Fundstücke #88

Am Abend kam noch eine E-Mail. Arbeit. Am Wochenende. Klar.
Ich arbeite 30 Stunden im Verlag, unzählige weitere selbstständig. Irgendwie ist immer irgendwas. Pause, Ruhe, den Kopf voller Raum, damit meine Gedanken sich auch mal ausstrecken und Radschlag machen können, die hab ich seit Februar eigentlich nicht mehr gehabt. Nicht so, dass ich keine Angst davor hatte, dass meine Gedanken in Traumazeugs stapfen oder Erinnerungslawinen freitreten, die ich nicht vor meinem Schreibtisch aufhalten kann.

Erreichbar zu sein ist mir wichtig, ich empfinde das als Teil meiner Aufgabe, weil ich es oft mit Menschen zu tun habe, die noch nicht wissen, wie Buchsatz funktioniert und was er bedeutet. Oder, was ich umsetzen kann und was nicht. Welche Effekte auf Fotos welche Grundlage haben. Dass man nicht alle großen schweren Texte mal eben so in Leichte Sprache schreiben kann.
Ich finde es wichtig, da zu sein. Sicherheit durch Wissen und Verstehen zu vermitteln. Ich nehme die Projektbabys anderer Leute sehr ernst und zu dieser Ernsthaftigkeit gehört ein sachorientierter Umgang für mich. In der Regel kann ich mir den emotionalen Anteil, die persönliche Bedeutung von Projekten für die Menschen herleiten. Und auch, wenn ich darin oft nicht sehr konkret werden kann, so weiß ich doch immer: Es soll gelingen. Es soll nicht weh tun, es soll weder finanziell noch persönlich Grenzen sprengen. Es soll einfach klappen, mit allem, was verfügbar ist.
Das ist meine Insel. Meine Basis. Vor allem, wenn ich es mit Menschen zu tun habe, die ich nicht gut lesen kann und die meine Sachorientierung mit Desinteresse oder wenig geteilter Hingabe für sich übersetzen. Das passiert selten, aber oft immer dauernd als ewig dräuende Wolke manchmal eben schon. Manchmal bin ich halt die einzige Person, die noch Kapazitäten hat oder die, die gerade noch so bezahlbar ist.

In einer E-Mail einige Tage davor ging es darum, mich in einem Projekt zu ersetzen, in das ich einige Monate Vorarbeit gesteckt habe. Nach 65 unbezahlten Überstunden und viel unbeantwortetem Kommunikationsproblem, ein Hammer. Eine Kränkung auch, aber doch noch haltbar. Es ist nicht mein Projekt, nicht meine Entscheidung. Ich bin dafür nicht wichtig – die Arbeit dafür ist wichtig und wenn sie jemand anderes macht, dann ist das gut fürs Projekt und also für die Leute. Und das ist doch schön.

Nur … die Ungerechtigkeit. Die nicht entlohnte Arbeit, die ungesehene (Über-)Anstrengung, die Energie, die es mich kostet, mich aus mir selbst heraus in dem Kontakt und der Arbeit zu orientieren und effizient zu werken.
Und dann diese Mail am Abend. Die noch nicht einmal an mich gerichtet war, sondern andere in dem Projekt. In der auf eine Weise über mich geschrieben wurde, die meine professionelle Haltung untergrub. Sinngemäß stand dort, dass ich zu emotional für weitere, evtl. sachlich notwendige Interaktion sei, nachdem ich einen dann unnötig gewordenen Termin, der ebenfalls unbezahlt und in meiner Freizeit hätte stattfinden sollen, verweigert habe.
Der Klassiker. Empathie für die einen – anmaßende Übergriffigkeit für die anderen. Mich zum Beispiel. Entmachtend ist das. Erniedrigend. Und wozu? Ich verstehe es nicht. Merke aber deutlich: Es tut mir weh und ist unnötig, weil sinnlos in Bezug auf das, was wir als Menschen miteinander zu tun haben.

Es läuft nur selten so schlecht in meiner Arbeit. Aber wenn, dann fast immer ziemlich genau so schlecht.
Geldminus, Kraftminus, ein Minus in dem, was es braucht, um allen Traumawahrheiten, die im Hintergrund ihre vollen Bingokarten hochheben, die Realität entgegensetzen zu können.
Noch nie wurde ich einfach nur so ersetzt oder geghostet. Wegen „gefällt nicht“ oder „Finanzierung fehlt“ oder „grundsätzliche Projektänderung“. Wenn dann, weil es sozial nicht angenehm genug war. Nicht genug verflauscht, dass bestimmte Dinge einfach nicht gehen; nicht schon im Vertrag festgelegt, dass jede Arbeitsstunde bezahlt wird, nicht genug Smalltalk, nicht genug persönlich angenehme Interaktion insgesamt.
Ich bin ein_e okaye_r Arbeiter_in, aber es macht oft einfach nur bedingt Spaß, mit mir zu arbeiten. Und das macht viel aus. Unter anderem hebt es die Schwelle, mich in Teams einzubinden. Mir Brücken in Smalltalk zu bauen. Gleichzeitig senkt es die Schwelle, mich zur Ausführungsmaschine zu degradieren. Also zu vergessen, dass ich Grenzen und Gefühle habe oder meine Grenzen und Gefühle als Störung zu behandeln, nicht respektvoll ist.

Dass ich meine Auftraggeber_innen seit der Pandemie praktisch nie sehe und viel Kommunikation per E-Mail stattfindet, trägt leider auch nicht dazu bei, mich als Mensch wie andere auch darzustellen.
Mir kommt die schriftliche Kommunikation entgegen, weil der Informationsaustausch für mich leichter erkennbar ist, als im Gespräch. Anderen Menschen ist das oft fad und anstrengend. Sie wollen und brauchen das Reizfeuerwerk des direkten Kontaktes. Spaß first, Information second.
Es ist einfach vertrackt.

Aber! Mit dem übertriebenen Elan der Überkompensation und nur genug Willen zur Zugehörigkeit, kriege ich das in der Regel dann doch mehr oder weniger hin. Meistens jedenfalls.
Meine Auftraggeber_innen wissen, dass ich Autismus und Shit kompensiere. Jedoch ist den wenigsten klar, was das genau bedeutet. Dass es genau das bedeutet – ich ballere ununterbrochen alle meine Energien aus allen Rohren nur für sie und gebe dafür einfach viel mehr als nur meine Lebenszeit her – hat für die meisten Leute gar nichts mit meinem Autismus zu tun, sondern mit meinem Charakter. Ich bin halt nett und kann nicht Nein sagen. Geringer Selbstwert. Großes Herz. Ba dumm tss.

Dabei bin ich einfach konsequent. Wenn mich jemand mit etwas beauftragt, dann führe ich den Auftrag aus. Nach bestem Wissen und Gewissen, aller Kraft, allem, was ich geben kann. Alles andere würde für mich keinen Sinn ergeben. Man bekommt keinen Arbeitsauftrag, in dem es heißt: „Machen Sie mal so lala.“ Das Ende jedes Auftrages hängt an der Zufriedenheit der Auftraggebenden und zu erraten herauszufinden, was sie zufrieden macht, ist Kern jeder Arbeit im Dienstleistungssektor. Das ist in der Gestaltung und Textarbeit nicht einen Deut anders als in der Gastro oder in der Produktion anderer Güter.
Und ich bin eine Person, die nicht gut im Dechiffrieren sozialer Hinweise ist. Man muss mir sagen, was zufrieden macht. Man muss mir sagen, was man konkret von mir erwartet. Verstehen, dass meine Vorschläge tatsächlich immer nur Vorschläge sind. Glauben, dass ich wirklich und echt nie mehr sagen will, als ich sage bzw. schreibe.

Vermutlich unterschätze ich, wie viel Anstrengung es für andere Menschen bedeutet, sich in diesen Punkten an mich anzupassen. Oder sich dem wenigstens theoretisch anzunähern.
Und vermutlich ist meine Prämisse auch einfach falsch. Warum sollten sich andere Menschen, um einen entspannten, befriedigenden Kontakt mit mir bemühen? Das mache ich ja schon.

die Absichten der anderen

Vor kurzem wurde die Frage an mich gerichtet: „Was brauchen Betroffene (organisierter, Ritueller) Gewalt, um sich sicher zu fühlen?“
Sie erschien mir banal und ich antwortete sinngemäß, dass es Sicherheit braucht. Wenn man Angst hat, braucht man Sicherheit.
Das Gespräch ging noch lange und am Ende fragte ich mich, ob die fragende Seite selbst zu unsicher war, um anderen Sicherheit zu bieten. Im Nachhinein wurde mir klar, dass es bei der Frage im Kern nicht um die Bedarfe gewaltbetroffener Menschen ging, sondern um Dinge, die nicht ausgesprochen wurden. Mein Punkt loszulassen und aus dem Kontakt zu gehen – um nicht noch mehr Angst zu bekommen.

Es war klar, es ging um etwas anderes und mir war klar, dass ich es nicht erraten können würde. Zu wenige Informationen, zu wenig naher Kontakt, zu wenig Relevanz meiner Sicht auf die Dinge, um darauf zu beharren, sie gesagt zu bekommen.
Und – die Kluft.

Die gleiche Kluft, mit der ich mich in den letzten Tagen auch befasse.
Ich bin verbundener mit einem jugendlichen Funktionssystem in mir. Mein Bild von meinem jugendlichen Lebensalltag wird umfassender. Meine Möglichkeiten, die eigene kindjugendliche Perspektive auf die Gewalt in der Herkunftsfamilie zu erinnern, vermehren sich.
Es sind existenzielle Leiden und Fragen, auf die ich auch heute keine Antwort finde und kaum Linderung einbringen kann. Und es sind schwerwiegende Entscheidungen, die in einer Einsamkeit getroffen wurden, die ich zuweilen passender als „Isolation“ bezeichnen muss.

Denn schon früher konnten wir die Absichten anderer Menschen nicht erkennen. Ein autistisches Feature. Für mich das Element, das meinen Autismus zu einer sozialen Behinderung macht.
Denn wenn man nichts voraussetzen kann, ist immer alles möglich.
Im Guten wie im Schlechten.

Menschen können wirklich sehr nett, sehr liebevoll, sehr fürsorglich, sehr hilfsbereit sein – vor allem, wenn man sie selbst ohne Vorannahmen über sie anspricht und im Gespräch alles erzählen lässt, was sie erzählen wollen. Die allermeisten Menschen fühlen sich wohl, wenn sie mir ihr Bild von sich gestalten können und je wohler sie sich fühlen, desto sicherer fühle ich mich im Kontakt mit ihnen.
Und da ist die Falle.
Denn manche Menschen lügen. Und obwohl ich weiß, dass es Menschen gibt, die das tun, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es merke, gering. Das hat nichts mit Vertrauensseligkeit zu tun oder Naivität oder Dummheit. Es hat damit zu tun, dass die Lüge ein Handeln mit einer Absicht ist, die ich nicht wissen kann, wenn ich der Person weder nah noch verbunden, noch ähnlich bin, was den Status angeht. Niemand kann das – aber die meisten Menschen können sich intuitiv in andere Menschen hineinversetzen und Annahmen machen, mit denen sie sich sicher fühlen, weil sie in der Regel zutreffen oder (in Bezug auf die Sache) irrelevant sind. Die meisten Menschen erkennen sich selbst in anderen Menschen. Das ist der Trick, das Ding, die Fähigkeit. Ich erkenne mich oft nicht einmal in mir selbst.

So bleiben mir im Kontakt mit anderen Menschen nur zwei Optionen:
Entweder es ist immer wahr (richtig), was andere Menschen mir mitteilen oder es ist immer gelogen (falsch). Mit diesen Optionen habe ich mich schon als Kind befasst. Die grüne, mit Kunststoff überzogene Wäscheleine in der Hand, mit der ich mich erhängen wollte, nachdem mich meine einzige ~„Freundin“~ schon wieder belogen hatte, um mich vor anderen Kindern bloßzustellen. Nachdem ich meine Lehrerin damit enttäuscht hatte, nicht zu wissen, was sie von mir wollte, nachdem die Horterzieherin sich laut gefragt hat, ob ich denn nie mal richtig zuhöre, wenn sie etwas sagt. Während ich meine eigenen Eltern nie verstand, nie zufrieden machte.
Ich wusste einfach nie, was sie wollen und erst recht nicht warum.

Damals habe ich für mich entschieden, dass immer alles wahr ist, was andere Menschen mir sagen. Auch, weil das mit dem Erhängen nicht geklappt hat. Denn das wäre die Alternative gewesen: Menschen für immer meiden. Einfach nie wieder jemals mit irgendwem in Kontakt gehen. Nie wieder für immer. Auf ewig ganz allein sein. Solch ein Vorhaben lässt sich nur tot umsetzen.
Und das hatte nun einmal nicht geklappt. Und ich hatte Angst bekommen. Auch irgendwie nachvollziehbar.
Woher dann der Mut kam sich für ein Leben in Option „alles ist wahr“ zu entscheiden, weiß ich noch nicht. Vielleicht ging es auch nicht um Mut. Aber mutig erscheint es mir heute. Mutig und vielleicht nur möglich, weil ich bereits eine dissoziative Identitätsstruktur hatte.

Viele Menschen erwarten von mir, heute sehr misstrauisch zu sein. Auch, weil ich nicht vertraue. Für mich sind „Misstrauen“ und „Vertrauen“ aber kein Gegensatzpaar und ich bin nicht misstrauisch – ich bin absolut trauisch. Ich traue allen alles zu und kann mich in der Folge der Logik anderer Menschen einigermaßen anpassen.
Sie tun mir schreckliche Dinge an und begründen sie mit Lügen, die ich nicht durchschauen kann? – Sie haben Gründe, die schrecklichen Dinge ergeben Sinn, ich kann sie rationalisieren und zumindest so verpacken, dass ich handlungsfähig bleibe. Solange sie mir ihre Gründe sagen, kann ich mich in ihrer Logik sicher fühlen.
Sie sagen mir schöne Dinge und sind nett zu mir, belassen es aber bei mir, herauszufinden oder „einfach zu wissen“ wieso oder, genauer gesagt, mit welcher Absicht? – Stress pur. Angst, Unsicherheit, Unwohlsein.

Sobald ich keine äußere Wahrheit vermittelt bekomme, bin ich mit dem Nichtvorhandensein einer eigenen Wahrheit aufgrund von tausenden möglichen Wahrheiten konfrontiert. Und ich bin gezwungen zu raten. Oder viel zu fragen – was üblicherweise zur Folge hat, dass mich die Leute für dumm, naiv, ignorant, desinteressiert oder empathielos halten – oder außergewöhnlich einfühlsam und interessiert an ihnen. In jedem Fall sehen sie nicht, in was für einer prekären Situation ich bin. Wie anstrengend es für mich ist. Mit was für einem Ausmaß an Unsicherheit – und also praktisch grenzenloser Angst – ich gerade im Kontakt bin. Für mich gibt es in solchen Momenten keinerlei Sicherheiten und das ist der einzige Fakt, dessen ich mir sicher sein kann.

Meine Kompensation in solchen Momenten ist ein parallel zum Kontakt ablaufender Abgleichprozess. Denn ich kann zwar das Verhalten und die Absichten anderer Menschen nicht gut vorhersehen, aber ich bin gut in Mustererkennung. Einige Geschichten wiederholen sich – manchmal erkenne ich sie wieder und kann zeitgerecht reagieren. Zum Beispiel in der Situation am Anfang dieses Textes.

Ich denke außerdem viel über Gespräche nach und gehe dabei wie ein_e Forensiker_in vor. Logiken und Motivationen lassen sich in der Regel gut zurückverfolgen bzw. herleiten, wenn man das Ergebnis kennt. Im Nachhinein komme ich also oft noch dahinter, wer mir was warum erzählt hat und auch Lügen kann ich dann erkennen oder zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausschließen oder annehmen.

Ein weiterer kompensierender Akt ist die Dissoziation. Dieser ist allerdings nicht willkürlich von mir einsetzbar, sondern stellt sich ein, wenn ich erschöpft oder auch zusätzlich zu meiner „normalen Alltagsangst“ mit getriggertem Erinnern an traumatische Erfahrungen belastet bin.
An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass es nicht der Stress durch die Vielzahl an möglichen Wahrheiten ist, der die Dissoziation auslöst. Häufig ist es eher die Notwendigkeit oder der traumareaktiv von mir angenommene Zwang zur absoluten Wahrheit, obwohl ich keine Ahnung, Meinung, Idee, kein Wünschen, keinen Willen dazu habe. Da greifen Traumalogiken, die ich in dem Moment selbst nicht bemerke – weil sie ja sehr logisch sind und scheinbar zur (fehlinterpretieren) Situation passen.
Die Dissoziation greift in dem Moment, in dem ich Angst davor habe, der falschen Annahme zu folgen und damit andere Menschen zu enttäuschen, zu verletzen, zu beleidigen, zu kränken, zu irritieren … und also nicht zu bestätigen, zu erfreuen, zu befriedigen … auf, dass sie mich nicht zerstören wollen, sondern heil lassen. Vielleicht sogar okay finden. Kontakt zu und mit mir wollen.

Dieser Fokus – dieses Kreisen um die Absichten und Gefühle anderer Menschen ist typisch für komplex traumatisierte Menschen. Das Leben vieler Menschen hing und hängt davon ab, zu wissen, wann jene, die an ihnen zu Täter_innen werden, nicht zufrieden mit ihnen sind. Wann Gefahr droht, weil diese Menschen nicht bekommen, was sie wollen. Welche Fehler und Handlungen man besser lässt, weil sie gefährlich für eine_n sein könnten.

Ich habe, was das angeht, nie Glanzleistungen vollbracht und bin heute geteilter Meinung darüber. Denn einerseits weiß ich, dass die Gewalt an mir nichts mit meinem Verhalten und mir zu tun hatte, sondern mit den Entscheidungen, die die Täter_innen getroffen haben. Andererseits gibt es Erfahrungen, die für mich erst dann überhaupt nur eine Chance auf Logik durch forensische Spurensuche bekommen, wenn ich eine gewisse Kohärenz darin schaffe. Die Erinnerungen daran also zusammensetze und dann Stück für Stück auf Hinweise für die Motivationslage untersuche.

Das wiederum bedeutet für mich eine Unsicherheitslage. Ein ständiges Abwägen darüber, welche Erinnerungen wie valide sind und wovon in welcher Art verzerrt oder falsch sein könnten. Es bleibt immer das Risiko der Unterstellung, da ich natürlich die Perspektive der anderen Person substituiere. Ich lebe damit, dass meine eigene Geschichte, meine eigene Wahrheit über meine Erfahrungen und mich nur zu einem unbestimmbaren, niemals fest und eindeutig definierbaren Grad „wahr“ (richtig) ist.
Für mich ist das identisch mit meinem Alltagsgefühl im Kontakt mit anderen Menschen und dadurch – nicht immer und nie leicht – beruhigend. Es passt in mein Lebens- und Ichgefühl.

Das ist nicht toll und oft würde ich gerne mehr Sicherheit empfinden können. Ich würde auch gerne jemand sein, die_r sich versichern lassen kann von den Handlungen anderer Menschen, weil sie_r die guten Intentionen wahrnehmen kann.
Ich bin aber nicht so jemand. Ich muss es gesagt bekommen und nachvollziehen können. Sonst wird das nichts. Außer enttäuschend. Verwirrend. Belastend. Komisch.
Isolierend.

Weiterleben in andersneu

Nachdem ich den Partner vom Krankenhaus abgeholt hatte, begannen wir, den Tisch mit Medikamenten zu füllen. Haufenweise Schachteln, medizinisches Gerät und dessen Zubehör.
Dann kamen die Lebensdokumente dazu. Krankenkassenzettelage, Versicherungsbriefe. Irgendwann war etwas Steuerliches zu tun, der Tisch hats getragen.

In den vergangenen 4 Monaten konnte ich das Zimmer nicht betreten, ohne damit konfrontiert zu werden, was ihm passiert ist. Wie schlecht es ihm ging. Wie lebensgefährlich es war. Wie schlimm es war und wie viel schlimmer es noch hätte kommen können.

Für den Partner war es bequem so. Vor allem am Anfang, als er noch nicht lange stehen oder gehen konnte.
Ich bemühte mich um Desensibilisierung. Drücke die Gedanken weg, setzte mich auf meine Gefühle. „Es ist ein Ausnahmezustand, das geht auch wieder weg. Alles hat ein Ende“, habe ich mir gesagt und dieses Ding mit den Augen gemacht, bei man sehend nichts sieht.

Ich habe manchmal Anflüge von merkwürdigem Stolz auf meine Fähigkeit mich an Shit anzupassen und mein eigenes Darunter-leiden zu vergessen. In Bezug auf diese Situation ist er doppelt gestärkt.
Ich bin die_r Partner_in – es war gut, wie ich das hingekriegt habe. Ich habe mich bewährt. Ich war für ihn da. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich aktiv für einen anderen Menschen da – und habe es – mit meinen psychokranken Traumaskills !!! – hingekriegt – BÄM!
Denn das ist der Stoff aus dem „sich an Langzeitshit anpassen“ gemacht ist: „Nicht dran denken.“, „Auf die Gefühle setzen.“, „Durchziehen.“, „Nothing else matters because everything else matters.“

Im Nachhinein fragt man sich immer, wie man das überhaupt so ausgehalten hat. Aber guckt man genau hin, sieht man, dass da vor allem die Dissoziation aufrechterhalten werden musste und das alle Energie gebunden hat. Weniger ein akut bewusstes Leiden oder eine konkret definierte Not.
Deshalb finde ich diesen ganzen Überlebens-Wertschätzungstrallafitti so unsinnig. „Du hast überlebt – das war die Leistung“ – für mich ist das Quatsch. Die Leistung ist die Leistung. Dissoziation aufrechtzuerhalten, ist die Leistung. Das nicht damit aufhören. Das konsequent und immer und immer und jeden Tag den Balken so hoch halten, damit sich niemand dran aufhängt – DAS ist die Leistung.

Und natürlich das Klarkommen im Anschluss. Die Neutralisierung. Die Wiederanpassung. Der Wieder(neu)aufbau.
Denn jetzt ist der Tisch leer.
Die Steuer gemacht, der coronabedingte Diabetes ausgeheilt. Die Menge an Medis in einem kleinen Heidelbeerkörbchen untergebracht. Wir konnten wieder Flügelschlag spielen. Ein Besuch war da. Wir haben an dem Tisch gegessen und einige Stunden gequatscht.
Die Ausnahme ist zu Ende, der permanente Trigger ist abgebaut.

Ich merke jetzt sehr deutlich, wie irritiert meine Wahrnehmung davon ist, dass dort nichts mehr ist, das ich aktiv nicht beachte und bedenke. Wie vorsichtig und bedächtig ich dieses Danach befühle und auf Echtheit prüfe.

Auch das so ein Ding. Es gibt kein Puff und dann Hurra alles wieder fein. Keine große Ausatmung mit seligem Dusel.
Eher ein scheues Hinfühlen, immer bereit, sich sofort wieder in sich zu verstecken. Vorsichtiges Auftreten und gucken, obs hält. Ein neuer Abschnitt der Anpassung. Ein neues, anderes Level an Alltagsdissoziation.
Ein Weiterleben in andersneu.

orgastischer Overload

Es ist die totale Überflutung, in die ich mich hineinschmeiße, wie sonst nur ins Schwimmbad. Das ist so klar wie ebenjenes Schwimmbadwasser, aber seien wir doch ehrlich: Sonst würde ich das auch nicht machen.

Am Mittwoch eine Lesung in Dresden, am Donnerstag eine Übernachtung in fremder Umgebung bei neuen Leuten, am Freitag ein Intensivplenum bei der Arbeit, die im Moment außerordentlich anstrengend ist.
Aber, oh Adrenalin. Du süße Wunderdroge, bereitgestellt in Hülle und Fülle. Bereit mich zu betäuben, zu beflügeln und mich damit so nah an meine Vorstellung von „Normal“ zu bringen. <3 Ohne dich wäre das nicht möglich. Ohne dich wäre das alles hier ein Albtraum. Ich würde vermutlich fühlen, wie weh mir alles tut. Würde vergessen, was mein Plan ist, würde meine Ziele aufgeben, würde mich hassen, weil ich meinen eigenen Erwartungen nicht nachkommen kann.

Ich glaube, dass ich zu selten kommuniziere, wie groß meine Abhängigkeit von Stresshormonen für mein Alltagsfunktionieren ist. Und was das für Auswirkungen auf meine Gesundheit hat. Und mein soziales Umfeld. Und letztlich auch für mich. Denn natürlich ist mir klar, dass auch mein Körper nicht dafür gemacht ist. Und sowieso: Der Absturz kommt immer. Ich weiß, wie mein Wochenende wird. Und, dass ich meinen Akku, meine Energiereserven, nicht wieder aufgefüllt bekomme. Bis zur nächsten Lesung am 4. August in Lübeck (18 Uhr, Café Brazil) werde ich mich im Ladevorgang befinden. Um mich dann erneut komplett zu verausgaben. Weil ich will, weil ich kann und weil es sich einfach gut anfühlt, alles zu geben, was ich habe. Ich liebs einfach. Es ist so schön, sich nicht tot zu fühlen. Oder halbtot. Oder in Wahrheit tot, doch zwangsbelebt von Reflexen und automatisierten Skripten. Und das zusammen mit den Dingen, die mir gefallen. Die mir wichtig sind. Für die ich mich entschieden habe.
I LOVE IT!
Für diese Momente habe ich gekämpft. Die waren mir das Überleben wert und wichtig.
Dass ich sie nicht bekomme, ohne dass mein Körper in den absoluten Overdrive schaltet, dafür kann ich nichts. Glaube ich. Denn egal, wie langsam ich es angehe, wie zart und bedacht ich mit mir umgehe – der Schalter kippt irgendwann einfach.
Und warum weiter dagegen ankämpfen? Es hat keinen Sinn, setzt mir nur ein weiteres Ziel, das ich nicht erreichen kann.

Also rein da. In den gezielten Reizrausch. In das orgastische Flimmern, das mein Blut zum Glitzern bringt und eine bunte Eindruckswolke in meinem Geist hängenlässt. Heute ist heute. Es ist keine Gewaltwolke. Wenn ich später hineingreife, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wehtun. Es wird Glücksmomente rieseln, Freude regnen, mich dankbar und satt machen. Ich werde etwas von der Welt kosten und schon früh genug merken, was ich davon verdauen kann und was nicht. Das Jetzt ist eins mit Morgen drin. Ich bin nicht mehr allein. Alles ist lösbar. Und wenn nicht, dann ist das eben so. Ich kann immer suchen, wenn ich noch nichts gefunden habe.

Ich habe mich entschieden, diese Momente zu wollen und zu genießen. Gerade weil so viele andere Momente in meinem Alltag genau die gleiche Wirkung auf mich haben, dann aber schier unerträglich sind.
Diese Momente werden nicht weniger oder mehr, leichter oder einfacher, wenn ich darauf verzichte. Im Gegenteil. Je mehr ich mich schone, desto schlimmer wird der Absturz, desto größer die Kluft zwischen der Welt und mir. Und desto sinnloser wird die Schonung, die Vermeidung selbst. Denn was soll ich denn mit einem vollen Akku, der nicht benutzt wird? Warum nie vom Vorrat essen?

Ja, ich muss aufpassen. Ja, meine Energiereserven von Dingen angefasst, die bei anderen noch nicht an die Reserven gehen. Ja, mein traumatisierter Körper hat ein ganz eigenes Energieniveau. Mein autistisches Gehirn hat eine Verdrahtung, die auch im Ruhezustand erheblich viel mehr Energie zieht, als nicht-autistische.
Aber das ist alles zu einem Zweck da: Lebendigkeit. Interaktion und Kommunikation mit der Mitwelt.
Nicht nur dann und wann, sondern immer.
Auch, so wie jetzt. Ein bisschen betäubt. ein bisschen durch, aber ganz da. Mittendrin. Im Leben.

#1 „Ich bin da“

Die Präsenz anderer Menschen ist für mich schwierig.
Einerseits war oft niemand da, wenn ich es gebraucht und zutiefst gewünscht habe – andererseits kann mich die Anwesenheit anderer Menschen sensorisch überwältigen.
Ein Dilemma.

Denn natürlich habe ich auch mit den klassischen Bindungsthemen zu tun. Ich möchte Kontakt mit anderen Menschen. Ich möchte Nähe, Liebe, Geborgenheit, Gehaltensein, Miteinander und was wir Menschen nicht noch alles füreinander herstellen können.
Aber. Meine Er_Lebensrealität war lange: Ich kann mich nicht drauf verlassen. Es tut weh. Es schadet mir. Ich habe wenig bis gar keine Kontrolle über die Natur, die Ausgestaltung, den Einfluss des Kontaktes auf mich. Ich muss bei jedem Kontakt mit allen Kanälen offen sein, um mich zu schützen. Ich muss mich immer an andere Menschen anpassen (Ich darf nicht ich sein). Jeder Kontakt ist irgendwie unangenehm, anstrengend und auf die eigene Art schwierig.

Im Kontakt mit professionell helfenden, begleitenden, unterstützenden, behandelnden Menschen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich selbst von allem Unangenehmen frei sehen wollen. Manche sind gekränkt oder unangenehm berührt, wenn ihnen klar wird, dass ich sie auf eine Art nicht viel anders empfinde als Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden. Oder generell nicht nur allgemeine Gefühle von „Okay, wir sind jetzt hier miteinander“ mit ihnen verbinde.
Sie fühlen sich dann in ihren Taten gleichgesetzt und als Mensch abgewertet, weil sie Täter_innen abwerten und die eigenen Taten nicht als gewaltvoll denken können, wollen, sollen.

Erst mal ist jeder Mensch eine diffuse Reizmasse für mich. Eine Lärmquelle, die nur mit viel Konzentration, Willen zum Verstehen und Kraftaufwand zu einer menschlichen Stimme, Körpergeräuschen und Ort von Körper-Umwelt-Interaktion wird. Eine Masse, die ich mir in Abgrenzung zur Umgebung definieren muss. Ein Etwas, das ich mir erst dann als Jemanden verständlich machen kann, wenn ich Zeit und Raum hatte, alle ihm_r eigenen Muster zu erfassen, zu erkennen und verlässlich wiederzuerkennen.
Und selbst dann bin ich noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich das Handeln einer Person und ihrer Wirkung auf mich einordnen, begreifen oder beurteilen kann.

Auf eine Art ist meine Wahrnehmung anderer Menschen also immer sehr gegenwärtig und konkret – zeitgleich aber auch diffus. Denn wenn ich mich nicht konzentrieren kann, bekomme ich kein Bild von der Person und unser Kontakt bleibt gewissermaßen virtuell oder auch hypothetisch in meinem Kopf. Ich rate, intellektualisiere, stelle Thesen auf und verfolge sie. Aber die Person ist für mich dann nicht präsent. Ich weiß zwar, dass sie da ist – dass es sie gibt – aber sie ist nicht mit mir da. Nicht wie ich präsent.
Nicht in meinem Raum, meiner Zeit, meiner Ein.ordnung des Ist da.

Ich betrachte meine sensorischen Quirks als erste Hürde für den Kontakt. Die zweite Hürde ist traumabedingt. Auch ein Flashback kann mich in meiner Ein.ordnung von Menschen verwirren und verunsichern. Und natürlich sind meine Vermeidungsstrategien für sowohl Flashbacks als auch sensorische Überwältigung und soziale Schwierigkeiten hauptsächlich deshalb effektiv, weil sie beinhalten, keinen Kontakt mit Menschen zu haben.

Aber auch die professionelle Abstinenz (oder ihre berufsspezifischen Pendants), die so oft so wichtig im professionellen Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext ist, kann eine solche Hürde darstellen.
Das Abstinenzgebot ist eine Schutzmaßnahme für Patient/Klient_innen. Danach darf das spezielle Vertrauensverhältnis nicht für eigene Ziele und Zwecke ausgenutzt werden. Private (wie sexuelle) Kontakte sind untersagt. Auch mit nahestehenden Personen der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.

Um so einem Gebot zu entsprechen, ist eine gewisse emotionale Entfernung wichtig und auch eine bewusst gestaltete Grenze bezüglich persönlicher Involviertheit. Zumindest im Ausdruck gegenüber der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.
Man darf sich also im professionellen Kontext verbinden – aber irgendwie auch nicht. Nicht so jedenfalls. Wie Freund_innen. Familie. Arbeitskolleg_innen. Hobby-Kumpels. Eher so wie … Ja – wie eigentlich?
Kompliziert.

Ich hatte schon Therapeut_innen, die nie irgendeine emotionale Reaktion gezeigt haben. Das hat einerseits erleichtert – und gleichzeitig unangenehme Erinnerungen ausgelöst.
Ich hatte aber auch schon mit Betreuer_innen und Therapeut_innen zu tun, die sich mir praktisch grenzenlos geöffnet haben. Das hat mich überfordert und an vielen ungünstigen Strategien festhalten lassen, weil ich daraus Verantwortung abgeleitet habe, die nicht meine war.

Inzwischen bin ich in mir selbst so weit orientiert und versichert, dass ich weiß, welche Art der Verbindung im professionellen Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungskontext für mich am zuverlässigsten funktioniert, nämlich die sachbezogene. Eine klar definierte und eindeutige abgesteckte Kontaktregelung, ein klarer Arbeitsauftrag, ein eindeutiges Ziel sowie eine kontinuierliche und vorhersehbare Herangehensweise entlastet mich davon, meine Behandler-/Helfer-/Unterstützer-/Begleiter_innen als Jemanden zu erkennen (und in der Folge dazu passend zu interagieren). Sie werden zu den Operatoren, wie es ihr Beruf (auf dem Papier) vorschreibt: „Für mich (im Sinne von ‚für mein Therapie-/Ziel‘) da“ – aber nicht „mit mir da“.

In 99 % der Zeit, die ich mit professionell begleitenden, helfenden, unterstützenden oder behandelnden Personen zu tun habe, will ich nicht mehr, brauche ich nicht mehr und würde verwirrt oder überfordert, wenn mir mehr gegeben werden würde.
Das eine andere Prozent der Zeit bin ich so tief in traumatischen Gefühlen von Verlassenheit verstrickt, dass es mir hilft, wenn mir jemand sagt: „Ich bin da“.
Nicht: „Ich bin ((für) immer) für dich da.“
Und auch nicht: „Ich bin da.“

Sondern: „Ich bin da.“, oder „Ich bin hier.“
Auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt – früher oder später werde ich mich fragen, wo „da“ oder „hier“ eigentlich ist und eine erste wichtige Stufe zur Re-Orientierung darin finden.
Denn dieses Verlassenheitsgefühl, diese „Ich werde jetzt sterben, weil niemand da ist“-Empfindung ist so global, dass sie Zeit und Raum für mich zu praktisch irrelevanten Faktoren machen. Datumsangaben, sensorischer Input, der ganze daily Skillkrempel ist in dem Moment nutzlos, weil ich sie nicht mit irgendetwas verbinden kann. Mir fehlt ein Anfang. Ein first contact mit dem Hier und Jetzt, sozusagen. Eine erste Berührung, eine erste Verbindung angebahnt von jemandem, die_r es für diesen Zeitraum professionell, im Sinne von abstinent, er.tragen und halten kann, mein erster Bezugspunkt zu sein. Nicht nur mit der Stimme und den Worten „Ich bin da“, sondern auch mit der eigenen körperlichen Präsenz (und ihrer Wirkung auf mich).

Ich habe lange gedacht, dass ich mich dafür schämen muss, dass es mir so gut nutzt, wenn mir dieser Satz gesagt wird. Ich wusste nicht, welches Bedürfnis von mir damit befriedigt wird, aber die Tatsache, dass es da war, hat bereits gereicht, um in mir praktisch alles zu aktivieren, was mich früher sicher gehalten hat.
– die Gewaltwahrheit, dass ich keine Bedürfnisse haben darf
– die Traumawahrheit, dass meine Bedürfnisse schlecht, falsch, krank sind, weil es meine sind
– die Gewaltwahrheit, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter (undurchschaubar, unkontrollierbar, willkürlich aufgestellten oder auch realistisch gar nicht erfüllbaren) Bedingungen erfolgen darf
– die Traumawahrheit, dass befriedigte Bedürfnisse mich gegenüber anderen Menschen verpflichten

Heute weiß ich, dass meine Bedürfnisse zu meiner Lebendigkeit gehören. Es also tatsächlich und nicht nur abstrakt oder im übertragenden Sinne mein Leben gefährdend ist, sie zu unterdrücken, missachten oder schlicht nicht zu erfüllen. Und, dass es mein Bindungsbedürfnis ist, das mit dem Satz „Ich bin da“ befriedigt wird. Etwas, das im professionellen Setting in der Regel nicht von irgendjemand anderem erfüllt werden kann als von der Person, die dann gerade anwesend ist.
Und etwas, das Menschen haben, um ihren anderen Bedürfnissen einen höheren Zweck als sich selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte man denn essen, trinken, schlafen, sich warm und sauber halten, wenn da niemand ist, mit dem man am Leben sein kann? Familie leben, gestalten, machen kann? Dinge erforschen, Abenteuer erleben und was sonst noch so viel geiler ist, wenn man sie mit anderen teilen kann?

Kein Bedürfnis ergibt Sinn ohne die anderen – kein Bedürfnis entsteht ohne Lebendigkeit.

Ein Kernaspekt meiner komplexen Traumatisierung und vieler Gewalterfahrungen im Leben spielt sich genau an dem Punkt ab. Ich wurde in vielen verschiedenen Kontexten beschämt, bestraft, verletzt und ausgenutzt, weil ich lebe.
Die Erfahrung zu machen, dass ich lebe, etwas brauche und es bekomme – ohne, dass es jemand ausnutzt – war und ist eine essenziell wichtige Erfahrung in meiner Traumatherapie. Nicht nur früher, sondern auch heute noch. Ich brauche diese Erinnerung und diese Versicherung immer wieder mal und zum Glück habe ich heute eine Therapeutin, die ein gutes Gespür dafür hat, wann das der Fall ist.

Und eine Therapeutin, die seit nun bald 11 Jahren da ist.
Auch das ist von Relevanz für mich. Ich habe in ihr einen Bezugspunkt im Leben, der kontinuierlich da ist. Und eben nicht nur so lange, wie es die Krankenkasse bezahlt, die Klinikregeln zulassen, der Träger das Konzept hält, die Projektförderung besteht, die persönliche Erfüllung/der Spaß an der Arbeit mit mir besteht. Sondern so lange, wie unsere gemeinsame Arbeit hilfreich und nützlich für mich ist. Ich schätze meine Chancen darauf, selbst bestimmen zu können, wann ich die Therapie nicht mehr brauche, als hoch ein und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit durch Kontrolle. Ich kann wirklich gehen, wenn ich möchte. Ich kann wirklich bleiben, wenn ich möchte. Sie ist da.

#2 „Ich höre zu“

„Ich fühle mich ungehört“, „Ich fühle mich nicht gesehen“, „Beachte mich.“ – sehr schwierige Sätze.
Ich kann mich erinnern, wie ich mit 14 ein Mal vor einigen Psychologiestudent_innen vorgeführt wurde und etwas in der Richtung gesagt habe. Stand damals war ich in der Uni-Psychiatrie „wegen Ritzen“. Denn so bleibt es bei den Kindern und Jugendlichen hängen. Sie sind nie in der Psychiatrie, „wegen Personalmangel“, „wegen Zufluchtsplatzmangel“, „wegen Fehlern, die ihre Eltern und andere Bezugspersonen gemacht haben“, sondern wegen „Verhalten XY“. Ich hatte damals gesagt, dass ich nicht mehr wusste, wie ich sagen könnte, was in mir vorgeht.

Für mich beginnt die Schwierigkeit der Sätze vom Einstieg genau dort: An dem Missverständnis von Verhalten in Zusammenhängen, als Verhalten von Personen. Also der Person, genauer ihrer Persönlichkeit, als Quelle von Verhalten.
Sagt man „Ich fühle mich ungehört“ wird das oft nicht als Hinweis an das Umfeld verstanden, dass man sich ausgeschlossen, unverbunden, missverstanden oder missachtet fühlt, sondern, dass man denkt, man habe ein Anrecht darauf, gehört zu werden. Was in gewaltvollen Kontexten als eine grobe Frechheit, eine dreiste Anmaßung, eine narzisstische Selbstüberhöhung, eine unberechtigte Forderung, ein Gewalt legitimierender Selbstausdruck einer unwerten kranken abweichenden falschen Person verstanden wird. Mit allen Konsequenzen.

Diese Erfahrung machen leider sehr viele Menschen in ihrem Leben. Die most casual Alltagsgewalt, die viele Kinder erfahren, ist der Satz. „Du willst doch nur Aufmerksamkeit“ und damit genau diese Verdrehung der Bedeutung ihrer Äußerung. Statt, dass sich ein Umfeld den Auswirkungen seiner Umgangsgestaltung widmet, stellt es die natürlichen Ansprüche einer Person infrage und macht sie damit illegitim. Kinder lernen so, dass ihre Bedürfnisse zu erfüllen eine Frage von Legitimation ist – also erst ein Mal alle damit einverstanden sein müssen, dass sie Bedürfnisse haben, damit sich darum gekümmert wird, sie zu erfüllen.

Gehört zu werden, ist so ein Bedürfnis. Für Kinder ist es sogar die Grundlage ihrer Überlebensstrategie. Sie können sich auf Distanz – bei fehlender Nähe also! – nur hörbar machen, um hoffentlich von denen wahrgenommen zu werden, die ihnen nichts Schlechtes tun. Kurios, dass wir in unserer Gesellschaft denken, irgendwann höre das auf. Dieser Drang, dieses Agieren zum Überleben. Obwohl doch alles, was wir tun, 24/7, von Anfang bis Ende unseres Lebens genau darum kreist.
Aber so funktioniert Ableismus. Die Verdrängung des Bewusstseins um unsere Sterblichkeit ist so umfassend, dass wir jede Schwäche, jedes gefährdende (Noch)Nichtkönnen und jede Bezugnahme darauf abwehren müssen. Auch, wenn sie von unseren Kindern kommen.

*

Für mich war der Satz „Ich höre zu“ immer wieder wichtig im professionalisierten Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext. Auch heute noch.
Eine Erzieherin im Kinder- und Jugendnotdienst hat ihn mir gesagt, nachdem wir mein nasses Bett ab und neu bezogen hatten. Als wir eine neue Wohngruppe für mich gesucht haben. Bevor ich ihr gesagt habe, dass ich misshandelt worden war. Eva. K. Ich werds nie vergessen.
Eva hat mir damals einen Grundstein dafür gelegt, glauben zu können, dass „Ich höre zu“ einen Zauber einleitet und mich vom ewig unnötig rumnöhlenden Nervkotzbrocken zu jemandem verwandelt, die_r etwas zu sagen hat, das relevant für die Situation ist. Nicht, weil ich das sage, sondern weil ich Teil dieser Situation bin. Sie sich also auf mich auswirkt.

*

Zu „Ich höre zu“ gehört Aufmerksamkeit jedoch auch dazu. Und die ist tricky.
Denn einerseits ist Aufmerksamkeit eine natürliche Notwendigkeit zum Überleben in Gemeinschaft bzw. Gesellschaft – andererseits ist sie eine gestaltbare Folge von Wahrnehmung. Wir können entscheiden, wie wir reagieren, wenn wir jemanden wahrnehmen. Und wir haben wenig Kontrolle darüber, für welche Reaktion sich andere Menschen entscheiden.
Ich habe in meiner Herkunftsfamilie, aber auch später in Psychiatrien und anderen Gewaltkontexten immer versucht so unsichtbar wie möglich zu sein. Bitte nicht beachten. Nicht angucken. Denn immer, wenn mich jemand sah, war das ein Problem oder das, was ich als Auslöser für Gewalt an mir einordnete. Man kann nicht gleichzeitig gehört und nicht gehört werden.
Ein schreckliches Dilemma – wie sollte ich denn überleben?

Auch als jemand, die_r nicht gut darin ist, soziale Situationen zu lesen.
Ich war nie unauffällig. Nie das durchsichtig farblose Steinchen am Wegesrand oder das klitzekleine Insekt mit Tarnfarben, das ich sein wollte. Ich war das beste Spielzeug, das sich ein_e Sadist_in wünschen kann.

„Ich höre zu“ ist deshalb heute ein Satz, in dessen Zauber ich erst vertraue, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind:

  • „Ich höre zu“ bedeutet genau das: Mir wird zugehört – ohne eine weiterführende Agenda
  • es wird gehört, was ich sage – nicht wie, wo oder wann ich es sage
  • es wird (für) wahr.genommen, was ich sage und nicht ohne meine Mitwirkung in Bezug gesetzt oder bewertet

Ich weiß, dass es für viele Menschen schwierig ist „einfach nur zuzuhören“. Vor allem, wenn man beruflich zuhört und darauf trainiert ist, im Gehörten alles Mögliche zu suchen, zu finden oder zu bemerken. Aber es ist genau dieses Training, das zu Automatismen führt, die wiederum zu Fehlern führen. Auch zu Wahrnehmungsfehlern. Zu gravierenden, sich sehr schlimm auswirkenden Einordnungsfehlern. Die man manchmal nicht einmal merkt. Oder auch nicht so gern merken möchte. Wenn man etwas zu verlieren hat, wenn man Fehler gemacht hat. Zum Beispiel.

Aber ich als Patient_in, Klient_in, Hilfe empfangende Person habe im professionalisierten Kontakt gar keine andere Wahl, als zu sprechen. Wir treffen uns in konkret abgesteckten Zeiträumen, mit ganz klar abgesteckten Grenzen des Miteinanders. Mehr als sagen, was ist, bleibt da nicht übrig.
Um so wichtiger ist es für mich, dass mir professionalisierte Helfer-Begleiter-Unterstützer- und Behandler_innen sagen, dass sie zuhören, wenn es das ist, was sie gerade tun.

#3: „Ich weiß, dass Sie tun, was Sie tun können.“

Ich musste 19 Jahre alt werden, bis mir meine damalige Kliniktherapeutin gesagt hat, dass ihr völlig klar ist, dass ich alles tue, was ich kann, um klarzukommen.
Dass „noch mehr anstrengen“, „noch mehr wollen“, „noch mehr Motivation“ überhaupt nicht dabei helfen würde „vorwärtszukommen“.

Ich glaube, dass man bereits vorher versucht hat, mir das zu vermitteln. Mich das fühlen zu lassen. Ich war zu dem Zeitpunkt bereits seit 4 Jahren im Hilfe- und Heilbehandlungskontext unterwegs und nirgendwo hatte ich es ausschließlich mit Menschen zu tun, die schlecht gearbeitet oder mich ignoriert haben. Man war mir oft sehr zugeneigt, weil man sich mit mir „vernünftig unterhalten“ konnte. Tiefgründige Gespräche führen, Politik und Nachrichten diskutieren, mich für Kleinigkeiten begeistern konnte. Meine Unreife wurde davon häufig verschleiert. Dass ich häufig nur sehr abstraktes Verständnis von abstrakten Themen und Zusammenhängen habe, ebenfalls.

So kann ich mich zum Beispiel sehr gut und auch elaboriert zu großen Themen wie Gewalt, Strukturen und Dynamiken von Macht ausdrücken – kann es aber nicht gut aushalten, mich lange mit konkreten Einzelteilen dessen zu befassen. Ähnliches bei politischen Themen und Debatten. Ich bin sehr gut darin zu erkennen, wer welche Strategie fährt und warum und was sie zur Folge hat, aber die einzelnen Argumente inhaltlich auseinanderzunehmen und ihre persönlichen Bezugspunkte zu finden, ist für mich über.fordernd.
In Bezug auf solche Dinge – Themen und Dynamiken – bin ich ein „big picture“-Mensch und fühle mich darin auch sehr wohl.

Meine konkrete Sinneswahrnehmung hingegen funktioniert andersherum. Mir drängen sich viele konkrete Details auf und ich muss mich mühsam zur Verallgemeinerung – Abstraktion – bringen. Verallgemeinerung ist für mich in vielen Alltagssituationen das, was mich am meisten auslaugt. Denn natürlich gibt es „das allgemeine Leben“, aber „Leben“ ist unfassbar vielfältig und wird aus Gründen, die ich vermutlich wirklich nie nie nie nie NIEMALS verstehen werde, von den meisten Menschen auch jeden Tag anders gestaltet. Abwechslungsreich sozusagen. Das bedeutet für mich, dass ich bestimmte Dinge tatsächlich jeden Tag als neu oder verändert erlebe und mir aktiv als neu oder verändert einprägen muss. Denn sonst erkenne ich sie nicht wieder, kann sie also auch keinem bekannten Muster oder Struktur zuordnen und in der Folge auch nicht korrekt abstrahieren und als Teil des „big pictures“ begreifen.

Heute als erwachsene Person habe ich diesen Vorgang für die meisten Alltagssituationen schon so oft durchgearbeitet, dass ich ihn in vielen Bereichen zwar immer noch mit erheblichem Kraftaufwand, aber einer Fehlerquote wie die meisten Menschen auch durchlaufen kann. Als Kind und Jugendliche hat es mich enorme Kraft gekostet und mir sind sehr viele Fehler passiert.
Plus: mein kleines Dissoziationsproblem.
Es war für mich doppelt nicht immer möglich mich selbst und meine Umwelt als zusammenhängend zu erleben. Häufig nicht, weil ich nicht die Möglichkeiten hatte, meine Eindrücke so bewusst zu verarbeiten, wie ich es brauchte. Aber auch, weil ich es in der Regel mit Eindrücken zu tun hatte, die mir nicht eindeutig real oder mit mir zu tun habend oder sogar absolut fragmentiert erschienen.

Um ein „big picture“ zu entwickeln, braucht man mindestens ein Konzept dieses Bildes. Man braucht das Substantiv zu den Verben. Eine Abbildung, ein Modell, eine Vorstellung davon. Und um die eigenen Eindrücke von sich und der Mitwelt zusammenzufügen, muss man sie kohärent zusammenbringen können. Man muss wissen, aus welchen Handlungen eine Tätigkeit in welcher Reihenfolge, in welcher Art durchgeführt besteht. Aus welchen Komponenten bestimmte Situationen bestehen. Als Kind und Jugendliche_r übt man genau das ein bis man nicht mehr darüber nachdenkt, sondern es einfach weiß. Ich kann an zwei Händen abzählen, bei welchen Tätigkeiten es mir so geht. Ich habe meine „Alltags-big-pictures“ erst mit Anfang/Mitte 20 einigermaßen stabil beieinander gehabt und kam auch erst dann in die Lage, sie als von mir aus gestaltbar zu begreifen.

Dass ich das jetzt beschrieben habe, wirkt vielleicht erst einmal wie ein unnötig selbstdarstellerisches Element.
In Bezug auf den Satz, den ich hören musste, aber ist es wichtiges Vorwissen.
Denn diese „bottom to top“-Wahrnehmungsverarbeitung(sstörung) in Kombination mit einer „big picture“-Kommunikation führt zu widersprüchlichen Signalen von mir. Das klassische Hochbegabten-Ding: Erklärt die Welt, aber kann nicht unfallfrei essen.
Wirkt enorm reif – ist tatsächlich aber hilflos.

Ich konnte es mir nie leisten, so hilflos zu sein, wie ich war. Und zwar nicht nur, weil meine Herkunftsfamilie Hilflosigkeit verachtete und bestrafte, sondern, weil wir in einer ableistischen Gesellschaft leben und es gefährlich ist, hilflos zu sein. Was ich gelernt habe, ist zu maskieren. Nicht zu zeigen, wenn ich verwirrt war. Ich habe meine Angst durch und vor Verwirrung dissoziiert. Habe mich immer wieder davon anspornen lassen, dass ich kann, was ich will, wenn ich nur genug will und mache und tue. Und je älter ich wurde, wurde aus diesem Ansporn eine Bedingung. Ich kann keine Hilfe annehmen, bevor ich mich nicht in Grund und Boden gewollt und gekämpft und ausgelaugt habe. Nicht mal dran denken. Nicht mal wollen! Erst muss ich (mir) beweisen, dass ich wirklich nicht (mehr) kann.

Hilfe als Konzept ist tricky.
Denn manchmal ist Hilfe einfach Hilfe. Jemand springt für dich ein, wenn du nicht mehr kannst. Jemand macht etwas für dich, an deiner Stelle.
Manchmal wird aber auch Unterstützung als Hilfe bezeichnet. Jemand gibt dir ein Podest, verkürzt oder vereinfacht deinen Arbeitsweg, zeigt dir Methoden zur Effizienzsteigerung deines Handelns, damit du machen kannst, was du musst, möchtest, willst, brauchst.

Für beides ist es unerlässlich, dass die helfende oder unterstützende Person weiß, was die unterstützte, geholfene Person kann und was nicht, warum sie etwas kann oder nicht kann – und entlang welcher Parameter sie ihr Können oder Nichtkönnen definiert. Sie braucht ein „big picture“ ihrer Klient_innen.

In den Hilfekontexten, in denen ich mich bewegte, traf ich immer wieder auf Personen, die sich dieses „big picture“ von mir zu machen versucht haben, soweit sie konnten – ohne jedoch in der Lage zu sein, darauf angemessen zu reagieren. Viele Helfer-, Unterstützer, Behandler_innen operieren mit unfassbar kleinen Zeit- und Ressourcenrahmen. Einige haben den Widerspruch meiner Kommunikation nicht verstanden. Manche fanden ihn auch einfach witzig und haben ihn als Vorlage zur Beschämung vor der Gruppe zum Gruppenspaß benutzt. Oder natürlich, um mich von einer so wahrgenommenen Arroganz oder Hochmütigkeit zu kurieren zu demütigen.
Andere konnten das Ausmaß einfach nicht glauben.
Was ich aus all dem jedoch immer mitgenommen und als Konstante in mein „big picture“ von mir eingearbeitet habe, war: „Ich kann nicht genug. Ich kann nicht, was die anderen können. Ich kann weder im quantitativen noch im qualitativen Sinne genug richtig.“

Als ich 19 war und mit der Therapeutin arbeitete, dachte ich noch, dass ich vor allem deshalb in Therapie sei, weil ich mich als Viele erlebe. Und das falsch ist. Weil es ja eine Krankheit ist. Aus Sicht der inneren Jugendlichen: Die Krankheit, die mir meine Familie, meine Schule, mein Zimmer, meine Sachen genommen hat. Und deshalb geheilt werden muss. Mit Therapie. Was auch immer das genau ist. Und macht. Und machen soll. Hauptsache, ich streng mich an. Reiß mich richtig krass zusammen und stecke alles, was ich habe, da hinein. Sonst darf ich die nicht haben. Und dann bleibe ich für immer krank. Und dann werde ich sterben. Weil das einfach nicht zu ertragen ist.
Ich habe erst mit 30 wirklich verstanden, was „Traumatherapie“ ist. Was ich da eigentlich genau mache, im Therapiezimmer. Was es bewirken soll. Welche Rolle der Kontakt zu meiner Therapeutin dabei spielt. Was passen muss, um zu funktionieren. Wie ich was machen muss, damit sich übermittelt, was ich übermitteln will.
Da war ich schon die Hälfte meines Lebens in Traumatherapie.
Niemals hat sich jemand mit mir hingesetzt und mir das erklärt. Stück für Stück. Aspekt für Aspekt. Damit ich eine Chance auf ein Bild davon bekomme, was ich da eigentlich mache. Meine Krankheit wurde mir ausgiebig erklärt. Meine Dysfunktionalität. Aber die Therapie nie.

*

Ich musste mit 19 hören, dass meine Kliniktherapeutin weiß, dass ich schon alles tue, was ich kann, damit ich aufhören kann, von mir selbst zu denken, ich würde nicht genug tun, um mich am Leben zu erhalten. Denn da ich nicht wusste, wie ich es hätte richtig machen können, habe ich 24/7 alles für die Therapie und die Betreuung gemacht. Nicht für mich. Mein Leben. Meine Gegenwart. Sondern immer für eine Zukunft, von der ich aufgrund des fehlenden Zeit-, Raum- und Selbstbezuges überhaupt keine Vorstellung haben konnte.

Ich musste es mit 30 vom Begleitermenschen hören, damit ich aufhören kann zu glauben, ich sei die Arbeit all der Menschen, die mich bis dahin therapeutisch, betreuerisch, begleiterisch am und immer mehr auch im Leben gehalten haben, nicht wert.
Ich musste hören, dass mein autistisches, komplex traumatisiertes Machen auf Strukturen und Konzepte traf und trifft, die meine Vorarbeit zum Können, gar nicht erst zum „big picture“ über mein Können hinzufügen. Und mich deshalb immer wieder mit dem Eindruck zurücklassen, ich würde nicht genug oder nicht richtig können. Nicht, weil sie das so wollen oder für richtig halten oder allesamt ignorante Arschlöcher sind, sondern, weil es einfach nicht vorgesehen ist. Nicht mitbedacht. Nicht im Script.

*

Es hat mich sehr entlastet, das zu hören. Auch weil ich ein Stück Verantwortung ablegen konnte, das ich nie hätte übernehmen müssen.

Hilfe, echte Hilfe, erfordert kein Können auf Seiten der Geholfenen.
Unterstützung, echte Unterstützung, erfordert ein korrektes Einordnen und Kommunizieren können auf beiden Seiten.
Ich bin autistisch und lebe mit einer komplexen dissoziativen (in diesem Kontext) Störung. Meine Möglichkeiten zur Kommunikation sind (zum Teil extrem) eingeschränkt und fußen auf einer Selbst- und Umweltwahrnehmung, mit der sich die meisten Menschen in meiner Umwelt nicht identifizieren können.
Um kommunizieren zu können, ist es erforderlich, sich und seiner Umgebung bewusst zu sein. Um dieses Bewusstsein zu etablieren, zu stabilisieren und aufrechtzuerhalten, ist es wichtig[1]:

sich orientieren zu können

  • zum Körper
  • zur Person
  • in räumlicher Hinsicht
  • in zeitlicher Hinsicht

sich erinnern zu können

  • kurzfristig (Kurzzeitgedächtnis)
  • langfristig (Langzeitgedächtnis)

sich und die Umgebung wahrnehmen und verstehen können

Unabhängigkeit und Wohlbefinden werden hier beeinflusst von Fähigkeiten wie

  • zur Wahrnehmung des Körperschemas und des Körperbildes
  • zu riechen und zu schmecken
  • zu tasten und zu fühlen
  • zu hören
  • zu sehen und zu erkennen (einschließlich Gesichtsfeld)
  • zu lesen
  • sich zu konzentrieren

sich verbal mitteilen können

Dies wird beeinflusst von verbalen Fähigkeiten in der mündlichen und/oder schriftlichen Kommunikation

  • zur Wortfindung
  • zur Satzbildung
  • zur klaren und verständlichen Ausdrucksweise

sich nonverbal mitteilen zu können

Das Ausmaß und die Qualität nonverbaler Kommunikation werden beeinflusst von Fähigkeiten

  • in der Mimik und Gestik
  • zur Berührung

In jedem dieser Bereiche kompensiere ich Einschränkungen. Das ist, was mein Autismus, wie meine Traumafolgestörung auch, in unserer Gesellschaft zu einer Behinderung und jede Art der Hilfe und Unterstützung für mich zu einem komplexen Unterfangen macht.

Ich brauche mehr als die bloße Anwesenheit von Helfenden, Unterstützenden oder Behandler_innen und Kenntnis von ihrem Auftrag, um wissen, was ich jetzt eigentlich können muss. Was mein Auftrag ist. Wie ich richtig sein könnte.
Es reicht absolut nicht, mir Dinge zu sagen, die mir ein gutes Gefühl vermitteln sollen. In der Regel generiere ich mir das gute Gefühl im Kontakt durch die Gutheit des Kontaktes. – Hilfe-, Unterstützungs- und Behandlungskontexte, in denen ich mir nie Sicherheit darüber generieren kann, ob ich (hier) richtig bin, ob ich genug richtig mache, um drinbleiben zu können, sind weder hilfreich noch zielführend. Tendenziell wirken sie eher als Wiederholung der Gewalt, die ich bereits überstehen musste oder als Faktor, der mich hilfloser macht, als ich sowieso schon bin. Auch wenn ich nicht so wirke.

die TOP 3 Sätze, die ich von professionell Begleitenden/Helfenden/Unterstützenden hören muss(te) – #0

Die Annahme, dass professionalisierte Helfer-/Begleiter-/Unterstützer_innen qua Aus-, Fort- und Weiterbildung wissen, was komplex traumatisierte Menschen brauchen, hat einen doppelten Boden.
Denn es gibt einen Unterschied zwischen „Know-what“ und „Know-how“.

In den folgenden Texten möchte ich näher ausführen, was ich konkret damit meine. Denn häufig wird „know-what“ und „know-how“ übersetzt mit „Theorie“ und „Praxis“. In diesem Zusammenhang jedoch reicht es nicht, nur diesen Unterschied vorzunehmen. Daher geht es in den nächsten Beiträgen um die TOP 3 Sätze, die ich von professionell Begleitenden/Helfenden/Unterstützenden hören muss(te) (- um Hilfs-, Behandlungs-, Begleitungs- und Unterstützungsangebote zu verstehen, anzunehmen und für mich zu nutzen):

  • #3: „Ich weiß, dass Sie tun, was Sie tun können.“
  • #2: „Ich höre zu.“
  • #1: „Ich bin da.“

Ich musste diese Sätze hören, weil sich die Anwesenheit oder Zuständigkeit dieser Menschen allein für mich nicht automatisch in „Ver_Bindung“ übersetzt hat. Also die Basis jedes professionalisierten Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungsangebotes.
Die Basis, die häufig nicht konkret ausgesprochen wird, weil sie implizit oder unbewusst einfach vorausgesetzt wird. Die meisten Menschen können sich das nämlich einfach übersetzen und die Ver_Bindung gestalten. Ein bestimmter Anteil der Kennenlern-Phase besteht dann fast komplett aus diesen Gestaltungsfragen: Wie sprechen wir einander an? Wer darf wann, wie, was sagen, fragen, manchen, wünschen? Wer kann was leisten? – Immer mit dem Hintergrund, den Bindungs- bzw. Beziehungsrahmen zu erfassen und bis an die Grenzen auszufüllen.

Wieso diese Sätze für mich so wichtig waren und warum sie mir geholfen haben, m.eine Verbindung zu mir zu etablieren, erkläre ich ebenfalls in diesen Texten.

#1 „Melden Sie sich, wenn was ist.“

„Wenn was ist“ gehört für mich zu den schlimmsten Formulierungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Ich halte sie für gewaltvoll, schlecht und falsch. Will sie weder lesen noch hören. Will mit niemandem zu tun haben, der mir das sagt.
Leider haben wir sie alle schon gehört und sogar selbst in den Strom allgemeiner Alltagsgewaltätigkeiten gegeben. Diese Formulierung ist so üblich, dass viele Menschen sogar glauben, sie würden damit etwas sagen können. Für mich nur schwer nachvollziehbar.

„Wenn was ist“ wird verwendet, um der eigenen Annahme möglicher Abweichungen Ausdruck zu verleihen. „Melden Sie sich“, um ein Bindungsangebot zu machen, dass von_m Klient/Patient_in ausgeht.
„Im Fall einer Abweichung können wir in Kontakt gehen“, kommt also am Ende dabei heraus.

Problem: Mit professionell Begleitenden, Helfenden, Unterstützenden, Behandelnden ist man nie in Kontakt, weil „nichts ist“.
Die Grundlage professionellen Kontaktes ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich negativ definiert. Also über die Abwesenheit, das Fehlen von etwas bzw. die Anwesenheit eines Defizits. Sobald man also in einem Betreuungsverhältnis, einem therapeutischen Verhältnis, einem pflegerischen Verhältnis miteinander ist, hat man sich als Hilfe-/Unterstützungs-/Behandlungssuchende Person bereits gemeldet, weil ein ganz spezifisches „etwas“ ist. Nämlich Bedürfnisse, die vom familiären und sonstig näherem persönlichen Umfeld nicht erfüllt werden – also, weil „niemand (da) ist“.

Ich habe lange versucht zu entschlüsseln, was das gemeinte „Etwas“ von dem „Etwas“ unterscheidet, das mich mit Helfer_innen und Behandler_innen zusammenbrachte.
In betreuten Wohngruppen konnte das gemeinte „Etwas“ viele verschiedene Dinge bedeuten.
„Etwas war“, wenn ich eine Sache aus abgeschlossenen Räumen brauchte. „Etwas war“, wenn ich als Heimkind irgendwelche Elternzettelage in der Schule oder beim Amt einzureichen hatte. „Etwas war“, wenn meine seelische Not unerträglich für mich wurde. Mir erschloss sich nie, warum mir extra noch gesagt wurde, dass ich mich dann melden sollte, denn was sollte denn die Alternative sein? Ich bin nicht so aufgewachsen, dass ich nicht ständig und immer und immer die ganze Aufmerksamkeit bei den Leuten hatte, die am meisten über mich zu bestimmen hatten. So wirkte dieses sicherlich sinnvolle Bindungsangebot „dann melde dich“ als Erinnerung daran, dass meine ersten Gedanken zur Problemlösung oder Meinungsfindung auf gar keinen Fall bei meinen Kompetenzen und mir anfangen dürfen, sondern immer erst bei den Autoritäten in meinem Leben. – Und zwar in Bezug auf alles, was passiert, weil es „etwas“ ist.

Im ambulanten Betreuungskontext hat sich das etwas aufgelockert, weil ich im Alltag mehr Autonomie hatte und gestalten konnte. Hier wurde es dann allerdings kompliziert, weil ich kein eigenes Konzept und Übung darin hatte, in Autonomie und ihren Folgen zu leben. Ich war die Betreuung gekommen, weil meine schwere Symptomatik meine Möglichkeiten der Selbstbestimmung extrem begrenzten und teils auch verunmöglichten. Und weil ich als 18-jährige Person noch nie selbst über meinen Wohnraum und dessen Ausstattung bestimmt hatte. Ich wusste nicht, nach welchen Gesichtspunkten ein Haushalt zu führen, ein Finanzbudget einzuhalten, zukunftssichere Entscheidungen zu treffen sind. Ich hatte unerträgliche Panik und Kontrollverluste über mich, wenn ich diese Entscheidungen selbst treffen sollte und funktionierte mich durch die Aufgaben durch, wenn ich in Begleitung von und in Kontakt mit Autoritäten (meiner Betreuerin) war. Was letztlich der „akzeptierte Kontrollverlust“ über mich war, denn er wirkte sich nicht als dysfunktional aus. Dennoch war das ja „etwas, was war“. Und es passierte mir sowohl allein als auch, wenn ich mich bei jemandem gemeldet hatte.
Was also bewirkte es für mich, wenn ich mich meldet, weil „etwas war“? Es ergab sich für mich weiterhin kein Unterschied in der Auswirkung auf mich, wenngleich mir klar war, dass es ein Unterschied ist, allein oder in Kontakt mit jemandem diese Erfahrung zu machen.

Speziell in diesem Kontext war mir aber auch immer bewusst, dass der Kontakt etwas ist, worum ich dankbar sein musste – völlig unerheblich, ob er mir letztlich tatsächlich eine Hilfe oder Unterstützung ist. Denn schon der Umstand, dass man sich um mich, ein Opfer organisierter Gewalt mit komplexer, seltener, kontrovers diskutierter Traumafolge, sorgt kümmert fachlich fundiert auseinandersetzt, ist etwas, das mir spät erst als etwas klargemacht wurde, dass ich grundsätzlich verdient habe wie jeder andere Mensch auch.
Meine Betreuung, Behandlung und Begleitung wurde mir immer wieder als besonders herausfordernd, besondere Ausnahmen erfordernd und besonders viel (mehr) Ressourcen (als von anderen Klient/Patient_innen) abverlangend gerahmt. So habe ich mich oft selbst als das „etwas“ gefühlt, „das ist“ dessentwegen sich jemand bei jemandem melden muss, kann, darf. Es entstand der Eindruck, eine Belastung zu sein, die sich schöngeredet wird. „Interessant, was Psyche so kann.“, „Ich lerne so viel von dir“, „Du machst meinen Beruf spannend.“, „Das ist eine große Herausforderung – wir werden das aber schon hinkriegen (wenn du mithilfst)!“ Ich war zeitweilig vollkommen davon überzeugt, dass es Helfer_innen, Betreuenden, Unterstützenden unfassbar krass viel abverlangt, ihre Arbeit an mir zu machen. Dass sie sich gegen extreme Widerstände und über sämtliche Grenzen hinweg dafür entscheiden müssen, mit mir in Kontakt zu sein (– und ihren bezahlten, selbstbestimmt gewählten Job zu machen, der sie in einen Status erhebt, aus dem heraus sie aktiv über Leben wie meins bestimmen, urteilen und sprechen dürfen).
So kam unter anderem meine Wortmeldung auf der Tagung in Münster 2013 zustande. Mir war damals noch überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass man Bedarfe wie meine aus Gründen besonderisiert, die nichts mit mir zu tun haben. Dass man mein Überleben teilweise als Beweis für Dinge hernimmt, die anders nicht objektivistisch beweisbar sind.

Nie, in all den Jahren hat man mich in meinem Grundgefühl von und Wunsch nach Gleichheit mit anderen Betreuten/Behandelten/Geholfenen bestärkt. Niemand hat mir kontinuierlich vermittelt vermitteln können, dass meine Grundbedürfnisse, die gleichen sind, wie bei allen anderen Menschen auch. Vielleicht, weil das so ein basales Ding ist. Vielleicht, weil man nicht annahm, dass ich überhaupt darüber verunsichert bin. Vielleicht weil ich nie gefragt habe: „Hey, warum ist euer Verhalten über meine Bedürfniserfüllung so anders als bei den anderen Patient_innen/Mitbewohner_innen?“ Vielleicht weil man dachte, mir gefiele der Besonderheitsstatus und gebe mir damit ein gutes Gefühl von Beachtung und Wertschätzung nach einem (so angenommenen) Leben in Missachtung und Abwertung.
Am Ende hat es mich in Dankbarkeit und Angst vor dem Verlust aller Kontakte gezwungen und gehalten.

Es gab Betreuungskontexte, in denen immer „etwas sein“ musste, damit ich überhaupt Kontakt haben konnte, während ich gleichzeitig in Therapiekontexten behandelt wurde, in denen ich mich – egal womit – nicht außerhalb der Therapiestunden melden sollte. Was für mich bedeutete, dass „nichts“, also auch ich selbst nicht „sein“ durfte.

Mein Ausweg aus diesen Widersprüchen und impliziten Sozialzwängen war, aus der Betreuung auszusteigen und meine Wünsche an die Traumatherapie, die ich in der Zeit gerade neu begann, so exakt wie nur irgend möglich zu formulieren. Ich habe mich außerdem innerlich so umfassend wie möglich davon emanzipiert, ein_e „DIS-Patient/Klient_in“ zu sein und begonnen mich als Mensch mit komplexer Traumafolge zu verstehen und zu erforschen, welche Aspekte meiner Existenz warum und in welchen Kontexten, mit welchen Auswirkungen auf mich in unserer Gesellschaft als abweichend gedacht und behandelt werden.

Im Zuge der Auseinandersetzung mit meinem Autismus, habe ich dann verstanden, wie es zu meiner Verwirrung und meinem Missverstehen der so gut gemeinten Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ kam und auch heute noch immer wieder kommt.
Durch dieses Verständnis konnte ich mir dann erarbeiten, was „etwas ist“ in Bezug auf meinen Kontakt mit meiner Traumatherapeutin bedeutet.

„Etwas ist“:

  • Wenn ich suizidal bin und glaube, dass ein Kontakt mit meiner Therapeutin dazu beiträgt, dass ich eine gute, richtige, selbstbestimmte Entscheidung zum Umgang mit meiner Suizidalität treffen kann
  • Wenn ich in traumareaktiven Gedanken- oder Gefühlsschleifen feststecke und glaube, dass mich der Kontakt zu meiner Therapeutin, in einen Zustand bringt, der mich dazu befähigt, meine eigenen Orientierungsfähig- und -fertigkeiten zu aktivieren
  • Wenn ich mich in einer Situation befinde, in der meine Traumatherapeutin formal als meine Behandlerin auftreten muss, um mich vor Schaden (im Sinne einer Falschbehandlung oder Fehleinordnung) zu bewahren
  • Wenn ich mir über Termine und andere gemeinsame Absprachen unsicher bin und glaube, dass meine Therapeutin mich darüber aufklären bzw. daran erinnern kann

„Etwas“ ist nicht:

  • Wenn ich Angst habe und Versicherung auch durch andere Kontakte und Aktivitäten herstellen kann
  • Wenn ich nicht weiß, „was ich habe“, fühle, denke und will – und sich das (außerordentlich) unangenehm anfühlt
  • Wenn Kinderinnens oder innere Jugendliche eine Situation im Außen kompensieren/regulieren/managen/übernehmen
  • Wenn andere Personen zuständig sind (etwa meine gesetzliche Betreuerin oder Behörden)
  • Wenn ich keine Idee habe, wozu ich den Kontakt brauche oder nutzen kann (will)
  • Wenn ich meine Therapeutin in irgendeiner Form als Autorität über mich haben will (Zum Beispiel, damit sie mir Dinge erlaubt oder verbietet, die ich mir selbst nicht erlauben oder verbieten kann/soll)

Es war hilfreich für mich zu verstehen, dass Psychotherapie nie für Menschen konzipiert wurde, die niemanden im Leben haben (und/oder arm, behindert/chronisch krank und nicht weiß sind).
Der Grundgedanke bei Psychotherapie ist der eines Werkzeuges von vielen. Der Kontakt soll ergänzen, was man eh schon in sich hat. Die neu etablierten Methoden sollen neu überdenken lassen und vervollkommnen, was bereits genutzt und aktiv eingesetzt wird.
Der Kontakt zur_m Behandler_in ist kein Ersatz für ein soziales Umfeld im Privatraum, das sich respektvoll und bedarfsgerecht verhält. Und auch wenn Behandler_innen jeder Profession eine gewisse Autorität über die Einordnung des Zustandes ihrer Klient/Patient_innen zugesprochen wird, so sind sie nicht autorisiert über den Wert, die Gestaltung und diverse Entscheidungen diesbezüglich zu urteilen. Selbst wenn die Klient/Patient_innen diese Autorität über sich selbst (noch) nicht selbstbestimmt ausagieren können.

Hätte ich das schon als Jugendliche_r verstanden, wären mir viele Wunden im Hilfe- und Betreuungskontext nicht geschlagen worden und meine Ansprüche an meine Therapie sowie meine Therapeut_innen erfüllbarer gewesen. Und dementsprechend viel weniger Quelle für Re_Inszenierung und Re_Traumatisierung, als dem Kontakt bereits immanent ist.

Denn er ist nie bedingungslos. Er entsteht immer nach und durch verschiedene Akte der Gewalt – und wird immer durch und nach dem Üb.Er_leben von Gewalt nötig.
Die Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ bestätigt, legitimiert und reproduziert diesen Umstand. Es gibt Bedingungen, die für den Kontakt erfüllt sein müssen. Generell, um einander überhaupt kennenzulernen und eine Zusammenarbeit zu beginnen, aber auch spezifisch, wenn es um die Ausgestaltung dieser Arbeit geht.

Damit ich die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Begleitung bei der Heilung von Gewalthandlungen an mir im professionellen Kontext ertragen kann, fordere ich, dass sie mir nicht gesagt wird.

Fragmente einer Ausnahmesituation

In den Quetschfalten der letzten Wochen hat es mich manchmal überrollt.
Ja, mein Partner ist nicht gestorben – aber es hätte passieren können und
Meine liebe kleine alte NakNak* mit ihrem Krumpelfuß und dem leisen Stöhnen beim Aufstehen und Hinlegen – auch noch nicht tot, aber
Traumafachtag in München, warum ist das alles so kompliziert, achso achso aha, hmm, naja, aber da kann man ja was machen – einfach nur
Mein Buch ist veröffentlicht, jetzt
Buchmesse, hoppla ich bin Teil von etwas und
Oh, wir sind eine Gruppe mit Gruppenthings, da kann
Münster, Spiegel, False Memory, Wahrheit, Wissen, Wichtigtuer, was für ein Karussell oh man, oh man. Alles auf die Leseliste, das ist
Buchmesse, oh, ah, hui mit Aufzeichnung – obwohl ich so
Gruppenthings gonna always Gruppenthing aua uff oje oje oje

All die Dinge der letzten Monate, die außerhalb von mir passiert sind.
Über nichts konnte ich wirklich zu Ende nachdenken oder eine emotionale Verbindung entwickeln. Ich kenne das schon – es gibt einfach Phasen im Leben, da hat man viel im Zwischenspeicher und rumpelt in der eigenen Außenschale umher. Dass das ein Ausnahmezustand ist, habe ich erst am Sonntag begriffen. Nachdem es einen Konflikt gab, den ein jugendliches, aggressives Innen begann und durchzog bis ich die Kontrolle wieder übernehmen konnte. Solche Wechsel sind mir zuletzt vor 12–13 Jahren passiert. Als mein Leben eine endlose Kette von Ausnahmen, eine ganze Existenz im Zwischenspeicher war.
Diese Zeiten sind vorbei. Solche Wirrungen nicht mehr irrelevant. Ich erlebe meine Ausnahmesituation eingebettet in die Alltage und Er_Leben.srealitäten anderer Menschen. Deshalb geht es auch um Anpassungsleistungen. Also darum zu maskieren, zu funktionieren, während mir meine Grundlagen für die Kraft dazu fehlen und über Extrameilen beschafft werden müssen.

Bei allem Frohsein darum, dass ich jetzt nicht mehr allein im Bullergeddo wohne, eine Arbeit habe und viele Menschen kenne, mit denen mich viel verbindet, wäre ich jetzt gerne wieder an genau dem Punkt. Denn von da aus konnte ich mich immer fallen lassen. Wusste immer: „Ob ich mich jetzt aufreiße oder später oder ganz oder gar nicht, es ist im Grunde egal.“ Niemand hat nach mir gefragt, niemand auf mich gewartet, niemand etwas von mir gewollt.
Menschen sind in mein Leben gekommen, weil ich gegeben habe. Obwohl niemand darum gebeten oder darauf gewartet hat.
Das war insgesamt einfacher für mich.
Auch weil es selten vorkam, dass explizit mehr von mir verlangt wurde, als ich sowieso gegeben habe.

Ich wollte immer mehr von mir. Und habe das auch Stück für Stück geschafft.
Jetzt bin ich daran gewöhnt, viel geben zu können.
Und mein Umfeld in Teilen auch.
Sich jetzt an ein niedrigeres Niveau zu adaptieren, fällt mir schwer.

Es sind gerade tatsächlich nur 3 Stunden Konzentration, die ich aufbringen kann. Es ist gerade tatsächlich so, dass ich nicht die ganze Zeit um die möglichen Gefühle und Gedanken anderer Menschen kreise. Sondern darum, meine eigenen überhaupt mal zu empfinden und erkennen zu können. Wenn mir etwas nicht angetragen wird, denke ich nicht darüber nach. Wenn mich niemand anspricht, spreche ich nicht. Ich denke nicht in Wörtern für den Fall, dass ich jemandem davon erzählen will oder muss oder möchte, sondern in dem mir eigenen Irgendwie so.

Früher hätte ich das gemacht und mich dafür bestraft. Denn ich wollte ja mehr – weil ich sollte. Einfach nur arbeitsunfähig sein, einfach nur chronisch erkrankt sein, dafür muss es echte Anlässe geben – die habe ich mir nie an.erkannt, weil sie mein Umfeld nicht an.erkannt hat.
Heute erkennt mein Umfeld das an – und ist zuweilen verunsichert, mich so zu erleben. Freund*innenschaften werden in Frage gestellt, gemeinsame Pläne ob ihrer Umsetzbarkeit generell bezweifelt, meine gesteckten Ziele hinterfragt. Es wird bedauert, wenn ich unter einen Instagrampost schreibe, dass ich viel geschafft und wenig ganz und gar miterlebt habe in der letzten Zeit. Während ich denke: „Leute! Was denkt ihr denn, wie ich gerade durchs Leben gehe? – Mir ist vor wenigen Wochen der Partner – mein von mir geliebter, mein in mein Leben reingebackener Mitmensch – fast gestorben. Ich habe genau in der Zeit eine Retraumatisierung erlebt, die ich jetzt noch mit viel Kraftaufwand aufarbeite. Meine in den letzten 15 Jahren immer da gewesene Assistenzhündin knabbert ihr letztes Stück Lebenszeit. Seit 3 Jahren leben wir in einer Pandemie, die unsere Teilhabe- und Teilgabemöglichkeiten begrenzt – worüber unser Umfeld nur noch aus Höflichkeit nachdenkt. Was denkt ihr denn, wie viel Raum noch in mir drin ist? Wie viel von mir gerade irgendwo anders drin sein kann?“

Ich denke, dass ich viel gebe, wenn ich mich aus dem Rückzug reiße und Pläne oder Vorhaben nicht aufgebe. Wenn ich weiter ehrenamtlich arbeite. Wenn ich mich nicht krankschreiben lasse.
Gleichzeitig merke ich, dass ich mich auch dazu zwinge. Die Angst zu fallen und nie wieder aufstehen zu können – dieses Traumafragment, aus dem ich meine ganze Überlebenskraft, meinen ständigen Antrieb, ziehe – die wirkt unfassbar stark im Moment.
Manchmal rede ich auch mir ein, besonders jetzt aktiv zu bleiben, würde helfen. War ja schließlich das, was sie in der Psychiatrie mit mir gemacht haben: Wenig schlafen, viel Programm. Sinnvolles tun. Sich selber hinter irgendein aktives Handeln stellen.

Tatsächlich will ich aber nur schlafen oder liegen und mein Gesicht in den Bauchflausch von NakNak* halten, während ich Bubi die Öhrchen streichle. So wäre es gerade gut.
Aber wenn es so ist, ist es schon nach 2 Minuten nicht mehr auszuhalten.
Und die Dissoziation fängt mich auf.
Meistens passend.
Und nun auch mal total schwierig für andere.

Aber wäre das nicht passiert, hätte ich es nicht verstanden.
Ist das der Preis?