die Ausnahme, Teil 1

„Beweglich wie die Hindenburg“, denke ich unzufrieden mit mir selbst, als ich die Praxis meiner Therapeutin verlasse. Ineffizient komme ich mir vor. Komplett behämmert, hätte ich jetzt Zeit und Raum für eine altbewährte Selbsthass-Schleife. Ich habe aber nicht mehr viel Zeit. Die Therapiestunde war sehr lang, ich habe nur noch 50 Minuten für meine anderen Erledigungen, bevor mein Zug nach Hause abfährt. Der Stress macht es mir leicht, den Fokus nach außen zu drehen. Ich ziehe durch. Erledige alles, arbeite im Zug, fahre vom Bahnhof direkt zum Training und von da nach Hause.
Erst geduscht, mit dem Abendessen im Bauch, kann ich mich wieder etwas aufmachen.
Erst dann hole ich die Puppe aus dem Rucksack und lege das schöne Packpapier, in das sie eingeschlagen war, flach ins Bastelregal.

Die Puppe habe ich in Italien gekauft. Im Spielzeugladen in Arezzo.
In meinem üblichen Alltag gehe ich nur in Spielzeuggeschäfte, um jemandem ein Geschenk zu besorgen. Für mich selbst kaufe ich bei diesen Gelegenheiten entweder einen Kreisel, denn die sammeln wir, oder sensorisch interessante Tüddel, die in die Hosentasche passen.

Ich ziehe ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Vielen aus dem Umstand, dass ich in solche Geschäfte gehen kann, ohne in einen kindlichen Zustand zu kippen. Überhaupt bin ich ziemlich stolz darauf, mich in der Hinsicht inzwischen überwiegend im Griff zu haben. Also in 99,9 % der Fälle. 0,01 % der Fälle sind Traumareaktionen. Wechsel, die ich nicht beeinflussen kann, weil ich die Situation nicht (genug) beeinflussen kann. Etwa in der Therapie oder in Situationen, die traumatischen Situationen sehr ähnlich sind. Wie der Zustand nach einer Narkose.

Ich mag, dass Kindliches praktisch kaum eine Rolle in meinem Leben spielt. Ich habe keine designierte „Innenkinderzeit“, ich mache keine außerordentlichen Besonderheiten speziell für meine Kinderinnens und die haben auch keine Freund_innen oder Aufgaben im außen. Es gibt sehr eng gesteckte Rahmenbedingungen dafür, wann Innenkinder etwas neben mir her miterleben oder mitmachen dürfen bzw. können. Und noch viel engere dafür, dass sie sich mit mir vermischen.
M., eine frühere Freundin von mir, fand mich immer fies deswegen. Hat oft zum Ausdruck gebracht, ich wäre viel zu hart, viel zu krass, viel zu brutal in der Hinsicht. Mich hat es verletzt, dass sie nie die Fiesheit, die Brutalität gesehen hat, die dazu führte, dass ich diese Haltung entwickelt habe.

Meine „Fiesheit“ an der Front ist ganz klar das Ergebnis von therapeutischen Eingriffen in stationären Kliniksettings. Von der Brutalität, die sich daraus ergab, dass ich auf eine psychiatrische Unterkunft und Hilfe angewiesen war, um zu überleben, aber Wechsel, dissoziatives Erleben, bestimmte „auffällige Symptomatik“ (wie es Wechsel zu traumareaktiven (kindlichen) Anteilen nun einmal sind) teils massiv sanktioniert wurden. Unterstützung von der Pflege – nur als Erwachsene_r. Anerkennung von Leiden, Beistand in unerträglichem Wiedererleben oder emotionalen Flashbacksituationen – nur wenn man sprechen und verstanden werden kann. Nur, wenn sich Pflege, Betreuung, Therapeut_innen sicher und wohlfühlen, sonst Keule. Also Medikamente. Betäubung. Kopp zu.
Zudem bin ich unter diesen Bedingungen erwachsen geworden. Ich war 16 als das anfing und Anfang 20 als es aufhörte. Den Umgang anderer Menschen mit meinen dissoziativ von mir getrennten kindlichen Anteilen habe ich häufig als etwas erlebt, das benutzt wurde, um mich in meiner Selbstbestimmung einzuschränken und in meiner jugendlichen Alltäglichkeit bzw. jungen Erwachsenheit infrage zu stellen.
Und als Einfallstor der Überforderung für Therapeut_innen, die entweder keine oder wenig oder keine fundierte (bindungs)traumatherapeutische Vor-, Weiter-, Fortbildung hatten und entsprechend inkompetent mit Übertragungen, Traumaexploration- oder -exposition umgegangen sind.

In der Zeit konnte ich nicht verhindern, dass es zu Wechseln (für mich: Amnesie) kommt – diese Gefahrensituationen sind immer wieder aufgetreten und ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, irgendwelche Konsequenzen abzuschätzen. Sollte sie aber antizipieren, um von Therapieerfolg oder Entlassung ausgehen zu können. Ich dachte also, ich würde nur dann je normal oder gesund sein, würde ich mich zu jedem Zeitpunkt kontrollieren können. Und Kontrolle, das hatte ich mir übersetzt mit dem Umgang, der mir in diesen Kliniken geschah: Unterdrückung. Kopp zu. Unsichtbarkeit. Es besteht Kontrolle, wenn niemand was von den inneren Vorgängen mitbekommt. Dann ist alles gut. Alle sind zufrieden. Niemand dringt in mich ein. Niemand überfordert mich.

Dieses Verständnis von Kontrolle über mich selbst nach innen hatte ich vorher nicht. Ich komme nicht aus einem Täter_innenkreis, der mich zur Unauffälligkeit erzogen hat. Mir wurde das nicht in irgendeinem dunklen Keller reingequält, sondern vor aller Augen und mit vollster Unterstützung der Gesellschaft psychiatrisch antrainiert. Ich sollte immer mitmachen – sonst. Ich sollte immer verstehen – sonst. Ich sollte immer reden, denken, einsehen – sonst. Und ich dachte und spürte sehr genau, dass ich nur überlebe, wenn ich diesem Anspruch auch Folge leiste.
Meine Gefühle, meine Einschätzungen von bestimmten Dingen, die wurden stets als bekannt vorausgesetzt und nur von einer Therapeutin, in der Tagesklinik, die ich dann als junge Erwachsene öfter aufsuchte, auch mal abgefragt.
Meine Behandlung war in sehr vielen Bereichen ein von mir unkontrollierbarer Selbstläufer, den ich sehr lange weder verstehen noch wirklich selbstbestimmt mitgestalten konnte. Es war die beste Entscheidung, die ich für mein Weiter- und Rauskommen aus diesem stationäre Psychiatrie-teilstationäre Tagesklinik-Drehtür-Elend treffen konnte, einfach ganz extrem böse fies gemein brutal hart gegenüber meinen Kinderinnens (und Jugendlichen und Bösen und Dunkelbunten …) zu sein. Und sie so weit wie nur irgend möglich zu versiegeln – noch bevor ich sie überhaupt selbst mal frei und im sicheren Rahmen wahrgenommen oder auf ihre Funktionen für mein Innenleben geprüft habe.

Soweit meine Erzählung.
Die übliche Traumaerzählung über so fiese Kinderhasser-Innens wie mich ist: ANPs, die alltagskompetenten (angeblich) untraumatisierten Anteile, suchen Kontrolle über sich, weil sie so die Konfrontation mit dem Trauma vermeiden. Kinderinnens = Traumaträger, also Kinderinnens – Nein, danke. Will ich nicht, kann ich nicht, Adios, Tschö, bitte gerne ohne mich
Ist viel dran. Keine Frage. Trifft komplett auch auf mich zu.
Enthält aber auch das Problem, dass man Verhalten zum Zustand erklärt und in der Folge aus dem Blick verliert, zu prüfen, ob es durchgehende Eigenschaften, Merkmale, Prädispositionen gibt, die dieses Verhalten auch bedingen.

Ich bin nämlich nicht nur extrem fies zu Kinderinnens. Ich bin auch richtig gemein zu Anteilen, deren Auftauchen oder Bedarfslage unsere Handlungskripte herausfordern oder bestehende Situationen unübersichtlich machen. Und dabei geht es 0 um Traumakonfrontationsvermeidung, sondern um die Vermeidung einer Traumatisierung.
Ich bekomme Probleme durch „abweichlerische Innere“, weil mir diverse alternative Handlungsskripte fehlen, die ich heute als erwachsene Person einfach nicht mehr beigebracht bekomme und für die mir auch kaum mehr Lern- und Übungsraum zugestanden wird.
Die Erwartung ist, dass ich jederzeit einfach weiß, welche Konventionen wann greifen, einfach merke, was wer wie wann warum meint oder denkt oder fühlt. Verhalte ich mich unkonventionell oder sozial unangemessen, wird einfach angenommen, dass ich ne schräge (gefährliche) Else oder „voll gegen den Mainstream“ bin. Und entsprechend ist der Umgang mit mir. Man fürchtet mich vielleicht einfach oder meidet mich oder tritt mir gegenüber konfrontativ auf – und ich weiß nicht, warum.
Oder man öffnet sich mir gegenüber komplett in der Annahme, ich wäre bereit für emotionale oder auch sexuelle Intimität und ich muss gucken, wie ich das balancieren kann und will. Grenzen dies das – Sicherheit! dies das. Und das immer unerwartet, nicht beeinflussbar und unabhängig davon, welches Innen aktiv ist oder wo wir gerade sind oder was wir warum, wie mit wem machen.
In diesem Zusammenhang ergibt sich die traumareaktive Dynamik erst nach einer ganz anderen Problematik, nämlich der, ein autistischer Mensch unter nicht-autistischen Menschen zu sein und als solcher den Alltag, aber auch die Therapie, die Beziehungen und Lebensthemen zu navigieren.

In Italien zu sein, war eine der krassesten positiven Ausnahmesituationen der letzten Jahre für mich.
Ich mache Ausnahmen. Ich kann Ausnahmen. Wenn ich weiß, wie lange, wofür und warum.
Und manchmal werde ich in so einer Situation über.mutig. Dann denke ich, dass, weil in der Situation, in diesem Moment im Grunde alles möglich ist, weil es eine Ausnahme ist, mir selbst auch alles möglich ist.
Neue Dinge auszuprobieren, fällt mir dann auch tatsächlich leichter. Essen, das ich nicht kenne. Mit Menschen reden, die ich nicht kenne. Irgendwo schlafen, wo ich noch nie geschlafen habe, zum Beispiel.
In einer Ausnahmesituation sind für mich alle Parameter sämtlicher Eigenschaften und möglicher Verläufe in die Zukunft auf einem Level. Alles kann genauso gut, wie schlecht laufen.
Das Gantt-Flussdiagramm in meinem Kopf, über die Abläufe, Funktionen und Mechaniken in meiner direkten Umgebung, wird dann eher zu einer Momentsammlung. In einer Ausnahmesituation kann ich gar nicht viel mehr aufnehmen und prozessieren als den akuten Moment. Ich weiß, dass ich mich an Ausnahmen nur selten so umfänglich und detailliert erinnern kann wie an meinen Alltag. Vor allem nicht, wenn ich mir keine Notizen mache oder Ankerpunkte zum Prozessieren setze. Wie und was genau ich da erlebe – die Kapazität, das einzuordnen und zu bewerten, die halte ich dann gar nicht erst bereit.

Ausnahmen, die ich gezielt zulasse, müssen sich für mich lohnen. Ich muss mich sicher fühlen. Ich muss (wenigstens für mich allein) wissen, dass ich sie jederzeit sofort beenden kann und niemanden dafür brauche.
Dort im Spielzeugladen von Arezzo war die Ausnahme bereits bestehend. Und ich in alle Richtungen offen wie ein Scheunentor. Hätte mich etwas ungünstig getriggert, hätte es mich umklatschen können und tja Ciao Kakao, mal gucken, wie es weitergeht. Es hat mich aber nichts getriggert. Ich stand da, Lisa, die Praktikantin, mit der ich da war, zeigte mir ein besonders weiches Objekt und ich folgte einem Wunsch, die anderen Gegenstände in dem Regal auch anzufassen. Uns, einigen Kinderinnens, Jugendlichen und mir, hat ein Objekt gut gefallen, weil es viele verschiedene Strukturen hat. Wir wollten es haben und wir haben es gekauft. Nicht sofort, aber auf dem Rückweg, als mir klar wurde, dass ich es nicht umsetzen würde, wäre die Ausnahme vorbei. Ohne Ausnahme kaufe ich im Spielzeugladen einen Kreisel oder einen Tüddel oder ein Geschenk. Das ist das Skript. Zu Hause habe ich keinen Anlass für eine Ausnahme.
Wir bezahlten das Objekt, das ich, einmal ausgesucht und länger in der Hand, überhaupt erst als Puppe erkannte, und sagten ja, als wir gefragt wurden, ob sie eingepackt werden soll. Und so brachten wir sie nach Hause. In einer großen bunten Papiertüte, in braunem bedrucktem Packpapier.

Die Tüte stellte ich ins Schlafzimmer, meinen Rucksack in den Flur. Ankommen, auspacken, Wäsche waschen, den Text schreiben, Maillawine auffangen …
Alles war gut.
Bis ich am nächsten Morgen an der Tüte vorbeiging und von echter Panik ins Gesicht geboxt wurde.

Diagnose: Problemverschiebung, Selbstdiagnosen nach Konsum von Internetcontent sind nicht das Problem

„Ich bin Jenni und ich bin ein nicht menschlicher Anteil im System“, kommt es aus dem Smartphone. Ich sitze im Zug und scrolle Insta-Reels soweit der Empfang reicht. Es ist nicht das erste Reel zum Thema DIS und auch nicht das Letzte, das mir in den nächsten 20 Minuten präsentiert wird.

Ich merke, dass es mir schlecht damit geht. Spüre, wie hilflos und ohnmächtig ich mich vor dieser Flut von Videos junger, häufig normschöner Menschen fühle, die so scheinbar selbstbewusst und fröhlich so viel Desinformation, Vorurteile und falsche Vorstellungen von Psyche reproduzieren. Aber dann kommt ein Golden Retriever Welpe, der durch eine Wiese tapst. Auggie, eine Quakerparrot-Dame, die ihren Bacon Pancakes-Tanz macht. Tahism, der mich mit so traurigem Scheiß zum Lachen bringt. Und so vergeht eine halbe Stunde. 30 Sekunden „Ich bin nie einsam – ich bin viele“, 3 Minuten politisches, 2 Minuten AI generierter Inhalt, der nicht als solcher gekennzeichnet ist, 3 Minuten Tiere. Ein Tanzvideo zu 5 Zeichen von Autismus, die ich als autistischer Mensch weder habe noch in den Diagnosekriterien finden würde.
Der Algorithmus gibt alles. Habe ich erst einmal eines dieser Videos ganz angesehen und mir auch die Kommentare darunter durchgelesen, kommen immer neue. Erst von dieser einen Person, dann von allem, was den Hashtag drunter hat. Ob ich will oder nicht. Ob diese Videos absoluter Unsinn, schädigender Müll oder perfekte Meisterwerke nach wer weiß wie viel Arbeit sind oder nicht. Erfüllt meine Interaktion mit der App die Kriterien für Interesse, werde ich damit gestopft, solange ich online bin.
Was ich in Bezug auf Hundewelpen und diskriminierte Personengruppen, die sonst nirgendwo Gehör bekommen, kaum problematisch finde, ist in Bezug auf DIS, aber auch andere Erkrankungen ein echtes Problem.[1]

Gerade ist im „Harvard Review of psychiatry“ ein Artikel mit dem Titel „Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment“[2] erschienen. Ein Artikel, der thematisiert, wie der Konsum von Videos zum Thema DIS (in US-Amerika DID) auf Plattformen wie TikTok und YouTube mit der Selbstdiagnose einer DIS zusammenhängt.
Die Autor*innen schreiben: „An emerging concern, however, is that inaccurate and misleading social media discourse on DID may provide a new impediment to effective diagnosis and treatment via what Chevalier called the “looping effect” of social media on psychiatric diagnosis. In this effect, lay and inaccurate mental health claims on social media ultimately influence professional discourse and practice; the sheer ubiquity of misleading claims about DID on social media may convince mental health consumers and practitioners alike.“ – sinngemäß: Weil es mehr Stuss als fundierte Inhalte gibt, wird auch mehr Stuss geglaubt. Und zwar nicht nur bei bestimmten Personengruppen, sondern von allen. Auch Fachpersonen. Das, dieser von Chevalier so genannte „looping effect“, ist ein massives Problem für Betroffene jeder Störung, die selten ist und/oder eine gewisse Varianz im Erscheinungsbild hat.

Ich möchte in diesem Text jedoch ein bisschen umfassender auf das Thema schauen.
Für mich hat dieser Komplex ein Was, ein Wie, ein Warum und eine persönliche Komponente, weil ich selbst mit zwei der Diagnosen lebe, die aktuell als die Krankheiten besprochen werden, mit der man sich bei Nutzung von Social Media gewissermaßen „sozial ansteckt“. Aber auch, weil ich als Blogger_in und Podcasthost tätig bin.

Das Was – Selbstdiagnose oder (Selbst)Identifikation?

Eine Selbstdiagnose ist das Ergebnis laienhafter Beurteilung von Merkmalen, Symptomen oder Prozessen, mit oder ohne Zuhilfenahme dafür geeigneter oder ungeeigneter Hilfsmittel.
In der Auseinandersetzung mit Social Media als angenommenen Ausgangspunkt für Selbstdiagnosen psychiatrischer Diagnosen stellt sich mir die Frage, ob es nicht zu viel ist, die Annahme einer eigenen Betroffenheit von Medienkonsument_innen als Selbstdiagnose einzuordnen. Wird hier Selbstidentifikation überhöht, um eine Problembeschreibung zu generieren, von der man sich mehr Anerkennung verspricht, wenn sie danach klingt, als würden sich die Kranken zu Doktor_innen erklären?

Was ist was?

Eine Selbstdiagnose kann im professionellen Diagnostikprozess dabei helfen, die eigene Perspektive auf das Erleben bestimmter Symptome, Merkmale und Prozesse zu kommunizieren und mit der Fachperson und ihrer Einschätzung abzugleichen.
Eine Selbstdiagnose ist in keinem Fall gleichzusetzen oder in ihrer Aussagekraft gleichzustellen mit einer professionell zustande gekommenen Diagnose durch eine qualifizierte Fachperson. Dieser Umstand ist jedoch keine Aussage darüber, welche Diagnose die per se richtige im Sinne von „die zutreffende“ ist. Zu jeder Diagnose gehört das Potenzial der Fehldiagnose. Das gilt für Selbstdiagnosen genauso wie für Diagnosen nach professioneller Diagnostik. Jedoch ist die Wahrscheinlichkeit für eine Fehldiagnose höher bei der Selbstdiagnostik, weil Laien nicht die entsprechende Ausbildung und die nötige Anleitung haben. Zudem erfordert jede Diagnostik eine gewisse Objektifizierung der betreffenden Person, die aus sich selbst heraus praktisch unmöglich zu leisten ist. Das Nachdenken und auch das Beobachten der eigenen Person ist immer subjektiv.

Die (Selbst)Identifikation oder auch Selbstzuschreibung passiert bei Menschen meistens vor- oder unbewusst. Also unabsichtlich und intuitiv. Es ist die menschliche Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen und ihrer Gefühle, aber auch in die Haltung von Menschengruppen hineinzuversetzen, die dazu führt, dass sich Zugehörigkeitsgefühle entwickeln oder auch nicht. Die Herausbildung einer eigenen Identität wäre unmöglich ohne die Fähigkeit der Selbstzuschreibung bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten, die dazu beitragen, dass man sich als anderes Subjekt als die Subjekte um sich herum erleben kann.
Selbst(bestimmte) Identifikation dient also sowohl der Grenzziehung zu anderen Menschen („Ich bin nicht du“), aber auch der Definition von Grenzen („Wir sind beide Menschen, die Blumen mögen.“)

Social Media – die Echokammer, in der man im Kreis läuft

Die gesamte Architektur von Social-Media-Plattformen dient der Verschiebung verschiedener Grenzen im Individuum, während künstliche Grenzen durchgesetzt und aufrechterhalten werden. So können Nutzende zwar den Eindruck haben, sie würden etwa bei Instagram und TikTok oder früher auch Twitter und Facebook auf verschiedenste Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe treffen – tatsächlich aber sprechen sie immer in künstlich generierten Kohorten, die sie selbst spiegeln. Dieser Umstand wurde bereits vor Jahren breit diskutiert, als der Begriff der „Filterblase“ dafür gefunden wurde.
Diese digital generierten Filterblasen führen zu kommunikativen Echokammern, in denen der inhaltliche Fokus für Themen und Inhalte immer schärfer verengt wird. Bestimmte Haltungen oder Meinungen oder Perspektiven darauf können dann kaum noch als extrem, desinformiert oder problematisch konfrontiert werden. Es fehlt an Möglichkeiten des Abgleichs und der Korrektur. Gleichzeitig gibt es weiterhin sehr viele Möglichkeiten der Identifikation und Zugehörigkeitsempfindung. Man bekommt zu keinem Zeitpunkt den Anstoß zur neuerlichen Selbstdefinition.

Die digitale Filterblase kann ein Individuum nicht durchdringen. Die Kontrolle darüber, zu welcher Blase ein_e Nutzer_in gehört, übernehmen Code und Maschine, die von Konzernen mit ganz eigenen Interessen bestimmt funktionieren. Lediglich die eigene Echokammer und ihre bestimmende Wirkung kann in Teilen beeinflusst werden. Hierbei spielen die verbrachte Zeit, Umfang, persönliche Beteiligung und ein kontrastreiches Portfolio der verfolgten Accounts eine Rolle.

Im Kontext der problematisierten Selbstdiagnose mit psychischen Krankheiten wird in dem oben erwähnten Text von „Kindern und Jugendlichen“ (children and young people) gesprochen. Einer Personengruppe, bei der sogenannte „Zwischenidentitäten“ die Norm sind, also die Entwicklung der Identität eine bestimmende Rolle im Alltag einnimmt.
Für diese Personengruppe ist social media ein Spiegelkabinett, das sie schneller und eindeutiger zu einem Identitätsgefühl führt als es die analoge Kommunikation und Interaktion je könnte.
Als verstärkender Faktor wird in dem Artikel übrigens die COVID19-Pandemie genannt. Eine Zeit, in der das analoge Leben von vielen Menschen in westlichen und kapitalistisch starken Gesellschaften als unangenehm fremdbestimmt und ungewohnt angstvoll erlebt wurde. Besonders von Kindern und Jugendlichen, deren Schutz und Unterstützung zu spät und wenig passiert ist. Das Smartphone und der endlose Schwall von dem, was sich gut und passend, zugehörig und kongruent anfühlt – das war für eine spezifische Gruppe Kinder und Jugendlicher verfügbarer als die analoge Peergroup und gemeinsame Aktivitäten, die ebenfalls der Identitätsbildung dienlich sind.

Wie können wir – wie müssen wir über uns sprechen?

DID bzw. DIS, die dissoziative Identitätsstörung, wird an vielen Stellen im Internet, auch hier in meiner Präsenz, selten als Krankheit beschrieben. Bei mir ergibt sich diese Darstellung aus einem soziologischen und psychiatriekritischen Diskurs heraus. Ich differenziere zwischen dem medizinischen Blick auf mich als pathologisierter Körper und dem Blick, den ich selbst aufgrund meiner Selbst- und Umweltwahrnehmung auf mich habe.

Bei anderen Betroffenen erfolgt die Selbstbeschreibung als „nicht krank“ manchmal aus einer ableistischen Abwehr heraus. Also der Weigerung, sich als krank zu bezeichnen, weil sie Krankheit mit Minderwertigkeit verbinden. Wieder andere verstehen ihren Zustand, genauer gesagt ihre Symptome als naturgegeben (im Sinne von „vom Leben mit Trauma so gewachsen“) und ihren Lebensstil entsprechend absolut individuell und eben nicht pathologisch. Hier gibt es häufig Anknüpfungspunkte an ableistische und opferfeindliche Grundhaltungen, die der Abgrenzung dienen.
Es gibt auch Betroffene, die gar kein Interesse daran haben, sich überhaupt zu erklären oder die fachliche Konstruktion und Diskurse weder durchdringen können (oder wollen) noch Fachbegriffe verwenden, um ihr Selbstempfinden zu beschreiben.

Diese Selbstpositionierungen sind einerseits von vielen Betroffenen überhaupt nicht reflektiert oder als relevant empfunden. Andererseits können sie von jenen, die sie reflektiert haben und als relevant empfunden werden, in 30 bis 60-Sekunden-Videos oder Formaten niemals umfassend kommuniziert werden. Selbst ausgeschrieben in Text oder eingesprochen zu einem Audiobeitrag ist es Betroffenen nicht möglich, diese individuelle Positionierung immer so mitzuvermitteln, dass sie den Ansprüchen moderner Kommunikation in sozialen Netzwerken oder Plattformen wie Blogs und Podcasts gerecht werden.
Je länger, komplexer und umfassender ein Beitrag ist, desto schlechter klickt er sich. Es sind aber die Klickzahlen, die darüber entscheiden, wie viele Menschen welcher Filterblasen damit erreicht werden. Die Reichweite ist für Plattformen wie YouTube und Instagram wiederum die relevante Größe, um finanzielle Interessen zu verfolgen. Interessen, die viele Content Creator_innen und Influencer_innen teilen.

Die (Selbst)Darstellung auf Plattformen als Person mit DIS ist entsprechend erfolgreicher, wenn die DIS als eine persönliche (möglichst gar nicht mal so unsympathische) Eigenschaft kommuniziert wird. Als etwas, dessen Symptomatik relatable, also zur (Selbst)Identifikation einladend ist. Denn nur wenn Zuschauer_innen sich eindeutig verbunden oder auch abwehrend bzw. allgemein emotional reizend nicht verbunden fühlen, schauen sie bis zu Ende, kommentieren und teilen den Beitrag.

der Vibe – die Realität?

Selbstidentifikation ist es daher, was meiner Meinung nach in der Mehrheit der Fälle passiert, wenn eine junge Person nach einigen Videos der Ansicht ist, eine DIS oder Anteile davon zu haben. Es fühlt sich gut für sie an. Richtig. Passend. Zugehörig. Dann kann es doch nicht falsch sein? – Leider ja, leider doch. Und die Konsequenzen daraus, was manche Menschen machen, weil sie denken, sie hätten eine bestimmte Krankheit oder Eigenschaft oder Behinderung oder auch einen bestimmten Status, obwohl das nicht stimmt, ist ein Problem. Vor allem in Bezug auf Medien, die mit Reichweite und entsprechender Verantwortung einhergehen.

Eine Selbstdiagnose denke ich als etwas, das nach der Selbstidentifikation einen Schritt weitergeht und ohne konkreten Leidensdruck unter den spezifischen Aspekten, die als identisch empfunden werden, gar nicht gemacht wird. Denn wenn es sich einfach nur gut anfühlt, dann ist es kein Problem.
Wer also so weit geht, dass sie_r sich in Selbsttests und den Moloch der Diagnostik nach unabsehbar langer Fachpersonensuche begibt, hat wohl mit hoher Wahrscheinlichkeit Leidensdruck und den Wunsch oder den Bedarf an professionellem Abgleich.
Was das Problem dabei sein soll, wenn belastete Menschen etwas gegen ihre Belastung tun und machen, was ihnen bei einer Selbstdiagnose mit Selbsttests zwangsläufig zusätzlich mitgeteilt wird („Dieser Test ersetzt keinen Arztbesuch. Suchen Sie zur Sicherheit eine professionelle Fachperson und besprechen Ihre Ergebnisse mit ihr_m.“) – das erschließt sich mir in der Sache nicht.

Die Diagnostik dissoziativer Störungen erfordert umfassendes und fundiertes Training. Wer sich nicht damit befasst hat, sollte es als Fachperson auch nicht anbieten. Von diesen Fachpersonen gibt es jedoch nicht viele. Diese Diagnostik gehört nicht zur Standardausbildung.
So werden mehr Patient_innen, die darum bitten, zur Belastung in einer bestehenden Mangellage. Das macht jedoch weniger die verstärkte Nachfrage zum Problem, sondern die weiterhin unzureichende Ausbildung und Verfügbarkeit von Fachpersonen, die in der Lage sind, dieser Nachfrage zu entsprechen, wie es auch die Autor_innen in dem Artikel beschreiben.

Die Problematisierung des Verhaltens junger Menschen auf der Suche nach Entlastung und Klärung, so wie es zuletzt in NZZ[3] passierte, ist meiner Meinung nach eine Verantwortungsverschiebung von Seiten derer, die strukturell besser aufgestellt sind, die Mangelsituation sowohl der Allgemeinbevölkerung als auch den politisch Verantwortlichen sichtbar zu machen. Und zudem auch nur deshalb überhaupt anschlussfähig in der Gesellschaft, weil Krankheit und Behinderung weiterhin nicht als Teil der Norm(alität) akzeptiert und inkludiert wird.

das Wie – Video ist nicht gleich Video

Gleiches gilt für die inhaltliche Beurteilung von Medienprodukten zum Thema. In der Community von Menschen mit verschiedenen Diagnosen im Zusammenhang mit Traumafolgestörungen finden regelmäßig umfangreiche Kritiken über Filme und Bücher statt, die desinformieren oder Vorurteile verbreiten. Es ist für Allys oder auch Unbeteiligte (als Filmemacher_innen, Drehbuchautor_innen, Künstler_innen etc.) leicht in Kontakt zu kommen und es besser zu machen. Leider wollen und können die wenigsten – selbst jene, die mit Betroffenen sprechen – sich wirklich in die Vielfalt dieser Community und die wissenschaftlichen Fakten aller relevanten Aspekte begeben und sich selbstkritisch mit ihrem Projekt auseinandersetzen. So kommt es immer wieder zu Filmen oder Projekten, die gut gemeint und letztlich doch schlecht bis schädigend sind, weil sie doch wieder Klischees oder Desinformationen reproduzieren.

Für Betroffene, die außer einem Handy, etwas Freizeit und dem Willen etwas zu teilen nichts haben hingegen, gibt es in der Regel keine Budgets über Förderungsprogramme oder Ähnliches. Es sind also überwiegend laieninformierte Laienproduktionen, die subjektive Er_Lebensrealitäten inszenieren bzw. kommunizieren und sollten als solche auch verstanden und beurteilt werden.

Dieser Umstand ist das Konzept von YouTube und jüngeren Social-Media-Plattformen.
Die breite Akzeptanz dieser Plattformen entspringt dem großen Selbstidentifikationspotenzial. Aus diesem Potenzial ergeben sich viele Möglichkeiten der kapitalistischen Ausbeutung. Dieser Motivation folgend, gab es in den vergangenen 20 Jahren eine zunehmende Professionalisierung. Es ist ein Beruf geworden, YouTube oder Instagramvideos zu produzieren. Nicht immer sind diese Professionalisierung und die wirtschaftlichen Zusammenhänge dieser Creator_innen zu erkennen. Der unprofessionelle Look eines Videos kann heute durchaus zum Konzept gehören, die inhaltliche Fragwürdigkeit die Key component des gesamten Kanals sein.
Man tut gut daran, sich bei jedem Video zu fragen, wen oder was man am Ende kaufen, glauben oder akzeptieren soll. Diese Selbstbefragung gehört zu den Medienkompetenzen, die zunehmend weniger Menschen anwenden – und in Bezug auf einen Konsum von Medien, die kurz, emotionalisierend, endlos und unvorhersehbar auf die_n Konsumenten einwirken, auch gar nicht umfassend angewendet werden können.

Im Zusammenhang mit der Problematisierung von Selbstdiagnosen psychischer Krankheiten kann in der Folge eigentlich nur eine Forderung zur Lösung gestellt werden: Psychische Krankheit bzw. psychische Gesundheit darf nicht mehr Thema in Laienproduktionen sein. Nur so können schließlich Desinformation und der erwähnte „looping effect“ verhindert werden.

Meiner Meinung nach wäre dies ein Rückschritt und eine Übergriffigkeit in die Rechte erkrankter und/oder behinderter Menschen.
Warum sollte Julia ihre LEBENSVERÄNDERNDE Morgenroutine und Hannes seinen Trainingstag in der selbst gebauten Survivalhütte zeigen dürfen, aber Lana nicht, was ihre x-te Operation am behinderten Körper mit ihrer Seele macht, oder Hannah, welche Themen sie nach 21 Jahren Komplextrauma beschäftigen? Warum darf Julia wirkungslose Kosmetik und Hannes gesponsortes Werkzeug zeigen, ohne das als Werbung zu kennzeichnen, aber Lana nicht, welche Tools ihr in depressiven Episoden helfen? Und wie soll durchgesetzt werden, dass Hannah nur noch fachlich korrekt und makellos rein veröffentlicht, ohne das Recht auf freie Meinungsäußerung und die allgemeine Pressefreiheit einzuschränken?

Oder ist es letztlich das, worum es geht?

das Warum – Nichtbehinderte gonna nicht behindert

Mir fehlt in diesem oben zitierten wissenschaftlichen Artikel, aber auch in Artikeln, die sich damit befassen, dass immer mehr junge Leute nach einer ADHS- oder Autismus-Diagnostik suchen, die Anerkennung der Lebensrealität behinderter und chronisch kranker Menschen als eine, die praktisch ohne öffentlichen Resonanzraum ist.

In meiner diesjährigen „Neujahrsansprache“ schrieb ich, dass mich die Nichtstofflichkeit des Internets gereizt hat, dieses Weblog anzulegen und regelmäßig zu schreiben. Ich hatte außer meiner Psychotherapie keinen sicheren Raum für meinen authentischen und selbstbestimmten Selbstausdruck und auch nur sehr überschaubare Möglichkeiten der Beteiligung an kritischer Debatte über die Diagnose DIS und ihrer Implikationen. Ich wollte niemanden stören, nicht zu viel sein – aber ich wollte mit eigenen Augen sehen, dass, was ich tue, ist.
Es war ein Leben voller nicht kompensierbarer Barrieren und Ausschluss, das mich ins Internet statt in eine Interessengemeinschaft oder einen Verein gehen ließ, und es ist der Umstand, dass sich daran nur wenig grundsätzlich geändert hat, dass es weiterhin so ist.

Das unbeauftragte und in aller Regel auch unbezahlte Teilen persönlicher Einsichten und Meinungen ist bei mir aus einer Einsamkeit entstanden, die ganz spezifisch für autistische und komplex traumatisierte Menschen ist. Ich weiß nur durch den Austausch mit anderen Blogger_innen und Social Media Content-Creator_innen mit Behinderung, dass es ihnen (primär) auch unabhängig von ihrem Erfolg so geht.

Es sind primär nicht behinderte Menschen, die Social-Media-Plattformen nutzen. Die meisten Content Creator_innen sind nicht behinderte Menschen. Psychische Gesundheit und Krankheit, Behinderung und Diskriminierung sind neue Themen, die im Zuge von Bemühungen um (für nicht behinderte, weiße, privilegierte Zielgruppen) gefälliges Diversity-Mainstreaming überhaupt Eintritt gefunden haben.
Entsprechend ist bis heute der Anteil von Content marginalisierter Personen mit dem Thema psychischer Krankheit oder Behinderung im Vergleich zum Content der Sparten Lifestyle und Reisen, Gaming und Popkultur, Unterhaltung und Bildung allgemein marginal.
Insofern sind auch die im oben erwähnten Artikel genannten Zahlen über eine „boomende DID Community“ mit etwas Salz und Pfeffer zu genießen. Ein Klick ist kein nachhaltig wirkender Konsum. Ein abgeschlossenes Abo bedeutet nicht automatisch auch eine_n aktive_n Konsument_in des Produktes. Zahlen aus dem US-amerikanischen Kontext sind nicht 1 zu 1 anwendbar auf Deutschland.

Selbst sehr große deutsche Accounts mit dem Thema DIS senden primär an eine in Relation gesehen nur furzgroße Filterblase hinein, die nur durch bestimmte Faktoren erweitert werden kann. Denn DIS haben nicht viele Menschen. Und von diesen wenigen Menschen sind nicht alle auf Social-Media-Plattformen aktiv. Und von denen, die aktiv sind, wollen gar nicht mal alle mit diesem Thema konfrontiert sein. Um also einen Riesenaccount mit dem Thema DIS zu bekommen, müssen Menschen ohne DIS angesprochen werden. Die müssen relaten können. Und das hinzukriegen, ist ein unfassbar hartes Brett. Weil nicht behinderte Leute immer ihre Maßstäbe anlegen an das, was behinderte Menschen erzählen. Als Creator_in, Influencer_in, Blogger_in, Podcaster_in muss man das ertragen/dissoziieren/für sich nutzen können oder wollen. Mit Zufall, intuitiv erstelltem Knallercontent, Talent oder Glück hat das absolut nichts zu tun. Es ist Arbeit. Eine Arbeit, die behinderte Menschen für nicht behinderte Menschen machen, damit andere behinderte Menschen davon profitieren können. Und zwar nicht im Sinne von „hihi haha witziiiich – dark Klapsi/Behindi-Humor“, sondern im Sinne von: „Ich bin nicht allein. Es gibt Worte, Bilder, Möglichkeiten zu benennen, was ich wahrnehme. Ich kann verbunden sein mit dieser Welt.“

die persönliche Komponente – eine „boomende Community“?

Im Internet, speziell auf Social Media, gibt es keine Communitys. Dort gibt es Publikum. Zielgruppen, die erreicht oder nicht erreicht werden.
Menschen, die auf Social Media Geld verdienen (wollen), haben die Begrifflichkeit der Community eingeführt, um das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das Follower_innen, Konsument_innen, Zuschauer_innen haben, zu validieren. Diese Validierung führt zu einer Verharmlosung sowie der Verschleierung dessen, was dort meiner Ansicht nach tatsächlich passiert. Die umfassende Degradierung zum Resonanzkörper.

Die Resonanz: Überwiegend positiv.
Zu meiner schönsten Zeit auf Twitter gehörte Instagram zur positiven Wohlfühlecke des Internets. Katzenfotos, Essen, die schönsten Momente – alles fein. Immer.
Logisch – einkaufen, konsumieren soll sich gut anfühlen. Muss sich gut anfühlen, sonst macht es niemand. Inzwischen ist die Gier der Konzerne so groß wie ihre fehlende Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme. Heute ist auch Instagram für bestimmte Personengruppen kein rein schöner angenehmer Ort zum Im-Kreis-gehen und schöne Dinge „finden“.

Shitstorms that hit the fan, ohne dass jemand zum Saubermachen kommt

Cybermobbing, deep fakes, Shitstorms, Follower_innen, die Behörden mit ausgedachten Geschichten über Content Creator_innen beschäftigen, bis diese im echten Notfall zögerlich oder falsch reagieren, Rufmord, Stalking, Doxxing – digitale Gewalt hat viele Formen, und sie trifft immer Menschen.
Während die neckische Ute, die allen das Outfit zeigt, mit dem sie den Tag rockt, dahingehend frech augenzwinkernd sagen kann: „Huh, dafür krieg ich bestimmt wieder aufs Dach, aber ich sags trotzdem: Ich liebe Lederschuhe.“ – überlegt sich die hübsche Lifestyle-Influencerin Greta mit dem Stalker, der ihr seit Jahren nachstellt, ohne dass sie etwas dagegen tun kann, wo sie überhaupt drehen kann, ohne zu viel über ihren Aufenthaltsort nachvollziehbar zu machen. Beide bedenken eine ihrer Tätigkeit gewissermaßen inhärente Erfahrung bzw. Gefahr: Abwehr, Dislikes, den Shitstorm, die Möglichkeit einer konkreten Gefahr für Leib und Leben wegen etwas, woran sie nicht gedacht haben oder was sie schlicht auch gar nicht kontrollieren können.

Das an sich ist in unserer Gesellschaft etwas, das ich abstoßend und unserem Miteinander als Menschen unwürdig empfinde. Alle Menschen sollten sich immer sicher miteinander fühlen bei dem, was sie für sich und andere tun. Dass es Orte oder im Fall von Social-Media-Plattformen Kommunikationsräume gibt, die als individuell gefährlich gedacht und einfach hingenommen werden, finde ich inakzeptabel.

In den mehr als 10 Jahren, die ich hier meinen Weblog selbst hoste, selbst verwalte, selbst und inzwischen von Spenden unterstützt bezahle, musste ich mich bereits mit Angriffen befassen, die mich nicht nur verletzt und verunsichert haben, sondern gewissermaßen auch weiter in die Einsamkeit drängten, aus der ich mit meinem Schreiben heraustrete.
Statt mein Schreiben als Arbeit zur Kompensation meiner sozialen Behinderung anzuerkennen, wurde sie zu einem narzisstisch motivierten Akt erklärt, der eine generelle und gewissermaßen skrupellose sowie selbst erniedrigende Suche nach Aufmerksamkeit und Anerkennung als nette, kluge oder tragisch gebeutelte, bemitleidenswerte Person beweist.
Statt zu sehen, dass ich mich durch meine Texte mit mir selbst verbinde, mich kennenlerne und als selbstwirksam erlebe, wie ich es sonst nirgendwo im Leben konnte, hieß es, ich würde schreiben, um mich nicht zu spüren und von meinen „wirklichen Problemen“ abzulenken.
Statt nachzufragen oder sonst wie in Erfahrung zu bringen, ob ich mit meiner Arbeit Geld verdiene, wurde und wird einfach angenommen und über mich erzählt, ich würde hier scheffeln und nur behaupten, dass ich in Armut gelebt habe.

All dem liegt die Annahme zu Grunde, dass ich und die Dinge, die ich hier teile, in Wahrheit gar nicht sein können. Ich schreibe nicht wie Annabell, die auf TikTok ihre Anteile wie Soapcharaktere vorstellt und dann einen Föhn in die Kamera hält – ich kann gar nicht viele sein.
Ich beschreibe nicht haarklein – ich deute nicht mal implizit irgendwie an, wie ich in dunklen Kellern von Kuttenmännern willenlos gequält wurde – ich kann gar keine organisierte Gewalt erlebt haben.
Ich kann zwei drei wissenschaftliche Zusammenhänge zu Trauma, Gewalt und Dissoziation in ein paar geraden Sätzen erläutern – ich kann ja gar kein Laie sein, die_r sich aus Gründen seit über 20 Jahren damit befasst.
So wie ich sage und mitteile, wie es ist, kann es in Wahrheit gar nicht sein – weil andere meine Lage anders empfinden als ich, weil sie was anderes machen würden als ich, weil ihre Vorstellungen von Angemessenheit anders sind als meine … what ever.

Ich kann als Sender_in nie ganz beeinflussen, was bei wem wie ankommt.
Der Clash zwischen anderen Menschen und mir ist meinem Leben und meinem Selbstausdruck so sehr eingewoben – es hat keinen Sinn für mich, diese anderen Menschen zum Maßstab in dieser Sache zu machen. Das Stereotyp über Menschen mit DIS ist da draußen. Die Ideen über Blogger_innen, Podcaster_innen, Content Creators und Influencer_innen auch. Es gibt keine Möglichkeit, keinen Grad von Professionalisierung und was weiß ich, damit sie als so unzutreffend begriffen werden, wie sie sind. Vor allem, wenn es Menschen gibt, die gar nicht mal so sehr darunter leiden, sondern sogar davon profitieren können. Und wollen.

Ohne Community keine Community

Gäbe es tatsächlich Communitys auf Social Media, würden diese Leute bereits keine desinformierenden Accounts mehr betreiben. Wären Traumafolgestörungen weniger kontrovers diskutiert und das Leben mit Behinderung oder chronischer Krankheit insgesamt weniger individualisiert, würde unter einem so unsäglich umfassend desinformierenden Video, wie ich es zur Einleitung zitierte, nicht nur Ermutigung, Beifall, Zuspruch und Danksagungen stehen, sondern auch mal die Frage, ob die Person mal nach den Latten an ihrem Zaun gucken kann. Was ihr eigentlich einfällt, Profit aus dem Leiden anderer zu generieren. Ob sie sich nicht schämt, so schädigende Vorurteile zu reproduzieren und anderen zu schaden. Wie sie gedenkt, den Schaden an der Community zu reparieren. Da stünden Literaturhinweise. Fakten. Wäre nicht nur wohlfühliges Mitgefühl, damit diese arme gequälte Seele auch mal was Schönes im Leben spürt. Da wäre Verantwortung Thema und Debattenkern.

Tatsächlich kenne ich nur wenige medienschaffende Betroffene, die sich dazu wirklich umfassend Gedanken gemacht haben und auch regelmäßig dazu anhalten, ihren Content kritischer Prüfung auszusetzen. Diese so oft beschworene Soli unter Betroffenen im Internet, die gibt es nicht.
Es gibt Zugehörigkeitsgefühl, Interesse und aufrichtige Anteilnahme. Aber gegenseitige Anteilgabe, Fürsorge, Verantwortungsübergabe, real konkreten Austausch zur Frage des gegenseitigen Miteinanders gibt es nicht. Das sind aber Kernaspekte vom Leben in einer Community.
Kommen, wenn eine_r weint. Putzen, wenn eine_r nicht kann. Ein Projekt für alle zusammen machen, sich gegenseitig einen Garten oder eine andere versorgende, nährende, gut tuende Grundlage anlegen. Sich gegenseitig vor anderen verteidigen. Übereinander wohlwollend sprechen. Sich gegenseitig auf Fehler hinweisen. Sich gegenseitig Wachstum oder Veränderung zumuten. Sich dabei ganz konkret helfen oder unterstützen. Antworten, wenn man angesprochen wird. Das ist Community.

Anderen zuhören, damit es sich gut oder aushaltbar anfühlt, am Leben zu sein, ist kein gemeinschaftliches Verhalten. Das ist Konsum. Das ist sozial parasitär. Komplett egal, ob man sich als Viele erlebt oder nicht, ob man behindert ist oder nicht. Es hat absolut nichts mit dem Konzept von „Community“ zu tun. Dieses Verhalten wird aber von Social-Media-Plattformen gebraucht und gefördert.

Und weiter?

Selbstdiagnosen und Mehraufwand für professionelle Diagnostiker_innen sind nicht das Problem, um das man sich in Bezug auf alle Risiken und Nebenwirkungen von geschlossenen Kommunikationssystemen wie Social-Media-Plattformen kümmern muss.
Die Profis werden es schon schaffen, sich nicht mit unnötigen Diagnostiken kaputtzuarbeiten. Niemandes Leid muss als belastend markiert werden, um die bestehende Unterversorgung zu verändern.

Aber werden wir als psychisch kranke, behinderte, ausgegrenzte Menschen es schaffen, mit- und füreinander da zu sein, wie wir uns das wünschen? Wie wir das brauchen? Wenn es uns in letzter Konsequenz dann doch wichtiger ist, von „den Richtigen“ geliked zu werden?
Wenn es doch so viel leichter ist, den unangenehmen Stuss wegzuwischen?

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Quellen

[1] Briana L. Snyder, Stacey Marie Boyer, Jennifer E. Caplan, M. Shae Nester, Bethany Brand,
It’s not just a movie: Perceived impact of misportrayals of dissociative identity disorder in the media on self and treatment,
European Journal of Trauma & Dissociation, Volume 8, Issue 3, 2024, 100429, ISSN 2468-7499, https://doi.org/10.1016/j.ejtd.2024.100429.
(https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S2468749924000528)

[2] Salter, Michael PhD; Brand, Bethany L. PhD; Robinson, Matt PhD; Loewenstein, Rich MD; Silberg, Joyanna PhD; Korzekwa, Marilyn MD. Self-Diagnosed Cases of Dissociative Identity Disorder on Social Media: Conceptualization, Assessment, and Treatment. Harvard Review of Psychiatry 33(1):p 41-48, 1/2 2025. | DOI: 10.1097/HRP.0000000000000416 (https://journals.lww.com/hrpjournal/fulltext/2025/01000/self_diagnosed_cases_of_dissociative_identity.4.aspx)

[3] Interview mit Psychologe Holger Richter, NZZ, 06.02.2025 (https://www.nzz.ch/feuilleton/psychisch-krank-wokeness-und-der-anstieg-an-diagnosen-wie-adhs-ld.1869384)

der Moment, der noch nie war

R. ist mein Stein im Schuh.
Wenn sie darüber redet, wie das für sie war, dass sie niemand verstanden hat, dann spüre ich das wie ein besonders heftiges Stechen ihrer Härte. Peripher, aber deutlich.
Die Verschlossenheit, die sie in Bezug auf DIE ALLE hat und hält, war und ist bis heute manchmal noch ein echtes Hindernis in Hilfe- und Unterstützungskontexten.
Sie würde es nie sagen, mir jedoch ist es total klar: Das frühere Unverständnis der Menschen über ihre Gefährdung hätte ihr das Leben kosten können. Uns. Mir.
Was man ihr, uns, mir in Medien, Schule, Sportverein beigebracht hat: „Sag was, wenn jemandem oder dir etwas Schlimmes passiert.“, das hat sie gemacht. Sie hat gesagt, dass anderen etwas passiert. Und weder sie noch die Menschen haben gemerkt, verstanden, gewusst, dass sie diese anderen war. Niemand hat geholfen.

So ein folgenschweres Missverständnis ist nicht nur „ein harter Schlag“ oder etwas, was das Ego ein bisschen anklatscht, wer ist schon gern unverstanden dies das. Solche Erfahrungen lösen nicht nur Enttäuschung aus. Sie führen auch dazu, dass man sich auf sich allein zurückzieht. Annimmt, die Menschen würden wollen, dass man gefährdet ist. Glaubt, die Gefährdung, die (angenommene) Lebensgefahr sei von allen (also von der ganzen Welt) gewollt. Die Todesangst gewünscht.
Ich reagiere auf solche Annahmen mit Depression, Angst, Suizidalität. R. mit Wut, Härte und authentisch kompromissloser Konsequenz. Nicht einen Filter hält sie noch hoch, wenn sie merkt, dass sie, dass wir, dass ich nicht verstanden, gehalten, getragen werde.

Innere wie R. sind es, die ich bei Vorhaben wie der Operation, aber auch der Traumatherapie möglichst weit raushalte. Noch weiter als aus anderen Interaktionen mit anderen Menschen.
Zum Einen, weil ihre Wut in der Regel zu Problemen führt, die meine kommunikativen Fähig- und Fertigkeiten weit überschreiten. Was sich unter anderem daraus ergibt, dass ich dieses Gefühl nicht mir, sondern ihr zugehörig empfinde und erst nach bewusster Reflexionszeit und manchmal auch erst nach einer Besprechung mit meiner Therapeutin den Anlass überhaupt erkenne und verstehe.

Zum Anderen, weil R. einfach bis heute nicht richtig orientiert ist. Sie kann im Heute agieren, kann den ganzen „Wissen Sie welches Jahr wir haben“-Reigen vortanzen, ohne einen Zweifel aufkommen zu lassen. Aber für sie geht es nach wie vor bei jedem Kontakt, der irgendwie und sei es noch so abstrakt darum geht, dass ihr, uns, mir jemand in irgendeiner Form hilft oder etwas unternimmt, was sie, wir, ich nicht alleine kann, um Leben und Tod.
Wenn diese mit Hilfe oder Unterstützung oder irgendeinem anderen mich betreffenden Ding beauftragten Menschen irgendetwas nicht können, nicht schaffen, nicht wollen – egal ob intentional oder natürlich bedingt – beginnt ein inneres Wiederleben von Traumatisierungen. Davon merke ich, Hannah, bis heute nichts. Ich merke nur R., die es wiederum als flutend und massiv überfordernd erlebt und reagiert. Ihre Reaktion, also die innere Schutzreaktion, macht mir wiederum Angst, weil ein Wechsel zu ihr für mich Kontrollverlust und relativ spezifische zwischenmenschliche Konsequenzen bedeutet.
R. geht im Zweifel nämlich auch einfach aus dem Kontakt und bringt absolut keine Motivation dafür auf, die Kraft zur angepassten Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen aufzubringen. Wer sich im Kontakt mit ihr nicht darum bemüht und kümmert, sie in ihrem authentischen Ausdruck zu verstehen, bekommt von ihr auch kein Bemühen. Sie behält diese Energie für sich, um selbstständig handlungsfähig zu bleiben.
Traumalogisch absolut sinnvoll. Alltagskommunikations-logisch ebenfalls absolut sinnvoll. Sozial und in Bezug auf jede Option der Kontaktgestaltung hingegen eine absolute Katastrophe.
Jedenfalls für mich. Denn R. markiert diese Kontakte den Energieaufwand nicht wert, den die reparierende oder wieder-verbindende Kommunikation für mich bedeutet, die_r in so einem Fall alle Kraft einfach aufbringt, egal, ob ich sie wirklich habe oder nicht. Bis das nicht „wieder gut“ ist, kann ich nichts anderes machen, als daran zu denken, Gespräche in meinem Kopf durchzuanalysieren, Aussprachen im Kopf üben, um auf jede Möglichkeit des Gesprächsverlaufs vorbereitet zu sein und mich auf Alternativen bzw. andere Lösungen zu konzentrieren. Das ist in der Regel die Phase, in der ich dann missverstanden werde, weil die allgemeine erste Annahme ist, ich sei durch mein Trauma so beziehungsunsicher, dass ich Konflikte nicht ertragen kann. Tatsächlich aber kann ich die Emotionalisierung von Konflikten kaum ertragen, weil sie eine oft überaus kräftezehrende Übersetzungshürde für mich darstellt und ich nicht davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber das überhaupt weiß, versteht, berücksichtigt oder, wenn es bekannt ist, nicht als Waffe gegen mich einsetzt.

Mal ganz davon abgesehen ist es mir peinlich, wenn R. übernimmt und meinen Körper steuert. R. erlebt sich als 13 Jahre alt und allein gegen die ganze Welt am eigenen Weiterleben überhaupt interessiert. Das ist einfach kein guter Zustand, wenn man inzwischen überwiegend mit Menschen zu tun hat, die es verletzen würde, würde man ihnen Desinteresse an unserer Lebendigkeit unterstellen. So wie es R.s Grundannahme über DIE ALLE ist.

Es ist R., die sich ohne jeden Skrupel hinstellt und sagt, dass es Helferversagen gibt. Wie es wirkt. Dass es mit.schuldig macht. Dass es Teil des Unrechts ist, das Opfern von zwischenmenschlicher Gewalt passiert. R. ist die einzige Seite von mir, die Entschuldigungen von Erzieher_innen, früheren Psychotherapeut_innen und auch Betreuer_innen goutieren würde. Die Einzige, die sich nicht mal dafür schämt zu sagen, dass sie das gerne hätte.
Sie kann das, weil sie sich sehr weit entfernt von diesen Menschen erlebt. Ihre Wut und ihre harte Verschlossenheit schützen sie davor, jemals wieder irgendetwas von DEN ALLEN zu brauchen.

Sie schützen sie aber nicht davor, etwas zu bekommen, wenn sie, wir, ich es brauche.
Die Situation im Krankenhaus, die Operationsvorbereitung und die Pflege danach, war so ein Moment des Bekommens. Einer der Ersten, die ich so je wahrgenommen habe.

Man ist auf allen Ebenen auf mich zugekommen. Nicht ein Schritt in dem ganzen Voruntersuchungsprozess, der Aufnahme und Vorbereitung war gehetzt oder ungeduldig mit mir. Man hat für alles immer wieder meinen Konsens abgewartet. Immer jede alternative Möglichkeit erklärt und über alle Ressourcen aufgeklärt. Alles, was ging, ging auch wirklich. Sobald ich unsicher wurde, wurde ich versichert – ohne dass ich meine Verunsicherung erklären oder entschuldigen musste.
Es war nicht im Fokus, was mich verunsichert hat, sondern dass ich weiß, worüber ich mir sicher sein kann.
Das an sich war bereits außerordentlich wohltuend für mich. Es hat verhindert, dass ich in den traumalogischen Schluss rutsche, die Kontrolle über Unkontrollierbares behalten zu müssen. Diejenigen, die in der Verantwortung für mich waren, haben sie auch übernommen und meinen Konsens darüber immer wieder abgefragt. Ich hatte bis zum Schluss das Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, ob dieser Weg zum Eingriff oder der Eingriff selbst passiert oder nicht.

Offenbar habe ich beim Aufwachen immer wieder gesagt, ich hätte Angst, dass ein Täter da wäre oder käme. Daran habe ich keine Erinnerung.
Aber ich erinnere, dass eine Stationsschwester mir dann im Patient_innenzimmer gesagt hat, dass sie aufpassen würden, dass niemand käme. Dass ich bei ihnen sicher sei.
Der kleine R.-Stein in meinem, naja, meiner Krankenhaus-Laufsocke, war deutlich spürbar, aber nicht relevant für mich. Ich war noch eine ganze Weile nicht richtig wach und dissoziierte abwechselnd mit Schlafsequenzen.

Und dann gab es den Moment, in dem mein Mann egomäßig leicht angedötscht am Bettrand saß und erzählte, wie er beim Betreten der Station erst einmal klar und unmissverständlich gefragt wurde, ob er auch wirklich mein Mann sei.
Das war dann der Moment, in dem der kleine Stein zu einem kleinen Lehmklumpen wurde.

Hannahs Neujahrsansprache

Ich begann zu bloggen, weil mir die Idee gefiel, in einem nicht-stofflichen Raum zu sprechen und einen Ausdruck für das zu finden, was ich erlebte. Etwas zu erschaffen, das nicht physisch berührbar sein würde und dennoch zweifellos da.
Mich erfreut bis heute wie meine Worte hier zu etwas werden, das andere erreichen und berühren kann, ohne dass ich als Person bekannt oder körperlich anwesend bin. Wie es kommt, dass manche Menschen schon seit vielen Jahren mitlesen und so zu einer ebenfalls nicht körperlich anwesenden, doch zweifellos wirkenden Kraft geworden sind.

Ich wollte hier mal aufklären.
Was ist eine DIS und was bedeutet es damit zu leben?
Das hat mir aber keinen Spaß gemacht, denn schon bald wurde mir klar, dass Aufklärung eine Grundhaltung anderen Menschen gegenüber voraussetzt, die ich nicht habe.
Ich glaube nicht daran, dass Menschen nur genug wissen müssen, um weiterzukommen, Fehler zu meiden oder sich selbst zu verbessern in Gebaren, Normen und Werten.
Ich glaube daran, dass Menschen sind, wie sie sind, weil sie sein können, wie sie sind. Ich glaube also eher an Umstände. Natur. Reiz, Reaktion. Ursache und Wirkung. Freiheit und ihre Grenzen.
Wissen ist darin ein Werkzeug von vielen. Etwas, das zum Selbstausdruck und zur Erweiterung des Eigenen genutzt werden kann, aber nicht die Voraussetzung dafür ist.

Relevant erscheint mir entsprechend bis heute, dass ich hier nicht erzähle, welches Diagnosekriterium sich an welchen Aspekten meines Alltages oder meines Selbst- und Umwelterlebens erfüllt, sondern wie ich mich fühle. Was ich denke. Was mir wichtig ist. Wie ich bestimmte Erfahrungen in mir erfasse und einordne.
Mich stets und ständig entlang der Diagnose zu definieren bedeutet für mich auch die Objektifizierung der Diagnostik an mir weiterzuführen. Ganz so, als sei die psychiatrisch medizinische Ordnung etwas, das alleinig und allumfassend Relevanz für mein konkretes Existieren als Subjekt hätte. Was sie nicht hat.
Ich wäre auch dann noch, wer und wie ich bin, gäbe es diese Diagnose nicht.
Ich hätte auch dann Worte und Empfindungen, Meinung und Urteile zu dem, was ich erlebe.

Mein Blog ist nun seit etwa 14 Jahren online.
Es ist mein Tagebuch, mein Knotenpunkt für innere Kommunikation. Mein Podest zum Teilen meiner Erlebnisse, Ideen und Meinungen. Ein Ort, an dem andere Menschen in Kontakt mit mir treten können.
Und eine Projektionsfläche.

Ich werde von vielen Vielen, Behandler_innen und Verbündeten hier wahrgenommen. Viele von ihnen haben ein Bild von meinen Motiven und meiner Person, die nicht zutreffen.
In den letzten Jahren kam es immer wieder vor, dass ich damit konfrontiert wurde und darüber nachdenken musste, wie ich mich dazu verhalte. Schreibe ich öffentlich darüber? Teile ich meine Gedanken und Gefühle dazu? Was macht es aus, wenn ich über bestimmte Dinge so schreibe, wie ich sie empfinde? Wem könnte ich schaden, wem nützen? Wie groß ist überhaupt mein Einfluss hier? Wie groß meine Verantwortung als eins der Urgesteine in der Multi-Blogbubble? Für und gegen wen spreche ich hier?

Ich habe mich dazu entschieden, das, was ich hier mache, als Selbstvertretung zu etablieren. Hier stehe ich allein. Du darfst mitlesen, mitdenken, mitfühlen – aber meine Stimme gehört mir. Klingt stark, nicht? Abgegrenzt. Klar. Sicher.
Das klingt so gar nicht nach einer Vermeidungshaltung, oder? So überhaupt nicht, als wäre das nicht auch eine Entscheidung aus Angst vor dem Konflikt – gerade, weil ich allein hier stehe. Gerade, weil sich selbst als Viele zu erleben, eine Psychodiagnose, eine Behinderung und chronische Erkrankung zu haben, zu ganz spezifischen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen führt. Auch und gerade innerhalb der eigenen Peergroup. Wer nichts hat, guckt den Gleichen ganz besonders auf den Teller. Das hat fast nie mit Missgunst oder persönlicher Abneigung zu tun. Aber mit den Umständen, der Gesellschaft, dem Umfeld, in dem es zur gemeinsamen Gleichheit kommen konnte.
Und gegen die kann ich hier kaum mehr tun, als meine Sicht darauf zu teilen und die An.teil.nahme anderer Menschen zu ermöglichen.

Mein Anliegen der Selbstvertretung hat mich in den letzten Jahren auch zuverlässig darüber hinweggetröstet, dass ich mich schon lange nicht mehr als Teil der Selbsthilfe- und Aktivismus-Bubble fühle. Obwohl ich inzwischen Teil einer analogen Selbsthilfegruppe bin und mit „Vielesein“ eine Plattform aufgebaut habe, die auch den politischen Austausch und persönliche Verbindung ermöglicht.
Ich muss anerkennen, dass die Debatten zu Gewalt, ihren Folgen und der Prävention inzwischen massiv fragmentiert und unterkomplex in den sozialen Medien, exklusiv in Vereinsstrukturen oder teils presse-ethisch fragwürdig in TV- und Rundfunkformaten stattfinden.
Und komme nicht umhin zu beachten, dass sich kritisch dazu zu äußern nicht deshalb schwierig und für manche sogar unmöglich ist, weil es mit einer konkreten Gefahr einhergeht, sondern weil sich niemand mehr auf öffentliche Fürsprache, Solidarität und ganz konkreten Schulterschluss verlassen kann. Und will.

Und soll.
Denn wie schon vor 14 Jahren gibt es auch heute noch Einzelpersonen und Gruppen, die Interesse daran haben, dass über Gewalt und ihre Folgen in einer Weise gesprochen und gewertet wird, die davon betroffene Menschen pathologisiert, Gewalt als alltägliches Geschehen negiert und Taten in einem Normensystem ohne Bezug zu ihren Folgen für die gesamte Gesellschaft bewertet.
Musste ich mich früher damit befassen, was die False Memory Foundation warum will, sind es heute Vertreter_innen der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) und Journalist_innen, deren Antrieb zur Berichterstattung offensichtlich nicht die objektive Aufarbeitung von Sachinformation ist.

In den letzten Jahren sind einige Publikationen veröffentlicht worden, in denen wiederholt behauptet wird, die DIS-Diagnose sei eine Art wissenschaftlicher Kunstfehler. Therapeut_innen würden ihren Patient_innen einreden, dass sie Gewalterfahrungen gemacht haben, um sie so lange wie möglich in psychotherapeutischer Behandlung zu behalten. Und diesen Umstand missbrauchen, um die Wissenschaft zu unterwandern und eine politische Agenda voranzutreiben.
Die politische Agenda: Opfern von Gewalt glauben, solidarisch mit ihnen sein, ihnen helfen, wenn sie das möchten.
Für mich klingt das nicht nach einer Agenda, der man sich mit unbedingtem Willen zum Abbruch widmen muss, während der Faschismus nicht mal mehr anklopft, sondern unbehelligt im Bundestag ein und aus geht.
Für mich klingt das nach etwas, das unsere Gesellschaft braucht, um Gewalt zu verstehen. Um ihre Folgen zu begreifen und in einen Prozess zu kommen, in dem Fragen danach gestellt werden, wie wir miteinander leben wollen. Wie wir ganz praktisch und verbindlich füreinander da sein können, wollen und sollen.

Ich gehe davon aus, dass man Falschbehandlung und missbräuchliches Verhalten von Psychotherapeut_innen und politisch motivierten Akteur_innen besser in einer Gesellschaft aufdecken und verhindern kann, die einander vertraut, glaubt und stützt.
Meiner Meinung nach braucht es für gegenseitiges Vertrauen, Glauben und Stützen auch das öffentliche Sichtbarmachen der eigenen Haltung, Meinung und Solidarität. Sich hinter einem Mandat oder dem Status, der mit einer bestimmten Profession einhergeht, zu verstecken, ist ein Privileg, das die, die am meisten unter Diskriminierung und Gewalt leiden, nicht haben.
Höfliches, professionelles, unpolitisches, taktisches Schweigen ist im Angesicht von Angriffen auf die gesamte Gesellschaft und ihr Miteinander nicht klug, karriereförderlich oder überlebenswichtig. Es ist Schweigen. Eine Stille, eine Lücke. Ein Nichts, wo etwas sein muss, wenn man in jeder Lebenslage gut versorgt und gesichert mit den Mitmenschen leben möchte.

Ich möchte leben. Deshalb bin ich hier und dafür schreibe ich hier.
Primär für mich, doch ob ich will oder nicht, immer auch für andere. Für andere Viele, für andere autistische und komplex traumatisierte Menschen.
In der nächsten Zeit werde ich, wie immer allein und alleinverantwortlich, einige Texte veröffentlichen, die kritisch sind. Es wird um Publikationen gehen, die von Journalist_innen sind und um Publikationen, die von Menschen sind, die sich als Aufklärer_innen gerieren.

Zur besseren Einordnung hier eine Vorstellung meiner Person, die ich so nirgendwo im Blog stehen habe:

Ich schreibe unter dem Pseudonym Hannah C. Rosenblatt.
Der Name gefällt mir und er kam zu mir in einer Zeit, in der ich mich damit befasste, zum Judentum zu konvertieren. Ich habe letztlich keinen Gijur durchlaufen, weil ich meine nicht binäre Geschlechtsidentität und pansexuelle Präferenz in vielen jüdischen Kontexten nicht offen leben könnte. Ich bin nicht jüdisch geboren und ich lebe seit vielen Jahren auch nicht mehr nach jüdischen Gesetzen.
Ich bin eine weiße Person und betrachte die Privilegierung, die damit einhergeht, als etwas, das mich zu spezifischer Aufmerksamkeit, bestimmten Verhaltensweisen und einem kritischen Bildungsauftrag in Bezug auf die Leben nicht-weißer Menschen sowie kolonialer Verbrechen und rassistisch motivierter Gewalt verpflichtet.

Aktuell bin ich 38 Jahre alt.
Die DIS-Diagnose erhielt ich nach 7 anderen Diagnosen im Verlauf einer über anderthalb Jahre lang andauernden Behandlung in einer qua Struktur geschlossenen Station für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich war 16 Jahre alt und hatte zu dem Zeitpunkt bereits mehrere Suizidversuche überlebt.
Diese Diagnose wurde in den folgenden Jahren mit umfassender Diagnostik und auf meinen eigenen Wunsch hin auf ihre Richtigkeit geprüft und in der Folge bestätigt.
Weitere Diagnosen sind Ängste und Depressionen gemischt und eine inzwischen chronische Essstörung. 2015 wurde außerdem die Diagnose einer Autismus-Spektrum-Störung (im Sinne eines Asperger-Syndroms) gestellt.

Seit ich in traumatherapeutischer Behandlung bin, steht im Raum, ob ich Rituelle Gewalt erlebt habe. Stand heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass dem nicht so ist.
Die Gewalterfahrungen, die ich gemacht habe, fanden in meiner Herkunftsfamilie, meinem allgemeinen Lebensumfeld, in Psychiatrien, den Büros von Psychotherapeut_innen und einem organisierten Kontext sexueller Ausbeutung statt.
Meine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema Ritueller Gewalt hat mich dafür sensibilisiert, sowohl theoretisch als auch praktisch konkret damit umzugehen. Das bedeutet, dass ich Quellen für jede Aussage einfordere, echte Fälle recherchiere und mich politisch dafür interessiere, weshalb ideologisch motivierte Taten (zu denen für mich neben religiösen auch rassistische und politisch rechte Motive gehören) nicht in einer eigenen Kategorie erfasst und in der Kriminalstatistik geführt werden.

Der Umstand, dass ich bereits als Jugendliche mit der DIS-Diagnose umgehen musste, hat erheblich dazu beigetragen, dass ich die Besonderisierung (das Othering) von Menschen mit dieser Diagnose ablehne. Sei es, ob die Betroffenen das selbst machen oder es ihnen aufgezwungen wird. Für mich sind Menschen mit DIS keine besonders starken Überlebenden. Keine kuriosen Sonderfälle. Meiner Meinung nach brauchen die wenigsten Menschen mit DIS eine spezielle psychotherapeutische Behandlung, Betreuung oder zwischenmenschliche Fürsorge. Meiner Erfahrung nach führt eine solche Besonderisierung in den meisten Fällen zu Gewalt an diesen Menschen, die besonders durch die knappen Ressourcen im Hilfesystem häufig legitimiert wird und entsprechend verdeckt bleibt.
Im kleinen Rahmen biete ich pädagogischen Teams, die sich in so einer Dynamik erkennen, meine Perspektive als Betroffene und Hilfestellung zur Auflösung an.

Ich bin hier als Autorin tätig. Außerdem habe ich zwei Bücher veröffentlicht. „Aufgeschrieben“ und „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“. Unter meiner Verantwortung läuft seit 2015 der Podcast „Viele-Sein, ein Podcast zum Leben mit dissoziativer Identitätsstruktur“.

Ich habe 16 Jahre in Armut gelebt.
Keine meiner Veröffentlichungen führt zu finanziellem Gewinn. Jede meiner Arbeiten ist in Teilen durch Spenden unterstützt, doch überwiegend von mir selbst finanziert.
Dank eines entschlossenen Schulleiters, einer angemessenen Begleitung und einer motivierten Lehrer_innenschaft habe ich eine Berufsausbildung machen können. Derzeit arbeite ich dank des Teilhabegesetzes in einem geförderten Arbeitsverhältnis in der IT-Branche.
Die Vorträge, Lesungen und Workshops, die ich in meiner Freizeit anbiete, werden überwiegend von anderen Betroffenen und ihren Unterstützer_innen besucht. Mir ist eine sachliche, faktenorientierte Auseinandersetzung mit den Themen Trauma, Gewalt und Behinderung wichtig, wenn es um Fragen der Hilfestellung und Aufarbeitung geht.

Mir liegt nichts daran, andere Menschen bloßzustellen oder ihren Ruf zu beschädigen.
Ich bin solidarisch mit Betroffenen und Überlebenden jeder Form von Gewalt, weil ich Gewalt für ein Problem halte. Dieses Problembewusstsein erwarte ich von allen Menschen gleich.

Im letzten Jahr habe ich mich dazu entschlossen, mein Konfliktvermeidungsverhalten zu beenden. Ich habe erkannt, dass es mir nur bedingt nutzt und anderen, denen es schlechter geht als mir, sogar schadet. Meine Hoffnung ist, dass auch andere Menschen den Mut finden, einen solchen Beschluss zu fassen und ihr Schweigen zu bestimmten kritischen Punkten beenden.

mit Kraft, ohne Zucken

„Eigentlich geht der aber noch“, denkt eine sachte Wolke über meine Schulter hinweg. Er, der dunkelblaue Wäscheoktopus aus Kunststoff, den mir meine Eltern bei unserem letzten Kontakt geschenkt haben. Das ist 14, vielleicht sogar 15? Jahre her. Ich drücke ihn tiefer in den Gelben Sack.

Im Badezimmer hängt nun eine neue kleine Wäschespinne am Kippfenster. Aus Edelstahl. Geschenkt vom Freund, Partner, Ehemann.
Der uns vorhin mit Quatschmachen über ein Christkind, das er gerade beim Einbruch in unser Wohnzimmer beobachtet hätte, kurz vor den Lachkrampf gebracht hat. Und gleich, das weiß ich aber noch nicht, unser Lieblingsspiel mit uns spielen wird, bevor wir sein Lieblingsessen zu Weihnachten kredenzt bekommen.
Ich denke an die Bettwäsche, die mir meine Tante zum 18. Geburtstag in die Wohngruppe geschickt hat. Dunkelblau, mit einfachem Sonne, Mond und Sterne-Muster. Längst nicht mehr Biber, seit Jahren zunehmend löchrig. „Die geht noch“ schwappt es nach jeder Wäsche, jedem Trocknen, jedem Zusammenlegen, jedem Neuaufziehen über mich drüber.
„Es war ein beknacktes Geschenk für einen 18. Geburtstag.“, „Aber es war eins. Hätte ja auch nichts kommen können.“, „Ja, ich habe das eigentlich nicht verdient.“ Ich schließe die Tür zu diesen Inneren. Ich will sie nicht fühlen, will mich nicht so fühlen.

Diese kleinen Alltagsgegenstände, die sich in jedem Haushalt ansammeln, irgendwann einfach wegkönnen und eben nicht mehr wegmüssen, weil sie wegsollen. Weil eine Therapeutin, Betreuerin, Helferin, Vertraute, Freundin argwöhnt, ob an dem Geschenk ein geheimer Code klebt. Ein impliziter Imperativ, der mich zur Kontaktaufnahme zwingt. Weil ein Therapiekonzept erfordert, nichts Verbindendes zu früheren Täter_innen zu besitzen.
Ich habe in der Verweigerung, diese Dinge wegzuschmeißen, meinen ersten Aufstand geübt. Mein erstes „Nein, du, ihr könnt mich mal – ICH entscheide das!“, gedacht, gefühlt und dann auch gemacht. Und gewartet, was sie machen würden. Mich verletzen? Oder nur rausschmeißen? Wegstoßen? Verlassen? Mir nicht helfen? – Wäre eh passiert. Mich zu halten, war nie möglich, egal, was für ein liebes Mädchen eine liebe Patientin ich gewesen wäre.
Am praktischen Ende meines Leidensdrucks hatte ich einen Haushalt, den ich mit Hartz-4 bestreiten musste, nachdem ich ihn mit der absurd niedrigen Erstausstattungspauschale aufgebaut hatte. Mit 18. Nach etwa 4 Jahren Heim-Klapse-Ping-Pong und einer Symptomatik jenseits von stabiler Entscheidungsfähigkeit. Kleinigkeiten, die bei solchen Aufforderungen zur Bereinigung Befreiung Entfernung von solchen Dingen nie wirklich eine Rolle gespielt haben. Komisch eigentlich. Dabei ging es doch immer um mein Bestes. Alles haben, was ich ganz banal und alltäglich brauche, gehörte irgendwie kaum dazu.

Mein Handy zeigt eine Nachricht mit Foto. Eine zweite Freundin hat ein Päckchen von mir unter ihren Baum gelegt. Eine dritte hat ein Briefchen von mir bekommen. Mein Partner hat auch Geschenke von mir bekommen. Und ich kann trotzdem Ende dieser Woche zum Chaos Communication Congress fahren. Und muss mich nicht einschränken. Brauche keine Geschenke, um mich zu versorgen. Jetzt sind Geschenke einfach immer schön. Und ich kann Menschen, die sich über meinen Besitz und ob ich ihn haben sollte auslassen, sagen, dass sie anmaßend und grenzüberschreitend sind. Mit Kraft in Brust und Bauch. Ohne Zucken.

Deshalb kann er weg. Der Oktopus.
Wenn jemand guckt, um zu prüfen, ob er noch da ist und wir es überhaupt wert waren, können wir ja sehen, wie es um Kraft und Zucken bestellt ist.

Grenzen, Limits, Möglichkeiten

Was ich vergessen hatte, war, dass unser Zug in unserer Herkunftsstadt halten würde.
Und dass sich mit dem Öffnen der Waggontüren die Zeit zurückdrehen würde. Dass alles sein würde wie vorher, als wäre das wie Normalität nun einmal funktioniert. You never know anything. Alles ist immer möglich.

Zum Glück.
Es war möglich, stützenden Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Veränderungen zu suchen und zu finden. Angst zu fühlen. Traurigkeit zu fühlen. Fremdheit zu fühlen. Vermissen zu fühlen. Verrat wahrzunehmen. Und weiterhin einen festen Stand in mir selbst zu haben. Zu sein und zu bleiben und zu werden, wie ich sein will. Belastbar. Konfrontierbar. Berührbar. Kontaktierbar.

20 Jahre später ergibt diese komische Therapie-Übung mit den Seilen, die man vor sich auf den Boden legen sollte, Sinn. Endlich kapiere ich: Das ist gemeint – Die Möglichkeit, dass da nicht nur die Dinge möglich sind, die ich so gut kenne, dass ich sie in aller Gründlichkeit fürchten und vermeiden kann, sondern auch Dinge, die ich noch gar nicht oder nur vage kenne. Und dass es etwas gibt, das ziemlich genau und deutlich aufzeigt, wo das eine anfängt und das andere aufhört: Grenzen.
Und nicht: Limits.

Ich weiß, dass viele Menschen diese Worte synonym verwenden, doch please hold the line – Ich habe einen Punkt. Einen wichtigen.
Denn für viele komplex traumatisierte Menschen gibt es so etwas wie Grenzen des Möglichen nicht – es gibt viel mehr points of no return. Eskalationsstufen, die mit Bewusstlosigkeit enden. Mit Dissoziation, mit Betäubung, mit Meltdown, Shutdown, Überdosis, Suizidversuch, reale Todesnähe.
Die Grenze, die Menschen in chronisch toxischem Stress permanent (zu) managen (glauben) ist die zwischen Leben und Tod. Und das ist ein Limit. Da geht es um ein Kontingent, das irgendwann einfach aufgebraucht ist. Nicht um Möglichkeiten.

Dieser Umstand ist es, der Helfenden, Begleitenden und manchmal auch Behandelnden schwer einsichtig ist. Vor allem, wenn die Gewalt, die Traumatisierung, das traumatisierende Umfeld nicht mehr besteht. Und wenn da doch Anteile sind, die den blauen Himmel und die bunten Schmetterlinge so toll finden können. Und eh viel tolle Alltagsstabilität da ist und tralla la.

Gerade Alltagsstabilität ist für viele Viele so lange ein Thema von Limits, weil sie nicht mit Grenzen aufgewachsen sind. Man kann nur sehen, was man kennt und auch Vorstellungen nur von dem entwickeln, was man schon einmal erfahren hat.
Deshalb war diese Übung damals vor 20 Jahren für mich auch ziemlicher Käse. Wie um alles in der Welt hätte ich diesen doppelten Geistes-Rittberger hinkriegen sollen? Erstmal die Abstraktion vom Seil auf dem Boden vor meinen Füßen hin zu dem, was berührt wird, wenn mir was im Leben passiert und von mir eingeordnet werden muss. Was ich damals ja kaum mitgekriegt habe. Und als ich es mitgekriegt habe, nicht einordnen konnte, weil meine Affektverarbeitung gestört ist und ich außer den Grundemotionen keins meiner Gefühle ohne aktives Nachdenken einordnen kann.

Und – nichts, kein einziger Aspekt in meinem damaligen Leben hatte nichts mit Limits zu tun. Ich hatte menschlichen Kontakt nach Stundenlimit – Therapie, Betreuung, Lehrplanzeiten. Meine Unterkunft, meine allgemeine Versorgung, meine körperliche Integrität – alles hing davon ab, wie weit ich meine Limits ausstreichen konnte. Es musste immer genug sein, um allen, die (ihre Arbeitskraft und -zeit) in mich investiert haben, mit Erfolgen bei der Stange zu halten, weil es so schwer, so herausfordernd war, mit mir klarzukommen. Und gleichzeitig genug, um jenen, die mir diese Räume zu nutzen gewährt haben, den grenzenlosen Zugriff auf meinen Körper und meinen Geist zu überlassen.

Also. Ja.
Wie hätte ich das früher verstehen können. Gar nicht.
Vielleicht war selbst dieser Moment im Zug ein Glückstreffer?
Oder ein erster Treffer? Wie Babys erster Schritt nach viel Hochziehen und Umfallen, komisch Weitermurksen und Wackeln und plötzlich, endlich, haben sich die neuronalen Netzwerke passend gekabelt und es klappt immer wieder?
Oder hab ichs schon ganz lange und es ist mir jetzt endlich auch selbst mal aufgefallen?

Alles ist immer möglich.

die Fragen und die Antworten

„When I thought I know the answers, they changed the questions.“ Das stand auf einer Karte, die mir eine Therapeutin geschenkt hat. Da war ich fast 18 und hatte außer der Nische im Doppelzimmer der Ballerburg keinerlei Bezugspunkte. Ich reagierte beliebig, verstand nicht, wieso sie diese Karte angemessen fand, wusste nicht, was sie mir damit sagen will. War mir allerdings sehr sicher darüber, dass sie mich weder aufheiterte noch bei etwas half. In dem Zusammenhang war die Karte vielleicht eine Manifestation dessen, was dieser therapeutische Kontakt letztlich war: Unnütz, zynisch, pseudo-nah.

Neulich dachte ich wieder an die Karte.
Es gab eine außerordentlich großzügige Spende für „Viele Leben“, meine Podcastinterviewreihe, in der ich mit Vielen spreche, die ein besonderes Thema haben. Weil ich für meine Arbeit daran bezahlt werden möchte, produziere ich immer erst dann eine Ausgabe, wenn sie finanziert ist. Die Interviews mache ich, wenn ich kann. Ich bin sehr frei in dieser Arbeit und froh, dass weder Zeitdruck noch die Ansprüche Dritter definierende Größen sind.
Doch ich denke auch über Sympathie nach und darüber, ob es nicht besser für das Projekt wäre, würde ich einfach nur im Hintergrund rummachen und jemand anderes stellt es nach außen dar. Oder wenn ich statt eines Podcasts ein Buch daraus mache. Oder wenn ich es ganz lasse.

Ich dachte an diese dusslige Karte, weil mir auffiel, dass ich selbst die Fragen ändere, sobald ich Antworten habe. Und schlimmer noch: Wenn es die richtigen Antworten sind.

In meiner inneren Traumalogik kann es nicht sein, dass ich etwas richtig mache. Oder wenigstens prinzipiell richtig. Sobald ich etwas mache und nichts Schlimmes passiert, stimmt was nicht. Und wenn mir nicht selbst auffällt, was nicht stimmt, dann fange ich an danach zu suchen. Und immer immer immer finde ich mich selber. Ich stimme nicht. Ich bin der Fehler in dem Ganzen. Nicht [beliebiges Attribut einfügen] genug. Nie. Punktum.

Dinge machen, ist gruselig.
Ich weiß das und mache sie in der Regel trotzdem. Manche Menschen finden das gut, den meisten ist es egal. Es ist für mich selbst ein riesen Ding, denn es gibt dieses „trotzdem“. Ich mache die Dinge nicht einfach, sondern mache sie trotzdem. So sind es immer zwei Dinge, die ich da mache.
Wenn man etwas trotzdem macht, dann muss man die ganze Zeit gleichzeitig gegen die eigene Vermeidung, den eigenen Selbsterhaltungstrieb ankämpfen. Man muss ihn niederdrücken, weil man sonst keine Dinge machen kann. Wenn mir das leicht fällt, bedeutet es in meinem Fall immer, dass ich umfassend dissoziiere, während ich es mache. Ich mache die Dinge wie und als jemand, die_r dieses „trotzdem“ nicht mitmacht. Ich mache meine Anstrengungen als Einsmensch für mich selbst unsichtbar, unspürbar, pseudo-weg. Wann immer etwas unsichtbar wird, verliert es Relevanz. Bietet keinen Anlass mehr beachtet und geprüft zu werden. Ich vernachlässige also etwas, das eigentlich von großer Relevanz für mein Überleben ist und das ist dann doch einigermaßen ungünstig. Also, wenn man leben möchte.

„Viele Leben“ habe ich angefangen, weil ich die Realitätsbezüge in der Außendarstellung von Menschen, die sich als Viele erleben, vermisse. Meine Frage ist: „Welche Leben(sthemen) haben Menschen mit (p)DIS?“
und nicht „Wie sollten die Lebensthemen von Menschen mit (p)DIS rübergebracht werden?“. Ich hatte mir sogar eine Antwort dazu überlegt, warum ich mich auf die Inhalte konzentriere und weniger auf die massengerechte Darreichung. – Ich bin einfach kein super sympathisches Massenmäuschen. Ich bin ein Sachstandsmonolith – und das ist okay so.
Ich hatte also nicht nur Antworten auf meine eigenen Fragen, sondern auch noch Antworten, die anerkennend und wertschätzend mir selbst gegenüber waren.

Da arbeite ich mich jetzt wieder hin.
Und im September gibts die 4. Ausgabe „Viele Leben“.

gute Chancen auf Zahnshit

Vielleicht ist es ein Zahn. Unbemerkt verstorben in meinem Mund, entzündet meinen Gesichtsnerv reizend. Totenruhe neu interpretiert. Lang wirke das Modernde.

Gegen 1 kann ich es nicht mehr aushalten. Mein Nerv ist ruhig, der Zahn nicht. Mir ist schwindelig vom Schmerzmittel, es ist Montagnacht, mein Inneres summt. Am Sonntagmorgen hatte ich meine Sachen schon gepackt. Mein Magen, mein Bauch, mein Kopf, mein Gesicht, alles tat weh. Und dann nicht mehr so stark. Wir fuhren nicht ins Krankenhaus, sondern tranken lauwarmen Kamillentee zu zimmerwarmem Haferbrei. Schauten einen Film von 1985 und schliefen mitten am Tag 6 Stunden durch.
Die Wahrscheinlichkeit am Wochenende an einen Bereitschaftsarzt zu geraten, der die Gesamtlage falsch einschätzt, erschien zu groß. Mein Partner, dessen heftiges Bluthusten aus der kranken Lunge, initial für „aus dem Mund kommend“ gehalten wurde und ich, die_r bei egal welchem Notfall auch immer eine Psychodiagnose mit auf dem Zettel stehen hat, haben damit so unsere Erfahrungen. Und es ging gut.
Bis 1 Uhr morgens.

Ich begann nach dem zahnärztlichen Notdienst zu suchen. Ging runter, um meinen Partner zu wecken. Der war noch wach und schnell genauso verwirrt wie ich. Denn so einfach ist das mit der notfallmäßigen Versorgung mitten in der Nacht nicht. Schon gar nicht für Zähne, das offenbar allgemein zu vernachlässigende Spezialorgan des menschlichen Körpers. So kam es, dass wir um dreiviertel 2 vor einer dunklen Praxis standen und lernten, dass der Notdienst, der von Samstag um 8 Uhr bis Montag 8 Uhr zuständig war, in Wahrheit nur am Samstag von 10 bis 12 Uhr Patient_innen behandelte. Wie auch die Praxis, die für die Stadt Notdienst hatte.
Wir lernten außerdem, dass „Zähne nachts immer schwierig ist“. Und dass uns die 116 117 nur bestätigen konnte, dass eine Vorstellung beim Arzt dringlich angeraten sei – aber niemanden in ganz Niedersachsen vermitteln konnte.

Knapp – ganz ganz knapp – wirklich um Haaresbreite – entging ich einer wutbürgerlichen Empörungsentladung. Mein Partner blieb ruhig, konnte nicht glauben, dass das jetzt wirklich nicht zu lösen sei. Er googelte für Bremen, ich dachte an die anstehende Krankenhausreform, die die Versorgung von kranken Menschen verbessern soll, indem weniger Versorgungsangebot gemacht wird. Dann googelte er für Nordrheinwestfalen und ich nach dem Gefahrenpotenzial von dem Medikamentenmix, den ich bis zum nächsten Morgen noch einnehmen könnte.
Ich entschied, dass ich eine akute Magenruptur schon rechtzeitig mitkriegen und Ohnmachten, Leber- und Nierenüberbelastung überleben würde. Wir fuhren also nach Hause, um die nächsten 3 Stunden, bis wir uns auf den Weg zu meiner Zahnärztin machen könnten, zu überstehen.

Tatsächlich bin ich eingeschlafen. Ein Bett mit verstellbarem Kopfteil – Gold.
Als ich den Lattenrost damals gekauft habe, hatte ich an Schmerztage gedacht, an denen ich vom Bett aus arbeiten muss – nicht an Erstickungsängste und die Notwendigkeit, nicht so viel Blutdruck auf meine Zähne auszuüben. Trotzdem – gut, dass ich ihn habe. Er hat auch in dieser Situation sehr geholfen.

5 Uhr morgens fuhren wir los. Um 7 öffnet die Praxis. 120 km Hoppellandstraße, Bundesstraße, Autobahn. Erst im Dunklen, dann im Dunkelblauen, bald im Hellgrauen, besprenkelt mit immer mehr Beleuchtungspunkten. Ich strenge mich an, mit meinem Partner zu sprechen. Er soll nicht müde werden, sich gut mit mir fühlen. Ich möchte, dass er merkt, dass er das nicht wirklich umsonst macht, obwohl er es nicht-autistisch betrachtet, komplett umsonst macht. Denn natürlich hätten wir auch bis um 7 schlafen und dann wieder zu der Dorfpraxis fahren können, die wir in 10 Minuten mit dem Auto erreichen. Aber um 7 Uhr morgens hat auch meine Zahnärztin auf. Die weiß, dass ich eine konkrete Ansprache brauche, wenn ich Schmerzen habe, übernächtigt bin und Medikamente intus habe. Die weiß, dass sie mir schon mit Kleinigkeiten sofort Todesangst macht, die ganz real sind, in meinem Körper wirken und die Behandlung traumatisch werden lassen kann. Die weiß, dass ich bei ihr bin, weil ihre Behandlung in meinen Abwägungen darüber, was der effizienteste und am wenigsten belastende Weg ist, das Problem, das Unwohlsein, die Krankheit anzugehen.

Abwägungen wie diese sind vor allem in dem Umfang für nicht-autistische, nicht traumatisierte, nicht chronisch kranke Menschen oft nicht 1 zu 1 nachvollziehbar. Und ich habe das internalisiert. Meine Grundannahme in solchen Situationen ist bis heute: Ich stelle mich an, mache mich besonders, ich mache unnötige Umstände, ich überstrapaziere die Güte anderer Menschen, ich muss entsprechend ganz besonders dankbar, lieb, demütig sein. Alles organisieren, alles fürs Wohlbefinden derer tun, die mir helfen. Das ist das Mindeste und in Wahrheit – ganz unter uns – nicht im Ansatz genug.
Und diese Grundannahme ist generell. Betrifft also auch meinen Partner, meine Freund_innen, meine Therapeutin – alle. Immer. Und weil ich weiß, dass manche von ihnen davon verletzt sind, weil sie ja aus ihrer Sicht immer nur Gutes für mich wollen und vielleicht auch nie (bewusst) so über mich gedacht haben, habe ich auch ein schlechtes Gewissen darüber. Und weiß gleichzeitig doch sehr sicher: Diese Grundannahme ist so wenig falsch wie richtig.
Leider. Es ist einfach verflixt mit mir, meiner komischen Merkwürdigkeit m Autismus und dieser Traumasache. Das Generelle sitzt nie da, wo die stets Generalisierenden es erwarten und das Konkrete bestimmt das Konkretisierende, nämlich mich. Schwierig schwierig.

Zum Glück habe ich schon viele selbstbestimmte Entscheidungen treffen und absichern können.
Meine Freundin K. teilt Räume ihres Wohnraums mit mir, wenn ich in der Stadt bin. So kann ich sie an Therapietagen besuchen, bei ihr arbeiten und übernachten, wenn ich für die Arbeit noch weiter wegfahren muss. Und wir, mein Partner und ich können bei ihr auf ein Bett fallen, wenn wir um 7 Uhr morgens nach 2 Stunden Fahrt erfahren, dass wir erst um 11 in die Praxis können.
Nicht aufzuwiegen dieses doppelte eternal Glücksgold in life.

Der Termin selbst bringt nur einen Verdacht, noch keine ganz feste Sicherheit darüber, was den Nerv initial gereizt hat. Aber die Chancen stehen gut auf Zahnshit.
Mir wäre das ganz lieb, denn ich habe prinzipiell lieber lösbare Probleme bekannter Größe, als kompliziert bis unlösbare Probleme unbekannter Größe.
Nun beginnen wir also eine Antibiose und haben das Ziehen der Nervleiche im Zahn geplant.
Derweil betrachte ich im Stillen den Spaten, mit dem ich auch diesen Zyklus für meine Erschwangerung begraben muss und versuche meine Enttäuschung mit Rationalisierung zu lindern. Es soll einfach auch diesmal nicht sein. Irgendwas Gutes findet sich schon noch daran. Irgendwie. Bald. Hoffentlich.
Das wär schön.

die Bewerbung

Spät am Abend sitze ich am Computer und schreibe eine Bewerbung. Kein neuer Job. Ein Assistenzhund.
Nun also doch. Vielleicht. Wenn.
Und wenn.

Es sind klassische Hundevermittlungsfragen, die der Verein stellt. Wer, wie, wo? Was sind die Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf das Tier? Und die Frage, wie meine Krankheit denn aussieht.
Es wühlt mich auf. Macht mich unsicher.
Ich schreibe auf wie ich wohne und das Bewusstsein um meinen Platzreichtum umspült mich mit Scham. Es geht mir so gut und ich will noch mehr. Meine Lebensumstände sind so stabil, so gesichert und gestützt und was will ich: etwas anderes.

Meine Krankheit ist chronisch, deshalb begreife ich sie als Behinderung.
Meine Traumafolgestörung ergibt sich aus psychischen wie physischen Anpassungen an für mich ungünstige Lebensumstände. Wieder spüre ich Scham und wie viel Anstrengung es mich kostet, trotzdem weiterzuschreiben. Ich weiß inzwischen sehr sicher, dass meine Symptomatik nicht unüberwindbar sein muss, um als solche anerkannt zu werden. Weiß, dass ich, um als Mensch mit Behinderung verstanden und anerkannt zu werden, nicht in Asche und Ohnmacht leben muss. Es darf mir gut gehen. Ich darf gut eingepackt in Fürsorge, Unterstützung und Freiheiten leben und gleichzeitig anerkennen, dass es Punkte gibt, die davon für mich ganz persönlich einfach nicht berührt sind.
Aber diese Punkte sind mir peinlich. Sie berühren Aspekte meines Seins und Erlebens, die schon mein ganzes Leben eine Rolle spielen und konstant Teil der konflikthaften Interaktion mit anderen Menschen sind.
Seit ein paar Wochen spulen sich diese Erfahrungen in einer ständigen Wiederholung in mir ab. Egal, was ich mache, ich nehme die innere Abwertung wahr und den Druck, den sie aufbaut. Nach 15 Jahren, in denen ich mich über meinen Hund daraus orientieren, versichern und beruhigen konnte, baut sich der Strudel wieder auf und ich gerate in die gleichen kommunikativen Momente der Ohnmacht und Starre wie vorher. Es kostet unfassbar viel Kraft, trotzdem weiterzumachen. Mich trotzdem zu ver- und umsorgen. Mich trotzdem zu behandeln, als wäre ich es wert. Mit anderen Menschen zu sprechen, als wäre ich es wert. Mir etwas vorzunehmen und zu versuchen, als sei es nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, bescheuert, abstoßend oder unsinnig, gerade, weil ich es tue. Mich nach Misserfolgen oder Fehlern nicht massiv zu verletzen oder meinen Suizid als unausweichlich notwendig einzuschätzen.

Ich weiß, was da los ist. Weiß, dass ich das in der Therapie zum Thema machen muss.
Es ist in dieser Lage keine Lösung, einen Assistenzhund zu haben. Aber ein Umgang. Ein anderer als Selbstverletzung, Vermeidung oder ein mentaler Zehnkampf jeden Tag, an dem es keine Momente der Regulierung, keine Augenblicke allgemeiner Okayheit gibt. Es ist ein Umgang, der mir in den letzten Jahren ermöglicht hat, hier herzukommen. In eine stabile fürsorgliche Partner_innenschaft, in eine Arbeitsstelle, die mich fördert und auf mein autistisches Erleben zugeschnitten ist. In ein therapeutisches Momentum, in dem für mich real annehmbar ist, dass ich an den Dingen arbeiten kann, die mich belasten. In eine Situation, in der ein Assistenzhund nicht nur gut arbeiten, sondern auch gut leben kann.

Diese Bewerbung ist nur ein erster Schritt für ein erstes Gespräch.
Dieses Mal habe ich nicht die Zeit für eine Selbstausbildung. Und dieses Mal möchte ich einen Hund, der weniger reizoffen ist, als Sookie es war. Ich brauche jetzt keinen Hund mehr, um zu lernen, wann Umstände wirklich aufregend und möglicherweise überfordernd sind. Heute brauche ich einen Hund, der mich in meinem Bedürfnis nach Beruhigung und Versicherung unterstützt. Ich denke also über eine andere Rasse nach und eine entsprechende Zucht.
Das ganze Vorhaben wird eine Zeit dauern. Jemand anderes wird die Ausbildung für mich übernehmen und ich die süßeste und härteste Zeit mit diesem Hund nicht miterleben.
Ich muss mir noch genau überlegen, ob ich das wirklich so möchte oder als etwas akzeptiere, das anders einfach nicht geht.

Aber nichts machen, weil ich unsicher bin, ist genau das, was ich jetzt nicht machen will.
Gerade jetzt ist es wichtig, mir keine Traumawahrheiten zu bestätigen.

das Wiedersehen

21 Jahre und eine Handvoll Zeitspaghetti.
So lange haben wir uns nicht gesehen. Wobei wir uns nie zuvor gesehen haben.
Und doch standen wir da am Bahnhof in den Armen der anderen, wie man das am Bahnhof oft sieht. Wenn der Lauf der Dinge zweier Menschen zu einem gemeinsamen Strom wird und sie sich in wirbelnd strudelnden Gefühlen halten. So standen wir auch da. Z.s Freundin C. und ich.

Wir waren Klapsfreundinnen mit Fastaussicht auf Draußenfreund_innenschaft, aber dann passierte alles Aber und wir verloren uns. Bis wir uns wiederfanden, aber nicht halten konnten. Bis wir es dann endlich doch konnten.

Ich lebe mit dem Bild von mir als fürchterlicher Teenager. Eingebildet, rücksichtslos, übergeschnappt, gemeingefährlich. Sehr unreif. Sehr affektgetrieben. Unsozial im Allgemeinen, berechnend und kalt im Speziellen. Im Grunde so, wie ich mich bis heute fürchte und bekämpfe zu sein oder zu wirken.
Dass wir bis auf J. und C. keine Freund_innen hatten und auch in der Kindheit für ein halbes Jahr nur eine L. eine Rolle spielte, war für mich immer darin begründet. Heute kann ich diese Freund_innen alle als mir ähnlich neurodivergent und im familiären Bereich verletzt erkennen.
Kommen ein Auti und ein_e ADHSler_in in ’ne Bar, gehen sie mit einer Start-up-Idee oder einem Heiratstermin wieder raus – das klingt nach einem Gag, ist aber keiner. Nicht wirklich. In meinem Leben ist das der rote Faden für fast alle meine Kontakte und Freund_innenschaften. Schade, dass ich das erst mit 30 gelernt und verstanden habe. Und mir erst heute so wirklich richtig anzunehmen traue. Schade auch, weil ich mit meinem Bild, meiner Erzählung von mir auch immer meine damaligen Freund_innen schlecht gedacht habe. Wie bekloppt, wie grundkrank, wie niedrig muss ein Selbstbewusstsein sein, um gerne mit mir Zeit verbracht zu haben – das tut sich doch niemand mit Rückgrat an, niemand, dem alle Uhren richtig ticken.

In meinem Lauf der Dinge ist das Bedauern darüber drin. So umarmte ich C. mit einer Entschuldigung in Gedanken und dem Gefühl des „Kurz vorm Auseinanderfallens“ von Z., die ob der Umstände des Wiedersehens so gut wie gar nicht klarkam. Ihre Freundin, sah noch aus wie ihre Freundin, war – ist – ihre Freundin, aber nicht so. Die 22 Jahre mit Zeitspaghettirändern haben sie groß und erwachsen gemacht. Zeitliche Orientierung mit dem Vorschlaghammer.

Wir haben 3 Stunden durchgehend gesprochen. Abriss Biografie seit 2002, Abriss Therapieweg bis heute. Ist heute alles gut? Besser? Anders? Wie gewollt? Wann hat man angefangen zu wollen? Will man müssen oder nicht? Was ist jetzt wichtig? Kurzer Check, ob wir einander vergleichen – gegenseitige Versicherung, dass diese Phase jeweils vorbei ist. Erleichterung. Gut fühlen. Eis essen. Verabschieden, mit Ideen, wie wir uns öfter sehen können.

Ich glaube, C. ist heute 36. Ich 37. Wir hatten die gleiche Psychologin in der Klinik.
Und heute begegnen wir uns in fast verwundertem Stolz darüber, dass wir überhaupt noch leben. Als hätten wir nur Glück gehabt, obwohl wir beide wissen, dass wir hart dafür arbeiten mussten und diese Arbeit nicht als „für immer fertig getan“ betrachten können.

Im Zug merke ich erst, wie voll und wie vermischt ich bin und was ich aufschreiben muss, damit ich es nicht verliere. Meine Therapeutin kriegt es ab. Ich hoffe noch im Rahmen und spüre der Abwesenheit von Angst dabei nach.
Es hat sich wirklich unfassbar viel verändert. Seit 2002, aber auch seit 2012 und 2015 und 2017 und 2020 …