witzig

Aber eigentlich würde ich mich dafür entscheiden, euch zu zeichnen … – wenn das okay ist.“
„Oh G’tt oh G’tt oh G’tt. … Du hast halt nur so ein kleines Heft – Passen wir da alle rein?“
Ein kleiner Witz unter Vielen. Ein Schmunzler. Ein prosozialer Akt, um die Beziehung zueinander in ihren Gemeinsamkeiten zu stärken und die Aufregung am Anfang der Podcastaufnahme umzulenken.

„Hier, guck dir das mal an“, er deutet auf eine kleine Mulde auf dem Dach des Autos, „da muss was heftig draufgeknallt sein.“
„War bestimmt Steinobst.“
Knaller. Meine beste sprachwitzige Spontanreaktion ever. Ich lache heute noch darüber, wenn ich daran denke. Einerseits, weil der Witz so gut passte, andererseits, weil mein Partner auch darüber gelacht hat.
Obwohl der Wortwitze nicht mag. Oder nur so tut? Vielleicht performt er Nichtmögen, weil es für ihn zum Witzmoment gehört? Ich weiß es bis heute wirklich nicht. Wir hatten beide mal einen richtigen Lachflash wegen eines Witzes, der mit einer Hummel zu tun und die Pointe auf „Bssssss“ hatte. Den habe ich schon längst wieder vergessen, aber den Lachflash nicht. Vielleicht mag er sie doch. Wer weiß.

Ich mags, wenn wir albern zusammen sind. Die Witze, die das schaffen, haben aber nie etwas mit uns persönlich zu tun. Es sind immer Wortwitze, Wortspiele, überzogene Fantasiegespräche, spontan ausgedachte Quatschlieder oder stereotypisierte Sozialportraits, mit denen wir einander sicher zum Lachen bringen. Auch schwierige Situationen können wir zuverlässig durch eine ironische Bemerkung auflockern oder im Nachhinein weniger belastend rahmen.

Humor ist eine wichtige Ressource für meinen Partner und ich bin froh darüber.
Aber Humor ist auch etwas sehr Persönliches.
Manchmal sagt er Dinge, die er sehr lustig findet oder amüsiert sich über Aspekte, die ich nicht erkennen kann. Und manchmal sind das Aspekte von oder an mir selbst. Dann bin ich doppelt gefordert, ihn zu lesen und seine Perspektive zu verstehen, um mir dann vorzustellen, warum dieses oder jenes aus seiner Perspektive gar nicht anders als witzig sein kann. Oder auch, warum er dieses oder jenes lieber locker lustig nimmt als ernst.
Diese Herausforderung verlängert meinen Weg zum Witz gewissermaßen. Ich muss mehr Vorarbeit machen, um die gemeinsame Ebene zu erreichen, auf der es okay ist, übereinander zu lachen. Zu dieser Vorarbeit gehört die Perspektivübernahme, aber auch eine gewisse Versicherung darüber, was das Ziel des Witzes ist. Also, worum es dabei neben dem Erreichen eines leichten Gefühls auch geht.
Wenn ich mir sicher bin, dass es darum geht, uns miteinander zu verbinden und gemeinsame Erfahrungen zu rahmen – und gewissermaßen mit Lustigkeit zu veredeln – kann ich auch Witze und Kommentare zulassen, die ich in ihrem Anlass nicht nachvollziehen kann. Da bleibt dann zwar ein Rest Unsicherheit und damit dann auch etwas, das für mich nicht ganz aus dem Kopf kann, aber ich kann den Witz zulassen und mittragen.

Das ist etwas anderes, wenn genau diese autismusbedingten Eigenheiten von mir Anlass des Witzes oder lustigen Kommentars sind. Denn für mich ist daran nichts zu erkennen, was irgendwie leichter genommen werden kann. Für mich ist nichts lustig daran, wenn ich jemandes Handeln nicht wirklich ganz nachvollziehen und verstehen kann. Im Gegenteil. Es ist hochgradig belastend, mit sehr viel ungewürdigter, nicht mitgedachter und also unsichtbarer geistiger Arbeit verbunden und oft genug ein Trigger in massive Ängste. Es ist ein Drehkreuz. Eine Stelle, an der sich Komplextrauma und Autismus treffen und gegenseitig verstärken. Hochempfindliches Terrain sozusagen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand einen für ich auch wirklich lustigen Spruch oder Witz darüber macht, dass ich nicht immer wirklich weiß, worum es bei sozialen Dingen geht, ist sehr gering.
Das trifft auch auf kompensierende Verhaltensweisen zu.
Ich bin schnell überreizt vom Umgang um mit Unordnung herum. Ich räume nicht auf oder sortiere alles, was ich habe, weil mich ein lächerlich irrationaler Zwang überfällt.
Ich nehme vieles als gleich präsent wahr. Ich schalte während eines Gesprächs laufende Geräte nicht stumm, weil mir egal ist, was sich jemand angehört/angeguckt/gemacht hat.
Ich verliere mich schnell im Hyperfokus auf tendenziell als unproduktiv gedachte Handlungen, wenn ich keinen Tagesplan habe. Ich fordere keinen Tagesplan ein, weil ich andere Menschen für mich verfügbar wissen oder sie kontrollieren will.
Ich muss neue Inhalte und Problemstellungen komplett in allen Aspekten und möglichen Abweichungen durchdenken, durchspielen und immer wieder auch sozial absichernd durchsprechen, bevor ich sie sicher anwenden oder auflösen kann. „Einfach machen“ ist für mich in vielen Bereichen des Lebens einfach nicht drin. Und don’t get me started on „Mach dir keinen Kopf.“ als kleine Schmunzeleinlage.

Es gibt Sprüche und Witze, die betonen die Unterschiede, die Menschen aneinander wahrnehmen.
Die verletzen mich. Darüber lache ich nie. Die nehme ich hin, wenn ich nichts dagegen tun kann – die akzeptiere ich als Eigenschaft nicht-autistischer Menschen, die sich meine Arbeit mit ihnen einfach nicht mit mir machen wollen. Als Bocklosigkeit. Als Ignoranz. Als schwer umzulernendes Verhalten. Als die Alltagsgewalt, der ich einfach jeden Tag ausgesetzt bin, egal, was ich tue.
Und dementsprechend nie als etwas, das dafür da ist, eine gemeinsame Beziehung zu etablieren, zu stärken oder zu erhalten.

Bei Witzen über Unterschiede geht es in der Regel um die Stärkung von Normen und dadurch auch Herrschaft. Also eine Stärkung der Beziehungen, die normkonform und vorherrschend sind. So kommunizieren rassistische Witze von Weißen beispielsweise niemals Wertschätzung, Respekt und Gleichwertigkeit von Nicht-Weißen, sondern primär und immer! , dass nicht-weiße Menschen anders sind. Jeder Witz von zum Beispiel cis Menschen über trans Personen oder von nicht-autistischen Menschen über autistische Menschen funktioniert genau so. Und in 99,999999999 % der Fälle wird durch dieses Othering, diese ständige Wiederbetonung des für den Witz (Macht.zielgerichtet) hergestellten, ausgestalteten, ausgeschriebenen Unterschiedes, die Grenze verstärkt und die dadurch entstehenden Gruppenverbände klarer definiert.
Als normkonforme, vorherrschende Gruppe merkt man selbst oft nicht, worüber man sich da eigentlich lustig macht – weil man ihre Witze nie gegen sie verwenden oder auf sie anwenden kann. Man ist einfach nicht auf der gleichen Ebene und kann sich entsprechend nie mit gleicher Wirkung treffen.

Ich nehme an, dass meine Vorliebe für Wortwitze aus diesem Umstand entstanden ist. Mein Interesse an Humor ist Verbindung sowie Spaß an Wort und Ton. Das ist für mich leichter herzustellen, als die korrekte Selbstzuordnung sozialer Gruppen, die sich von anderen Gruppen abgrenzt, und zwar mit ausgedachten und dann übertrieben ausgestalteten Unterschieden, die man einander in sozialen Codes mitteilt.
Ich verstehe diese Witze durchaus – aber die Arbeit dahin ist einfach enorm und letztlich nie zum Vorteil für mich. Denn so richtig gehöre ich doch nie ganz zu denen, über die nicht gelacht wird.

Feierabende sind echt

Der Tag beginnt still. Ich halte mein Gesicht ganz weich vom Schlaf in das cremige Beige der Morgensonne und bilde mir ein, dass ich ihre Wärme fühlen könnte. Die Schritte der Hunde knirschen über das gefrorene Gras. Mein Atem schwebt weiß in der Luft.

Ein weiterer Tag allein zu Hause.
Ich schüttle NakNak*s Morgentablette aus der Tüte und stecke mir die Frückstücksäpfel für die Hunde in den Pulli. Ich trage sie rauf in mein Büro. Sie fressen, ich stelle mich ins Rauschen des Wasserkochers. Kaffee, Computer und los. Klick, klick, klick, tipp tipp tipp, klick. Die Geräusche meiner Arbeit sind wie kleine Wellen um mich herum in einem Meer von Stille in einem unendlich freundlichen Ist. Draußen ein Wintertraum in Pastell.

Irgendwann muss ich sprechen und die Schönheit des Seins ist zerstört. Alles, was bis eben einfach nur da war, ist plötzlich belebt und unvorhersehbar. Jetzt erfordert es Adjektive. Wachsamkeit. Schein.
Als wäre ein Schalter umgelegt, bin ich ein Fremdkörper.
Ich versuche, eine Form zu finden. Wandle und handle mich in die neue Situation hinein, versuche mich anzupassen. Anzugleichen. Alles im Fluss unter einer festen Schicht Freundlichkeit. Aufmerksamkeit. Wachsamkeit.

Die ersten Trigger mischen sich in mich hinein. Meine Muskeln verhärten sich und reißen an den Gelenken. Ich atme sie raus, schüttle sie weg. Schaue in den weichblauen Himmel und finde Trost in den Erinnerungen an die Realität ohne Andere.
Die Zeit vergeht, irgendwann ist es okay. Ich bin okay. Bin drin. Kann gut mitgehen. Schaffe alles, will noch mehr. Dann ist die Arbeit zu Ende. Nichts mehr zu wollen. Der Arm tut weh, die Luft ist verbraucht, Bubi schiebt seinen Kopf an mich. Zeit für eine Hunderunde.

Als ich einfach loswill, schießt mir etwas Schmerzliches durch den Kopf. Ich schaue nicht hin. Als ich NakNak* runtertrage, denke ich daran, wie ich vielleicht bald irgendwann ein Kind hier runtertrage, das genauso schwer und warm ist wie sie. Ich ziehe sie an und hoffe, dass mein Auto fährt, als wir in den schneeeisweißharten Garten gehen.
Es klappt, wir fahren. Im Rauschen der Heizung sitzend überlege ich, ob ich mir das vielleicht doch mal angucke. Wie schmerzhaft kanns sein. So in echt. Ich mach ja alles, was ich will. Obwohl das immer wieder hochkommt. Es wird mir zu dicht in mir. Ich fange an, irgendwas zu fühlen, das nicht zum Autofahren passt und breche die Überlegung ab. Ich habe nächste Woche einen Therapietermin. Klappe zu. Thema erstmal wieder erledigt.

NakNak* stakst aus dem Auto, Bubi verfolgt sofort eine unsichtbare Linie auf dem Waldboden. Ich höre einen Podcast und beobachte die Hunde bei ihrer Wanderung von Marke zu Marke. Langsam komme ich wieder da an, wo der Tag begonnen hatte. Präsenz inmitten aller Dinge. Die eigenen Veräußerlichkeiten als Zone zwischen Gegenwart und Zukunft. Irgendwann bin ich so zufrieden, dass ich damit spiele.
Dann fahren wir nach Hause. Vorbei an flauschigen Kühen und dampfenden Häusern.

Wieder zu Hause könnte ich so viel machen, aber mache gar nichts davon. Ich sitze auf der Couch und streichle Bubis großen Kopf auf meinem Schoß. Ich will es ganz in mich einsinken lassen, wie ich gerade nichts mache und niemand von denen, die darauf warten, etwas dagegen tun kann. Denn ich bin hier und sie nicht. Selbst wenn sie mich sehen würden – selbst wenn sie wüssten, dass ich hier gerade gar nichts tue – sie müssten sich etwas überlegen. Ich nicht.
Ich segle auf einer kruden Überheblichkeitswelle, fühle mich mächtig und stark – obwohl ich genau weiß, dass ich hier gerade Traumarealitäten mit Realitätswahrheiten mische. Ich werde nicht beobachtet. Feierabende sind echt.

Fenster und Türen

„Schließt sich eine Tür, öffnet sich ein Fenster“ denke ich und halte müde lächelnd inne. Ich sitze am Computer. Natürlich. Meine Finger sind kalt, der Nacken steif, mein Körper hat eine shrimpähnliche Form. Es ist 2 Uhr morgens, die Welt ist still.
Auf dem Bildschirm habe ich so viele Tabs geöffnet, dass die gesamte Browserzeile belegt ist. Ich suche nach einem neuen Job. Suche mich in Anzeigen und Angeboten, überlege, was ich will und wie viel Kraft ich aufbringen kann, um integriert zu werden.
Gleichzeitig suche ich nach Geld. Mit ein paar Millionen würde ich das Nachwachshausprojekt umsetzen. Dann würde ich gar nicht erst über Ausbildungen und Teilzeitjobs nachdenken. Andererseits würde ich mit ein paar Millionen auch den Verlag kaufen und so grundsanieren können, wie ich es mir seit Monaten immer wieder ausmale.
Wenn alle immer einfach an benötigte Millionen kommen würden, bräuchte es vielleicht weder das Nachwachshaus noch den Verlag.

Ich seufze und klicke die nächste Seite zu, auf die ich mit irreführendem Teaser geleitet wurde. Meine Arbeitssituation im Moment ist schwierig und kostet mich zuweilen mehr Kraft als ich mir an anderer Stelle wieder hereinholen kann. Ich arbeite seit dem Sommer in Übervollzeit und habe regelmäßig Meltdowns aus Erschöpfung. Kann aber nicht einfach aus der Stelle raus. Ich verliere meine Berufsförderung – mein einziges Bonbon für Arbeitergeber_innen, mich einzustellen, da sie meine Lohnkosten deckt – wenn ich kündige, ohne woandershin zu wechseln.
Durch die Heirat habe ich keinen Anspruch mehr auf Hartz IV – ohne Hartz IV habe ich keinen Anspruch mehr auf die Förderung.

Ich muss mir etwas Neues suchen, weil die Verlagsarbeit in der aktuellen wirtschaftlichen Lage keine gesicherte Zukunft hat. Ich verbrenne gerade, weil zwei unersetzbare Kolleg_innen dauerhaft krank geworden sind. Die Pandemie ist ein Domino des Kackejackpots – es kommt immer noch was obendrauf und erodiert an allen Ecken und Enden, worauf man sich verlassen können muss. Selbst ein millionenschweres Pflaster kann an der Stelle vermutlich nur oberflächlich helfen.

Das nächste Browserfenster erinnert mich daran, wie ich noch vor einigen Wochen dachte, ich könne mich parallel zur Arbeit selbst weiterbilden. „Zeit wird nicht mehr durch Aufteilung“, das ist mein Erkenntnisgewinn aus diesem gescheiterten Vorhaben.
Ich lasse es offen.
Ich bin das Pastme der Zukunft, es ist meine Aufgabe vereinzelt Krümel liegenzulassen, mit denen ich mich in der Zukunft davon überzeugen lassen kann, dass meine Ideen gut und nur der Zeitpunkt ungünstig ist. Alles hinschmeißen und blanko Neubeginn machen ist eine Traumareaktion. Die merke ich natürlich auch wie einen unterdrückten Reflex kurz vor der Auslösung. Der Gedanke, einfach unerreichbar für alle, die etwas Unschaffbares von mir wollen, zu verschwinden und in komplett anderen Umständen alles wieder neu – und diesmal natürlich absolut richtig, erfolgreich und mühelos – umzusetzen, ist gerade extrem verführerisch. Aber sein Kern enthält eine Traumawahrheit, die in der Realität keine Substanz hat.

Ich habe nichts falsch gemacht. Die Situation ist nicht durch etwas, dass ich hätte verhindern können, so gekommen, wie sie kam. Die Grenze, an der ich jetzt bin, erleben alle Menschen irgendwann, einfach, weil Menschen begrenzt sind. Dass ich denke, ich müsse meine ohnehin schon häufig übergangenen, missachteten oder schlichtweg ignorierten Grenzen noch weiter ausreizen – noch weiter übergehen und missachten – liegt daran, dass ich ungeprüft, unhinterfragt, aus der totalen Gewohnheit heraus denke, das würde von mir erwartet werden. Von mir wird aber nicht erwartet, mich selber zu zerstören – von mir wird erwartet, in einem Umfang zu funktionieren, den ich nicht leisten kann. Das ist ein Unterschied, den ich mir im Moment immer wieder bewusst machen muss. Jede E-Mail, die liegen bleibt, jede Verabredung, die ich vergesse, jeder schlecht vorbereitete Termin, jede Ideen- und Lustlosigkeit, die ich wie eine umfassend quetschende Leere empfinde, ist ein Grenzmarker. Wenn ich sie ignoriere, ignoriert sie mein Umfeld auch. Wenn ich mich dafür schäme, ermächtige ich mein Umfeld dazu, mich darüber zu beschämen.

Meine Grenzen kommen immer mit. Auch als whimsy Autor*in in einer Hütte am Meer oder voll integrierte_r Mitarbeiter_in in einem stabilen Unternehmen werde ich nicht gut leben, wenn ich nicht zu genug Schlaf, Erholung, Anregung, Sicherheit und Freundlichkeit komme.

Halb 3. Ich schalte den Computer aus und schließe die Bürotür.
Die Tür zum Schlafzimmer ist offen. Die Küche hat keine. Ich kann mich versorgen. Ich kann schlafen. Die Suche geht weiter.
Im nächsten geöffneten Zeitfenster.

Stress und Opferbelange

Es war zufällig aufgefallen.
Mein Partner war gerade wieder in der Lage zwischen Couch und Schlafzimmer zu wechseln, ohne sofort die Augen schließen und durchatmen zu müssen. Aus Gag hatte ich sein Pulsoximeter aufgezogen und einen Puls von 42. Was ein bisschen niedrig ist für jemanden, die_r gerade hin- und hergelaufen und auch sonst nicht gerade tiefenentspannt war. „Vielleicht spinnt das Gerät, man soll sich ja ohnehin nicht so darauf verlassen, wie auf die Geräte bei Mediziner_innen. Die Dinger sind ja nur fürs Gefühl, für die Tendenz.“ So haben wir darüber gedacht.
Das war im April.

Im Mai habe ich mir einen Körperspion gekauft. Eine Fitnessuhr.
Weil ich dachte, dieser Sommer würde der Sommer werden, in dem ich mich endlich auch körperlich mal so auf die Reihe kriege, wie ich andere Aspekte in meinem Leben schon auf die Reihe gekriegt habe.
Ich würde nicht mehr einfach nur so ’ne Stunde schwimmen, tüddelü, Hauptsache, es fühlt sich gut an, sondern bäm bäm bäm besser, schneller, burn burn burn mein Stressfett weg.
Da fiel die Pulsausnahme in ihrer Regelhaftigkeit auf. Im Schlaf, klar, da würde man eine niedrige Pulsfrequenz erwarten – aber um die 40? Und, ist es nicht irgendwie komisch, wenn man mit Sport anfängt, den man schon seit Jahren in gleicher Regelmäßigkeit macht, von 80 auf 140 hochschießt und dann runterplumst auf 45 bis 42? Hm, hm, hm.

Ich dachte, dass es eine Folge der Covid-Infektion war. Vielleicht sowas wie POTS oder irgendwas Gefäßiges, schließlich ist COVID am Ende eine Vaskulitis – eine Entzündung von Gefäßen.
Und machte weiter wie immer.
Nur, dass es mir im Verlauf des Jahres nicht besser ging. Ich war lange in Sorge, hatte mein Buch veröffentlicht und Lesungen geplant, „Viele Leben“ gestartet und bei der Arbeit ist das Pensum in das für mich Unschaffbare gestiegen, weil immer wieder jemand ausgefallen ist und eine Person ausstieg. Meine Projekte und Pläne konnte und kann ich auch weiterhin nur schluckweise bearbeiten, es ist einfach alles sehr sehr viel. Sehr sehr viel Stress vor allem. Und dann auch noch die Art Stress, die nicht mit regelmäßigem Sport ausgleichbar ist. Oder mit mal schön im Garten sitzen. Oder genießen, wenn was gut gelaufen ist. Feierabend machen. Es ist die Art Stress, die auch immer wieder antickt: Wenn du das nicht schaffst, bist du tot (weil dich alle hassen/du kein Geld hast/du bestimmte Fähigkeiten nicht hast, die dich schützen …)

Irgendwann hat meine Fitnessuhr angefangen zu vibrieren, wenn sie erkannt hat, dass ich aktiv war und einen Puls unter 45 hatte. Logisch, man würde das wohl nicht erwarten bei einer gesunden Person, in meinem Alter.
Ich habe einen Termin bei meinem Kardiologen ausgemacht. Der sollte im Dezember stattfinden. Das fand mein Lungenfacharzt nicht so geil und ließ ihn vorverlegen. Es gab Untersuchungen. Ultraschall, Belastung, 24 Stunden-EKG. Alles mit Wartezeiten natürlich.

Der Sommer kam und ging, ich arbeitete durch. Nix mit Radfahren zusätzlich, nix mit krass mehr burning Schwimmen, sondern schön den Arsch am Computer. Setzen, lesen, schreiben, planen, organisieren, als hätte ich eine Vollzeitstelle und sowas wie nutzbare Freizeit zum Ausgleich.
Im September habe ich dann Urlaub gemacht. Für 4 Wochen. Nachdem ich im Grunde jede Woche mindestens einen Meltdown hatte und wirklich und echt nicht mehr konnte. 2 der 4 Wochen habe ich damit verbracht nachzuarbeiten, was liegengeblieben war, aber mit Ausschlafen. Wenn es denn ging. Und dann bin ich zwei Wochen Fahrrad gefahren. Etwa 650 Kilometer mit ein Mal COVID-Ansteckungsangst und ohne Fitnessuhr. Ich merke inzwischen auch ohne, wann wieder alles im Keller ist und schaffe es, ohne Panikschub meine Herzfrequenz wieder zu erhöhen.

Auf der Buchmesse im Oktober dachte ich kurz, dass ich einen Herzinfarkt bekäme. Ich hatte so heftige Rückenschmerzen, Zahnschmerzen und die Luft ging schwer rein. Aber mein Puls war gut. Wahrscheinlich nur der Stress vom Fahren unter der Woche, im Zugchaos der Deutschen Bahn, im Arbeitschaos, während ich Innenarbeit mit inneren Jugendlichen mache. Panikattacke ohne Panik? Hatte ich noch nie, aber was weiß denn ich?!

Gestern, auf dem Weg zur Praxis meines Kardiologen, dachte ich darüber nach, was ich ändern würde, würde mir jetzt irgendeine echte Herzsache ins Leben treten.
„Ich würde kündigen.“, das war mein erster Gedanke. Kündigen, meine Förderung mitnehmen, eine Reha versuchen und irgendwo neu anfangen. Das Büchermachen würde meine Freizeit werden. Ich würde den Podcast abgeben, die Gruppe abgeben, meine Stifte spitzen und Leinwände zuschneiden. Meine verstaubte Kamera rausholen und erst wieder sprechen, wenn es sich wirklich gut für mich anfühlt.
Ich würde betrauern, dass ich kein Kind bekommen kann, weil wie selbstbestimmt wäre das mit irgendeiner Herzsache und dann würde ich den Partner belatschen, dass wir 6 Monate im Jahr mit dem Wohnwagen unterwegs sind.

Dann aber sagte der Kardiologe, dass ich tippitoppi gesund bin. Super fit halt, da ist eine niedrige Pulsfrequenz normal. Er erklärte mir, wie niedrig mein Risiko für irgendwas Herziges sei und zeigte dabei auf eine Tabelle. Meine Beschwerden könnten vom Übergewicht kommen.
Ich habe also ein messbares und völlig harmloses Ding, weil ich so fit bin und einen Haufen unmessbarer Dinge, die mich belasten, weil ich so fett bin. Geil.

Ich suchte den nächsten Zug nach Hause aus und begann mit Textarbeit. Dann kamen die Nachrichten, über Verspätungen, Reparaturen, komplett ausgefallene Verbindungen. Klar. Ich würde wieder eine Arbeitssache nicht hinkriegen, meine Betreuerin wollte mit mir telefonieren, klappt das noch? Nicht vergessen, der Partner muss noch in die Werkstatt kommen, wir müssen pünktlich zu Hause sein. Wär ich doch nur nicht so fett, dann würde ich das jawohl ganz ohne Druck im Oberkörper und Schwindel überstehen. Natürlich hatte ich noch nichts gegessen und nur Kaffee im Organismus. Wer braucht Kalorien, wenn sie_r auch Stresshormone haben kann. Der Treibstoff der Gewinner, alte Anorexieweisheit zwinkyzwonky

Ich stand am Gleis, weinte und aß ein Brötchen vom Bahnhofbäcker. So wie das jemand machen sollte, die_r seit nun 23 Jahren so ein bizarres Verhältnis zum Essen hat, dass es einfach nie wirklich okay, selten wirklich ganz und gar befriedigend oder zweifelsfrei in Ordnung ist.
Nicht.

Natürlich habe ich nicht nur wegen all dem geweint. Ich war auch angefasst von der Therapiestunde am Tag vorher und eh in Kontakt mit Innens, die nie wieder irgendwas im Mund haben wollen oder in der Nähe davon aushalten können. Manchmal habe ich einfach Pech. Da schieben sich die Themen ineinander wie tektonische Platten und meine innere Welt bebt. Dann denke ich im Nachhinein: Okay, sind meine Tränenvulkane auch mal wieder aktiviert worden.
Aber was erzähle ich mir denn damit?
Irgendwie naturalisiere ich damit doch auch wieder nur die ständige Anspannung, den fehlenden Erholungsraum, die Sackgassen, aus denen ich allein, ohne Ermutigung, Ansporn, Versicherung von außen nicht mehr rauskomme.

Im Zug weinte ich noch ein bisschen weiter, weil scheiße ey, 23 Jahre Essstörung und irgendwie gesund Gewicht verlieren, das hinzukriegen erscheint mir inzwischen einfach nur noch utopisch. Innerhalb all der Dinge, die auch dran sind. Und auch so, wie ich jetzt bin.
Vor 14-15 Jahren hätte ich auf so eine Ansage hin, einfach aufgehört zu essen und fertig. Ich hätte nichts, aber auch gar nichts von dem Druck mitbekommen, den das auslöst. Ich hätte nicht weinen können und wenn doch, nicht ein Mal gemerkt, womit es was zu tun hat.
Vor 10 Jahren oder vielleicht noch vor 5 Jahren, habe ich mir Pläne machen können und es so hingekriegt. Ich hätte nicht gemerkt, wie einseitig ich esse und meine Ängste vor Abweichungen und Unvorhersehbarkeit als Ansporn für meine Selbstbeherrschung nutzen können. Ich hätte nichts von dem Horror mitbekommen, den so eine Dynamik für die Kinder und Jugendlichen in mir bedeutet. Nicht einen Hauch.

Irgendwann war ich leergeweint und dümpelte in der Dissoziation.
Dann stand ich an der Baustellenampel im Parkhaus und spürte die Erschöpfung wie eine warme Wachsdusche. Ich entschied mich gegen einen weiteren Diätanlauf in Eigenregie und begleite das auch jetzt noch mit etwas, das die Therapeutin mal gesagt hat: Alles ist anstrengender, wenn irgendwas nicht grundlegend erfüllt ist.
Ich kann es einfach nicht grundlegend (stabil, ohne außerordentliche Anstrengung) – das gesunde normale Leben machen.
Ich bin halt blöd chronisch stresshormonsüchtigabhängig und meiner Umwelt ist das schwer verständlich zu machen.

„Wie hast du denn so gar kein Erschöpfungsthema?“, hat mich jemand nach der letzten Lesung gefragt. Schon da habe ich mir ein gequältes Lächeln rausgedrückt. Denn ja, doch, klar hab ich ein Erschöpfungsthema. Total! Mein Wunsch im Leben ist, meine Ruhe zu haben. Endlich einfach nur Ruhe und Schlaf und nichts, was mich in irgendeiner Form agitiert. G’tt ich würde so gerne einfach mal einschlafen und wirklich und echt erst dann aufwachen, wenn ich auch wirklich und echt wach bin. Ich bin sau erschöpft. Ich stehe auf, gehe pinkeln und könnte dann schon wieder ins Bett kriechen, weil bereits das – dieses bloße einfache Pinkeln gehen – so ein inneres Traumadrama ist und das Traumadrama ums Im-Bett-Liegen schneller ins dissoziative Nichtsfühlen kippt.
Ich kenne mich nicht ungestresst. Nicht unter Druck. Nicht irgendwie doch damit beschäftigt, irgendwas zusammenzuhalten, damit ich selbst irgendwie be.greifbar bin. Sowohl für mich als auch für andere Menschen.
Ich hab sowas von ein Erschöpfungsthema.
Aber ich kann sehr gut auf Stress funktionieren. Vielleicht sogar nur so. Das will ich nicht hoffen, aber vielleicht gehört das zu den posttraumatischen Realitäten wie diese Essstörung, die Ängste an allen Ecken und Enden, das ewige Brodeln aus dumpfspitzscharfem Erinnerungsschleim, der hier und da zu Krusten getrocknet in mein Begreifen krümelt.

Aber vielleicht, ganz sicher, spreche ich nicht oft genug darüber, in dieser Klarheit.
Vielleicht muss ich mir auch eine Teilverantwortung für diesen medizinischen Fuckup geben. Denn natürlich habe ich meinem Kardiologen nichts von meinen 23 Jahren zwischen 47 und 127 Kilo erzählt. Natürlich weiß der nicht, dass ich komplex traumatisiert nach systematischer sexualisierter Ausbeutung bin. Und damit allein schon zu der Personengruppe gehöre, die doppelt mehrfach erhöhtes Risiko für allen möglichen Herzkreislauf-Shit hat. Noch vor meiner Risikoerhöhung durch die Depressionen und Ängste, meine Behinderung und die Medikamente, die ich nehme.
Andererseits hätte ich es ihm auch nicht verheimlicht, wenn ich nach Fragen zu meinen Symptomen auch danach gefragt worden wäre.

Man verbindet Lebensgeschichten wie meine immer mit Defiziten und Problemen. Aber, dass mich mein Aufwachsen in (toxischem) Stress befähigt, mich durch langanhaltende chronische Stressphasen zu bringen, ohne ständig krank zu sein, ohne andere mit meinen Emotionen zu belasten, ohne einen merkbaren Abfall in meiner Arbeitsleistung, das bleibt oft unbemerkt. Tatsächlich ist das oft eher der Grund für Irritation, wenn ich dann wirklich nicht mehr kann und absolut keinen Verhandlungsspielraum mehr einräumen kann. Dann denken andere Menschen eher, ich würde nicht verhandeln wollen, würde es mir bequem machen, würde einfach querschießen wollen. Keine Verantwortung tragen wollen, keinen Bock, kein Mitgefühl für andere haben. Während aber genau das oft die ersten Gründe für Dauerdurchhalten und intensive Selbstmotivation in die totale Erschöpfung sind. Darin nicht gesehen zu werden und auch keine Anerkennung dafür erhalten, hat bei mir dazu geführt, dass ich das bis heute nicht intuitiv erwarte, sondern als Selbstverständlichkeit in mein Leben hineingebacken empfinde. Ich ballere bis ans Limit und andere halten das für mein mittleres, übliches, normales Anstrengen.

Ich kam zu Hause an, legte den Rucksack ab, holte die Arbeitssachen heraus und arbeitete meine To-dos ab. Mit einem Ohr zum Partner, der immer noch auf den Anruf aus der Werkstatt wartete und umkämpfter Wachheit, denn die Hunde mussten auch noch raus und vielleicht könnte sich eine Zeitblase ergeben, um ein Design für unsere Hochzeitseinladung zu produzieren.
Der Tag verging. Ohne Zeitblase. Ohne Werkstattfahrt. Mit einer Hunderunde im Regen, während meine Betreuerin mit mir telefonierte. Mit dem Entschluss tatsächlich bald zu kündigen, meine Hausärztin um Hilfe beim Abnehmen zu bitten und zu akzeptieren, dass es gerade nicht anders geht, als meine Opferbelange selbstständig zu vertreten.
Ohne es okay zu finden.

Filmrezension „Wochenendrebellen“

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Vergangene Woche startete der Film „Wochenendrebellen“ im Kino.
Die Handlung beruht auf wahren Begebenheiten, die in Teilen für die Dramaturgie des Filmes leicht verändert wurden. Beschrieben als „warmherzige Komödie“, verspricht er leichte Unterhaltung über die Suche von Mirco und seinen autistischen Sohn Jason nach einem Lieblingsfußballverein. Das Versprechen wird eingelöst. Vielleicht ein wenig zu sehr.

Am Anfang steht eine Gegenwart vieler Familien mit behinderten Kindern. Wie war die Lage damals bei den von Juterzcenkas? – Schwierig. Jason hat es schwer, seine Familie inmitten anderer Kontexte, wie Arbeit und Familienfürsorge, auch.
Die Suche nach einem Lieblingsverein ermöglicht einen kleinen Ausbruch aus allem Schweren und gibt dem Lauf der Dinge eine neue Richtung. Viele neue, intensive und zuweilen auch schwierige Dinge passieren und werden wohl immer passieren. Und das ist schön.
Und mit dieser doch etwas schlichten Note endet der Film.

Trotz aller Kritik, die ich nun an dem Film niederschreibe, eine, die wichtigste, Sache vorweg: Es hat mir Spaß gemacht, den Film zu schauen. Ich wurde gut unterhalten und ich fühle sehr viel Dankbarkeit darüber, dass es hier gelungen ist, einen Film zu machen, in dem das autistische Erleben einer Person viel beeinflusst und für die Story relevant ist, aber nicht sein Hauptthema stellt.

Leider erscheint mir alles andere, was für die Story relevant ist oder auch erzählt hätte werden können, etwas vernachlässigt. Stichwort Charakterentwicklung.
Alle Figuren bleiben von Anfang bis Ende gleich. Gut, die Mami hat irgendwann mal die Haare schön, aber die besorgte, realistische Bedenkenträgerin vom Anfang bleibt sie. Dass Mirco neben seiner Arbeit unter der Woche dann auch noch am Wochenende unterwegs ist, hat keine sichtbaren Auswirkungen. Opa ist Fußballfan und lieb, Ömchen hat im ganzen Film zwei bis drei belanglose Sätze. Das Baby bleibt ein Baby. Selbst die Kühlschranktür bleibt bis zum Schluss kaputt.
Einzig Jason macht eine kleine Entwicklung durch – vom passiv-massivem Forderer zum aktiv-massivem Umsetzer, der regelt. Hm.

Das echte Leben des Vater-Sohn-Duos hat mehr Facetten. Logisch. In ihrem Podcast „Wochenenrebellen“ sowie in ihrem Blog, dem Newsletter und nicht zuletzt ihrer Instagrampräsenz können sie mehr davon teilen. Entsprechend drastisch ist der Unterschied zwischen der leicht-seichten Familiendramedy, die der Film letztlich ist und dem, was sie tatsächlich miteinander erleben und entwickelt haben.

Der Film versucht möglichst alles davon zu erzählen und setzt dadurch keinen konkreten Fokus. Obwohl die Suche nach dem Lieblingsverein das Thema sein soll und sich die Geschichte der Beziehung, das zunehmende Verständnis für einander, die gegenseitige Perspektivübernahme ebenfalls hätte gut erzählen lassen können.
Grundsätzlich ist der Film bis zur Hälfte etwa gut im Tempo, interessant und, speziell was die künstlerische Umsetzung von Jasons Wahrnehmung angeht, ausgezeichnet gelungen. Doch dort – bei den Besuchen im Stadion – entsteht ein Spannungsplateau, von dem man heruntergelangweilt wird.
„Wochenendrebellen“ hätte 20 Minuten kürzer sein können. Ein Ende im Zug, mitten in der Fahrt, „Papsi, ich will, dass wir das für immer machen.“ – Punkt. Doch auch am Ende gibt es Ausschweifungen, die an der Aufmerksamkeit ziehen, ohne in Bezug auf die Geschichte oder die Charaktere zu belohnen. Das ist ein Redaktionsfehler und bedauerlich.

Andererseits denke ich: Diesen Film hätte man auch um Faktor tausend bedauerlicher machen können.
Meiner Ansicht nach sollten nicht-autistische Menschen „Wochenendrebellen“ bevorzugt in Begleitung von Autist*innen schauen, um ihre Einordnung des Gesehenen sofort korrigiert oder bestätigt zu bekommen. Zum Beispiel, um Sätze wie „Jason ist Autist, und er muss sich die laut dröhnende Welt zurechtregeln.“ [Rezension bei Zeit online] in ihrer Unsinnigkeit zu verstehen. Oder zu verstehen, welche Ebenen ein Meltdown über Ja, jetzt schreit der halt rum, was er will“ hinaus auch hat.
Themen, über die autistische und nicht-autistische Menschen ohnehin viel häufiger miteinander reden sollten, um einander mehr Verstehen und Mitgefühl entgegenbringen zu können und letztlich auch der Inklusion behinderter Menschen einen Schritt näherzukommen.

Fazit: Der Film ist hmmnjagut – der Podcast, die Bücher und die Internetpräsenz der Wochenendrebellen sind besser.
Viel besser.

*full disclaimer: Ich habe Jasons Buch (T)Raumschiff Erde, welch Wunder wir zerstören“ gesetzt und werde auch die Fortsetzung von Wir Wochenendrebellen“ setzen. Diese Rezension wurde unbeauftragt geschrieben. Den Eintritt zum Film habe ich selbst bezahlt.

 

Fundstücke #88

Am Abend kam noch eine E-Mail. Arbeit. Am Wochenende. Klar.
Ich arbeite 30 Stunden im Verlag, unzählige weitere selbstständig. Irgendwie ist immer irgendwas. Pause, Ruhe, den Kopf voller Raum, damit meine Gedanken sich auch mal ausstrecken und Radschlag machen können, die hab ich seit Februar eigentlich nicht mehr gehabt. Nicht so, dass ich keine Angst davor hatte, dass meine Gedanken in Traumazeugs stapfen oder Erinnerungslawinen freitreten, die ich nicht vor meinem Schreibtisch aufhalten kann.

Erreichbar zu sein ist mir wichtig, ich empfinde das als Teil meiner Aufgabe, weil ich es oft mit Menschen zu tun habe, die noch nicht wissen, wie Buchsatz funktioniert und was er bedeutet. Oder, was ich umsetzen kann und was nicht. Welche Effekte auf Fotos welche Grundlage haben. Dass man nicht alle großen schweren Texte mal eben so in Leichte Sprache schreiben kann.
Ich finde es wichtig, da zu sein. Sicherheit durch Wissen und Verstehen zu vermitteln. Ich nehme die Projektbabys anderer Leute sehr ernst und zu dieser Ernsthaftigkeit gehört ein sachorientierter Umgang für mich. In der Regel kann ich mir den emotionalen Anteil, die persönliche Bedeutung von Projekten für die Menschen herleiten. Und auch, wenn ich darin oft nicht sehr konkret werden kann, so weiß ich doch immer: Es soll gelingen. Es soll nicht weh tun, es soll weder finanziell noch persönlich Grenzen sprengen. Es soll einfach klappen, mit allem, was verfügbar ist.
Das ist meine Insel. Meine Basis. Vor allem, wenn ich es mit Menschen zu tun habe, die ich nicht gut lesen kann und die meine Sachorientierung mit Desinteresse oder wenig geteilter Hingabe für sich übersetzen. Das passiert selten, aber oft immer dauernd als ewig dräuende Wolke manchmal eben schon. Manchmal bin ich halt die einzige Person, die noch Kapazitäten hat oder die, die gerade noch so bezahlbar ist.

In einer E-Mail einige Tage davor ging es darum, mich in einem Projekt zu ersetzen, in das ich einige Monate Vorarbeit gesteckt habe. Nach 65 unbezahlten Überstunden und viel unbeantwortetem Kommunikationsproblem, ein Hammer. Eine Kränkung auch, aber doch noch haltbar. Es ist nicht mein Projekt, nicht meine Entscheidung. Ich bin dafür nicht wichtig – die Arbeit dafür ist wichtig und wenn sie jemand anderes macht, dann ist das gut fürs Projekt und also für die Leute. Und das ist doch schön.

Nur … die Ungerechtigkeit. Die nicht entlohnte Arbeit, die ungesehene (Über-)Anstrengung, die Energie, die es mich kostet, mich aus mir selbst heraus in dem Kontakt und der Arbeit zu orientieren und effizient zu werken.
Und dann diese Mail am Abend. Die noch nicht einmal an mich gerichtet war, sondern andere in dem Projekt. In der auf eine Weise über mich geschrieben wurde, die meine professionelle Haltung untergrub. Sinngemäß stand dort, dass ich zu emotional für weitere, evtl. sachlich notwendige Interaktion sei, nachdem ich einen dann unnötig gewordenen Termin, der ebenfalls unbezahlt und in meiner Freizeit hätte stattfinden sollen, verweigert habe.
Der Klassiker. Empathie für die einen – anmaßende Übergriffigkeit für die anderen. Mich zum Beispiel. Entmachtend ist das. Erniedrigend. Und wozu? Ich verstehe es nicht. Merke aber deutlich: Es tut mir weh und ist unnötig, weil sinnlos in Bezug auf das, was wir als Menschen miteinander zu tun haben.

Es läuft nur selten so schlecht in meiner Arbeit. Aber wenn, dann fast immer ziemlich genau so schlecht.
Geldminus, Kraftminus, ein Minus in dem, was es braucht, um allen Traumawahrheiten, die im Hintergrund ihre vollen Bingokarten hochheben, die Realität entgegensetzen zu können.
Noch nie wurde ich einfach nur so ersetzt oder geghostet. Wegen „gefällt nicht“ oder „Finanzierung fehlt“ oder „grundsätzliche Projektänderung“. Wenn dann, weil es sozial nicht angenehm genug war. Nicht genug verflauscht, dass bestimmte Dinge einfach nicht gehen; nicht schon im Vertrag festgelegt, dass jede Arbeitsstunde bezahlt wird, nicht genug Smalltalk, nicht genug persönlich angenehme Interaktion insgesamt.
Ich bin ein_e okaye_r Arbeiter_in, aber es macht oft einfach nur bedingt Spaß, mit mir zu arbeiten. Und das macht viel aus. Unter anderem hebt es die Schwelle, mich in Teams einzubinden. Mir Brücken in Smalltalk zu bauen. Gleichzeitig senkt es die Schwelle, mich zur Ausführungsmaschine zu degradieren. Also zu vergessen, dass ich Grenzen und Gefühle habe oder meine Grenzen und Gefühle als Störung zu behandeln, nicht respektvoll ist.

Dass ich meine Auftraggeber_innen seit der Pandemie praktisch nie sehe und viel Kommunikation per E-Mail stattfindet, trägt leider auch nicht dazu bei, mich als Mensch wie andere auch darzustellen.
Mir kommt die schriftliche Kommunikation entgegen, weil der Informationsaustausch für mich leichter erkennbar ist, als im Gespräch. Anderen Menschen ist das oft fad und anstrengend. Sie wollen und brauchen das Reizfeuerwerk des direkten Kontaktes. Spaß first, Information second.
Es ist einfach vertrackt.

Aber! Mit dem übertriebenen Elan der Überkompensation und nur genug Willen zur Zugehörigkeit, kriege ich das in der Regel dann doch mehr oder weniger hin. Meistens jedenfalls.
Meine Auftraggeber_innen wissen, dass ich Autismus und Shit kompensiere. Jedoch ist den wenigsten klar, was das genau bedeutet. Dass es genau das bedeutet – ich ballere ununterbrochen alle meine Energien aus allen Rohren nur für sie und gebe dafür einfach viel mehr als nur meine Lebenszeit her – hat für die meisten Leute gar nichts mit meinem Autismus zu tun, sondern mit meinem Charakter. Ich bin halt nett und kann nicht Nein sagen. Geringer Selbstwert. Großes Herz. Ba dumm tss.

Dabei bin ich einfach konsequent. Wenn mich jemand mit etwas beauftragt, dann führe ich den Auftrag aus. Nach bestem Wissen und Gewissen, aller Kraft, allem, was ich geben kann. Alles andere würde für mich keinen Sinn ergeben. Man bekommt keinen Arbeitsauftrag, in dem es heißt: „Machen Sie mal so lala.“ Das Ende jedes Auftrages hängt an der Zufriedenheit der Auftraggebenden und zu erraten herauszufinden, was sie zufrieden macht, ist Kern jeder Arbeit im Dienstleistungssektor. Das ist in der Gestaltung und Textarbeit nicht einen Deut anders als in der Gastro oder in der Produktion anderer Güter.
Und ich bin eine Person, die nicht gut im Dechiffrieren sozialer Hinweise ist. Man muss mir sagen, was zufrieden macht. Man muss mir sagen, was man konkret von mir erwartet. Verstehen, dass meine Vorschläge tatsächlich immer nur Vorschläge sind. Glauben, dass ich wirklich und echt nie mehr sagen will, als ich sage bzw. schreibe.

Vermutlich unterschätze ich, wie viel Anstrengung es für andere Menschen bedeutet, sich in diesen Punkten an mich anzupassen. Oder sich dem wenigstens theoretisch anzunähern.
Und vermutlich ist meine Prämisse auch einfach falsch. Warum sollten sich andere Menschen, um einen entspannten, befriedigenden Kontakt mit mir bemühen? Das mache ich ja schon.

die Absichten der anderen

Vor kurzem wurde die Frage an mich gerichtet: „Was brauchen Betroffene (organisierter, Ritueller) Gewalt, um sich sicher zu fühlen?“
Sie erschien mir banal und ich antwortete sinngemäß, dass es Sicherheit braucht. Wenn man Angst hat, braucht man Sicherheit.
Das Gespräch ging noch lange und am Ende fragte ich mich, ob die fragende Seite selbst zu unsicher war, um anderen Sicherheit zu bieten. Im Nachhinein wurde mir klar, dass es bei der Frage im Kern nicht um die Bedarfe gewaltbetroffener Menschen ging, sondern um Dinge, die nicht ausgesprochen wurden. Mein Punkt loszulassen und aus dem Kontakt zu gehen – um nicht noch mehr Angst zu bekommen.

Es war klar, es ging um etwas anderes und mir war klar, dass ich es nicht erraten können würde. Zu wenige Informationen, zu wenig naher Kontakt, zu wenig Relevanz meiner Sicht auf die Dinge, um darauf zu beharren, sie gesagt zu bekommen.
Und – die Kluft.

Die gleiche Kluft, mit der ich mich in den letzten Tagen auch befasse.
Ich bin verbundener mit einem jugendlichen Funktionssystem in mir. Mein Bild von meinem jugendlichen Lebensalltag wird umfassender. Meine Möglichkeiten, die eigene kindjugendliche Perspektive auf die Gewalt in der Herkunftsfamilie zu erinnern, vermehren sich.
Es sind existenzielle Leiden und Fragen, auf die ich auch heute keine Antwort finde und kaum Linderung einbringen kann. Und es sind schwerwiegende Entscheidungen, die in einer Einsamkeit getroffen wurden, die ich zuweilen passender als „Isolation“ bezeichnen muss.

Denn schon früher konnten wir die Absichten anderer Menschen nicht erkennen. Ein autistisches Feature. Für mich das Element, das meinen Autismus zu einer sozialen Behinderung macht.
Denn wenn man nichts voraussetzen kann, ist immer alles möglich.
Im Guten wie im Schlechten.

Menschen können wirklich sehr nett, sehr liebevoll, sehr fürsorglich, sehr hilfsbereit sein – vor allem, wenn man sie selbst ohne Vorannahmen über sie anspricht und im Gespräch alles erzählen lässt, was sie erzählen wollen. Die allermeisten Menschen fühlen sich wohl, wenn sie mir ihr Bild von sich gestalten können und je wohler sie sich fühlen, desto sicherer fühle ich mich im Kontakt mit ihnen.
Und da ist die Falle.
Denn manche Menschen lügen. Und obwohl ich weiß, dass es Menschen gibt, die das tun, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich es merke, gering. Das hat nichts mit Vertrauensseligkeit zu tun oder Naivität oder Dummheit. Es hat damit zu tun, dass die Lüge ein Handeln mit einer Absicht ist, die ich nicht wissen kann, wenn ich der Person weder nah noch verbunden, noch ähnlich bin, was den Status angeht. Niemand kann das – aber die meisten Menschen können sich intuitiv in andere Menschen hineinversetzen und Annahmen machen, mit denen sie sich sicher fühlen, weil sie in der Regel zutreffen oder (in Bezug auf die Sache) irrelevant sind. Die meisten Menschen erkennen sich selbst in anderen Menschen. Das ist der Trick, das Ding, die Fähigkeit. Ich erkenne mich oft nicht einmal in mir selbst.

So bleiben mir im Kontakt mit anderen Menschen nur zwei Optionen:
Entweder es ist immer wahr (richtig), was andere Menschen mir mitteilen oder es ist immer gelogen (falsch). Mit diesen Optionen habe ich mich schon als Kind befasst. Die grüne, mit Kunststoff überzogene Wäscheleine in der Hand, mit der ich mich erhängen wollte, nachdem mich meine einzige ~„Freundin“~ schon wieder belogen hatte, um mich vor anderen Kindern bloßzustellen. Nachdem ich meine Lehrerin damit enttäuscht hatte, nicht zu wissen, was sie von mir wollte, nachdem die Horterzieherin sich laut gefragt hat, ob ich denn nie mal richtig zuhöre, wenn sie etwas sagt. Während ich meine eigenen Eltern nie verstand, nie zufrieden machte.
Ich wusste einfach nie, was sie wollen und erst recht nicht warum.

Damals habe ich für mich entschieden, dass immer alles wahr ist, was andere Menschen mir sagen. Auch, weil das mit dem Erhängen nicht geklappt hat. Denn das wäre die Alternative gewesen: Menschen für immer meiden. Einfach nie wieder jemals mit irgendwem in Kontakt gehen. Nie wieder für immer. Auf ewig ganz allein sein. Solch ein Vorhaben lässt sich nur tot umsetzen.
Und das hatte nun einmal nicht geklappt. Und ich hatte Angst bekommen. Auch irgendwie nachvollziehbar.
Woher dann der Mut kam sich für ein Leben in Option „alles ist wahr“ zu entscheiden, weiß ich noch nicht. Vielleicht ging es auch nicht um Mut. Aber mutig erscheint es mir heute. Mutig und vielleicht nur möglich, weil ich bereits eine dissoziative Identitätsstruktur hatte.

Viele Menschen erwarten von mir, heute sehr misstrauisch zu sein. Auch, weil ich nicht vertraue. Für mich sind „Misstrauen“ und „Vertrauen“ aber kein Gegensatzpaar und ich bin nicht misstrauisch – ich bin absolut trauisch. Ich traue allen alles zu und kann mich in der Folge der Logik anderer Menschen einigermaßen anpassen.
Sie tun mir schreckliche Dinge an und begründen sie mit Lügen, die ich nicht durchschauen kann? – Sie haben Gründe, die schrecklichen Dinge ergeben Sinn, ich kann sie rationalisieren und zumindest so verpacken, dass ich handlungsfähig bleibe. Solange sie mir ihre Gründe sagen, kann ich mich in ihrer Logik sicher fühlen.
Sie sagen mir schöne Dinge und sind nett zu mir, belassen es aber bei mir, herauszufinden oder „einfach zu wissen“ wieso oder, genauer gesagt, mit welcher Absicht? – Stress pur. Angst, Unsicherheit, Unwohlsein.

Sobald ich keine äußere Wahrheit vermittelt bekomme, bin ich mit dem Nichtvorhandensein einer eigenen Wahrheit aufgrund von tausenden möglichen Wahrheiten konfrontiert. Und ich bin gezwungen zu raten. Oder viel zu fragen – was üblicherweise zur Folge hat, dass mich die Leute für dumm, naiv, ignorant, desinteressiert oder empathielos halten – oder außergewöhnlich einfühlsam und interessiert an ihnen. In jedem Fall sehen sie nicht, in was für einer prekären Situation ich bin. Wie anstrengend es für mich ist. Mit was für einem Ausmaß an Unsicherheit – und also praktisch grenzenloser Angst – ich gerade im Kontakt bin. Für mich gibt es in solchen Momenten keinerlei Sicherheiten und das ist der einzige Fakt, dessen ich mir sicher sein kann.

Meine Kompensation in solchen Momenten ist ein parallel zum Kontakt ablaufender Abgleichprozess. Denn ich kann zwar das Verhalten und die Absichten anderer Menschen nicht gut vorhersehen, aber ich bin gut in Mustererkennung. Einige Geschichten wiederholen sich – manchmal erkenne ich sie wieder und kann zeitgerecht reagieren. Zum Beispiel in der Situation am Anfang dieses Textes.

Ich denke außerdem viel über Gespräche nach und gehe dabei wie ein_e Forensiker_in vor. Logiken und Motivationen lassen sich in der Regel gut zurückverfolgen bzw. herleiten, wenn man das Ergebnis kennt. Im Nachhinein komme ich also oft noch dahinter, wer mir was warum erzählt hat und auch Lügen kann ich dann erkennen oder zumindest mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ausschließen oder annehmen.

Ein weiterer kompensierender Akt ist die Dissoziation. Dieser ist allerdings nicht willkürlich von mir einsetzbar, sondern stellt sich ein, wenn ich erschöpft oder auch zusätzlich zu meiner „normalen Alltagsangst“ mit getriggertem Erinnern an traumatische Erfahrungen belastet bin.
An dieser Stelle ist es mir wichtig zu betonen, dass es nicht der Stress durch die Vielzahl an möglichen Wahrheiten ist, der die Dissoziation auslöst. Häufig ist es eher die Notwendigkeit oder der traumareaktiv von mir angenommene Zwang zur absoluten Wahrheit, obwohl ich keine Ahnung, Meinung, Idee, kein Wünschen, keinen Willen dazu habe. Da greifen Traumalogiken, die ich in dem Moment selbst nicht bemerke – weil sie ja sehr logisch sind und scheinbar zur (fehlinterpretieren) Situation passen.
Die Dissoziation greift in dem Moment, in dem ich Angst davor habe, der falschen Annahme zu folgen und damit andere Menschen zu enttäuschen, zu verletzen, zu beleidigen, zu kränken, zu irritieren … und also nicht zu bestätigen, zu erfreuen, zu befriedigen … auf, dass sie mich nicht zerstören wollen, sondern heil lassen. Vielleicht sogar okay finden. Kontakt zu und mit mir wollen.

Dieser Fokus – dieses Kreisen um die Absichten und Gefühle anderer Menschen ist typisch für komplex traumatisierte Menschen. Das Leben vieler Menschen hing und hängt davon ab, zu wissen, wann jene, die an ihnen zu Täter_innen werden, nicht zufrieden mit ihnen sind. Wann Gefahr droht, weil diese Menschen nicht bekommen, was sie wollen. Welche Fehler und Handlungen man besser lässt, weil sie gefährlich für eine_n sein könnten.

Ich habe, was das angeht, nie Glanzleistungen vollbracht und bin heute geteilter Meinung darüber. Denn einerseits weiß ich, dass die Gewalt an mir nichts mit meinem Verhalten und mir zu tun hatte, sondern mit den Entscheidungen, die die Täter_innen getroffen haben. Andererseits gibt es Erfahrungen, die für mich erst dann überhaupt nur eine Chance auf Logik durch forensische Spurensuche bekommen, wenn ich eine gewisse Kohärenz darin schaffe. Die Erinnerungen daran also zusammensetze und dann Stück für Stück auf Hinweise für die Motivationslage untersuche.

Das wiederum bedeutet für mich eine Unsicherheitslage. Ein ständiges Abwägen darüber, welche Erinnerungen wie valide sind und wovon in welcher Art verzerrt oder falsch sein könnten. Es bleibt immer das Risiko der Unterstellung, da ich natürlich die Perspektive der anderen Person substituiere. Ich lebe damit, dass meine eigene Geschichte, meine eigene Wahrheit über meine Erfahrungen und mich nur zu einem unbestimmbaren, niemals fest und eindeutig definierbaren Grad „wahr“ (richtig) ist.
Für mich ist das identisch mit meinem Alltagsgefühl im Kontakt mit anderen Menschen und dadurch – nicht immer und nie leicht – beruhigend. Es passt in mein Lebens- und Ichgefühl.

Das ist nicht toll und oft würde ich gerne mehr Sicherheit empfinden können. Ich würde auch gerne jemand sein, die_r sich versichern lassen kann von den Handlungen anderer Menschen, weil sie_r die guten Intentionen wahrnehmen kann.
Ich bin aber nicht so jemand. Ich muss es gesagt bekommen und nachvollziehen können. Sonst wird das nichts. Außer enttäuschend. Verwirrend. Belastend. Komisch.
Isolierend.

Weiterleben in andersneu

Nachdem ich den Partner vom Krankenhaus abgeholt hatte, begannen wir, den Tisch mit Medikamenten zu füllen. Haufenweise Schachteln, medizinisches Gerät und dessen Zubehör.
Dann kamen die Lebensdokumente dazu. Krankenkassenzettelage, Versicherungsbriefe. Irgendwann war etwas Steuerliches zu tun, der Tisch hats getragen.

In den vergangenen 4 Monaten konnte ich das Zimmer nicht betreten, ohne damit konfrontiert zu werden, was ihm passiert ist. Wie schlecht es ihm ging. Wie lebensgefährlich es war. Wie schlimm es war und wie viel schlimmer es noch hätte kommen können.

Für den Partner war es bequem so. Vor allem am Anfang, als er noch nicht lange stehen oder gehen konnte.
Ich bemühte mich um Desensibilisierung. Drücke die Gedanken weg, setzte mich auf meine Gefühle. „Es ist ein Ausnahmezustand, das geht auch wieder weg. Alles hat ein Ende“, habe ich mir gesagt und dieses Ding mit den Augen gemacht, bei man sehend nichts sieht.

Ich habe manchmal Anflüge von merkwürdigem Stolz auf meine Fähigkeit mich an Shit anzupassen und mein eigenes Darunter-leiden zu vergessen. In Bezug auf diese Situation ist er doppelt gestärkt.
Ich bin die_r Partner_in – es war gut, wie ich das hingekriegt habe. Ich habe mich bewährt. Ich war für ihn da. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich aktiv für einen anderen Menschen da – und habe es – mit meinen psychokranken Traumaskills !!! – hingekriegt – BÄM!
Denn das ist der Stoff aus dem „sich an Langzeitshit anpassen“ gemacht ist: „Nicht dran denken.“, „Auf die Gefühle setzen.“, „Durchziehen.“, „Nothing else matters because everything else matters.“

Im Nachhinein fragt man sich immer, wie man das überhaupt so ausgehalten hat. Aber guckt man genau hin, sieht man, dass da vor allem die Dissoziation aufrechterhalten werden musste und das alle Energie gebunden hat. Weniger ein akut bewusstes Leiden oder eine konkret definierte Not.
Deshalb finde ich diesen ganzen Überlebens-Wertschätzungstrallafitti so unsinnig. „Du hast überlebt – das war die Leistung“ – für mich ist das Quatsch. Die Leistung ist die Leistung. Dissoziation aufrechtzuerhalten, ist die Leistung. Das nicht damit aufhören. Das konsequent und immer und immer und jeden Tag den Balken so hoch halten, damit sich niemand dran aufhängt – DAS ist die Leistung.

Und natürlich das Klarkommen im Anschluss. Die Neutralisierung. Die Wiederanpassung. Der Wieder(neu)aufbau.
Denn jetzt ist der Tisch leer.
Die Steuer gemacht, der coronabedingte Diabetes ausgeheilt. Die Menge an Medis in einem kleinen Heidelbeerkörbchen untergebracht. Wir konnten wieder Flügelschlag spielen. Ein Besuch war da. Wir haben an dem Tisch gegessen und einige Stunden gequatscht.
Die Ausnahme ist zu Ende, der permanente Trigger ist abgebaut.

Ich merke jetzt sehr deutlich, wie irritiert meine Wahrnehmung davon ist, dass dort nichts mehr ist, das ich aktiv nicht beachte und bedenke. Wie vorsichtig und bedächtig ich dieses Danach befühle und auf Echtheit prüfe.

Auch das so ein Ding. Es gibt kein Puff und dann Hurra alles wieder fein. Keine große Ausatmung mit seligem Dusel.
Eher ein scheues Hinfühlen, immer bereit, sich sofort wieder in sich zu verstecken. Vorsichtiges Auftreten und gucken, obs hält. Ein neuer Abschnitt der Anpassung. Ein neues, anderes Level an Alltagsdissoziation.
Ein Weiterleben in andersneu.

orgastischer Overload

Es ist die totale Überflutung, in die ich mich hineinschmeiße, wie sonst nur ins Schwimmbad. Das ist so klar wie ebenjenes Schwimmbadwasser, aber seien wir doch ehrlich: Sonst würde ich das auch nicht machen.

Am Mittwoch eine Lesung in Dresden, am Donnerstag eine Übernachtung in fremder Umgebung bei neuen Leuten, am Freitag ein Intensivplenum bei der Arbeit, die im Moment außerordentlich anstrengend ist.
Aber, oh Adrenalin. Du süße Wunderdroge, bereitgestellt in Hülle und Fülle. Bereit mich zu betäuben, zu beflügeln und mich damit so nah an meine Vorstellung von „Normal“ zu bringen. <3 Ohne dich wäre das nicht möglich. Ohne dich wäre das alles hier ein Albtraum. Ich würde vermutlich fühlen, wie weh mir alles tut. Würde vergessen, was mein Plan ist, würde meine Ziele aufgeben, würde mich hassen, weil ich meinen eigenen Erwartungen nicht nachkommen kann.

Ich glaube, dass ich zu selten kommuniziere, wie groß meine Abhängigkeit von Stresshormonen für mein Alltagsfunktionieren ist. Und was das für Auswirkungen auf meine Gesundheit hat. Und mein soziales Umfeld. Und letztlich auch für mich. Denn natürlich ist mir klar, dass auch mein Körper nicht dafür gemacht ist. Und sowieso: Der Absturz kommt immer. Ich weiß, wie mein Wochenende wird. Und, dass ich meinen Akku, meine Energiereserven, nicht wieder aufgefüllt bekomme. Bis zur nächsten Lesung am 4. August in Lübeck (18 Uhr, Café Brazil) werde ich mich im Ladevorgang befinden. Um mich dann erneut komplett zu verausgaben. Weil ich will, weil ich kann und weil es sich einfach gut anfühlt, alles zu geben, was ich habe. Ich liebs einfach. Es ist so schön, sich nicht tot zu fühlen. Oder halbtot. Oder in Wahrheit tot, doch zwangsbelebt von Reflexen und automatisierten Skripten. Und das zusammen mit den Dingen, die mir gefallen. Die mir wichtig sind. Für die ich mich entschieden habe.
I LOVE IT!
Für diese Momente habe ich gekämpft. Die waren mir das Überleben wert und wichtig.
Dass ich sie nicht bekomme, ohne dass mein Körper in den absoluten Overdrive schaltet, dafür kann ich nichts. Glaube ich. Denn egal, wie langsam ich es angehe, wie zart und bedacht ich mit mir umgehe – der Schalter kippt irgendwann einfach.
Und warum weiter dagegen ankämpfen? Es hat keinen Sinn, setzt mir nur ein weiteres Ziel, das ich nicht erreichen kann.

Also rein da. In den gezielten Reizrausch. In das orgastische Flimmern, das mein Blut zum Glitzern bringt und eine bunte Eindruckswolke in meinem Geist hängenlässt. Heute ist heute. Es ist keine Gewaltwolke. Wenn ich später hineingreife, wird es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht wehtun. Es wird Glücksmomente rieseln, Freude regnen, mich dankbar und satt machen. Ich werde etwas von der Welt kosten und schon früh genug merken, was ich davon verdauen kann und was nicht. Das Jetzt ist eins mit Morgen drin. Ich bin nicht mehr allein. Alles ist lösbar. Und wenn nicht, dann ist das eben so. Ich kann immer suchen, wenn ich noch nichts gefunden habe.

Ich habe mich entschieden, diese Momente zu wollen und zu genießen. Gerade weil so viele andere Momente in meinem Alltag genau die gleiche Wirkung auf mich haben, dann aber schier unerträglich sind.
Diese Momente werden nicht weniger oder mehr, leichter oder einfacher, wenn ich darauf verzichte. Im Gegenteil. Je mehr ich mich schone, desto schlimmer wird der Absturz, desto größer die Kluft zwischen der Welt und mir. Und desto sinnloser wird die Schonung, die Vermeidung selbst. Denn was soll ich denn mit einem vollen Akku, der nicht benutzt wird? Warum nie vom Vorrat essen?

Ja, ich muss aufpassen. Ja, meine Energiereserven von Dingen angefasst, die bei anderen noch nicht an die Reserven gehen. Ja, mein traumatisierter Körper hat ein ganz eigenes Energieniveau. Mein autistisches Gehirn hat eine Verdrahtung, die auch im Ruhezustand erheblich viel mehr Energie zieht, als nicht-autistische.
Aber das ist alles zu einem Zweck da: Lebendigkeit. Interaktion und Kommunikation mit der Mitwelt.
Nicht nur dann und wann, sondern immer.
Auch, so wie jetzt. Ein bisschen betäubt. ein bisschen durch, aber ganz da. Mittendrin. Im Leben.

#1 „Ich bin da“

Die Präsenz anderer Menschen ist für mich schwierig.
Einerseits war oft niemand da, wenn ich es gebraucht und zutiefst gewünscht habe – andererseits kann mich die Anwesenheit anderer Menschen sensorisch überwältigen.
Ein Dilemma.

Denn natürlich habe ich auch mit den klassischen Bindungsthemen zu tun. Ich möchte Kontakt mit anderen Menschen. Ich möchte Nähe, Liebe, Geborgenheit, Gehaltensein, Miteinander und was wir Menschen nicht noch alles füreinander herstellen können.
Aber. Meine Er_Lebensrealität war lange: Ich kann mich nicht drauf verlassen. Es tut weh. Es schadet mir. Ich habe wenig bis gar keine Kontrolle über die Natur, die Ausgestaltung, den Einfluss des Kontaktes auf mich. Ich muss bei jedem Kontakt mit allen Kanälen offen sein, um mich zu schützen. Ich muss mich immer an andere Menschen anpassen (Ich darf nicht ich sein). Jeder Kontakt ist irgendwie unangenehm, anstrengend und auf die eigene Art schwierig.

Im Kontakt mit professionell helfenden, begleitenden, unterstützenden, behandelnden Menschen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich selbst von allem Unangenehmen frei sehen wollen. Manche sind gekränkt oder unangenehm berührt, wenn ihnen klar wird, dass ich sie auf eine Art nicht viel anders empfinde als Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden. Oder generell nicht nur allgemeine Gefühle von „Okay, wir sind jetzt hier miteinander“ mit ihnen verbinde.
Sie fühlen sich dann in ihren Taten gleichgesetzt und als Mensch abgewertet, weil sie Täter_innen abwerten und die eigenen Taten nicht als gewaltvoll denken können, wollen, sollen.

Erst mal ist jeder Mensch eine diffuse Reizmasse für mich. Eine Lärmquelle, die nur mit viel Konzentration, Willen zum Verstehen und Kraftaufwand zu einer menschlichen Stimme, Körpergeräuschen und Ort von Körper-Umwelt-Interaktion wird. Eine Masse, die ich mir in Abgrenzung zur Umgebung definieren muss. Ein Etwas, das ich mir erst dann als Jemanden verständlich machen kann, wenn ich Zeit und Raum hatte, alle ihm_r eigenen Muster zu erfassen, zu erkennen und verlässlich wiederzuerkennen.
Und selbst dann bin ich noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich das Handeln einer Person und ihrer Wirkung auf mich einordnen, begreifen oder beurteilen kann.

Auf eine Art ist meine Wahrnehmung anderer Menschen also immer sehr gegenwärtig und konkret – zeitgleich aber auch diffus. Denn wenn ich mich nicht konzentrieren kann, bekomme ich kein Bild von der Person und unser Kontakt bleibt gewissermaßen virtuell oder auch hypothetisch in meinem Kopf. Ich rate, intellektualisiere, stelle Thesen auf und verfolge sie. Aber die Person ist für mich dann nicht präsent. Ich weiß zwar, dass sie da ist – dass es sie gibt – aber sie ist nicht mit mir da. Nicht wie ich präsent.
Nicht in meinem Raum, meiner Zeit, meiner Ein.ordnung des Ist da.

Ich betrachte meine sensorischen Quirks als erste Hürde für den Kontakt. Die zweite Hürde ist traumabedingt. Auch ein Flashback kann mich in meiner Ein.ordnung von Menschen verwirren und verunsichern. Und natürlich sind meine Vermeidungsstrategien für sowohl Flashbacks als auch sensorische Überwältigung und soziale Schwierigkeiten hauptsächlich deshalb effektiv, weil sie beinhalten, keinen Kontakt mit Menschen zu haben.

Aber auch die professionelle Abstinenz (oder ihre berufsspezifischen Pendants), die so oft so wichtig im professionellen Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext ist, kann eine solche Hürde darstellen.
Das Abstinenzgebot ist eine Schutzmaßnahme für Patient/Klient_innen. Danach darf das spezielle Vertrauensverhältnis nicht für eigene Ziele und Zwecke ausgenutzt werden. Private (wie sexuelle) Kontakte sind untersagt. Auch mit nahestehenden Personen der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.

Um so einem Gebot zu entsprechen, ist eine gewisse emotionale Entfernung wichtig und auch eine bewusst gestaltete Grenze bezüglich persönlicher Involviertheit. Zumindest im Ausdruck gegenüber der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.
Man darf sich also im professionellen Kontext verbinden – aber irgendwie auch nicht. Nicht so jedenfalls. Wie Freund_innen. Familie. Arbeitskolleg_innen. Hobby-Kumpels. Eher so wie … Ja – wie eigentlich?
Kompliziert.

Ich hatte schon Therapeut_innen, die nie irgendeine emotionale Reaktion gezeigt haben. Das hat einerseits erleichtert – und gleichzeitig unangenehme Erinnerungen ausgelöst.
Ich hatte aber auch schon mit Betreuer_innen und Therapeut_innen zu tun, die sich mir praktisch grenzenlos geöffnet haben. Das hat mich überfordert und an vielen ungünstigen Strategien festhalten lassen, weil ich daraus Verantwortung abgeleitet habe, die nicht meine war.

Inzwischen bin ich in mir selbst so weit orientiert und versichert, dass ich weiß, welche Art der Verbindung im professionellen Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungskontext für mich am zuverlässigsten funktioniert, nämlich die sachbezogene. Eine klar definierte und eindeutige abgesteckte Kontaktregelung, ein klarer Arbeitsauftrag, ein eindeutiges Ziel sowie eine kontinuierliche und vorhersehbare Herangehensweise entlastet mich davon, meine Behandler-/Helfer-/Unterstützer-/Begleiter_innen als Jemanden zu erkennen (und in der Folge dazu passend zu interagieren). Sie werden zu den Operatoren, wie es ihr Beruf (auf dem Papier) vorschreibt: „Für mich (im Sinne von ‚für mein Therapie-/Ziel‘) da“ – aber nicht „mit mir da“.

In 99 % der Zeit, die ich mit professionell begleitenden, helfenden, unterstützenden oder behandelnden Personen zu tun habe, will ich nicht mehr, brauche ich nicht mehr und würde verwirrt oder überfordert, wenn mir mehr gegeben werden würde.
Das eine andere Prozent der Zeit bin ich so tief in traumatischen Gefühlen von Verlassenheit verstrickt, dass es mir hilft, wenn mir jemand sagt: „Ich bin da“.
Nicht: „Ich bin ((für) immer) für dich da.“
Und auch nicht: „Ich bin da.“

Sondern: „Ich bin da.“, oder „Ich bin hier.“
Auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt – früher oder später werde ich mich fragen, wo „da“ oder „hier“ eigentlich ist und eine erste wichtige Stufe zur Re-Orientierung darin finden.
Denn dieses Verlassenheitsgefühl, diese „Ich werde jetzt sterben, weil niemand da ist“-Empfindung ist so global, dass sie Zeit und Raum für mich zu praktisch irrelevanten Faktoren machen. Datumsangaben, sensorischer Input, der ganze daily Skillkrempel ist in dem Moment nutzlos, weil ich sie nicht mit irgendetwas verbinden kann. Mir fehlt ein Anfang. Ein first contact mit dem Hier und Jetzt, sozusagen. Eine erste Berührung, eine erste Verbindung angebahnt von jemandem, die_r es für diesen Zeitraum professionell, im Sinne von abstinent, er.tragen und halten kann, mein erster Bezugspunkt zu sein. Nicht nur mit der Stimme und den Worten „Ich bin da“, sondern auch mit der eigenen körperlichen Präsenz (und ihrer Wirkung auf mich).

Ich habe lange gedacht, dass ich mich dafür schämen muss, dass es mir so gut nutzt, wenn mir dieser Satz gesagt wird. Ich wusste nicht, welches Bedürfnis von mir damit befriedigt wird, aber die Tatsache, dass es da war, hat bereits gereicht, um in mir praktisch alles zu aktivieren, was mich früher sicher gehalten hat.
– die Gewaltwahrheit, dass ich keine Bedürfnisse haben darf
– die Traumawahrheit, dass meine Bedürfnisse schlecht, falsch, krank sind, weil es meine sind
– die Gewaltwahrheit, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter (undurchschaubar, unkontrollierbar, willkürlich aufgestellten oder auch realistisch gar nicht erfüllbaren) Bedingungen erfolgen darf
– die Traumawahrheit, dass befriedigte Bedürfnisse mich gegenüber anderen Menschen verpflichten

Heute weiß ich, dass meine Bedürfnisse zu meiner Lebendigkeit gehören. Es also tatsächlich und nicht nur abstrakt oder im übertragenden Sinne mein Leben gefährdend ist, sie zu unterdrücken, missachten oder schlicht nicht zu erfüllen. Und, dass es mein Bindungsbedürfnis ist, das mit dem Satz „Ich bin da“ befriedigt wird. Etwas, das im professionellen Setting in der Regel nicht von irgendjemand anderem erfüllt werden kann als von der Person, die dann gerade anwesend ist.
Und etwas, das Menschen haben, um ihren anderen Bedürfnissen einen höheren Zweck als sich selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte man denn essen, trinken, schlafen, sich warm und sauber halten, wenn da niemand ist, mit dem man am Leben sein kann? Familie leben, gestalten, machen kann? Dinge erforschen, Abenteuer erleben und was sonst noch so viel geiler ist, wenn man sie mit anderen teilen kann?

Kein Bedürfnis ergibt Sinn ohne die anderen – kein Bedürfnis entsteht ohne Lebendigkeit.

Ein Kernaspekt meiner komplexen Traumatisierung und vieler Gewalterfahrungen im Leben spielt sich genau an dem Punkt ab. Ich wurde in vielen verschiedenen Kontexten beschämt, bestraft, verletzt und ausgenutzt, weil ich lebe.
Die Erfahrung zu machen, dass ich lebe, etwas brauche und es bekomme – ohne, dass es jemand ausnutzt – war und ist eine essenziell wichtige Erfahrung in meiner Traumatherapie. Nicht nur früher, sondern auch heute noch. Ich brauche diese Erinnerung und diese Versicherung immer wieder mal und zum Glück habe ich heute eine Therapeutin, die ein gutes Gespür dafür hat, wann das der Fall ist.

Und eine Therapeutin, die seit nun bald 11 Jahren da ist.
Auch das ist von Relevanz für mich. Ich habe in ihr einen Bezugspunkt im Leben, der kontinuierlich da ist. Und eben nicht nur so lange, wie es die Krankenkasse bezahlt, die Klinikregeln zulassen, der Träger das Konzept hält, die Projektförderung besteht, die persönliche Erfüllung/der Spaß an der Arbeit mit mir besteht. Sondern so lange, wie unsere gemeinsame Arbeit hilfreich und nützlich für mich ist. Ich schätze meine Chancen darauf, selbst bestimmen zu können, wann ich die Therapie nicht mehr brauche, als hoch ein und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit durch Kontrolle. Ich kann wirklich gehen, wenn ich möchte. Ich kann wirklich bleiben, wenn ich möchte. Sie ist da.