Ich bin heute mit der Straßenbahn gefahren.
Ich, Hannah.
Ich bin heute mit der Straßenbahn gefahren und kann dir sagen, welche Farbe mein Sitz hatte, wo ich saß und dass die Sonne geschienen hat, während ich das tat.
Es ist nichts Besonderes mit der Straßenbahn zu fahren. Fast jeden Tag steige ich in eine ein und wieder aus.
Doch mitgefahren bin ich noch nie.
Es ist laut. Zu viel Viel und zu eng. Ich verliere schnell den Überblick. Kann mich nicht finden in all dem ALLES, was in einer Straßenbahn passiert. Mit mir, mit den Menschen, die mit mir fahren. Mit der Bahn und dem, was ihr passiert.
Ich steige in eine Straßenbahn und löse mich auf, weil das ALLES um mich herum in mich eindringt. Mein Denken und Fühlen annektiert. Wenn ich einen Platz gefunden habe, weiß ich nie ob ich sitze, oder selbst eine Fläche bin. Es fällt mir schwer meinen Körper zu fühlen, weil ich die Bewegungen der Bahn nicht von meinen unterscheiden kann. Das Fahren mit Bus und Bahn, mit Zug und Karussell, mit Booten oder dem Fahrrad ist für mich etwas, das mich vereinnahmt und verschwinden macht. Einfach so. Ich bin dann nicht mehr da.
Dann bin ich die Farben der Geräusche. Bin mein Schmerz. Bin meine Angst zu versagen. Und dann vergeht eine kleine Zeit und ich bin tot. Ich denke nicht, ich fühle nicht, ich bin unkörperlich auseinanderdissoziiert und ein anderes Innen tritt durch den Feinstaub, der mal das war, was ich als “Ich, Hannah” bezeichne.
Und heute war ich mit den neuen Ohrenstöpseln unterwegs.
Und bin nicht gestorben, sondern mit der Straßenbahn gefahren.
Ich habe mich hingesetzt und auf den Monitor mit der Werbung geschaut. Und dann habe ich nach links geschaut, weil viele Menschen eingestiegen sind.
Und dann ist mir aufgefallen, dass es nicht weh tut. Dass ich immer noch in der Bahn sitze. Und sitze. Und rausschauen kann. Und die Sonne sehe. Die immer noch genauso da war und schien, wie an der Haltestelle, an der ich eingestiegen war.
Meine Synästhesie für die Geräusche war subtil und flüchtig – ich konnte alles sehen. Mich orientieren. Ich wusste genauso klar, wie ich das zu Hause oder an anderen Orten weiß, wo ich war und wo die Menschen um mich herum. Ich wusste das, obwohl ich nicht meinen Körper berührt hatte. Und als ich ihn berühren wollte, hätte ich fast geweint, weil ich nicht erst überlegen musste, wo eigentlich meine Ränder sind.
Es war wie einer dieser Momente, in denen man sich des eigenen am Leben seins so sicher und bewusst ist, dass es das Herz erfüllt und überschwappen lässt.
Ich, Hannah, bin heute mit der Straßenbahn gefahren, ohne in einen dissoziativen Zustand zu kommen, der mein (unser, als Einsmensch) ganzes Leben prägt.
Zurück zu Hause (nach einer Rückfahrt während der ich die ganze Zeit auf meinem Platz saß und in die Runde schaute, weil ich allen sagen wollte, dass ich da bin und wie krass das ist, und dann merkte, wie noch viel krasser es ist, dass ich merke, dass ich das wirklich tun könnte, weil ich ja gerade da bin und die Energie dafür hätte und und und… ) wollte ich dem Begleitermenschen schildern, was in mir vorging.
Wie krass das ist. Und wie neu, dass ich nach so einer Fahrt überhaupt die Kraft dafür hatte, etwas mitzu.teilen. Und wie gut. Und krass. Und schön.
Und wie traurig. Und wie bitter.
Ich merkte ein paar Rosenblätter und ihnen Vorangehende, mit ihren Gefühlen und Reaktionen. Merkte wie (nochmalig) sinnlos ihnen frühere therapeutische Maßnahmen zur Bewältigung unseres Stress- und Noterlebens nun vorkommen. Das Abstumpfungstraining in Form von wochenlangem Bus- und Bahn fahren bis es keine Panikattacken, Krampfanfälle und Nervenzusammenbrüche während der Fahrt mehr gab (weil sich ein Innen (weiter)entwickelte, das dieses Training durchhalten konnte). Die massiv kränkenden Sitzungen mit einer Wald-und Wiesen-KVT-lerin, die ihnen bei jedem Termin eingeimpft hatte, dass sie schlicht, die falsche Einstellung zum Fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln hätten und an andere Dinge denken sollen. Das rücksichtslose Gebohre nach Traumatisierungen, in denen Täter_innen irgendetwas vorgeben, wie man sich während Wegstrecken fühlen oder verhalten soll, durch eine frühere Traumatherapeutin.
In den letzten Monaten passiert vieles für uns, dass wir schon seit vielen Jahren hätten für uns einfordern oder erarbeiten und probieren können. Theoretisch. Rein praktisch ging das nie, denn wir hatten keinen Begleitermenschen und kein weiteres Verstehen darum, was mit uns passiert, als das, dass wir uns jeden Grund für unsere Probleme aus dem Dissoziierten in uns herausschälen müssen, um es zu verändern.
Krampfanfälle in der Schule/bei der Arbeit/in Krisenzeiten? – Das ist bestimmt ein desorientiertes Innen
Dissoziative Amnesien für Handlungen des Alltags? – Das ist bestimmt ein desorientiertes Innen
Schwierigkeiten in der Kommunikation und Interaktion? – Das kommt bestimmt von desorientierten Innens
Schwierigkeiten zu Sprechen und Gesprochenes zu begreifen? – Da wirkt doch bestimmt irgendein Redeverbot/Programm – also desorientierte Innens!
Ich merke, dass eine ganze Ladung der Bitterkeit aus dem Bewusstsein um mehr als 10 Jahre therapeutischer Arbeit auf einzig bis überwiegend diesen Annahmen basierend mit und an uns passiert ist, kommt.
10 Jahre, in denen wir uns das eigene Leiden an dem, was für alle anderen um uns herum scheinbar kein Problem war/ist, abgesprochen haben, mit der Begründung, wir wären uns eben noch nicht alle wirklich im Klaren darüber, das heute heute ist und die Gewalt vorbei.
Und je länger ich darüber nachdenke, sehe ich auch die Missachtung unseres allgemeinen Funktionierens und Therapiefortschritts darin.
Was etwas ist, worüber wir schon länger nachdenken, weil es uns seit Jahren immer wieder auffällt:
Die Überbetonung der Schwierigkeit und Langwierigkeit der Behandlung von Menschen mit komplexen Traumafolgen bzw. konkreter: der Menschen mit DIS aus organisierter Gewalt in Kombination mit einer bezüglich der allgemeinen Lebensperspektive wenig konstruktiven Fokussierung auf Ursachen in den Klient_innen selbst.
Als Beispiel: eine Person ist ausgestiegen und schliddert von Aussteigereuphorie in Todesangst, nachdem “Alltag (neu) zu lernen)” sich als chronisch überfordernd herausstellt, nachdem diverse Fähig- und Fertigkeiten schlicht nicht vorliegen.
Auf die Idee, diese Fähig- und Fertigkeiten zu unterrichten bzw. konkret einzuüben und zu benennen, kommen viele tiefenpsychologische Therapeut_innen häufig nicht – wohl aber auf die Idee, dass es sicher Gründe hat, dass die Person das nicht kann. Und diese Gründe werden ganz klassisch in der Person selbst verortet. Nicht etwa in einer Inkompatibilität der Person mit ihrer Umwelt und anders herum. Nicht etwa darin, dass es neben all dem eher Ungewöhnlichem im und am Leben dieser Person, auch ganz simple, ganz profane Problemdynamiken geben kann.
Mich erinnert das an die Arroganz der Zauberer in Harry Potter: alles wird aufgezaubert, weil man es kann – Schema F ist special besonderes Zauberstabgewedel, um ein Türschloss zu öffnen, statt die Klinke zu benutzen oder die Tür einzutreten.
In unserer Behandlung von Ängsten, Zwängen und anderen Problemen, die unsere Funktionalität zuweilen existenziell bedroht bzw. eingeschränkt haben, haben wir bereits Thesen und Ideen zu unserer inneren Struktur und Biografie gehört, die von abwegig und unwahrscheinlich bis tatsächlich hanebüchen reichten – und letztlich die Probleme selbst nicht gelöst haben.
Uns hat es nie geholfen, von einer Intension anderer Menschen hinter unserem Leiden auszugehen – vielleicht, weil die Intensionen anderer Menschen für uns selten wirklich ausschlaggebend für die Beurteilung einer Situation sind (weil wir die Intensionen anderer Menschen häufig nicht eindeutig bestimmen können) – vielleicht aber auch, weil es für unser Leiden tatsächlich völlig irrelevant ist.
Ich konnte die Straßenbahn nie bewusst nutzen, weil mein Reizfilter nicht gut funktioniert, die Auswirkungen dessen immer wieder das Erinnern von unverarbeiteten Traumatisierungen antriggert und mein Gehirn mit Dissoziation darauf reagiert.
Natürlich kann ich andere Begründungen finden. Etwa: Meine Oma hat mich immer dafür bestraft, wenn ich mit der Straßenbahn gefahren bin (und weil ich auch nach 10 Jahren Traumatherapie nicht in der Lage bin, zu schnallen, dass ich erwachsen bin und tun kann was auch immer ich will und meine Oma für ein omnipotentes Überwesen halte, das mich furchtbar zerfetzen wird, wenn ich es doch tue – weil ich einfach nicht fähig bin, mich und meine Überzeugungen konstant mit der Realität abzugleichen (oder! (kaum hörbar geflüstert) mein_e Therapeut_in einfach schlechte Arbeit mit mir macht)) und deshalb kann ich das heute nicht und bin überfordert und muss immer weiter und weiter an meinem Oma-Ding arbeiten, um das zu können.
Natürlich gibt es Menschen, für die es wichtig ist und hilfreich und völlig okay, sich so mit ihren Schwierigkeiten auseinanderzusetzen.
Für mich wirkt es im Moment jedoch auch wie ein Weg sich Klient_innen zu produzieren, die man sehr lange, sehr tiefschürfend, fast ausufernd behandeln _muss_, ohne dabei wirklich greifbare Ziele erreichen können. Weil die Straßenbahn-fahr-Verbot-Oma ja auch noch tausend andere Dinge verboten haben kann und man so ja nie etwas lernen konnte und das betrauert werden muss (Trauer ist eventuell auch ein langer Prozess…) und integriert werden muss und tja am Ende irgendwann, wenn die Kraft der Behandler_in nicht mehr reicht, muss di_er Klient_in vielleicht lernen damit umzugehen, dass bestimmte Dinge bei ihm_ihr einfach aufgrund der Geschichte mit Oma vielleicht nie gut/normal/funktional sein werden, aber das ja nicht schlimm ist, schließlich hat sich die di_er Klient_in in x Behandlungsjahren eh schon dran gewöhnt “krank”/dysfunktional/bekloppt zu sein.
Ich behaupte nicht, dass das oft vorkommt und man sich deshalb niemals mit einem Oma-Ding in Therapie begeben sollte. Oder, dass gezielte Misshandlungen im Rahmen von organisierter Gewalt niemals Täter_innen-Intensionen folgen, die im späteren Leben der ehemaligen Opfer eine große Rolle dabei spielen, bestimmte Dinge zu können oder neu zu lernen oder genau nicht zu können und zu lernen.
Ich sage, dass diese Herangehensweise bzw. allgemeiner die Begründung von Schwierigkeiten in den Intensionen anderer Menschen zu sehen, für uns nie zur Folge hatte, unsere Probleme lösen zu können, neue Fähig- und Fertigkeiten zu entwickeln, geschweige denn, uns tatsächlich von diesen Personen zu emanzipieren.
Mit uns funktioniert der “böse auf die Täter_innen werden und sich dadurch besser abgrenzen können”-Ansatz nicht und darüber ein Großteil der üblichen Methoden zur Motivation von Aneignung des eigenen Lebens und Etablierung von Selbstbestimmung und so weiter, ebenfalls nicht.
Und erst jetzt kommen wir zu der Erkenntnis weshalb das so ist.
Wir wollen unsere Therapieziele um ihrer selbst willen. Wir haben uns für das Leben um des am Leben seins willen entschieden.
Mich hat es belastet die Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel nicht zu erinnern bzw. bewusst für mich selbst zu erleben, weil ich es nicht erinnerte bzw. nicht bewusst für mich erlebte. Es ist unser permanenter Sachbezug, der uns in einem Kontext der Gründe aus Intuition und Personenbezug eine Schleife von 10 Jahren hat fahren lassen.
Und das ist eine wirklich bittere Erkenntnis.
Das erbittert uns nicht nur die Traumatherapie bis heute, es erbittert uns auch sämtliche früheren Behandlungen als Versuch einer sich bietenden sinnvoll erscheinenden und von allen Seiten angeratenen Möglichkeit sich Erleichterung und mehr Lebensqualität zu verschaffen.
Der Begleitermensch hatte gefragt, ob es denn nicht gut sei, es jetzt geschafft zu haben, einen Weg gefunden zu haben, das Fahren mit der Straßenbahn zu erleben, ohne zu dissoziieren. Ob es denn nicht schön sei. Ob es das denn nicht überwiegt. Oder relativiert.
Jetzt ist eine ganze Weile vergangen seit dem Tag, an dem das passierte.
Und ich kann sagen: nein, das tut es nicht.
Es jetzt zu schaffen, macht das Leid früheren Scheiterns und seiner Konsequenzen für und in uns nicht weg und schon gar nicht relativiert es das. Es ist nicht erhebend für mich zu sagen: “Ha! Ich habe es geschafft ohne diese Verhaltenstherapeutin! Ha ha! Ich bin ja wohl doch nicht so blöd, wie sie mich vor mir selbst dargestellt hat!” – es ist unfassbar traurig für mich, nicht früher und ohne so schmerzliche Episoden auf Kosten anderer Innens an den Punkt gekommen zu sein.
Ich bin nicht dankbar dafür, jetzt Bahn fahren zu können, weil es sich im Moment mehr nach einer zufälligen Belohnung fürs Durchhalten anfühlt, als nach einer Entschädigung oder dem Gewinn eines Kampfes.
Ich bin nicht voll des Triumphes, weil ich mir einreden kann, ich würde wegen dieser Fertigkeit den Täter_innen ein Schnippchen schlagen, weil ich jetzt etwas kann, was sie mir immer verwehren wollten.
Ich bin nicht voll der Zuversicht für die Lösung anderer, ähnlich gelagerter Probleme des Alltags, weil ich weiteren Schmerz fürchte, der mit der Erkenntnis einhergeht, dass wir schon sehr viel früher, sehr viel ernster und allen Vorgaben durch Therapiemethoden und Therapeut_innen zum Trotz auf das, was um am Kränksten, Durchgeknalltesten, Awkwardesten an uns selbst erschien (und bis heute erscheint) achten und entsprechend handeln hätten müssen – obwohl ich weiß, dass wir genau das aber auch aus Gründen sehr lange nicht konnten (und auch heute nicht einfach mal eben können).
Wieder bewege ich mich also in dem Kreisel aus internalisierter Pathologisierung, Anerkennung der Schädigung von früherer toxisch wirkender Psycho(trauma)therapie und deren Auswirkungen auf mich (uns) heute.
Weil ich ein Erfolgserlebnis hatte.
Weil ich ein Therapieziel erreicht habe.
Weil es nun einen Bereich mehr in unserem Leben gibt, der nicht so bewältigt werden muss, wie früher Gewalterfahrungen bewältigt wurden.
tl,dr: Es ist schön, dass es jetzt so ist.
Und es ist bitter, dass es nicht schon vorher so war.