wir uns nie zuvor gesehen haben.
Und doch standen wir da am Bahnhof in den Armen der anderen, wie man das am Bahnhof oft sieht. Wenn der Lauf der Dinge zweier Menschen zu einem gemeinsamen Strom wird und sie sich in wirbelnd strudelnden Gefühlen halten. So standen wir auch da. Z.s Freundin C. und ich.

Wir waren Klapsfreundinnen mit Fastaussicht auf Draußenfreund_innenschaft, aber dann passierte alles Aber und wir verloren uns. Bis wir uns wiederfanden, aber nicht halten konnten. Bis wir es dann endlich doch konnten.

Ich lebe mit dem Bild von mir als fürchterlicher Teenager. Eingebildet, rücksichtslos, übergeschnappt, gemeingefährlich. Sehr unreif. Sehr affektgetrieben. Unsozial im Allgemeinen, berechnend und kalt im Speziellen. Im Grunde so, wie ich mich bis heute fürchte und bekämpfe zu sein oder zu wirken.
Dass wir bis auf J. und C. keine Freund_innen hatten und auch in der Kindheit für ein halbes Jahr nur eine L. eine Rolle spielte, war für mich immer darin begründet. Heute kann ich diese Freund_innen alle als mir ähnlich neurodivergent und im familiären Bereich verletzt erkennen.
Kommen ein Auti und ein_e ADHSler_in in ’ne Bar, gehen sie mit einer Start-up-Idee oder einem Heiratstermin wieder raus – das klingt nach einem Gag, ist aber keiner. Nicht wirklich. In meinem Leben ist das der rote Faden für fast alle meine Kontakte und Freund_innenschaften. Schade, dass ich das erst mit 30 gelernt und verstanden habe. Und mir erst heute so wirklich richtig anzunehmen traue. Schade auch, weil ich mit meinem Bild, meiner Erzählung von mir auch immer meine damaligen Freund_innen schlecht gedacht habe. Wie bekloppt, wie grundkrank, wie niedrig muss ein Selbstbewusstsein sein, um gerne mit mir Zeit verbracht zu haben – das tut sich doch niemand mit Rückgrat an, niemand, dem alle Uhren richtig ticken.

In meinem Lauf der Dinge ist das Bedauern darüber drin. So umarmte ich C. mit einer Entschuldigung in Gedanken und dem Gefühl des „Kurz vorm Auseinanderfallens“ von Z., die ob der Umstände des Wiedersehens so gut wie gar nicht klarkam. Ihre Freundin, sah noch aus wie ihre Freundin, war – ist – ihre Freundin, aber nicht so. Die 22 Jahre mit Zeitspaghettirändern haben sie groß und erwachsen gemacht. Zeitliche Orientierung mit dem Vorschlaghammer.

Wir haben 3 Stunden durchgehend gesprochen. Abriss Biografie seit 2002, Abriss Therapieweg bis heute. Ist heute alles gut? Besser? Anders? Wie gewollt? Wann hat man angefangen zu wollen? Will man müssen oder nicht? Was ist jetzt wichtig? Kurzer Check, ob wir einander vergleichen – gegenseitige Versicherung, dass diese Phase jeweils vorbei ist. Erleichterung. Gut fühlen. Eis essen. Verabschieden, mit Ideen, wie wir uns öfter sehen können.

Ich glaube, C. ist heute 36. Ich 37. Wir hatten die gleiche Psychologin in der Klinik.
Und heute begegnen wir uns in fast verwundertem Stolz darüber, dass wir überhaupt noch leben. Als hätten wir nur Glück gehabt, obwohl wir beide wissen, dass wir hart dafür arbeiten mussten und diese Arbeit nicht als „für immer fertig getan“ betrachten können.

Im Zug merke ich erst, wie voll und wie vermischt ich bin und was ich aufschreiben muss, damit ich es nicht verliere. Meine Therapeutin kriegt es ab. Ich hoffe noch im Rahmen und spüre der Abwesenheit von Angst dabei nach.
Es hat sich wirklich unfassbar viel verändert. Seit 2002, aber auch seit 2012 und 2015 und 2017 und 2020 …

ein Fisch unter Elefanten – mein Prozess der Annahme der Autismusdiagnose

Am Dienstag war Autism-Awareness-Day und meine sozialen Medien ziemlich voll mit Posts über das Telefon als Barriere, das Puzzleteil als Symbol, das bitte nicht mehr benutzt werden soll und vielen Erklärungen zu Meltdowns und Stimming.
Ich habe an dem Tag das aktuelle Heft „autismus verstehen“ gelesen.
In dem Heft gibt es aber auch einen Text zum Prozess der Annahme und Akzeptanz nach der Autismusdiagnose. Petra Lachinger beschreibt ihn dort als den fünf Phasen der Trauer ähnlich. Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression, Annahme – am Ende ein lebenslanges Ding, das mal mehr, mal weniger beschäftigt.

Ich habe meine eigene Akzeptanz reflektiert und dabei bemerkt, dass mein Annahmeprozess genauso traumalogisch wie mein Verdachtsprozess und mein Umgang heute damit ist. Und dass das vielleicht anders wäre, hätte unsere Gesellschaft ganz allgemein mehr Autismus-Awareness.

Mein Verdacht autistisch zu sein, hatte sich entwickelt, weil ich mich als Ursache eines Problems wahrgenommen habe, das offenbar nur ich überhaupt hatte.
Die Traumalogik dieses Komplexes ist für mich ganz offensichtlich: Ich muss schuld sein, dass ich ein Problem wahrnehme. – Ich stelle mir das Problem selbst her, weil mit mir etwas nicht stimmt. – Ich strenge mich nicht genug an, um es zu verhindern, weil ich leiden will. – Ich will den Schmerz ja offensichtlich, warum rede ich mir dann ein, ich wolle ihn nicht …

Ich habe nicht einen Moment darüber nachgedacht, ob meine Therapeutin vielleicht irgendetwas falsch macht. Sie war von den Menschen, die mit mir gearbeitet haben, weder die Erste, die sowohl fachlich als auch menschlich gut mit mir gearbeitet hat, noch die Erste, die gut mit mir gearbeitet und trotzdem nicht richtig verstanden hat.
Ich hatte es nur zwei Mal mit wirklich schlechten Psychotherapeut_innen zu tun. Der eine hat sexualisierte Gewalt an mir ausgeübt, die andere hat mich emotional gewaltvoll behandelt. Das war beides schlimm und alles – hat aber am Ende in Bezug auf mein Selbstbild nichts großartig irritiert. Mit Gewalt umzugehen, war ich so gewohnt, dass ich mir damals schnell erklären konnte, warum sie passiert war. Ich bin halt scheiße – was soll auch anderes passieren. So ist es richtig – so funktioniert die Welt. Wenn es anders läuft, ist was im Busch.

Wenn zwei Personen alles so richtig wie möglich machen, aber doch nichts Richtiges dabei herauskommt, ist es wahrscheinlich, dass sie das Falsche tun. Da mir die Therapie grundsätzlich half, war es also logisch anzunehmen, ich müsste nur eine Kleinigkeit lernen, um den letzten Schritt zu schaffen.

Als ich anfing, mich in den Diagnostikprozess zu begeben, kämpfte ich mir der Überzeugung, dass ich jahrelang die Ressourcen und Kräfte von Menschen verschwendet habe, die sich sehr um mich und mein Weiter.Leben bemüht haben. Undankbar kam ich mir vor. Dreist, anmaßend. Und so, als ob ich mich nun einer so grundlegenden Beschissenheit meiner Selbst stellte, die ich selber, obwohl ich schon um sie wusste, einfach nie wirklich in Umfang und Bedeutung begriffen hatte. Ich war absolut bereit dazu zu hören: Du kannst es einfach nicht und wirst es nie können.
Heute frage ich mich, ob das vielleicht ein Aspekt von Leugnung ist.
In Wahrheit bin ich nicht autistisch (oder anders anders als die anderen Menschen) – in Wahrheit bin ich so scheiße unfähig, wie ich mich selbst (sicherheitshalber, traumagewohnheitsmäßig) finde.
Denn gleichzeitig hatte ich mich wissenschaftlich kritisch belesen und mich letztlich aufgrund der genetischen Komponente (eines meiner Geschwister ist ebenfalls hochbegabt und autistisch) für die Abklärung entschieden.
Logisch war mir klar, dass es genetisch und auf Grundlage meiner Probleme viel wahrscheinlicher war tatsächlich autistisch zu sein, als grundsätzlich unfähig. Aber die Leugnung dieser logischen Klarheit, hat mir ermöglicht, einen emotionalen Abstand herzustellen, der mir Sicherheit gab.

Ganz sicher war es auch ein Aspekt von Vermeidung, denn mir war schon klar, was diese Diagnose zusätzlich für mich auch bedeutet. Was es im Rückblick auf mein Leben und meine Arbeit in therapeutischen Kontexten bedeuten würde.
Es war so viel leichter für mich, mich als Problem anzunehmen und dafür zu beschämen, als mal ganz grob und diffus in die Richtung zu denken, dass die Gesellschaft, dieses Stückchen Welt um mich herum, mich einfach 30 Jahre lang genau so im Stich gelassen hat, wie ich es – heimlich, versteckt, unterdrückt, negiert, verleugnet, beschämt, bestraft – gefühlt habe. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Gewalt, sondern auch in Bezug auf mich als Individuum.
Dass mein Gefühl richtig war, hat mich direkt nach der Diagnosestellung dekompensieren lassen. Denn damit umzugehen, überstieg meine Lebenskompetenzen. Ich habe nicht gedacht: Ich bin so geil, habs ja gleich gewusst – alles Dilettanten! Oder: Oh yeah, ich bin schlau – jetzt kommt meine Rache an allen, die mir nicht gerecht geworden sind.

Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe vor allem gefühlt und davon viel zu viel gleichzeitig, unbenennbar und existenziell bedrohlich.
Mein Leben nach der Gewalt war praktisch komplett um die Psychotherapie herum aufgebaut, weil mir von allen Seiten vermittelt worden war, dass nur so eine lebenswerte Zukunft für mich überhaupt denkbar sei. Und dann verstand ich, dass diese eine letzte stabilisierende Säule – dieses einzige Ding, das mir trotz allem nicht-ganz-Verstehen meiner Therapeutin auch geholfen hat – nicht wirklich funktionieren kann, weil ich dafür nicht passe. Obwohl ich mich so anstrengte. Obwohl ich wirklich alles immer so aktiv bearbeitete, wie ich konnte.

Es folgte meine letzte schwere Depression mit akuter Suizidalität und meine letzte gewaltvolle Psychiatrieerfahrung. Die mit mehr Bewusstsein für Autismus und autistische Menschen vermutlich gar nicht so gewaltvoll geworden wäre.
Genauso wie der tagesklinische Aufenthalt danach. Der Klinik-Gau, der mich bis heute rasend wütend macht, weil ich Verletzungen wie diese einfach nicht mehr traumalogisch abhaken kann – und will.
Und auch nicht sollte. Niemand sollte nach so einer Klinikerfahrung nach Hause gehen und denken: Ja, ich bin da halt nicht richtig gewesen – ich bin halt immer überall falsch. Ich darf auch nicht von anderen erwarten, dass sie sich auf mich einstellen – was denk ich denn, wer ich bin?

Die psychologische Begleitung, die ich nach der Diagnose hatte, war letztlich, was mir geholfen hat, Schritte aus meiner Traumabubble zu schaffen. Ich konnte schrittweise so auseinanderschälen, wie ich das benötigte, wo mein autistisches Er_Leben Anpassungen von meiner Umwelt erforderte und welche Themen besser traumatherapeutisch aufzugreifen sind.
Das war meine Phase der Verhandlung und damit auch eine Phase der aktiven Interaktion mit meinen Diagnosen und den auch identitätsstiftenden Aspekten davon. Es fiel mir zunehmend leichter, mich nicht als mehr oder weniger skurrilen Traumarest zu begreifen, der in allen Bereichen des Lebens struggelt, weil das Trauma alles beschädigt hat und neu aufgebaut und ausentwickelt werden muss. Ich konnte mich auch davon lösen anzunehmen, dass ausschließlich die traumasensible Interaktion mit mir hilfreich und gut für mich wäre und alles andere nur deshalb nicht funktionieren würde, weil ich ja so beschädigt traumatisiert bin.

Ich begann jede Situation, die schwierig für mich war als eine Art Handel oder Austausch zu betrachten. Also als etwas, das nicht primär etwas mit mir, meiner Persönlichkeit oder meinem Sein zu tun hat, sondern als etwas, das prinzipiell erst einmal gemacht werden muss/soll/kann/darf und deshalb immer erstmal okay ist. Egal, was ich dabei wie un.gewollt kommuniziere oder auch nicht.
In meinem Fall ging es dabei vorrangig darum, meine existenziellen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Also genau die Basics, die die meisten Leute gar nicht groß als herausfordernd erleben – und deshalb nur bei ganz kaputten, kranken, unfähigen Leuten überhaupt als herausfordernd annehmen – in Routinen einzubetten, die ich mag. Die mir gefallen. Die mir Kraft geben. Und sie dann auf Traumareste hin zu prüfen.
Dass in dem Prozess herauskam, dass der Großteil meiner Alltagsbelastung und Hauptauslöser für dissoziative Symptome in sensorischer Überreizung und dauerhaft abgezwungener Überforderung begründet war, hat mich damals erst einmal sehr gestärkt. Okay, ich bin kein Traumarest, der zu nichts weiter fähig ist – ich habe einfach nie gelernt, mich an meine eigene Wahrnehmung von etwas anzupassen. Wenn ich das tue, gehts mir so viel besser und ich kann so viel mehr machen.

Im Traumakontext ging es bei diesem Prozess immer darum, Traumalogik aufzudecken. Also das Innen zu finden, das noch traumareaktiv agiert, es zu orientieren und dann einen Handlungsweg aufzubauen, der alternativ ist.
Mein tagtägliches Alltagstrauma als unerkannt autistisches Kind war aber nicht so kleinteilig. Es war keine Abfolge wiederkehrender Monotraumata, die jeweils ein Innen hervorgebracht hat bzw. einen Trigger, den man entschärfen muss, um dann zu gucken: Okay, wie kriegen wir das bewusster hin? Wie können wir uns orientiert halten und die Sache erledigen (wie die meisten anderen Menschen auch)?

Niemals war in dieser Auseinandersetzung die Frage, ob und wenn ja, wann und wie ich überhaupt die Chance habe, nicht durch Überreizung oder soziale Überforderung schon dissoziiert zu sein. Nie war die für alle so ganz normale Alltagsumgebung, als nur mit unfassbarem Kraftaufwand kompensierbare Belastung mitgedacht.

Ich lebe in einem Umfeld, das nie gehört, gerochen, gesehen, gespürt, geschlussfolgert, angenommen, überlegt, interagiert und kommuniziert hat wie ich – aber in jeder Situation, zu jeder Zeit und um jeden Preis auf meiner Seite von mir verlangt zu können, was es selbst kann. Schon als Kind bin ich als Fisch unter Elefanten aufgewachsen, denen nie in den Sinn kam, dass ich jeden Tag – ganz unabhängig davon, ob sie mich misshandelt haben oder nicht! – mit Todesangst wegen ganz realem Sauerstoffmangel umgehen musste.
Das ist ein Leben, das einfach nicht verletzungsfrei sein kann. Und das auch nicht allein dadurch veränderbar ist, dass ich darum weiß und mir mehr Inseln (Teiche? 😅) schaffe, in denen ich ganz ich sein kann und von anderen Menschen deshalb weder beschämt noch pathologisiert werde.

Heute, 9 Jahre nach der Diagnosestellung, habe ich meinen Autismus noch nicht vollständig angenommen, weil er mir selbst noch nicht vollständig in allen Aspekten immer bewusst ist. Ich denke nach wie vor erst, dass ich ein unfähiges Stück Scheiße bin und gehe erst dann in die Prüfung, wenn mir diese negative Selbstverortung als belastend auffällt. Und selbst diese Prüfung mache ich nicht in der Annahme, ich sei ein Fisch unter Elefanten – also eine Person, die sich an Dinge anpassen muss, an die sie sich nie vollständig anpassen kann – sondern wie eine komplizierte Rechenaufgabe voller Annahmen, unsicherer Intuition und konstant auf Traumalogik durchleuchtete Impulse. Denn ich weiß einfach nicht, wie Elefanten ticken. Nicht wirklich. Und deshalb weiß ich nicht, worin sie sich von mir unterscheiden. Ich weiß eigentlich immer nur, was sie von mir als abweichend wahrnehmen und wahlweise witzig, nervig, störend, peinlich, abstoßend oder bedrohlich empfinden. Das kann aber an meinem Autismus liegen, an meiner Traumafolgestörung oder anderen Eigenschaften von mir und den Kontexten, in denen wir uns bewegen.
Bis ich weiß, dass etwas von meinen Belastungen auch Autismusbedingt ist, vergeht oft sehr viel Zeit und frustrierendes Herumprobieren an mir selbst.

Mein nicht-autistisches Umfeld spanne ich damit nur selten ein. Es ist mir einfach zu belastend und manchmal auch zu verletzend.
Auch das ist Teil des Annahmeprozesses. Ich muss nicht nur akzeptieren können, dass ich so bin, wie ich bin und was es für mich bedeutet, so zu sein, wie ich bin. Ich muss auch die Realität akzeptieren, dass nicht-autistische Menschen einfach nie die Quelle für Miteinander, Selbst- und Umweltverständnis sein können, die ich brauche und mir oft wünsche.

Meine Vorstellung von mir als „vom Trauma geheilte Person“ musste ich nach der Diagnose auch revidieren. Die selbstbestimmte Frau, die ihr Trauma überwunden, das Leben anpackt, sich against all odds verwirklicht und ihren Weg in den Sonnenuntergang geht, war schon immer eine Trope, die ich ehrlich gesagt eher als lesbische Fantasie interessant fand. You know – Xena 😅
Ich bin aber keine Frau. Ich weiß noch gar nicht, wann ich wirklich bin und immer um mich kämpfen will ich auch nicht müssen. Aber selbstbestimmt möchte ich sein. Und das ist als autistischer Mensch unter überwiegend nicht-autistischen Menschen nicht das gleiche wie für nicht-autistische Menschen. So etwas als gesetzt annehmen zu müssen, ist einfach nicht fair. Ich will das nicht annehmen.
Muss es aber doch in manchen Bereichen, weil man sich im Angesicht unbewusster Mehrheiten nicht um alle Veränderungen gleichzeitig kümmern kann.

Für mich ist es viel, gelegentlich mal solch einen Text zu schreiben oder bei einer Lesung oder einem Vortrag darüber zu sprechen. Aber damit das allgemeine Bewusstsein zu steigern oder gar die Welt zu verändern, erscheint mir utopisch und anmaßend. Ich betrachte es eher als eine Art Teichrandgestaltung. Als Elefantenfesten Strand sozusagen. Wer möchte, soll können.

Es wäre schön, würden Elefanten das auch für mich tun.
Aber zur Annahme meiner Diagnose.n gehört auch die Annahme der Realität, in der sie entstanden sind und eine Funktion erfüllen.

das innere Chaos begreifen – ein Plädoyer gegen die Demokratisierung des Inneren

Anfang der Woche sah ich die Formulierung der „Demokratie im Inneren“ mal wieder im Kontext der Traumaheilung und DIS. Wenig verwunderlich, denn diese Formulierung, diese Zielsetzung zum inneren Frieden gibt es schon lange in der Welt.
Ich halte sie für problematisch und schreibe hier, warum.

Zwei Dinge.
Erstens ist Demokratie eine Herrschaftsform. Eine Struktur, um Macht in einer Gruppe (Gesellschaft) herzustellen, anzuerkennen, durchzusetzen und aufrechtzuerhalten.
Traditionell ist keine Herrschaftsform gewaltlos. Wo Herrschaft ist, ist auch Macht und wo Macht ist, ist Gewalt. Demokratie, aber auch Diktaturen oder Autokratien und viele andere *kratien können sozusagen als Verwaltungssystematiken gedacht werden. Ein ganz spezieller Zettelkasten, in denen die Rechte und Pflichten, Verbote und Gebote des Zusammenlebens ganz spezifischen Menschen(gruppen) zugeordnet werden. Bereits diese Gruppierung und Zuordnung sehe ich als gewaltvolle Praxis an, da sie zu gewalttypischer Distanzierung führt, die ihrerseits sowohl als Funktion als auch als Ziel zur Weiterführung von Gewalt als System einzuordnen ist.
Die Zuordnung von Rechten und Pflichten, Ver- und Geboten ist in der Folge als Privilegierung bzw. Deprivilegierung zu sehen. Also etwas, das sowohl die getane Zuordnung in Gruppen definiert als auch aufrechterhält. So durften bereits in den frühen Demokratien verschiedene Personengruppen nicht wählen und hatten deshalb praktisch keine Möglichkeiten, ihrer Deprivilegierung auf demokratischem Wege entgegenzuwirken. Die Folgen waren unvermeidbare Aufstände, Kämpfe, Kriege. – Gewalt.

Nun mögen manche einwerfen, dass solche Demokratien heute gar nicht mehr existieren. Sklaverei wurde ja abgeschafft und das Frauenwahlrecht gibt es ja auch. Darauf möchte ich zum einen mit einem Mini-Serien-Tipp antworten: „Amend, the fight for america“ [Esquireartikel] und zum anderen daran erinnern, dass erst 2019 bestimmte Gruppen von betreuten und behinderten Menschen ihre Stimme bei der Europawahl abgeben durften. Und dass Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren auch zum Volk gehören. Weiterhin ist wählen zu dürfen auch in unserem Land keine Selbstverständlichkeit für alle gleich. [Tagesschauartikel]
Demokratie war nie von allen, für alle vom Volk gedacht und wird entsprechend auch bis heute nicht für alle angewandt, um Fragen des Zusammenlebens, Wirtschaftens und Ge.Waltens zu beantworten. Demokratie war schon immer ein Werkzeug, den mächtigsten Positionen in einer Gesellschaft den größten Einflussradius zu verschaffen. Nicht: den mächtigsten Menschen – aber den mächtigsten sozialen Positionen sowie darin begründete Ideen und Werte, die von (heute) mehrheitlich gewählten Gruppen (Parteien) (die wiederum mit viel Machteinsatz von ihren Ideen und Werten überzeugt haben) zu Taten kommen. Also dann irgendwann Gesetze oder Verbote werden und Gruppen der Gesellschaft privilegieren oder deprivilegieren.

All dem liegt weiterhin wie dereinst in den ersten Demokratien unserer westlichen Kulturen die Idee zugrunde, dass die mächtigsten die Richtigsten sind und deshalb immer schon eher Recht haben als andere. Hinzu kommt noch der „die Mehrheit hat immer Recht“-Gedanke, der meiner Meinung nach schon deshalb ein Fehlschluss ist, weil die Mehrheit in der Regel einfach nur immer die Macht hat. Eine Mehrheit kann Minderheiten zerstören, entrechten, ausschließen usw. Das gibt ihr kein Recht – aber eine mächtige Mehrheit braucht auch nicht darauf warten, dass ihr Recht gegeben wird – sie kann es sich einfach nehmen.

Und hier kommen wir zu meinem zweiten Punkt und in einem Bogen zur persönlichen inneren Struktur.

Du hast vielleicht gerade deine DIS-Diagnose oder pDIS-Diagnose oder wie auch immer benannte „Anteile-nach-Trauma“-Diagnose bekommen. Du weißt von einem oder mehren Anteilen, die irgendwie dauernd in dein Leben hineinfunken oder dir Entscheidungen unmöglich machen. Oder du spürst immer wieder, dass du mit Erinnerungen geflutet wirst, die dich quälen oder dass du dein Leben einfach nicht genießen oder bestimmte Therapiefortschritte nicht machen darfst. Ständig ist Krieg in deinem Inneren und du wünschst dir vor allem Ruhe, Frieden, Einigkeit, Harmonie.
Und dann liest du die Formulierung „Demokratie im Inneren“ und du denkst: „Ahja Demokratie, so machen wir das ja im Außen mit allen möglichen Entscheidungen. Alle sagen, was sie wollen und dann machen wir, was die meisten wollen und damit müssen alle zufrieden sein, denn so läuft es nun einmal.“

Das denkst du aber vielleicht nicht, wenn du gerade mit den tausenden Menschen in ganz Deutschland gegen die demokratisch gewollte gewählte AFD auf die Straße gehst, oder? Da gehst du ja hin, weil du sie nicht gewählt hast und nicht willst, dass sie so viel bestimmen dürfen wie die AFD, die sich CDU/CSU nennt. – Die du ja vielleicht auch schon nicht gewählt hast, die du aber irgendwie hingenommen hast, weil du ja mit deiner Stimme für SPD, Grüne oder Linke schon noch ein Gegengewicht herstellen konntest. Hast du jedenfalls gedacht. Sie habens ja versprochen. Im Wahlkampf. Wo sie jedem potenziell Wählenden alles erzählt haben, was sie hören wollten.
Aber vielleicht machens sie es ja noch wahr. Große Veränderungen dauern ja.

Nun spielen wir den Gedanken mal weiter, als hättest du keine demokratiekritische Haltung und du versuchst diese Demokratie in deinem Inneren herzustellen.
Okay: Welche Konflikte gibt es bei euch? Welche Entscheidungen müsst ihr treffen? Welche Überzeugungen und Werte sind für euch bei Abstimmungen relevant? Welche Parteien habt ihr im Inneren? Welche Koalitionen und welche Oppositionen gibt es? Habt ihr eine Struktur in euch, die eure Entscheidungen legitimiert? (Also eine Legislative, eine Justiz?) Habt ihr eine Struktur in euch, die dafür sorgt, dass sich alle von euch (auch, aber vor allem die Minderheiten, die Verlierer jeder Mehrheitsabstimmung) an eure Entscheidungen halten? (Also eine Polizei oder Armee?) Wie prüft ihr, ob eure Entscheidungen nicht totaler Quark sind?
Was macht ihr, wenn trotz innerer Demokratie gar nicht die Ruhe eintritt, die ihr haben wollt?
Wie geht ihr mit Aufständen, Großdemos und gewaltvollen Attacken um? Welcher Instanz, welcher Stelle außerhalb von euch selber, überlasst ihr in dem Fall die Kontrolle (die Macht) über euch?

Allein diese Fragen für sich beantworten zu können, erfordert unfassbar viel Wissen über „die Anderen“, über euch als System und über euch als Menschenkörper sowie das Leben als Mensch in der gesellschaftlichen Position, in der ihr lebt. Es ist überfordernd und zwangsläufig auch frustrierend. Denn gerade am Anfang, vor allem wenn auch noch PTBS oder andere traumabedingte Belastungsstörungen wie Essstörungen, Süchte, dysfunktionale Beziehungsmuster oder Persönlichkeitsstrukturen unreflektiert wirken und gebraucht werden, um den Tag zu überstehen, kommt man nicht „auf einen grünen Zweig“ beim inneren Demokratieaufbau. Viele halten sich dann für therapieunfähig oder in Annahmen über generelle Unfähigkeit bestätigt oder schlicht für einen hoffnungslosen Fall.
Dabei ist das, was da oft passiert in meinen Augen eine total gute, gesunde, heile Reaktion. Wozu denn ein System der Herrschaft etablieren, wenn doch im Inneren gerade eigentlich alle nur mal die Nase in den Wind oder den Kopf aus dem Sand stecken und die Augen aufmachen? Die Anfangszeit rund um die Diagnosestellung ist doch vor allem deshalb so grauslig: Da sind auf einmal welche, die irgendwas machen und wollen und man versteht nicht, wieso und wozu – und wenn doch, dann ist man erstmal total erschreckt und will das alles vielleicht gar nicht.
Warum zu dem Zeitpunkt erst mal alles kontrollieren? Alles ordnen, Posten verteilen, gruppieren, mit Namen versehen, wer keinen hat, umbenennen, wer peinlich oder verräterisch klingt und Regeln nebst Strafen aufstellen?
Für mich ist das eine gewaltvolle Traumareaktion. Man kriegt Schiss wegen des Kontrollverlustes und die Reaktion ist der Versuch Kontrolle herzustellen. Dabei ist die bedürfnisgerechte Reaktion auf diese Furcht, diesen Schiss, eigentlich, sich zu versichern. Also nicht diesen Schritt zu machen: „Ich will die Kontrolle nicht verlieren – also sichere ich mir die Kontrolle.“ – sondern: „Ich habe Angst vor Kontrollverlust, also begebe ich mich in eine sichere Umgebung, einen versichernden Kontakt, in dem ich keine Angst vor dem Kontrollverlust haben muss.“

Diese Art der Analyse eigener Bedürfnisse können komplex traumatisierte Menschen mit DIS, pDIS, DDNOS etc. in der Regel gar nicht vornehmen, weil sie ihre Grundbedürfnisse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht als solche (für) wahr.nehmen, einordnen und kongruent befriedigen können.
Die meisten können auf Angst – egal wovor und egal, wie bewusst ihre Auslöser für sie sind – nicht anders als traumareaktiv re.agieren.
Was bedeutet das aber für den Aufbau innerer Strukturen für den Systemfrieden?

Das bedeutet erst einmal, dass die bestehenden inneren Strukturen verstanden, wertgeschätzt und akzeptiert werden müssen, wie sie sind und sich zu überlegen, was „innerer Systemfrieden“ diesbezüglich überhaupt sein kann.

Dazu gehört auch eine grundlegende Akzeptanz für inneres Chaos zu entwickeln – und auch von Außen innerlich chaotisch gelassen zu werden, solange dadurch kein körperlicher Schaden für die Person und deren Mitmenschen entsteht. So manches „Chaos“ ist in Wahrheit eine Expedition von Innens nach Außen oder Versuche des Andockens an die Gegenwart. Was ich selber auch oft als Chaos wahrgenommen habe (und manchmal noch so empfinde) ist der Versuch herauszufinden, wie ich was eigentlich wahrnehme und für mich allein bewerte – während ich aber gleichzeitig merke: „Oh Shit, ich kann das aus mir allein heraus gar nicht.“ Dass ich so etwas merke und dann innerlich ganz zerwurschtelt in meinem Wollen und Können und Fühlen und Denken bin, ist per se überhaupt kein Problem, solange ich sicher und versorgt herumprobieren kann, was ich wie will und brauche und möchte. Es ist weder ein spezieller Spezialaspekt meines Vieleseins, noch etwas psychologisch Pathogenes – es ist ein vollkommen normaler Lern- und Selbst.Erfahrungsvorgang.

Einer, der auch beim Kompetenzaufbau zur alltagsorientierten Überlebenssicherung hochgradig relevant ist.
Priorisieren, rechnen, strategische Überlegungen anstellen, Planung über mehrere Tage hinweg – das sind Fähig- und Fertigkeiten, die eine umfängliche Hirn- bzw. Körperfunktion erfordern. Dafür müssen bei sehr vielen komplex traumatisierten Menschen erst einmal passende neuronale Netzwerke entstehen. Denn chronisch toxisches Stresserleben (wie beim Aufwachsen in traumatisierenden Lebensumfeldern üblich) verhindert dies. Viele komplex traumatisierte Menschen wirken vielleicht so, als wären diese Aufgaben kein Problem – sie sind es aber und sie versteckt von Grund auf (neu) zu lernen, weil Außenstehende sie erwarten, ist ein ungeheuer großer Kraftaufwand.

Das Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur bzw. Er_Leben, das von dissoziativer Selbst- und Umweltwahrnehmung beeinflusst ist, bedeutet sehr viele Herausforderungen, die die meisten nicht komplex traumatisierten Menschen mehr oder weniger unkompliziert und liebevoll begleitet in ihren ersten Lebensjahren meistern. Das heißt, dass auch das Verständnis von diesen Menschen für „Viele“, was das angeht, oft nicht groß ist. Man redet nicht oft darüber, auf welcher Basis „die Ungeschlagenen“ ihr Leben und sich selbst auf die Kette kriegen, weil sie sie oft schon einem Alter aufgebaut haben, in denen niemand von ihnen erwartet, ihre Herausforderungen zu beworten. Meiner Meinung nach heißt das für „späte Neulernende“: Ihr solltet das auch nicht machen müssen, um darin unterstützt und gesichert zu werden.

Und das – das Nichtbeworten und das Beobachten, um zu verstehen ohne einzugreifen – ist die Haltung, die ich für den Anfang der Auseinandersetzung für zielführend halte. Sowohl von Außenstehenden als auch allen im System.
Aus dem, was sich mit dieser Haltung vor mir aus meinem Inneren auftut, ist keine Demokratie oder sonst wie strukturierte Herrschaft aufzubauen. Nicht ohne ein Bewusstsein dafür zu bekommen, was für heftige Ein- und Übergriffe ich damit vornehme – und was für Spannungen ich aufbaue, halte und gewaltvoll legitimiere, die früher oder später wieder zurückkommen.

Mit diesem Plädoyer möchte ich nicht sagen, dass eine „innere Demokratie“ zu wünschen oder zu haben falsch ist. Wer das für sich erreicht hat und zufrieden ist, ist in meinen Augen deshalb kein schlechter Mensch.
Das macht meine Aussage über die Gewalt, die Demokratie bedeutet, auch nicht kleiner. Aber vielleicht ist dieser Beitrag eine Stimme für diejenigen, die nichts mitbestimmen dürfen, weil sie sehr traumanah erleben oder weil sie etwas (noch) nicht hinbekommen im Außen oder weil sie von den Bestimmenden der inneren Demokratie bislang nicht gehört wurden.

Und vielleicht ist dieser Text auch ein Impuls, sich mit Konzepten von radikaler Fürsorge, Communitycare und anarchistischer Gruppenorganisation auseinanderzusetzen. Denn letztlich brauchen wir als Viele primär gar nicht die Kontrolle über uns, um in dieser Welt zu bestehen, sondern Sicherheit, Fürsorge, Raum zum Wachsen und Freiheit für den ganz eigenen Selbstausdruck.

Fundstücke #89

Wie geklauter Raum fühlt sich das hier an.
Mein rechter Arm tut weh vom Klicken, ich habe sehr viel herumgeklickt in den letzten Tagen. Setzen, Sims 4 spielen, recherchieren, wie man als Einzelperson einen Verlag gründet, ohne bankrott zu gehen, wenn etwas schiefgeht. Damit ist mein Kopf gefüllt. Meistens.
Wenn ich den Computer ausmache, dann denke ich übers Schwangerwerden nach und darüber, dass ich nicht darüber nachdenken will, ob überhaupt irgendwas von all den Dingen, die in meiner köpfischen Eventuellvielleicht-So-könnte-es-gehen-Planung sind, funktionieren kann, wenn ich schwanger bin. Oder Elternteil. Denn würde ich denken, dass dann nichts funktioniert, dann würde ich es einfach lassen. Einfach hinschmeißen und gucken, ob ich dann noch lebe.

Das klingt heftig, aber ich meine damit nicht, dass ich mich wirklich frage, ob ich dann noch lebe. Meine Zweifel bestehen eher darüber, ob ich dann – so ganz ohne diesen Stress – eigentlich gerade in der Lage bin, mich lebendig, real körperlich zu fühlen. Und gewissermaßen auch: echt.
Denn im Moment fühle ich mich häufiger in mir selbst dissoziiert. Meine Verbindungen in mir, Hannah, die_r mal die Rosenblätter waren, sind weiterhin stabil. Trotzdem frage ich mich zuweilen, ob das wirklich ich bin, die_r organisiert und stützt und moderiert und tröstet und versichert und setzt und prüft und koordiniert und die Trauer über jedes verlorene Ei allein gestaltet, während sie_r hin- und herfühlt, wie ES damals war. Es ist schwierig für mich, abzugleichen, welches Level von Dissoziation normal ist. Wo ist die Grenze? Ich erlebe mich gerade nicht ich-fremd dabei. Aber die Situation ist mir-fremd deluxe, mit 5 von 5 Sternen für Originalität.
Ich komme klar, alles ist belastend, aber wirklich nicht des Todes krass überfordernd schlimm. Alles ist scheiße, aber lösbar. Alles ist unbefriedigend und ungeil, aber dann halt doch nicht alles.
Weird.

Der Zeit_Raum, den ich hier geklaut habe, ist meine Pause. Gleich gehts weiter. Danach noch weiter. Und dann mache ich wieder eine Pause und atme und dann mache ich etwas anderes.
Vielleicht das Vogelhaus reparieren.