in Sachen „Weitermachen nach (re)traumatisierenden Klinikerfahrungen“

Nach dem letzten Text hat mich jemand gefragt, wie wir „das mit der Verarbeitung der Klinikerfahrung“ gemacht haben.
Die Person beschrieb, dass es für sie nicht händelbar sei, Traumawahrheiten bestätigt zu bekommen und das Gefühl zu haben, sich nicht schützen zu können. Etwas, das wir schon von vielen Betroffenen gehört haben.

Ich musste eine Weile darüber nachdenken, ob das auch meine Ausgangslage beim Klinik-GAU war.
War ich verletzlich oder nicht doch durch die Verletzungen (Traumatisierungen, die mich krank gemacht haben) schon sehr empfindsam, fragil, wenig belastbar und dadurch gewissermaßen doppelt verletzlich?
Für mich war es letzteres. Und darin befindet sich schon der Sitz einer meiner Traumawahrheiten: Wenn ich eine wehe Stelle habe, wird mich jemand genau dort wieder verletzen. Sie wird gesucht und gefunden werden. Sie wird benutzt werden, um mich unter Druck zu setzen. Sie wird benutzt werden, um mich zu demütigen. Sie wird nicht versorgt. Sie wird nicht beschützt. Es ist sicherer, sie nicht zu erwähnen oder zu zeigen.
So passiert es mir natürlich schnell Behandler_innen mit früheren Täter_innen zu verwechseln oder ihr Handeln als gezielt und planvoll verletzend anzunehmen – für mich ist die Ähnlichkeit einfach enorm. Es erfordert sehr viel Kraft und noch viel mehr Mut, einfach mal anzunehmen, dass diese Situation keine der Gewaltsituationen ist, die ich so gewohnt bin, dass ich sie sofort annehme.
Nun kann ich also entscheiden: „Okay, ich bin Opfer gewesen, ich sehe schnell mal was, was in Wahrheit nicht da ist. Wenn ich mich von anderen Menschen verletzt fühle, ist das schnell mal eine Verwechslung oder Unterstellung, die mich schützen oder beruhigen soll, das ist eben Teil der Traumafolge …“ Ich kann also die Verantwortung für die Situation übernehmen und die Menschen in meiner Umgebung davon befreien, irgendwas damit zu tun zu haben. Denn ich bin ja der Wirrkopf und niemand kann etwas für meine W.Irre in der Situation.

In institutionellen und professionalisierten Kontexten sehe ich das aber anders.
Wenn das Verhalten von Behandler_innen und Betreuenden dem Verhalten von Täter_innen so sehr ähnelt, ist das ein Problem für beide Seiten. Vor allem, wenn es als solches einfach verschwiegen werden soll oder aus strukturellen Gründen nicht verändert werden kann. Dann braucht es die Verantwortungsübernahme der Behandler_innen und Therapeut_innen dafür zu sorgen, dass sie alternativ handeln können und auch eine gewisse Offenheit und Ehrlichkeit bei der Vermittlung des eigenen Handelns an die Patient_innen. Denn nur so können diese ihre Wahrnehmung und Einordnung der Situation korrekt vornehmen und das Erlebte einordnen.
Oh – aber Vorsicht beim Anbringen so einer Ansicht.
Als Patient_in ist man nicht in der Position, den Behandler_innen zu sagen, dass sie Mist machen, wenn es um Mist geht, den sie nicht beeinflussen können, weil sie ihn machen wollen oder sollen. Vielleicht weil „das Team“ (die große Eminenz, die jede Verantwortung auf Station diffus werden lässt) ihn sehen will, vielleicht weil die_r Ober- oder Chefärzt_in ihn sehen will oder vielleicht einfach weil man nur für Mist bezahlt wird.
Hinzu kommt, dass in Klinikkontexten mit großer Selbstverständlichkeit eine Rollenzuweisung passiert, die behandlungssuchende Menschen ihrer Einflussmöglichkeiten generell beraubt: sie werden zu Patient_innen. Gewissermaßen zu pathologischer Masse, mit der gewisse Umgänge und Behandlungen gemacht werden. Dabei sind die Patient_innen in doppelter Hinsicht Auftraggebende und die Behandler_innen Arbeits.Leistende. Wir gehen dahin, um etwas zu bekommen, das uns und unserer Krankenkasse zugesichert wird, weil wir es allein nicht schaffen. Es ist überhaupt nichts falsch, krank, anmaßend daran, das auch bekommen zu wollen. Gar nichts.
Aber Patient_innen wird dieser Wunsch oft als Forderung oder auch persönlicher Angriff unterstellt. Und daraus entstehen Verstrickungen, Re_Inszenierungen und auch massive Verletzungen der allgemeinen Integrität. Alles nur, damit die Verantwortung allein bei den Patient_innen und nicht eben nicht auch bei den Behandelnden und Betreuenden bleibt. Was die machen, geht Patient_innen nichts an. Geschlossene Gesellschaft. Zum Wohle aller.

*

Ich musste auch darüber nachdenken, ob ich die Erfahrung, den Klinik-GAU, überhaupt verarbeitet habe.
Und muss sagen: Nein, habe ich nicht. Und so, wie ich das gerne hätte, werde ich sie vermutlich auch nie verarbeiten können.
Eine Erkenntnis, die so bitter ist, wie die, um jede andere Gewaltwahrheit meiner Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenenzeit. Es wird keinen Täter*in_Opfer-Ausgleich geben. Keine Mediation. Keine Wieder_Gutmachung. Keine Entschädigung. Gar nichts. Es ist passiert und niemand bedauert es.
Außer, dass ich nicht darüber schweige, in welchem Haus das war, wenn mich jemand fragt und welche Personalie in Verantwortung war, wenn es relevant ist, kann ich in der Sache überhaupt nichts weiter tun als sie zu er.tragen. Meine Gefühlsstürme spüren, den Auslösern nachempfinden, die Erfahrung so weit wie möglich zu objektivieren und immer darauf achten, dass ich meine Erfahrung von denen anderer abgrenze.
Ich muss darauf achten, mir nicht zu viele Klinikstories anzuhören, weil ich sonst von dem Meltdown oder schlimmeren Momenten des Kontrollverlusts in anderen Kliniken wie Fixierungen, den Missbrauch durch einen Pfleger oder soziale Schikanen in der Psychiatrie träume. Ich muss darauf achten, meine innere Brandrede an die damalige Therapeutin, die seit dem Klinik-GAU läuft, nicht in meine Argumentation für gute Traumatherapie-Richtlinien zu mischen. Wenn Behandler_innen mit mir sprechen, weil sie meine Arbeit interessant finden, verbiete ich mir, die aufkommenden Gefühle von Stolz, Gehörtwerden und Freude über den Kontakt zu bewerten. Ich nehme sie wahr und ordne sie weg wie ein Verwaltungsfachangestellter die Abrechnung. Nicht, dass ich wirklich irgendwann glaube, ich wäre irgendwie besonders oder in irgendeiner Weise gut in dem, was ich mache. Ich will diese Täterinnenperspektive über mich nicht bestätigen.
Der Schaden durch diese Erfahrung ist heute also dauerhaft schmerzlich schwelender Teil meines Lebens und entsprechend schwer überhaupt einzugrenzen.

Aber ich hatte vorher auch schon einen Schaden, der nie behoben werden, sondern gleichsam mehr oder weniger immer in Sanierung befindlich sein wird. Also was solls.
Vermutlich kommt man einfach nicht ohne Dellen durchs Leben. So entschmerze ich mir das manchmal, um meine Wahlmöglichkeiten bewusst zu halten. Denn auch wenn es total zynisch klingt, ist es so, dass man sich für den Schmerz entscheiden kann, wenn man sich für Vermeidung als okay und den Rest des Lebens als Option öffnet.

Ich dachte lange, ich dürfte im Leben nicht mehr vermeiden, weil ich das in Bezug auf viele traumabezogene Dinge bereits tue. Irgendwie hat sich bei mir die Überzeugung eingeschlichen, Vermeidung sei genauso schlecht wie meine PTBS-Symptomatik selbst. Vielleicht sogar eigentlich Teil der Krankheit, weil ich in der Therapie ja genau das Gegenteil tue und von mir erwartet wird. Ich soll mich widmen, ich muss mich konfrontieren, ich darf Trigger, Erinnerungen, traumabezogene Gefühle und Gedanken wahrzunehmen, nie mehr vermeiden – sonst funktioniert die Therapie nicht.
So stimmt das aber gar nicht. Jedenfalls nicht für mich.
Meine Therapieerfahrung ist, dass ich ohne bewusst zugelassene Vermeidungsstrategien überhaupt keine Kraft habe, um das zu verarbeiten, was ich mich traue, nicht mehr zu vermeiden.

In Bezug auf re.traumatisierende Klinikerfahrungen funktioniert das in etwa so:
Um mir von Behandler_innen und Pflegenden mitfühlend und verstehend anhören zu können, wie überarbeitet, überfordert, überlastet und strukturell niedergeworfen sie sind, muss ich vermeiden, an die Angewiesenheit von Patient_innen und meine Erfahrungen zu denken.
Um nicht in das Gefühl zu rutschen, mich selbst im Stich zu lassen, wenn ich „solchen Leuten“ gegenüber Mitgefühl und Solidarität ausdrücke, muss ich ganz bewusst wegschieben, dass es „solche Leute“ waren, die mich überlastet und strukturell ermächtigt, legitimiert, zuweilen gewissermaßen dazu beauftragt, verletzt haben. Wir können diesen Prozess auch gerne „Abgrenzung“ nennen, ich selbst nenne es aber „Vermeidung“, weil ich mich gegen meinen Schmerz und für die mitfühlende Fürsorge anderer entscheide. Ich bin lieber fürsorglich zu anderen als mir selbst, weil ich sonst meinen Schmerz fühlen müsste.
It’s a classic dance in the Vermeidungstanzdisco.

Und total okay für mich.
Ich habe nach dem Klinik-Gau beschlossen, erst dann wieder eine Klinik für Psychotherapie, Psychosomatik oder Psychiatrie als Hilfe in Betracht zu ziehen, wenn dieses Versorgungssystem so reformiert wurde, dass es in sich nicht mehr gewaltvoll ist.
Not so Fun Fact – aber wir sind ja bei Ähnlichkeiten: Das ist so ziemlich der gleiche Beschluss, den wir über unsere Herkunftsfamilie auch gefasst haben. Wir gehen wieder zurück, wenn sie sicher keine Gewalt mehr an uns ausüben.

Das ist kein „Nie“ – das würde viel zu viel Druck aufbauen und auch kein: Ich muss ganz allein irgendwas schaffen oder machen, damit das wieder geht. Es hängt nicht allein von mir ab, sondern bezieht beide Seiten mit ein.
Das kann ich gut er.tragen und halten, weil es mir auch Kraft dafür übrig lässt, mich um alternative Bedarfsbefriedigung zu kümmern.

Ich war immer sehr auf Kliniken und die Leute dort angewiesen, weil mich in meiner Jugend niemand haben bzw. behalten wollte. Als ich ein_e junge_r Erwachsene_r war, war die Klinik der einzige Ansatzpunkt für geschützte Tagesstruktur, Diagnoseverständnis und – verstörend eigentlich – Gemeinschaft. Ich war so allein in diesem Lebensabschnitt, dass Kliniken mehr Zuhause waren als meine eigene Wohnung und Behandler_innen mehr Familienersatz als zugegeben. Meine Angewiesenheit war so umfassend, dass ich mich den strukturellen und sozialen Gewalten dort praktisch rückhaltlos hingeworfen habe. Mit allen Konsequenzen.
Zum Beispiel der, dass ich nicht dachte, eine ambulante Therapie allein würde je für mich reichen, damit es mir besser geht. Oder der, dass ich Angst vor den Herausforderungen der Normalität was berufliche Bildung oder Arbeit bekam, weil ich dann ja nicht mehr im Intervall in die Klinik gehen könnte (und entsprechend allein und überfordert mit mir selbst und meiner Symptomatik bleiben würde, wenn der Funktionsmodus aus ist). Oder der, dass ich mich nicht getraut habe die Medikation abzusetzen, obwohl sie mich auch wesentlich daran gehindert hat, Fortschritte zu machen.
Das war so ein unfassbar hoher Preis, den ich für ein bisschen Bessergefühl, für einige stabile Stunden und hilfreiche Gesprächskontakte auf mich genommen habe. Heute würde ich den nicht mehr zahlen.
Und ich muss es auch nicht mehr. Zum Glück.

Ich konnte über das Bloggen und Twittern so viel mehr Kontakt und Austausch herstellen. Zusammen mit NakNak* hat das mein Gefühl der Einsamkeit gelöst. Durch ihre Ausbildung zur Assistenzhündin konnte ich lernen, dass viele der Dinge, die mich täglich belasten und ängstigen, beeinflussbar sind. Und zwar ganz direkt von mir. Ich muss es nur machen – und dafür sorgen, dass ich es auch durchgehend machen kann. So entstanden ganz konkrete Handlungsaufträge an mich, die über „fühlen sie mal rein, wer was dazu sagt“ und „16 Uhr Mandalas ausmalen zu Panflötenmusik“ hinausging und überhaupt ganz davon unbeeinflusst sind, ob und wie sehr ich gerade mit welchen Symptomen kämpfe.
Für mich ist das heute immer noch essenziell klar zu haben: Nichts von den Dingen, die ich benötige oder will, ist davon abhängig, ob ich Patient_in bin oder nicht, welche Diagnose ich habe oder nicht oder ob ich sie aufgrund eines Merkmals von mir verdient habe oder nicht. Dass ich das früher dachte, hat mich maximal dafür prädestiniert, meine Grenzen für Behandler_innen und Betreuende zu missachten und teils auch übergehen zu lassen. Und trotzdem war das weder meine Schuld noch Verantwortung.
Ich darf diese Situationen als man made trauma einordnen und für mich bearbeiten.

Es hilft mir auch, diese Arbeit schon zu anderen Traumatisierungen gemacht zu haben und dabei von einer Therapeut_in unterstützt zu werden, die mir das auch lässt, obwohl sie als Behandler_in ganz eigene Themen dazu haben könnte.

Und es hilft mir zu merken, wie lange ich inzwischen schon ohne Klinikanbindung zurechtkomme.
Und wie schnell ich WTF denke, wenn mir andere Viele von massiven Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten und gewaltvollen Verstrickungen mit Behandler_innen erzählen. Wenn ich früher anderen so etwas erzählt habe, hat nie jemand WTF dazu gesagt und mich daran erinnert, dass ich Menschenrechte habe und mit einem Auftrag, dem nachzukommen sich eine Klinik verpflichtet hat, dahingekommen bin. Nie.
Das kann ich heute für andere machen und mache das auch. Es tut mir gut, wenn ich in Austausch und Diskussion über Alternativen gehen kann. Es gefällt mir, zusammen mit anderen an theoretischen Grundlagen für Reformen und Richtlinien mitdenken zu dürfen.

Dass ich nicht hinnehmen muss, dass das für immer für so viele Patient_innen, Behandler_innen und Betreuende weitergeht, sondern aktiv Dinge versuchen und machen kann, gibt mir die Kraft, es eben so lange unverarbeitet zu lassen, wie nötig.
Manchmal ist einfach so: Wenn du es nicht loslassen kannst, musst es halt tragen.
Hauptsache, du bleibst nicht stehen. Es wird niemand kommen und es dir abnehmen.

languishing Selbstgefühl – was pandemiebedingte Isolation und Psychiatrie für Wunden schlagen

Am Dienstag hatte ich einen Thread zu „Corona-Erschöpfung“ in meiner Twittertimeline.
Darin wurde eine für mich neue Vokabel verwendet. „Languishing“. Google-Translate übersetzte den Begriff mit „schmachten“ und in mir verband sich die Erinnerung an eine frühere Mitpatientin von uns, die ständig von ihrem Schmacht nach einer Zigarette, Alkohol, einem Joint erzählte.
Languishing is a sense of stagnation and emptiness. It feels as if you’re muddling through your days, looking at your life through a foggy windshield. And it might be the dominant emotion of 2021.„(Link zum Artikel, NY-Times, englisch)

Diesen Satz hätte auch ich mit 15, 16, 17, 18 schreiben können. An einem kühlen glatten Tisch vor einem Kunststofffenster, in einem sauberen Zimmer, das wie ein Hotel eingerichtet über lange Zeit mein Zuhause war. Wo fremde Menschen zum Dienst kamen und mir weder Eltern noch Freund_innen, aber doch versorgend, oft herzlich, immer über_wachend waren. Wo jeder Schritt beobachtet, eingeordnet und bewertet aber nur selten in mir kontextualisiert wurde. Wo ich – inmitten von vielen anderen Mitpatient_innen und Stationen drumherum – emotional wie sozial geschmachtet habe.

Es ist schwierig für mich ganz konkret zu beschreiben, was da gefehlt hat. Heute würde ich es als „soziales Hintergrundrauschen“ beschreiben. Als „das weiße Rauschen der Freiheit“, als „unterbewussten Takt der Normalität“. Und zwar, weil es bei dieser lange anhaltenden Deprivation nicht um den Entzug von Licht, Luft oder sozialer Interaktion ging, sondern um den Stoff aus dem Familie, Zuhause, Intimität, Vertrautheit und der Sicherheitsgefühle, die sich daraus entwickeln, gemacht ist.

Die Parallelen zur heutigen Situation sind frappierend, wenngleich die Unterschiede (glücklicherweise) ebenfalls. Auch damals gingen wir selten raus. Erst, weil es einen Beschluss gab, der es uns verbot, dann weil es kaum einen An_Reiz gab. Klar waren wir in der Stadt, haben Musik oder Kleidung gekauft, aber keine Freund_innen, keine Familie, keine Sehnsuchtsorte zum Besuchen gehabt. Die Umgebung war steril, wir der Keim, die Klinik unser Behälter. Es gab Interaktion aber kaum Ver_Bindung.
Dieses Zurückgeworfen sein auf sich selbst und das eigene Verhalten ist, was vielen Menschen kurzfristig helfen kann, um die Schwierigkeiten, in denen sie sind, zu begreifen und aus Re_Aktionsschleifen herauszukommen, die sie unfrei machen, weil sie sie mit dem Außen verwickeln und ver.w.irren. Über lange Zeit hinweg jedoch kommt es zu einem Verlust von etwas, das man braucht, um sich selbst überhaupt (ganz) wahrzunehmen. Man ist ja immer man selbst, aber wo beginnt man selbst und wo eine andere Person? Wie soll man das herausfinden, wenn da keine andere Person ist? Oder sehr viele Personen von denen keine mehr Nähe zulässt als es die professionelle Distanz erlaubt? Wie soll man sich als Teil von der Welt begreifen, wenn man von der Welt isoliert ist?

Menschen, die während der Pandemie praktisch die ganze Zeit zu Hause sind, bemerken jetzt, wie sehr der Weg zur Arbeit, das Milchschaumherz auf dem Kaffee mit dem kleinen Keks neben der Tasse auf der Veranda eines Restaurants, das Geknittel mit den Kolleg_innen, die Gelegenheiten, zu denen man die unbequeme Hose anzieht, weil man glaubt damit würde man ernster genommen, auch sie ist. Dass das nicht nur Dinge sind, die sie erleben und gestalten, sondern auch sie selber sind. Und das ist nun weg.
Das ist, was allen entzogen wird, die länger in einer Psychiatrie oder einem Pflegeheim sind – das ist aber auch, was zum Beispiel schwerbehinderten Menschen erschwert zugänglich wird, wenn die Mobilität verweigert oder Assistenzen verwehrt werden.

Was mich an dem Artikel und dem Thread berührt ist, dass es mir das Ausmaß des Schadens der Psychiatriezeit kontextualisiert.
Es ist das eine mit einer Biografie zu leben, in der das überhaupt passiert ist, das andere zu begreifen, dass das Gefühl, das ich seit einem Jahr mehr oder weniger aktiv weg reorientieren muss, ein emotionaler Flashback auf diesen Hunger, diesen Schmacht, nach sich selbst ist, hinter dem das Gefühl der drohenden Vernichtung des eigenen Ich, des eigenen Selbst steht.
Es ist anders, ja, aber doch auch nicht viel anders als Todesangst. Es ist Selbst_Verlustangst. Ja, die mag nicht existenziell sein, die mag nicht weh tun, aber sie wirkt genauso extrem ein, wie jede andere Vernichtungsangst.

Es hinterlässt ein emotionales Trauma dieser Angst, diesem Gefühl 24/7 über Monate, in unserem Fall Jahre, ausgesetzt zu sein. Und Trauma ist Trauma. Wenn da eine Wunde ist, dann muss sie versorgt werden. Ja, obwohl kein Blut fließt, ja obwohl es dafür keine_n konkreten Täter_in gibt, ja, obwohl emotionale Traumata als Ding noch so gut wie nie gleichwertig mit Traumata durch Natur-, Krieg- und „Zwischen – Menschengewalt“ begriffen werden.
Wunde ist Wunde. Egal wie, wo, wann geschlagen. Darin kann man sich verbinden, statt sich zu vereinzeln. Dies wird jedoch schwierig, wenn man die Erfahrung dem äußeren Kontext unterordnet und weiterhin weiße bisher gesunde Leute, die Behinderungen ohne Hilfe kompensieren können, dazu interviewt wie sie die Pandemie erleben, woran sie davon erinnert werden und was ihnen hilft, damit umzugehen.

der Unterschied zwischen Gefängniszelle und Akutpsychiatriezimmer

erstmals erschienen auf Maedchenmannschaft.net, 20. 4. 2018

 

“Depressive sollen wie Straftäter behandelt werden” hieß es in dieser Woche mehrfach in großen Medien, als es um den Gesetzesentwurf eines neues “Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz” ging.
Die Kritik kam schnell und laut. Fachverbände, Interessenvertretungen und Parteien äußerten sich negativ dazu. Auf Change.org gibt es inzwischen sogar eine Petition. Zahlreiche Demonstrationen wurden angekündigt.

Nun gut. Besser als nix, denke ich und bin doch einmal mehr enttäuscht von der scheinbar vergangenen Chance einer umfassenden Systemkritik.
Das bin ich aus Gründen der eigenen Psychiatrieerfahrung und aus Gründen, die etwas mit Menschenrechten zu tun haben.

Zu Beginn ein Beginn:

Was zeichnet Menschen aus, die gesellschaftlich akzeptiert und juristisch legitimiert in totalitär organisierten Kontexten verwahrt, beheimatet, versorgt, am Leben gehalten, bestraft werden?

In aller Regel sind es Menschen, die in irgendeiner Form divergent, also “abweichend” sind. Wovon sie abweichen, ist meistens eine oder sind mehrere gesellschaftliche, kulturelle, medizinisch definierte Norm.en.
Manche sind mit einem Körper geboren worden, der anders gepflegt, anders versorgt werden muss, als die der Mehrheit der Menschen. Manche Menschen haben aus Gründen bestimmte Strategien und Anpassungsfertigkeiten entwickelt, die sich später als etwas herausstellen, das nicht (mehr) bei der Anpassung an die eigenen Lebensumstände hilft.

Manche Menschen haben auch gegen das Gesetz (also eine juristische Norm) verstoßen. Manche, weil sie das wollten, die meisten, weil sie es konnten und ein paar sehr wenige, weil sie sich in einem (vorübergehenden) Ausnahmezustand (zum Beispiel aufgrund einer (chronischen) Erkrankung) befanden.

In unserer Kultur gibt es genau einen strukturell etablierten Umgang mit Abweichung: Kontrolle, Regulierung, Zwang.
Also: Autorität

Autorität steht für viele Menschen als ein Garant für Sicherheit.
Ist da wer, die_r sagt: “X ist gut, Y ist schlecht, aber da kann ich was gegen/mit machen”, ist das für viele Menschen eine Entlastung. Sie müssen sich nicht kümmern, sie können Verantwortung, Belastung und Anstrengungen auslagern. Sie müssen in keiner Form irgendwelche Kompetenzen entwickeln oder das Fehlen einer Kompetenz als Defizit an sich erleben.
Im Kleinen kennen das wohl alle, die mit Vorliebe in Gruppenarbeiten gehen, wenn der oder die Klassenbeste mit dabei ist. Das Problem an so einer Vorliebe ist die Zuweisung von Autorität und damit auch: Macht.

Das Problem mit Macht ist, dass sie absolut werden kann, wenn man selbst keinerlei Kompetenzen oder Befugnisse oder Optionen zur Verfügung hat und also immer davon abhängig ist, ermächtigt zu werden.
Selbst- und Mitbestimmung wird damit zu einem Privileg.

Nun ist es so, dass sowohl das Grundgesetz von Deutschland, als auch die Menschenrechte, genau diese Absolutwerdung von Macht verhindern sollen. Und zwar, indem sie so etwas sagen wie: “Die Würde des Menschen ist unantastbar”.

Besonders im Artikel 1 der allgemeinen Menschenrechtserklärung steht, was so fundamental gebrochen wird, wenn Menschen zum Beispiel in eine Psychiatrie zwangseingewiesen und unter Umständen auch zwangsbehandelt werden:

“Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.”

Nichts an oder in einer Psychiatrie wahrt die Würde eines Menschen. Wirklich. Nichts.
Der Unterschied zwischen einer Gefängniszelle und einem Akutpsychiatriezimmer ist das Klo.

Und während dieser Unterschied marginal ist, so könnte die Ungleichheit von Patient_in und Pfleger_in und Behandler_in besonders in diesem Moment kaum größer sein. Vor allem, wenn man als Akutpsychiatriepatient_in mit Suizid(zwangs)gedanken 24 Stunden Einzelüberwachung (je nach Klinikausstattung auch mal in einem Zimmer, in dem eine Scheibe ist, durch die das Pflegepersonal hineinschauen kann) ertragen muss und nicht einmal allein zur Toilette darf.

Die Ungleichheit besteht dann nicht nur darin, dass die einen Menschen Befugnisse haben, die andere nicht haben. Sie wird auch produziert, indem die einen Menschen als “krank”, die anderen als “helfend” eingeordnet werden.

Und sie wird aufrecht erhalten. Nämlich dann, wenn die Probleme, die zu einer (Zwangs)Behandlung in einer Psychiatrie geführt haben, auch später bestehen bleiben. Um von Menschen behandelt zu werden, die fachlich ausgebildet und kompetent darin sind therapeutisch mit seelisch belasteten Menschen zu arbeiten (also zum Beispiel Psychotherapeut_innen), braucht es erneut eine Diagnose, ein Antragsverfahren zur Finanzierung, wieder entsteht ein Ungleichgewicht der Mächte zwischen Behandler_in und Patient_in. Und selbst, wenn man das alles hinnimmt, wird den Bedarfen oft nicht entsprochen.

Für manche Menschen geht das alles nicht zusammen. Menschenrechtsverletzung und Hilfe(einrichtung).
Das geht für manche nicht zusammen, weil sie sich nicht fragen, was genau Hilfe für wen wann warum sein soll.

Wie genau soll denn fremd- oder selbstgefährdenden Menschen eine aufgezwungene Maßnahme helfen?
Was konkret ist das hilfreiche Moment einer Zwangsunterbringung gegen Halluzinationen und Wahnideen, die einen Menschen als divergent markieren?

Noch weniger Menschen fragen sich, warum die Hilfe woanders passieren soll, als bei ihnen oder den betreffenden Personen zu Hause oder an einem anderen frei wählbaren Ort.

Was außer Unwillen relevanter Instanzen spricht dagegen Regelungen und Betreuungmöglichkeiten im Wohnraum einer Person, sofern sie einen hat, zu etablieren?
(Gewünschte) Medikamente und unterstützende Gespräche wirken auch im heimischen Wohnzimmer mit Zugang zum eigenen Klo, zum eigenen Kühlschrank. Und: zur gewohnten sozialen Umgebung, die durch fachlich fundierte hilfreiche Unterstützung vielleicht Umgangskompetenzen entwickeln kann, die sowohl Stigmatisierungen entgegenwirken, als auch zukünftige Krisen vielleicht sogar ganz allein managen lernen kann.

Sich nicht mit diesen Fragen und Ideen von Behandlungs- und Unterbringungsalternativen auseinanderzusetzen ist das Ergebnis eines Systems.

Eines Systems, das einer von Institutionen verkörperten Instanz die Macht verleiht zu bestimmen, wer krank ist und wer nicht, wer frei sein darf und wer nicht.

Eines Systems, das Diagnosen erstellt, um Divergenz zu konstruieren und festzuschreiben, statt Selbstbeschreibungen anzuerkennen.
Eines Systems, das Heilung verspricht, die aber nur dort oder von dort als solche ausgezeichnet passieren kann.

Eines Systems, das als freiwillig wählbar gedacht wird, jedoch immer aus einer Art Zwang heraus in Anspruch genommen werden muss.
Denn: Es gibt keine Alternativen mit gleichen Befugnissen, mit gleicher Finanzierungssicherheit – mit gleicher Autorität.
Wenn man nur zwischen großer Not zu Hause und großer Not in einer Psychiatrie wählen kann, dann ist das keine echte Wahl. Niemand geht wirklich freiwillig in eine psychiatrische Klinik.

Niemand geht auf die Art freiwillig in ein Pflege- oder Wohnheim. Niemand geht freiwillig in den Knast.
Für manche Leser_innen mag zwischen diesen drei Einrichtungen ein großer Unterschied sein, doch tatsächlich ist es keiner.

Allen drei Bereichen ist eines gemeinsam: sie sind Deutschlands Orte, an denen Menschenrechte legal und von der Öffentlichkeit in keinster Weise infrage gestellt beschnitten werden. Es sind Institutionen, die Ausschluss normalisieren und gesellschaftliche Normen negativ definieren.

Wo Ausschluss passiert, entwickeln sich Dynamiken, die das Gewaltrisiko steigern.
Ältere Menschen die über Nacht ans Bett fixiert werden, die Sedativa (Beruhigungsmittel) verabreicht bekommen, an denen medizinische Studien gemacht werden, ohne ihr Einverständnis einzuholen – ist alles schon passiert und passiert vermutlich noch immer irgendwo.
Pflegekräfte, die ausgebeutet, fachlich wie emotional chronisch überfordert werden – Erzieher-, und Betreuer_innen, die alles dokumentieren müssen, doch kaum zu dem kommen, was sie eigentlich tun wollen: Menschen unterstützen.

Die Gewalt in Institutionen entspringt nicht nur den Strukturen, die sie legitimieren, sondern auch der Gewalt, die sie verkörpern.
Und darüber wird im Moment nicht gesprochen.

Dass es in Deutschland nur deshalb die Heim-Klapse-Knast-Triade gibt, weil es für wichtig, richtig und nötig gehalten wird, divergente Menschen zu normieren.
Und zwar mit allen Mitteln.
Ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Reflektion und Abwägung von Langzeitfolgen.

Psychiatrieerfahrene Menschen wie ich schildern schon seit Jahrzehnten von den desaströsen Folgen, die Zwangsbehandlungen und Zwangeinweisungen, Falschbehandlungen und übergriffige Behandler- oder Pfleger_innen für sie hatten und haben.

Hören wollen das die wenigsten, die nie eine Psychiatrie von innen gesehen und üb.erlebt haben. Die meisten jedoch wissen, dass ihnen das auch passieren kann.
Und dass sie am Arsch sind, wenn es ihnen mal passiert.

Die Öffentlichkeit ™ weiß, was für ein rechtsloser Raum solche Einrichtungen sein können.
Trotzdem wird lieber darüber geredet, dass solcherart gestaltete Räume für manche Leute ja schon in Ordnung seien – zur Strafe für eine Straftat zum Beispiel – aber nicht für „psychisch kranke“ Menschen.

Auch da die Frage: Was genau soll die Strafe an einem Gefängnisleben sein? Warum soll die Antwort auf Fremdgefährung oder illegale Handlungen eine Art der Gewalt sein, die ihrerseits nie bestraft werden kann?

Warum ist es so wichtig eine letzte all über allem stehende Gewaltinstanz immer und immer zu behalten?
Aus Gewalt ist noch nie irgendetwas hervorgegangen, was dem menschlichen Miteinander in irgendeiner Form zu mehr Offenheit, Toleranz, Akzeptanz, Respekt, herzlicher Nähe verholfen hat.

Autoritäre Institutionen wie die Psychiatrie und alle, die davon profitieren, werden nicht dazu beitragen sich abzuschaffen und unnötig zu machen.

Aber vielleicht kann man ja mal über Alternativen sprechen.
Und etablierte Alternativen unterstützen, wenn sie Hilfe brauchen.
Wenigstens das.

jemand, di_er da ist

Mit der Auseinandersetzung um Autismus und unsere Psychkarriere kommt das Erinnern, wie ein Sterntalerregen auf ein Ich ohne Hemdchen.

Da bin ich und habe nur meine zwei Hände, die ich aufhalten kann. Da bin ich und weiß, dass, was auch immer in ihnen landet, mir weh tun und etwas für mich verändern wird. Weiß, dass es regnet, egal ob ich mich bei lebendigem Leib auflösen lasse oder nicht.
Weiß, dass es vorbei ist. Weiß, dass meine Reaktionen dennoch eintreten werden. Meine Seele funktioniert nicht nach Raum und Zeit, sondern nach Ist oder Nicht-Ist.

Nach wie vor beginnt mein Erinnern mit dem ersten scheppernden Knall einer gelben Metalltür in ihren Rahmen. Eine kinder-und jugendpsychiatrische Station einer Uniklinik. Alles davor ist weg. 14 Jahre und ein paar Monate. Nicht von mir gelebt, nicht von mir gepflegt.
Ich dachte immer, ich hätte ein festes gutes Erinnern ab dem Moment, aber während ich mir frühere Arztbriefe und Klinikberichte anschaue, merke ich die Löcher. Bekomme ich eine Idee davon, wie wir so auf Psycholog_innen und Mediziner_innen gewirkt haben müssen, obwohl doch ich da war und genau gar nicht so bin.

Wir haben geschaut, welche Persönlichkeitsstörungen uns bereits andiagnostiziert wurden. Ja, wegen diesem Narzissmusdings und ja, weil in einem anderen schlauen Buch steht, dass autistisches Sein gerne mal falsch verstanden und fehldiagnostiziert wird. Und, weil ich meine Fehlersuche noch nicht abschließen kann. Meine Fehler in der Klinik zuletzt, meine unsere Fehler in den Kliniken früher. Meine unsere Fehler, die dazu geführt haben, dass wir heute hier leben und wirken und sind – und nicht in einer Pflegefamilie an der Ost-oder Nordsee, in deren Schoß wir heute kriechen könnten, um uns über Zukunftsängste beruhigen und Sorgen entlasten zu lassen.
Ja, nein, irgendwie kann ich es nicht lassen. Kann nicht aufhören die Verantwortung bei mir zu suchen, denn jedes weitere Erinnern gibt mir ein Fundstück in die Hand, das auf Fehler, Missverständnisse, ungünstige Kompromisse und naive Annahmen von mir und uns deutet – während die anderen Beteiligten, ihre Ansichten, Meinungen, Kompromisse und Annahmen jeweils in Diagnosen und mehr oder weniger transparente Berichte destilliert sind und einzig sind in ihren Möglichkeiten etwas mitzuteilen.

Die erste Persönlichkeitsstörungsdiagnose lautete auf “anankastische Persönlichkeitsstörung”.
Ich habs gegoogelt und mich daran erinnert, wie tatsächlich auch nach außen aktiv und transparent wir bestimmte Dinge taten und verlangten.
Und werde auch traurig, denn einige der Ängste hinter so manchem sogenannten “Zwang” zeigten bereits damals mit grell blinkender Leuchtschrift auf Erfahrungen bestimmter Gewalt und mind control (im Sinne von “von Täter_innen durch Gewalt gesetzte Gedanken/Ideen/Denkweisen”).
Ich erinnere mich an eine Debatte mit einer Stationsschwester darüber, ob auch wirklich keine Spinnen oder Schlangen unter der Tür oder durch die Fensterritzen des Zimmers kommen könnten, nachdem sie uns verboten hatte, uns darüber ständig zu versichern, statt zu schlafen.
Und ich weiß noch, dass ich selbst nur wusste, dass es lebenswichtig war mich darüber zu versichern und es mir schlecht ging, sobald ich mehr darüber nachdachte. Da waren intrusives Erleben, Flashbacks, erste Psychosomatiken – die jedoch alle unter “Schlafstörung” bzw. “pavor nocturnus” (“Nachtschreck”) zusammengematscht und nicht weiter beachtet wurden.

Ich erinnere mich, wie ich damals versuchte zu kompensieren was mir fehlte: Zeit_Bewusstsein und Kontrolle über mich selbst.
Damals las ich noch viel darüber, wie man sich wo richtig benimmt, welches Verhalten wann und wo in Ordnung ist. Was man wie genau sagt. Ich kopierte Gesichtsausdrücke und die Stimmlagen von Menschen, die meiner Ansicht nach alles richtig (sicher/okay) machten. Ich weiß, dass wir damals tanzten, sangen, in einer Zirkusgruppe aktiv waren. Alles Dinge, bei denen man okay ist, wenn man perfekt kopiert (und später in der Lage ist, eigenständig zu variieren – worin wir jedoch nie “gut” waren).
Heute würde ich sagen, wir versuchten uns soziale Erbsenmomente zu machen. Versuchten uns mit anderen Menschen okay zu fühlen, weil wir als okay wahrgenommen werden. Aber wir versuchten es auf eine Art, die eine pathologisch Einordnung ermöglichte.
Obwohl, das einzig Pathologische an diesem Versuch der war, dass wir etwas absichtlich konstruiert getan haben, was andere Menschen nicht in der Form konstruieren müssen, weil sie es aufgrund einer geheimnisvollen Fähigkeit einfach können.

Auch so etwas, das ich heute nicht nachvollziehbar finde bzw. nur mit psychologischer Denkdummheit erklären kann: da ist ein 14/15 Jahre alter Mensch – also ein_e Jugendliche_r, was ein Ausschlusskriterium für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sein und viel mehr Anlass geben sollte, sich die Umwelt der Person anzusehen und wie sie mit dieser interagiert. Welche Strategien werden da versucht und warum?

Damals wie heute kann man sehen, das viele unserer täglichen “Zwänge/Wiederholungen/Rituale/Abläufe” sehr wohl triftige Gründe haben bzw. auf nachvollziehbare Impulse und/oder Defizite, sowie bestimmte Erlebensqualitäten für uns zurückgehen. Man muss diese Gründe jedoch erfragen, annehmen und als für uns gegeben akzeptieren (wollen) und das ist damals (und auch lange Zeit danach) nicht passiert.

Noch heute kopieren wir die Stimmlagen, Wortcluster und bestimmte Handlungsarten von anderen Menschen, von denen wir wissen, dass sie die jeweiligen Situationen “richtig machen”, weil wir wissen, dass wir es “falsch (like: awkward, unsozial, unsympathisch, weird, unangenehm usw.) machen” würden, würden wir es machen, wie wir es spontan machen würden.
Nicht nur, weil manche von uns glauben, dass sie es ja nur falsch machen können, weil wir ja so ein falscher Mensch sind, sondern, weil Menschen, die sich verhalten, wie wir es tun würden, über kurz oder lang die wie auch immer gegebene Rückmeldung erhalten, dass ihr Verhalten falsch sei – oder eben awkward, unsozial, unsympathisch, weird, unangenehm usw.

Noch heute “streben wir nach Perfektion”. Wir tun es aber nicht, weil wir uns so unvollkommen erleben. Wir tun es, weil wir sehen, wie Menschen auf “perfekt” reagieren und uns denken: Wenn wir dies und das perfekt machen, dann ist alles okay. Dann ist “Erbsenmoment”. Dann ist “loslassen und okay für das Umunsherum und ganz viel Raum frei für Inmittendrin”.

Wenn man so will, könnte man sagen, dass wir durchgehend versuchen uns das Umunsherum vom Leib zu halten, um für bei mit uns sein zu können, ohne gestört zu werden.
(Und ja – ich lese selbst, wie man das lesen kann.)

Die nächste Persönlichkeitsstörungsdiagnose war “Borderlinepersönlichkeitsstörung”.
Interessanterweise eine Diagnose, die von einem sicherlich sehr kompetenten Chirurgen gestellt wurde, der uns selbst zugefügte Schnitte genäht hat. Erst Jahre später tauchte diese Diagnose wieder auf.

Dazwischen lag noch die “schizoide Persönlichkeitsstörung”.
Doch auch dort fehlte der Blick auf den sozialen Kontext. Diese Diagnose gab es nach einem Suizidversuch und einem Zeitraum ohne Sprechen, nachdem wir von Heim zu Heim geschubst wurden, weil wir immer wieder irgendwas falsch gemacht haben, was heute nicht mehr richtig nachzuvollziehen ist.
Was ist bitte die logischere Erklärung für Rückzugstendenzen, abgeflachte Affekte und allgemein eher abweisend/kühle Interaktion, nachdem man auf alles, was man tat oder sagte oder machte, mit seinen 7 Sachen wieder weggeschickt, verlassen, mit schwierigen Dingen (wie etwa Verstrickungen in organisierte Gewalt, schwierige Symptome und Überforderungen im täglichen Leben) alleine gelassen wurde?
A) eine Persönlichkeitsstörung als fast 16 Jährige oder
B) die Frage (und selbst gegebene Antwort) danach, welchen Sinn die Interaktion mit einem unbegreiflichen Außen haben soll, das man einerseits braucht und dessen Schutz man sich wünscht – das andererseits aber genau nichts versteht?

[Gameshow-Musik-Geräusch]

Und dann war da noch die Hysterie.
Die gute alte Hysterie heißt heute “histrionische Persönlichkeitsstörung” und ist ein Psychologen*(sigh!)*wort für “die *(sigh!)* spinnt”.
In unser Diagnosenbonuspunktesammelheft geklebt bekommen haben wir dieses Goldstück in einer Klinik, in der dissoziative Symptomatiken als “unüblich” und Diagnosen wie die DIS eine Glaubensfrage darstellen. (Kein Scheiß – hat der Chefarzt genau so in einem Gespräch gesagt).
Menschen, die als “histrionisch” diagnostiziert werden, werden nach und in Bezug auf das Außen gerichtete Intensionen unterstellt. Da kommen dann so Sätze wie “Sie macht XY nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen” her oder die Annahme, diese Menschen würden mehr oder weniger aufwendige Szenarien konstruieren bzw. inszenieren, um sich selbst in einer bestimmten Art wahrgenommen zu wissen.

Ich habe schon geschrieben, dass wir durchaus Verhalten kopieren, um bestimmte Zwecke im Außen zu erfüllen bzw. um als okay wahrgenommen zu werden.
Im Mittelpunkt zu stehen ist für uns dann aber in der Regel doch zu anstrengend und etwas, das wir heute nur noch ertragen, wenn wir davon überzeugt sind, etwas zu tun, wofür es sich lohnt zeitlich und inhaltlich klar begrenzt von anderen Menschen angeguckt, beobachtet, angehört und analysiert zu werden.
Zum Beispiel in der Therapie oder auch während Projekten wie dem Nachwachshaus, in Workshops oder bei Vorträgen.

In der Klinik damals wiederum sind wir aus für uns bis heute nur mehrdimensional erklärbar sozialen Dynamiken heraus immer wieder in negativen bzw. für uns unangenehm oder uns ängstigenden Fokus geraten. Die Kommunikation war durchgehend dysfunktional und unsere soziale Situation eine über alle Maßen überfordernde. Denn wir waren nicht dort, weil wir behandelt werden wollten oder Hilfe suchten, sondern weil wir keinen Wohnort hatten und noch nicht volljährig waren.
And again: etwas mehr Fokus auf die soziale Situation einer Person im Kontext ihrer tatsächlichen Fähig- und Fertigkeiten und die Idee einer in der inneren Struktur einer Person liegenden Problematik wäre als obsolet klar gewesen.
Doch dazu hätte man in Betracht ziehen müssen, dass eine Person eventuell ganz basic Interaktions- und Kommunikationsprobleme hat und permanent Ängste kompensiert, weil sie sich auf niemandem verlassen kann. Nicht einmal sich selbst.

Selbst heute, wenn ich versuche mich daran zu erinnern, wie wir uns in dieser Klinik verhalten haben, erinnere ich mich nur an Missverständnisse und Momente von Verzweiflung darüber, dass es nichts Beruhigenderes als körperlichen Schmerz gab. Obwohl wir uns damals schon 9 Jahre lang immer wieder selbst geschnitten, verbrannt, geschlagen oder verätzt haben, haben wir nie so darunter gelitten, wie damals in dieser Klinik. Es war das tragischste Erbsenmoment, das wir uns selbst machen konnten und diese Belegung von Schmerz durch körperliche Versehrung als Beruhigung ist etwas, das wir heute mühsam wieder zu entkoppeln versuchen.

In einem Gespräch mit dem Begleitermenschen kam jemand an den Punkt in der Auseinandersetzung um die Persönlichkeitsstörungsdiagnosen, dass der uns erschreckende Anteil daran immer wieder der ist, an dem uns Intensionen hinter Verhalten unterstellt werden, für die wir selbst meist weder Kraft noch Fokus hatten.
Was wiederum in der Narzissmuskrise der Teil ist, der uns die letzte Klinik am Ende vollends als guten Ort zur Unterstützung in der Begegnung und dem Auseinandersetzen mit uns und unserem Er_Leben verbrannt hat.

Gerade in der letzten Klinik hatten wir sehr bewusst massive Probleme überhaupt teilhaben zu können, schwerwiegende Kommunikationsprobleme und ein wie wir finden gutes Gefühl für unsere Überforderung vor bestimmten Anforderungen. Und wir sind einer Täuschung erlegen, die uns – zumindest nach jetzigem Stand der Auseinandersetzung und Fehlersuche – dazu verleitet hat, anzunehmen, es wäre okay, wenn wir selbst bestimmen, wofür wir Kraft aufbringen und wofür nicht. Wir haben uns um uns gekümmert und nicht darum, ob wir nach außen okay sind. Wir haben uns auf das Inmittendrin konzentriert und nicht darauf, die flache phrasenbasierende PITT-Sprache zu kopieren und spiegeln, während wir klinikfunktional dissoziieren.

Wir haben etwas gemacht, das ein High Five auf der Heilungsskala bedeuten könnte– aber nur, wenn der Heilungsbegriff auf den Leiden basiert, die wir empfinden.

In keiner der Persönlichkeitsstörungsdiagnosen, die wir in unserer Behandlungsgeschichte erhalten haben, wurde auf unsere Leiden geachtet, sondern überwiegend auf unser sichtbares Verhalten als Einsmensch und die Erklärung, die die jeweiligen Psycholog_innen sich dafür vorstellen konnten.
Wir haben immer genau dort eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert bekommen, wo man uns in unseren Fähig- und Fertigkeiten über- bzw. falsch eingeschätzt und überfordert hat. Wo das nicht passiert ist, verlegte man sich auf die Benennung sichtbarer Probleme und die deuteten schon früh auch in Richtung PTBS und ASS (Autismus-Spektrum-“Störung”), neben ganz schlicht (nicht pathologisierend bewortet) “belastete/überforderte/dekompensierte Jugendliche”.

Wenn ich mich den aufkommenden Erinnerungen widme, merke ich neben der üblichen Bitterkeit auch zunehmend den Wunsch mich und die Innens, die anders als ich nicht gealtert sind, auch mit etwas anderem als den Erklärungen für diese Sachverhalte trösten zu können.

Doch ich spüre die Spaltung zwischen uns sehr deutlich. Manche debattieren bis heute im Innen mit irgendwelchen Krankenpflegern und Schwestern darüber was für widersprüchliche Aussagen sie gemacht haben, die dazu geführt haben, dass man sich “falsch” verhalten hat. Manche sitzen noch immer weinend in der Heilerinquisition (eine wöchentliche Visite mit allen Behandler_innen einer Klinik) und stottern an Worten herum, die nicht ihrem jagenden Puls im Hals vorbei kommen. Manche liegen immernoch fixiert auf irgendeiner Krankenliege und schwanken zwischen Wohlgefühl durch Gefühle von Gehaltenwerden und Verwirrung über aufkommende Flashbacks von Gewalterfahrungen anderer Innens.

Ich merke, dass es ihnen nicht um Trost geht. Jedenfalls nicht vielen. Ich merke, dass es für viele um die Verwirrung und die schier unüberbrückbare Differenz zwischen Außen und Inmittendrin geht, die macht, dass ich sie überhaupt mehr wahrnehme als noch vor ein paar Monaten. Und ich beginne zu begreifen, dass es vielleicht genau diese Spaltung ist, die mir die Autismusdiagnose so schwer macht.

Sie macht mir nämlich den eigenen Anteil der jahrelangen Klapsenqualen bewusst, während der Inklusionsaktivismus, den wir heute unterstützen, eine Haltung in uns hat entstehen lassen, nach der wir unsere Behinderungen (auch im Sinne von “Unfähig-und –Fertigkeiten”) als etwas angenommen haben, das wir als von anderen Menschen ernst zunehmen und mitzudenken einfordern dürfen und sowohl zum Anstoß gesamtgesellschaftlicher Veränderungen im Sinne der Inklusion aller Menschen gleichermaßen, als auch zur Ermöglichung von Teilhabe und Steigerung der eigenen Lebensqualität auch müssen.

Ich komme nicht mehr um eine anerkennende Haltung gegenüber diesen jugendlichen Innens herum. Ich muss sehen, wie super stark, hartnäckig und aus wie vielen guten, wichtigen Gründen sie jeweils getan haben, was sie getan haben und spaltungsbedingt bis heute tun.
Die pedantischen Regelpapageien. Die nervigen Anstandsroboter. Die Kämpfer_innen für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte auch auf einer geschlossen Station. Die taktierenden Gruppentherapiebestreiter_innen. Die schweigend auf Wände und glitzernde Folien starrenden. Die mutigen “Ich werde misshandelt”-sager_innen. Die intellektuell in Grund und Boden quatschenden. Die “diesmal mache ich alles (die Behandlung/die Therapie/der Versuch in einem Heim zu wohnen) richtig”- Denkenden.

Ich reflektiere an mir die Übernahme des psychologischen Blicks, der mich daran gehindert hat sie so zu sehen. Für mich waren sie bisher immer eher grundlegend dysfunktional und leidend. Weil – DIS –Entstehungslogik: sie ja weiter gewachsen wären, wären sie funktional gewesen bzw. kompatibel mit sich verändernden äußeren Anforderungen. Ich wäre ja nie nötig gewesen, wären sie besser, richtiger, heiler, fähiger, kompatibler gewesen. Sie sind nicht alltagstauglich, geschweige denn orientiert – wie wertvoll können sie dann schon für meinen Er_Lebens.Alltag sein?

Well, ich sehe, dass dieser neuere Blick etwas an ihnen wertschätzt, das nichts mit ihren Fähigkeiten im Heute zu tun hat, sondern mit dem, was sie getan haben, als ich nicht da war. Vielleicht, weil ich damals nicht da war. Vielleicht, weil sie kleben geblieben sind, wo es mich von ihnen im Lauf der Dinge weggerissen hat.

Während meiner Fehler- und Erinnerungssuche merke ich, dass ich ihre Erfahrungen auch gemacht habe und bis heute mache. Aber ich bin keine 14, 15, 16, 17, 18 Jahre alt und bin so global wie sie damals davon abhängig, was wer in welche Berichte über uns schreibt.
Klar sind wir in Teilen abhängig davon, dass unsere Behandler_innen keine Quatschberichte schreiben, weil unsere Hilfen und Unterstützungen entsprechend unserer Bedarfe gebraucht werden und nicht entsprechend dessen, was irgendwer irgendwann aus was auch immer für Gründen von uns und unserem Verhalten hält – auf der anderen Seite aber, steht hinter jedem Antrag auf Unterstützungen auch der implizite Apell an die Logik. Niemand bittet um Unterstützung, wenn si_er nicht die Idee hat, welche zu brauchen oder gut nutzen zu können.

Und: Ich bin eine von den wenigen wirklich Erwachsenen von uns und merke im Moment immer wieder mal, wie sehr auch unsere Einsamkeiten in diverse Fortbestände von Ängsten und Unsicherheiten hineingespielt haben.

Das könnte ich für sie werden, denke ich.
Jemand, di_er da ist.

Müll

Ich war dumm genug eine Frage danach zu stellen, wie andere Menschen mit den Auswirkungen ihrer Hochbegabung umgehen.
Stell‘ so eine Frage in dieses Internet und es dauert nicht lange bis irgendein ignorantes Arschloch um die Ecke kommt und dir einen Hammer in die Fresse kloppt auf dem steht: “Wenn du nur willst, dann kannste alles erreichen.”.
Wenn man das schon ein zwei mal im Laufe der letzten Jahre an verschiedenen Stellen erlebt hat, reagiert man nicht mehr darauf, in dem man “Fick dich” in ein Forum tippt. Man verlässt die Seite, löscht seinen Account, frisst sich an den Rand, kotzt drüber und denkt darüber nach, wozu es ein Leben gibt, das so falsch ist.

Ich hab mal was Neues versucht, weil es langweilig ist zu wissen, dass man mit seiner Annahme von Unpassenheit und Sinnlosigkeit recht hat, aber umgeben ist von Menschen, die außer reaktiver Potenzschutzideen erstmal nichts äußern (können/wollen/dürfen).
Es ist nicht die Frage, was Hochbegabung ist oder Intelligenz und auch nicht die Frage, wie man es schafft, seine Fähigkeiten so zu nutzen, dass sie passend sind. Es ist die Frage,  was und wem es nutzt, wenn man das anstrebt, umsetzt und sich auf eine Art angleichen kann, die einen befähigt im gleichen Kosmos wie andere zu leben. Sich also integriert. Fremd unter Fremden ist, aber auf dem gleichen Stück Land herummetabolisiert.

Und was, wenn man das nicht tut? Weil man es nicht kann? Weil Integration auch mit Privilegien und Fähigkeit zur Angleichung einhergeht und bestehende Definitionsmächte unangetastet lässt, was eine dumme Idee ist – sein muss, gerade dann, wenn die halbe Republik über Inklusion spricht und sich nicht mehr als *ist_in auf irgendeiner Achse bezeichnen lassen will.

Der Mensch hatte gesagt: “Man könnte fast sagen, was Ihnen ist passiert ist, könnte man auch ein psychiatrisches Verbrechen nennen”.
Während im Inmitten alles zuging, nickte ich und versuchte zu vermitteln, dass ich das weiß.  Und es immer ungesühnt bleiben wird. Aus Gründen.
Der erste psychiatrische Straftatbestand, war der erste IQ-Test, die ersten Gespräche in einer psychologischen Familienberatungsstelle um herauszufinden, ob und wenn ja, wann ich mich suizidieren würde.
Da war ich 13/14 Jahre alt und hatte mich in eine Lehrerin “verliebt”, dachte ich hätte einen Hirntumor, der meine Amnesien und Wahrnehmungsprobleme verursachen würde, war komisch, gewaltvoll, arrogant, allein und hatte keine Wörter an Menschen zu richten, die sie begreifen würden.

Es gibt Verbrechen, die entstehen, weil man Wahrheiten macht, die keine sind, weil es keine gibt.
In jedem Machtspiel gibt es Verlierer_innen. Im psychiatrischen Machtspiel braucht es sogar Verlierer_innen, weil die Rettungslogik sonst keine Basis mehr hat.
Es gibt Menschen, die halten Hochbegabungen für etwas, das positiv ist. Man folgt einer Art Rettungslogik und denkt, es ginge um ein Gutes in einem Menschen. Es ginge darum ein Potenzial zu finden, das urbar gemacht werden könnte. Warum? Weil man diesen Menschen ansonsten halt aufgeben müsste?
Wenn man sich anschaut, was heute mit Hochbegabungen verbunden wird, sieht man Kinder, die extrem spezialisiertes Wissen haben und anwenden. Schule, Universität, Leben fürs Wissen. Sie sprechen 3, 4, 5 Sprachen, können Bücher auswendig nachsprechen, sind Wirtschaftsgenies, sie lehren oder sammeln eine Auszeichnung nach der anderen.
Wer hochbegabt ist, ist nicht chronisch depressiv, misshandelt, arm, behindert, krank.  Wessen IQ die Grenze der 130 Punkte überschritten hat, ist ungenutztes und/oder ungeahnt (noch weiter) nutzbares Potenzial.

Besonderes Potenzial ist in unserer kapitalistischen Gesellschaft das, womit alles gerechtfertigt wird. Alles.
Auch die Ignoranz des Leidens unter Besondersmachung und Nichtentsprechenkönnen, von all dem was noch im Leben eines Menschen sein können soll, wenn er in einem Test eine bestimmte Punktzahl erreicht hat. Auch die Ignoranz der Dynamiken von Neid unbeteiligter Dritter und Annahmen eines Stolzes, der in aller Regel gar nicht da ist.

Ich habe nach dem Ergebnis damals gedacht, ich müsse zwangsläufig gut in der Schule sein – müsse noch sehr viel mehr müssen und können als ich konnte. Ich habe mich gnadenlos überfordert und natürlich alles allein zu lösen versucht.
Erst durch mein ebenfalls hochbegabtes Geschwist habe ich gelernt, dass es verschiedene Arten von Intelligenz gibt.
Dass meine Hochbegabung nicht darin liegt Inhalte zu kopieren, abzuspulen und innerhalb des Inhaltsesystems allein anzuwenden, sondern darin, Muster in unterschiedlichsten Komplexen zu finden, mit allem was mir begegnet zu verbinden und im Kopf zu aufeinander aufbauenden Komplexen weiter zu konstruieren.
Ich gehöre zu den Konstruierer_innen und nicht zu den Wiedergeber_innen und genau deshalb ist die klassische Schule, wie auch der tradierte Universitätsbetrieb kein Ort für mich. Genau deshalb finden mich Menschen komisch – spätestens dann, wenn ich in Fahrt und in so einem Modus des “einfach Los- und  Rauslassens” bin.

Wir leben nicht in einer Welt, die alle gleichermaßen mitgestalten dürfen und deshalb auch können, wenn sie nur genug wollen.
Unsere Gesellschaft ist – um es mit den Worten von John Lennon zu sagen: ein Haufen misshandelter Kinder, die sich immer wieder an Personen abgeben, die für und über sie bestimmen.
Es interessiert niemanden, was ein Kopf kann, wenn es der Kopf von jemandem ist, der das falsche Geschlecht (Gender/*), die falsche Klassenzugehörigkeit, das falsche Alter, die falsche Hautfarbe, den falschen religiösen, kulturellen, spirituellen Hintergrund, die falschen Absichten, den falsch interpretierten Geisteszustand, den als falsch funktionierend eingestuften Körper unter sich hat.

Ich habe Angst vor meinen eigenen Schlüssen über das, was wir Menschen, wir hier in unserer Gesellschaft tun und warum wir es tun.
Es gibt keinen Moment, in dem ich aus vollster Überzeugung sagen kann: “Das wird mal für alle gut (im Sinne von befriedigend und nachhaltig lohnenswert zu leben) enden.”.
Und im Gegensatz zum gefühlten Rest der Welt ist mir das nicht egal, oder mit dummen (im Sinne von “einzig sich selbst (re-)produzierenden/stützenden”) Dingen zu überlagern. Ich kann nicht glücklich sein, weil mich dumme Dinge nicht glücklich machen können. Vor allem nicht, wenn ich das mit dieser kapitalistischen Potenzialrettungslogik verbinden soll.

Lebe ich noch, weil ich höflich bin oder, weil ich ein misshandeltes Kind bin, das sich an Personen abgegeben hat, die für und über es bestimmen, dass es noch leben soll? Oder, weil es mich dann manchmal doch fasziniert am eigenen Leib zu sehen, wie wichtig gesellschaftlicher Müll auch sein kann, um Werte stabil zu halten?

ein weiterer Faden

Ich habe heute morgen gemerkt, dass ich gerade das 16-17-fast 18 jährige in mir betrauere und bemitleide. Nicht, weil es so lange in einer Klinik sein musste, sondern weshalb es dort sein musste.

Als ich meinen Artikel über die Wahl zum Suizid geschrieben habe, gab es einen Kommentar,  den ich nicht freischaltete, weil er mich angebrüllt hatte. Da ging es darum, was man denn meiner Ansicht nach machen sollte, wenn sich jemand suizidieren will und man damit konfrontiert ist (die von mir aufgeführten Vorschläge zählten offenbar nicht als Idee)
Heute würde ich antworten, dass man Menschen auch Gründe und Perspektiven für ein Leben geben
und dafür sorgen muss, dass sie diese Perspektiven auch verfolgen können, wenn man von ihnen zu leben verlangt. Ansonsten ist der Anspruch an suizidale Menschen, gefälligst am Leben zu bleiben, nichts weiter als ein reaktionärer, egoistischer Kackscheißanspruchhaufen, der nichts mit dem suizidalen Menschen zu tun hat.

Als ich Ende 2002 in diese Kinder- und Jugendpsychiatrie kam, hatte ich keinen Sinn frei für solche Dinge und auch das hatte Gründe, die ich bis heute gut nachvollziehen kann. Selbst heute habe ich in ähnlichgleichen Lagen noch immer eher Suizidgedanken, -pläne, -ideen , als die Selbst-Sicherheit und die Möglichkeit mich allein zum Weiterleben zu befähigen.
Dass Leben so wahnsinnig viel mit Befähigungen zu tun hat, die weit mehr als kognitive oder körperliche oder auch soziale Fähigkeiten, die man auf irgendeine Weise erlernen kann, meint, habe ich durch diese Reise und die Gespräche mit der Kliniktherapeutin und auch der Klinikschulenlehrerin aus der Zeit, einmal mehr verstanden.

Zu der Zeit _konnte_ ich nur noch nicht leben wollen.
Mir sind einige Situationen gefallen, in denen ich mich heute “reaktives Hörnchen” nenne. Oder “flattrig zittriges Espenblatt”.
Ich hatte ja keine Ahnung von Traumafolgen, von Stressphysiologie und der Mechanik des Grauens.
Wenn man 16 ist, dann ist man genau in dem Stück Entwicklung, in dem Geister als Unfug markiert sind – der Lauf der Dinge aber, vor allem an sich selbst, so voller Zauber, Magie, ungreifbarer Wunder ist, dass das eigene Wachsen und Erkennen nicht nur auf der sozialen Ebene absorbierend sein kann.

Ich hatte keine Worte dafür, weil ich dissoziierte, was da in mir waltet. Damals habe ich von einem Tag vielleicht 5 bis 10 % bewusst aufgenommen und vielleicht 1% als Idee von dem Hauch einer Ahnung der Essenz des Lebens als Lauf der Dinge, aktiv in mir gehalten. Ich war von Angst absorbiert und bin es bis heute in gewissem Maß.
Heute kenne ich die Graustufen meiner Angst – ich habe eine Skala von Panik & Knock out bis Unruhe & Anpfiff zum Vermeidungstanz.
Die Skala damals war von […Wortlos…] bis Tavor/Fixierung/Paniksymptome.

Sogar die Medikamente kann ich jetzt mehr als Hilfe stehen lassen.
Nach dem, was ich von den jugendlich kindlichen Innens hinter mir aus dem Gestern ins Heute schwingen fühlte, müssen sie sich oft als eine Insel dargestellt haben, was mir wiederum die Benzodiazepinabhängigkeit als junge Erwachsene noch besser erklärt.
Wenn es nichts und niemanden auf der Welt gibt, außer eine chemische Reaktion, die zum Atmen und Wahrnehmen befähigt, wie es “alle” verlangen – tja, dann eben chemische Reaktion und das Gefühl “alle” zu belügen in Sachen “sich keinen Schaden zufügen”.

“Die Umstände, in denen ich leben musste, waren oft lebensfeindlich.”
Das ist mir als Gedanke auch gekommen und erklärt mir die Selbst-Bilder einer Assel, einer Kakerlake, eines grüngesichtigen Mutanten unter einzelnen jugendlichen Innens. Auch da wieder: eigentlich wussten und wissen sie: “Ich bin ein Mensch” –  sie wussten und wissen aber auch: “Was ich damals zu leben – zu überleben gezwungen wurde, hatte nichts menschenwürdiges, nichts menschliches – erfordert aber bis heute zum Teil noch Fähigkeiten, die nicht mit Menschlichkeit benannt werden”.
Es bestärkt mich noch einmal mehr darin meine Armut auch Armut zu nennen. Diese Lebensumstände, in denen es eben doch noch existenzielle Angst und globales Ausgeliefertsein ganz real greifbar immer wieder gibt, nicht zu relativieren, weil irgendjemand anderes eine andere Sicht darauf hat. Es bestärkt mich in meiner eigenen Einschätzung über mein Leiden und auch Leben. Wenn ich es als furchtbar wahrnehme, dann ist es furchtbar. Wenn ich das Gefühl habe, es ist unaushaltbar, dann halte ich es nicht aus.

Ich erinnerte mich daran, wie es nach der Entlassung aus der Klinik dort war und ich umgeben von Menschen, die Forderungen an mich stellten, denen ich nicht gerecht werden _konnte_. Wie das war, als es plötzlich hieß, ich würde hysterische Rollenspiele abziehen, um betüddelt zu werden. Als “alle Welt” (und ja, so eine Welt kann auch nur eine kleine Kreisklapsenstation umfassen, wenn sich sonst niemand mehr nach einem erkundigt und die Welt hinter dem Klinikzaun endet) dachte, ich würde es nie raus schaffen. Als “alle” davon ausgingen, ich würde nie 19 Jahre alt werden.
Ich hatte mich in zurück in das reaktive Hörnchen verwandelt, das die Zeit vor dem langen Klinikaufenthalt so gut überstanden hatte.

Klar, brauchte es Jahre zu glauben, dass ich mich auch als Mensch wahrnehmen darf. Klar, habe ich mich an Menschen gehängt, die mir ihre Selbstzerstörung als selbstverständlich heldinnenhaft vorlebten und bis heute anderen hilflosen, verzweifelten Menschen vorleben. Klar, habe ich jahrelang versucht in Arbeit, Leben und Leben lassen zu kommen, wie es die Gesellschaft ™ verlangt.
Obwohl diese mein Fehlen nicht merken würde, wie sie das Fehlen aller, die ohne Stimme sind, nicht bemerkt.
Selbstverständlich verzweifle ich regelmäßig daran, dass Forderungen an mich gestellt werden, die eine Veränderung an oder in mir meinen und negieren, dass ich auch in Reaktion auf Dinge, die um mich herum verändert werden müssten, lebe.
War doch die Erkenntnis auf etwas zu reagieren so ein wichtiger Schritt zu verstehen, was mit mir passiert.

Das ist die Wahl, die die Menschen treffen, die mit mir zu tun haben.
Entweder erkennen sie die Mechanik des Grauens in mir an und sehen meine Reaktionen [das Symptomcluster das letztlich dann DIS heißt] oder bleiben bei einer Sicht auf mich, die einzig das Außen umfasst und implizieren einen Plan, einen Willen, eine Absicht.
Manche Menschen sind vielleicht auch mutig und trauen mir je nach Situation beides zu. Lassen beides in meinem Leben und meiner Er-Lebensrealität einen Platz haben und erkennen an, dass uns nicht sehr viel unterscheidet.

Ich bin traurig darüber, dass ich, die heute jungen Innens, damals so wahnsinnig viel Angst hatten und haben mussten, obwohl wir uns in relativer Sicherheit befunden haben.
Ich bin traurig darüber, dass ich eine Bewertungsdynamik von außen erst jetzt in mir merke. Nämlich, dass ich selbst so oft zwischen HelferInnen*seite und Seite derer, die Hilfe brauchen oder erbitten, trenne und auch werte.

So drücke ich auch deshalb den Wert meiner Arbeiten und verlange weder aktiv Honorare noch bestehe ich auf angemessene Beiträge zur Unterstützung, weil ich ja nur veröffentliche, was in meinem stinkenden Höllenloch des “Inmitten von mir” gereift ist und raus muss. Ich habe ja nichts gelernt, bin ja nur aus Versehen überhaupt noch da.

Zum ersten Mal bin ich auch traurig darüber, dass ich mich selbst noch immer so sehr hasse, widerlich finde und bis heute über Platz im Herzen anderer Menschen wundere, weil ich etwas anderes noch immer nicht _kann_ – obwohl ich inzwischen auch keine Gesten, die etwas mit Wertschätzung meiner Arbeit oder auch meiner Person zu tun haben, ablehne, weil ich sie zu (er)tragen gelernt habe.

Ich bin traurig, dass ich erst jetzt auch merke: mein Selbsthass war nie die Entscheidung, die mir unterstellt wurde mit jedem: “Du musst dich einfach mal toll finden- geh doch mal raus- der erste Freund macht das alles gut- du musst dich mal zurecht machen, dann siehst du wie schön du bist – du musst nur mal glauben, was andere Positives über dich sagen”.
Mein Selbsthass ist genauso sehr auch Reaktion auf den Hass, der in mich eingebracht wurde, wie eingeschliffenes Muster der Selbstbetrachtung.

Es ist traurig und bitter, Hass als Motiv neben Erklärungen wie “hat eben auf etwas Falsches von mir reagiert” , “ich bin eben…”, “ich hätte halt…”, “er/sie/* ist ein kranker Mensch, deshalb….”, “er/sie/* wusste es nicht besser…”, “er/sie/* hatte ja auch keine andere Wahl…”, “er/sie/* ist SadistIn* und deshalb…” und so viele mehr, die wie ein Karussell in mir herumkreiseln, zu stellen.

„Es ist okay zu trauern“, denke ich.
Und starre mich gleichzeitig fassungslos an.

„… dass ich sowas _kann_ …“

Zurück in die Vergangenheit

Heute vor 10 Jahren lebten wir in einer Wohngruppe, in der wir eigentlich nicht sein wollten, eigentlich gar nicht gewollt waren und, die für uns überhaupt nicht konzipiert war. Wir hatten einen dünnen Faden zu einer psychologischen Beraterin in der Hand, konsumierten permanent Kaffee oder Tabak. Hier und da fuhr man für ein zwei Stunden weg.
Ohne, dass es jemand merkte. Oder verhinderte. Oder sonst irgendwas.

In dem Jahr hatten wir so viele furchtbare (beziehungs)retraumatisierende Erfahrungen zu kompensieren, dass ich heute kaum noch Platz für Zweifel an einer massiven Fähigkeit zur Dissoziation in mir habe.
Nach 1,5 Jahren Kinder- und Jugendpsychiatrie in Schleswig Holstein, zogen wir für 3 Wochen nach NRW, wo man sich mit uns übernommen hatte. Falsche Versprechen, zu hohe Anforderungen an uns und letztlich Verrat und Verlassen waren die Folge.
Es folgten 5 Monate Kinder- und Jugendpsychiatrie unter der Diagnose “histrionische Persönlichkeitsstörung”.
Es grüßte die Jahrhundertwende und hakte sich bei struktureller Misogynie unter, um der Realität von systematischer Gewalt und Ausbeutung an einer minderjährigen, völlig isolierten und perspektivlosen Person, nicht begegnen zu müssen.
Auch nicht direkt nebenan. Auf Station.

Ja. Es war furchtbar.
Und ja, selbstverständlich glaubte ich allen “draußen”, die mir sagten, es gäbe ein Morgen und ich könne handeln.
Die Tatsache, dass ich mit meinen 17 Jahren als massiv gestörte kranke unglaubwürdige Irre, absolut gar nicht handeln konnte, haben diese Personen, von dort aus der Ferne, nicht im Blick gehabt.

“Ich darf nicht voraussetzen, dass irgendjemand parteiisch für mich ist und gleichzeitig auch so mächtig, über mein Leben in meinem Sinne zu entscheiden.” – Erkenntnis einer 15 Jährigen, die auf Bäumen schläft, um sicherer zu sein, die sich erneut bewahrheitete.

Irgendwann war dieses Jahr natürlich vorbei.
Ich wurde 18, 19, 20 … dieses Jahr, 28 Jahre alt.

In mir drin sitzen bis heute Innens, Jugendliche, wie einzelne Kinderinnens, die sich all das – all die Psychiatrieerfahrungen, all das Verlassen und Verratenwerden, die Gewalt durch Personen, von denen man abhängig war und vor denen man nicht fliehen konnte, sowie die Notwendigkeit von TäterInnen*kontakten und anderen Arten der Selbstzerstörung – mit “dem Bösen” in sich, unter uns, in mir als Einsmensch, erklären.

Morgen steigen wir in den Zug und machen eine Reise in die Vergangenheit, um ein paar Fäden ins Heute zu nehmen und damit am Morgen zu knüpfen.
Denn, wenn jemand „das Böse“ in uns gesehen hat, dann eine der Personen, die wir in den 3 einhalb Tagen dort treffen werden.

Es tut schon jetzt weh.
Lässt mich nachts aus Träumen von Kämpfen mit einer Fixierungsliege oder vielen Personen gleichzeitig hochschrecken. Ich muss immer wieder meine Anspannung runterschrauben. Das schrille Fiepen in meinem Kopf mit Watte und Federn einwickeln. Manchmal von NakNak* beruhigen lassen.
Ich schlafe ein und mir ist schwindelig. Ich wache auf und mir ist schwindelig.

Ich sehe keine andere Möglichkeit mich anzunähern.

 

 

 

Ich hoffe so sehr, dass wir das Meer sehen werden.
Und in den Zug zurück zu NakNak*, unseren neuen Herzmenschgemögten, unserer Therapeutin, unserer dreckigen Muchtelbude, den Mimosenbabys und all den Eulen, steigen.

Nachtrag zum Tag des Folteropfers

flieder Gestern am 26.6. 2014 war internationaler Tag der Folteropfer.
Das
Institut für Menschenrechte trägt immer viele gute Sachinformationen zum Thema zusammen und macht auch in diesem Jahr, wie so ziemlich jede Organisation mit dem Schwerpunkt “Menschenrechte”, darauf aufmerksam, dass die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter bis heute im Grunde ein Ehrenämterposten mit dem Prüfungsauftrag sämtlicher Heime, Kliniken und Verwahrungsanstalten von Deutschland ist.
Es geht um Geld, Verantwortung, Schuld, den Begriff der Folter.

Es geht nicht darum Opferschaft als einen Zustand zu markieren, der vorbei geht und doch so tiefgreifende Spuren hinterlässt, dass das “nach der Folter”; “nach der Opferschaft”; “nach der Täter-Opferschaft”; “nach der Zeuge von Folter – schaft” gleichsam als sowohl Folter-, als auch Gewaltpräventionsraum anzusehen ist.

Folter ist ein Akt der Gewalt, der weit mehr als Symptome einer PTBS entstehen lässt, wie quälende Ängste, Flashbacks und darauf aufbauend Vermeidungsverhalten und Somatisierungen. Das Ziel von Folter ist es, zu Gunsten Dritter, sämtliche Internalisierungen über Werte, Normen, emotionale Bezüge in einem Individuum zu zerstören.

In manchen Kontexten steht am Ende der Folter eine Aufgabe Funktion des Individuums, zum Beispiel als SoldatIn Teil einer (Bürgerkriegs) Armee zu werden, oder als SpionIn, KurierIn oder auch bloßes Objekt zur Benutzung jeder Art eingesetzt zu werden.
In anderen Kontexten steht am Ende der Folter, die Integration in eine Gesellschaft, deren Normierungszwang die Folter erst ermöglichte. So sind geschlossene (Kinder und Jugend- ) Heime und die Psychiatrie als Ort zu betrachten, in denen das Sein der Irren und Ausgeschlossenen nicht nur in Gefahr ist, weil sie exkludiert sind und sich, warum auch immer, selbst- und/oder fremdschädigend verhalten, sondern auch, weil diese Art der Sprache, des Ausdrucks, als “verschwunden”/ “geheilt”/ “kompensiert” gelten muss, um eine Chance auf Reintegration zu erhalten. Das Stigma psychischer Krankheit verhindert jedoch bis heute gründlich die Inklusion von Menschen mit Psychiatrieerfahrung jeder Art.
In diesem Kontext hinterlässt die psychiatrische Folter also nicht nur den Verlust der Integrität über eigene Normen und Werte, sondern auch noch den individuellen Ausdruck dessen, zu Gunsten einer Gesellschaft, die sich selbst nach einem Anpassungsvorgang (selbst wenn das Individuum die totale Selbstentfernung und/oder Verleugnung vorgenommen hat und bereit ist sich neuen Aufgaben zu stellen) nicht dazu entschließen muss, sich diesem Individuum anzunehmen.

In jedem Fall bedeutet das Ende der Folter, den Anfang von einem Leben in dem vorrangig folterbedingte Internalisierungen das Individuum wenn nicht kontrollieren, so doch früher oder später, mehr oder weniger beeinflussen.
Die Möglichkeit selbst zum Folternden oder zum Folter nicht ablehnenden Menschen zu werden bzw. so zu handeln, weil keine Alternativen erlernt/eingeübt wurden und/oder gesellschaftlich akzeptiert und somit gesichert (privilegiert) werden, ist vielleicht nicht in 100% der Fälle zu beobachten, dennoch aber nicht von der Hand zu weisen.
Gewalt gebiert Gewalt – das gilt auch und in manchen Kontexten sogar explizit für Folter (siehe “Kindersoldaten”).

Am Tag des Folteropfers nicht über die Situation der zu Opfer gewordenen Menschen zu sprechen, halte ich persönlich für einen gewaltkulturellen Reflex unserer Zeit und ein Symptom für als selbstverständlich betrachtete Dualismen, die nicht als Gewaltmechanismen anerkannt werden.
Es ist offenbar selbstverständlich, dass zu Opfer gewordene Menschen weder in der Politik noch im ehrenamtlichen Engagement mitmischen dürfen, sondern bestenfalls als Fallgeschichte oder emotionalisierendes Einzelschicksal auftreten dürfen (!). Es ist offenbar nicht möglich, die verschiedenen Instanzen, die mit der Versorgung von Menschen die Folter überlebt haben (überleben mussten) zusammenzubringen und das Wissen über die Entstehung, Ausübung und Folgen von Folter zusammenzutragen, um es zu einem Einfluss für eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung, Unterdrückung … Exklusion werden zu lassen.

Es heißt konstruktive Vorschläge wären neben der Formulierung der Problematik, dem Informieren über diesen Tag und sein Thema gern gesehen.
Hier meine Vorschläge und Ideen zur Prävention von Folter und folterähnlicher Zustände in geschlossenen Einrichtungen von Deutschland

1) Jeder/ jedem PatientIn*/ KlientIn*/ HäftlingIn* eine/n FürsprecherIn*
Diese/r muss:
– geschult sein in PatientInnenrechten bzw. in Haftkontexten in Rechten von Gefangenen
– global unabhängig vom Kostenträger der Einrichtung bzw. Anstalt sein
– befugt sein jederzeit Kontakt zu seinem/ seiner KlientIn* aufzunehmen (gleiches gilt für die KlientInnen*)
– befugt sein sofort und auch ohne Zustimmung und Kenntnis der Einrichtung Meldung über Missstände zu machen – im günstigsten Fall an eine kontrollierende Instanz, die, wenn nötig Maßnahmen zur Veränderung der Situation einleiten kann

2) geschlossene Einrichtungen müssen sich (entsprechend Punkt 1) vom Privileg der Selbstorganisation und freiwilligen Selbstkontrolle verabschieden

3) die Personalschlüssel in geschlossenen Einrichtungen werden angehoben

4) das Personal wird in im gewaltfreien Umgang mit ihrer Verantwortung als Definitionsmacht geschult

5) Für KlientInnen* wird ein größeres und besser nutzbares Netz an Alternativen zur Veränderung ihrer Lage geboten
Das bedeutet:
– ein Ausbleiben von Einweisungen auf “freiwilliger Basis, weil Alternativen der (sicheren) Unterbringung fehlen”, was wiederum der Nutzung der Psychiatrie als exkludierende Instanz entgegenwirken kann
– die Förderung von Projekten und Wohn- und Therapiekonzepten, die ambulante wie stationäre Aufenthalte in bisher neuem Umfang und fern psychiatrischer Kontexte zum Ziel haben
– die Finanzierung ambulanter Therapieangebote ist bis zur Heilung* eines Individuums gesichert – auch Erhaltungstherapie wird so lange gesichert, wie es nötig ist*
– die Bedarfsplanung zur Behandlung psychisch erkrankter Menschen orientiert sich an sowohl der angenommenen Dunkelziffer von Gewaltüberlebenden, wie an der Dunkelziffer noch nicht durch MedizinerInnen diagnostizierter Menschen
– stationäre Einrichtungen (wie zum Beispiel traumatherapeutisch arbeitende Kliniken mit offenem Konzept) werden in die Lage versetzt ihre PatientInnen* so lange und so individuell zu behandeln, wie es sowohl den BehandlerInnen, als auch den PatientInnen effektiv erscheint

[Menschen die zu Opfern von Folter wurden, warten derzeit bis zu 2 Jahre auf einen Therapieplatz in Kliniken unter Umständen weit entfernt von ihrem Wohnort, wo es oft genug weder konzeptionelle noch räumliche noch finanzielle Möglichkeiten gibt, sie in der Verarbeitung ihrer Erlebnisse wie auch der autonomen Gestaltung eines gewaltfreien Lebens zu unterstützen]

6) Traumata und die Behandlung ihrer Folgen für Körper Geist und Seele wird allgemeiner Bestandteil in sowohl der Ausbildung von Menschen, die mit Menschen arbeiten (PsychologInnen/ PsychotherapeutInnen, MedizinerInnen, LehrerInnen, ErzieherInnen, SozialarbeiterInnen, PflegerInnen, Hebammen, PolizistInnen, JuristInnen) als auch der zivilen Bevölkerung

7) politische Initiativen, Gremien, Vorstände etc. arbeiten zusammen mit Menschenrechtsorganisationen, Überlebenden von Folter/folter ähnlichen Umständen und BehandlerInnen (sowie VertreterInnen oben genannter Berufsstände) um am Problem bestehender Risikofaktoren in geschlossenen Einrichtungen zu arbeiten und Lösungen zu formulieren bzw zu erarbeiten

8) Menschenrechte werden in den Schulunterricht eingebunden
– jedes Mitglied unserer Gesellschaft sollte wissen wann und wo seine Menschenrechte eingeschränkt und/oder verletzt werden und wo er die Wahrung selbiger einfordern bis einklagen kann

 

*Heilung meint in diesem Zusammenhang den von BehandlerIn und behandelten Menschen kongruent benannten Zeitpunkt einer solchen
*Erhaltungstherapie muss als Lebenserhaltende Maßnahme anerkannt werden und entsprechend finanziert

 

 

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Dieser Text darf sowohl über das Internet, als auch in institutionellen Kontexten verbreitet werden, sowohl um eine Diskussion mit dem Ziel der Verhinderung von Folter und folterähnlichen Umständen entstehen zu lassen, als auch bestehende Diskussionen um Opferhilfen, Gewaltprävention und Wege zu einer inklusiven Gesellschaft zu unterstützen.

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es gibt meine Schuld und ich will sie haben

rosenblüte Es gibt kein Wort, keine Wendung, die ich häufiger in meinem Alltag verwende als: “Entschuldigung” und kein häufiger von Abhängigkeit geleitetes Gefühl in mir, als das der Schuld.

Als unsere Welt geplatzt war, gab es diese Botschaft von “Es war nicht deine Schuld”. Ich weiß noch, dass mein erster Impuls einer Entgegnung war: “Doch doch, ich hab ja Mist gemacht. Es war mal meine, aber jetzt ist sie ja bei ihm.”.
Ich weiß noch, dass meine Vorstellung von Schuld damals, als ich noch mitten in der Dynamik von Gewalt war, sehr viel fluider war, als sie es heute ist, wo ich allein Dynamiken von Gewalt aufbauen (und reproduzieren und halten) muss. Ich sehe bis heute das Zentrum von Schuld in mir, bin aber gezwungen sowohl Schulddefinition, als auch Schuldabsolution allein zu erteilen und bin einer Zwickmühle, denn gelernt habe ich ja, sowohl in der Familie, als auch in anderen Kontexten, vor allem, dass ich mal so gar nichts zu definieren habe bzw. aufzuheben, weil [… beliebige Ohnmachtsrolle einsetzen…].
Und dort beginnt die Schwierigkeit im psychotherapeutischen/psychiatrisch-medizinischen Diskurs:

Selbstzerstörung und Selbstbestrafung wird für meine Begriffe oft mit einer “nicht echten” oder “nur eingebildeten” Schuld erklärt, weil es nur einen Punkt der Wirkung gibt und, weil Konzepte der Autonomie generell als “nicht echt”, weil “ja nur für einen Menschen gültig” betrachtet werden.
Das ist der Nährboden für die Pathologisierung von allem, was man wegen sich selbst für sich selbst tut: die Subjektivität auf allen Ebenen, obwohl man sich doch in einer sozialen Gesellschaft befindet, in der die objektive Sicht auf Subjekte allein als alles bestimmend gilt- heißt: Es ist pathologisch, weil Außenstehende nicht involviert sind bzw. sein dürfen – es gilt als krank, weil andere, die keine Rolle darin spielen, nicht mitmachen dürfen.

Das heißt: selbstverständlich erzählen mir alle TherapeutInnen, es sei nicht meine Schuld gewesen, wenn XY passiert ist- denn jede Bestätigung meines Komplexes könnte die Bestätigung von irgendwann mal in mich eingebrachte TäterInnenwillkür oder SadistInnenlogik bedeuten. Ob ich sie vielleicht als meine wahrnehme, und es völlig unerheblich für meine subjektive Schuld- Schulderlassungsdynamik ist, woher das nun kommt, spielt da erst mal keine Rolle.

PsychiaterInnen/PsychologInnen- objektiv betrachtet, spiele ich beendete Kindheitsgewalt (bei der sie weder damals noch heute dabei waren) nach und deshalb ist es krank, falsch, schlecht… und, ob ich mich dann schuldig fühle (weil ich diese Therapie falsch mache, weil ich das ja weder so fühle, noch so wahrnehme und deshalb eh alles eine einzige Lüge ist und böse böse böse und damit wiederum eine Bestätigung für mein Schuldzentrum), muss wiederum in mir drin bleiben, um dann in weiteren Schuldkomplexen seine Schneisen zu brennen bis ich sie irgendwie umgewandelt bekomme.

Ich glaube heute, dass alle unsere “Familientherapie”- sitzungen genau deshalb immer diesen total bekloppten Satz “Wir reden hier nicht über Schuld” hatten.
Denn doch- eigentlich haben wir ausschließlich über Schuld gesprochen, die wir uns reihum wie das Ringlein gereicht haben, weil wir sie alle gebraucht haben. Ich und meine Geschwister brauchten sie, um die Gewalt an sich bzw. die Zeugenschaft der Gewalt aneinander in einen Kontext zu bringen; mein Vater brauchte sie, um sein Handeln zu legitimieren und meine Mutter brauchte sie, um ihre Selbstzerstörung aufrecht zu erhalten.
Was es gebraucht hätte, wäre anzuerkennen, dass wir eine Misshandlungsfamilie waren, die (überlebens)abhängig von Schuld(bindung) war/ist und den Wunsch nach Autarkie von ihr zu wecken. Stattdessen wurde die Familie in Abhängigkeit von psychiatrischer/juristischer Deutungshoheit gebracht und völlig zerfetzt.

Und genau deshalb komme ich bis heute in Druck, wenn mir irgendjemand sagen will, ich hätte keine Schuld oder meine Schuldgefühle, die mir immer wieder hochkriechen wären nicht echt im Sinne von „nicht richtig begründet“: Was wenn nicht Schuld, ist denn sonst bitte die Ursache dafür, dass ich mich so grottenscheiße fühle und wer außer mir, soll das denn bitte objektiv (und damit gesellschaftlich konsensual) belegend bestätigen?

Mein Wunsch ist es, mich schuldig fühlen zu können (zu dürfen) ohne dem Reflex von Gewalt an mir folgen zu müssen, um mir auch autark verzeihen zu können.
Es ist mir egal, warum ich mich für Dinge schuldig fühle, die anderen eher egal sind. Es ist mir egal, warum ich die Dinge bewerte, wie ich sie bewerte- wichtig ist mir die Folge davon.
Ich lebe heute so autonom, wie ich das eben kann und möchte im Laufe des Lebens noch mehr Bereiche meines Lebens autonom tragen- dazu gehört auch, dass ich keine bzw. weniger Gewaltdynamiken (mit anderen Menschen) brauche um Verzeihen bzw. Absolution in mich einbringen zu können.
Das bedeutet auch, dass ich als Grundvoraussetzung meine Schuld haben muss- denn wenn da nichts ist, gibt es nichts zu tragen außer meiner sogenannten Krankheit und damit einhergehend aller Abhängigkeit von dem Kontext, der das so benennt.

Ehrlich gesagt erlebe ich “Es war nicht deine Schuld” heute wie eine Ohrfeige, die mich tiefer und unrettbarer fallen lässt, als jede Prügel früher.
Einfach, weil es von Menschen kommt, die einen Scheiß von meiner Schuld verstehen und vielleicht auch verstehen wollen. Es ist eben leichter über ein sogenanntes Opfer als “nicht schuldig” zu urteilen. Ist ja eh passiv so ein Opfer. Hat ja nix, kann ja nix, wird nix… so ein un_schuldiges Opfer.
Guck wie krank Gewalt macht- dieses Opfer will sogar seine Schuld haben – schlimm, ne?”


Es gibt sie aber, meine Schuld.
Es gibt sie, wie es die Schuld bei den TäterInnen gibt.
Sie steht neben dem Leiden, das ebenfalls nicht nur ich zu tragen und in mein Leben zu integrieren hab.
Von der Gewalt betroffen bin nämlich nicht nur ich, die Geschlagene, sondern auch die, die mich geschlagen haben (nachdem sie selbst als Kind von früher Geschlagenen geschlagen wurden…).