Wieder Kunst machen. Vielleicht.

„Das ist so eine Sache, da sind Trauma und ihr Autismus, so richtig SO“, meine Therapeutin verschränkt ihre Hände fest ineinander und deutet an, dass eine Trennung kaum möglich ist.
Wir sprechen über den Kunst-Konflikt. Den Klinik-Gau. Dass sich manche Innere ausdrücken wollen und ich es nicht zulasse. Obwohl ich ein ganzes Zimmer voller Gestaltungsmaterial, eine komplette analoge Foto- und Laborausrüstung, Unmengen an Papier und Werkzeugen besitze. Ich maximal geschützt loslegen könnte. Und darunter leide, dass ich es nicht zulasse.

Ich bin meine erste Woche im Urlaub, nachdem ich 4 Wochen krankgeschrieben war. Erschöpfungsdepression. Meine Essstörung entfesselt. Die Arbeit im Zusammenspiel mit Kinderwunschbehandlung, Traumatherapie und Selbsthilfe im Umkreis von 100 bis 130 Kilometern auf Dauer entkernend.
Also fahren wir die Ressourcenrunde.
Ich habe keine echten Pausen. Und dadurch zu wenig Raum für Selbstwahrnehmung, Selbstausdruck und Selbstverwirklichung in dem Sinne, dass ich selbst begreifen kann, dass ich wirklich bin.
Meine Krankschreibung, sie führt zu selbstgemachten Therapieanwendungen.
Statt Mandalas bei Panflötenmusik spiele ich Sims 4, statt Gruppentherapie telefoniere ich lange mit Freund*innen. Ich schlafe auch am Tag. Zwinge mich nicht in eine Konzentration, die ich sowieso nicht aufbringen kann.
Nach 3 Wochen habe ich den ersten eigenen Gedanken mit Anfang, Inhalt und Ende. Nach 4 schaffe ich den Dreh zurück ins Essen ohne erweiterte Funktion. Die Therapie ist nicht mehr fast überanstrengend, sondern wieder eher meine Vermeidungsbequemlichkeiten herausfordernd.

So sitze ich da also und beobachte meine Therapeutin mit ihrer erklärenden Geste. Kurz vorher habe ich erst verstanden, dass dieses Thema wichtig ist, weil es mich von positiven Ressourcen trennt. Nicht, weil meine Therapeutin sich bei den Jugendlichen einschmeicheln will, wie R. argwöhnt, ich befürchte und hinter der Nebelwand zu Kindlichem alle Alarme kurz vor Auslösung bringt.
Zuvor wollte sie verstehen, wo das Problem liegt. Ist es Perfektionismus? Ist es Öffentlichkeit? Ist es Angst davor, abgezwungenes Schweigen zu brechen?
Nein, nein, nein.
Es ist viel banaler. Und gleichzeitig überhaupt nicht banal.
Es ist auch meine eigene Schuld. Und gleichzeitig, ein bisschen, auch nicht.
Und es ist mein Autismus. Und die Logik des Traumas.

An diesem Tag im Mai 2016 verließ ich das Besprechungszimmer der Ärztin mit den Worten: „Ich habs immer überlebt.“
Und dann hab ichs überlebt.
Ich bin da raus und wähnte mich in Lebensgefahr, vor der mich niemand schützt. Also bin ich, wie immer, erstarrt. Und gleichzeitig, dank der direkten Intervention meiner ambulanten Therapeutin, funktional in Bewegung geblieben.
Das – solche psychischen Scherkräfte, also parallel und gegensätzliche Kräfte – sind die Zutaten für funktionelle Dissoziation. Die Gleichzeitigkeit, die Trauma und das Leben danach so widersprüchlich und belastend macht. Auf der einen Seite die Todesangst (für die man sich vielleicht selbst verantwortlich macht) und auf der anderen Seite der Alltag. Hier die globale und unendliche Isolation und da Menschen, die mit einer_m sprechen. Oder zusammen in der Bahn sitzen. Oder im Laden stehen. Dieses Spannungsverhältnis führt zu der reaktiven Inflexibilität, die viele traumatisierte Menschen irgendwann in Bezug auf irgendetwas bei sich feststellen.
Dieses Spannungsverhältnis und der Druck, der dabei entsteht, können folgenden Gedanken logisch machen: „Was ich getan habe, um hier hineinzugeraten – das mache ich nie wieder.“
Ich überlebte den Klinik-Gau, diese Retraumatisierung im Hilfekontext, indem ich Entscheidungen traf und dabei blieb. Konsequent wie Stahlbeton. Nicht, weil ich so einen starken Willen habe, sondern weil toxisches Stressniveau und autistische Trägheit zusammen einen unfassbaren Superkleber und in der Folge eine unerschütterliche Inflexibilität produzieren.

Erst verließ ich das Klinikgebäude und beschloss, nie wieder mit irgendjemandem zu sprechen. Ein kindlicher Beschluss. Der hielt bis zum Kontakt mit meiner Therapeutin. „Nie wieder mit irgendwem“ ging also nicht.
Aber „nie wieder so“ und „nie wieder das“, das ging. War sogar gut. Meine Therapeutin kannte sich nicht mit Autismus aus. Ich hatte eine komplementäre Begleitung, die es nicht erforderlich machte, dass sie sich auskannte. Den Begleitermenschen nämlich. Auch der Kontakt zu ihm brauche nicht mehr „so“ zu sein. Und „das“ mit ihm zu besprechen, rückte durch den Ausbildungsalltag an der Berufsschule ohnehin in den Hintergrund. Und irgendwann endete unser Verhältnis auch.

Es dauerte 4 Jahre, bis ich meine an dem Tag getroffene Entscheidung, meine Therapie vom Thema Autismus („das“) und damit aus dem Großteil meiner Wahrnehmungsrealität und dem, was sich daraus für mein Erkennen und Verstehen meiner Selbst ergibt (und mich „so“ sein (interagieren und kommunizieren) lässt), rauszuhalten, revidierte. In Teilen. Unter einem absoluten Vorsichtsdiktat, das ich bis heute halte.
Auch das tat ich wieder in einer brutalen Krise, die mich in ungeheure Spannung brachte. Hier die Therapeutin, die sich bemüht und mit der ich mich überhaupt nicht mehr unsicher fühle – da die Erfahrungen mit sehr vielen Psychotherapeut_innen und ganz speziell der letzten, nach denen es sich immer logischer darstellte, einfach auf etwas von mir zu verzichten. Irgendwas einfach nicht mehr zu machen.
Hätte ich nicht den Eindruck gehabt, dass es mich das Leben kosten könnte, würde ich die Therapie nicht richtig machen, meiner Therapeutin nicht sagen, dass sie Murks macht, wenn sie meinen Autismus mit Fragezeichen versehen am Rand stehen lässt, hätte ich das nicht an sie herangetragen.

Keine meiner Entschlussrevisionen hatten jemals irgendwas mit „mal in Ruhe und ganz objektiv mal drüber nachdenken und dann halt mal anders machen“ zu tun. So wie man sich das von Therapie verspricht oder es in weniger drastischen Situationen im Alltag erlebt.
Meine Generalisierungen sitzen. Und zwar immer und überall. Mein Platz, mein Besteck, mein Geschirr, meine Kleidung, meine Tagesabläufe, meine Leute, meine Themen, meine Interessen, meine Offenheiten – hinter allem stehen bewusste Entscheidungen und „Für immer“-Entschlüsse. Entscheidungen für die Ewigkeit. Es erfordert absolut uneigennützige Bereitschaft, mit mir sachlich und zieldefiniert zu verhandeln, ob ich irgendetwas daran verändere. Kommt auf diese autistische Eigenschaft der Stress des Traumas, bin ich absolut darauf angewiesen. Denn an diesem Baustoff aus Traumastarre und autistischer Trägheit prallt jeder „Wägen Sie vielleicht mal ab, ob …“-Pinsel ab.

Manche meiner generellen Entscheidungen kann ich schnell revidieren. Besonders, wenn mir auffällt, dass ich eine traumalogische Basis dafür hatte. Wenn eine Entscheidung nur in einem einzigen Zusammenhang wirklich sinnvoll war, dann ist es ineffizient und unlogisch, sie auf alle anderen Lebensbereiche auch anzuwenden.
Die Entscheidung gegen meinen authentischen Selbstausdruck hingegen, die habe ich nicht nur im Zusammenhang mit dem Klinik-Gau getroffen. Diese Entscheidung habe ich bis dato in so vielen verschiedenen Momenten getroffen, dass es keinen Bereich mehr gibt, der frei davon ist. Das ist, was man heute so positiv hinzufügend als „Maskierung“ benennt. Und eben nicht negativ als „Verzicht auf sich selbst für andere“.

Der Klinik-Gau war für mich so belastend, weil ich vor der Autismusdiagnose nicht wusste, weshalb ich verschiedene Dinge nicht anspreche oder nur verschleiert und heimlich mit mir allein verhandle. Ich lebte wie ein Salamander mit abnorm gefärbten Körperteilen, die ihm immer erst dann auffielen, wenn andere negativ darauf reagiert haben.
Beim Klinik-Gau kannte ich diese Stellen und wusste, woher sie kamen. Meine Erwartung an diesen „geschützten Rahmen“, diesen Ort, an dem psychologische Exzellenz, psychotherapeutische und soziale Kompetenzen von den Autoritäten vorauszusetzen, logisch und auch gewollt ist, war zu keinem Zeitpunkt überzogen oder grundlegend falsch gesetzt. Sie wurde einfach nicht nur nicht erfüllt, sondern auch noch benutzt, um mich zu demütigen und mich glauben zu lassen, ich sei an meinem Empfinden von Auslieferung, Ohnmacht und Lebensbedrohung selbst schuld, denn ich hätte diese abnorm gefärbten Körperteile. Und die wiederum seien gar nicht das, was ich annahm, sondern etwas noch viel Abstoßenderes, was meine Gewalterfahrungen noch viel stärker zu etwas macht, das ich nie anders verdient und immer selbst verursacht hatte.
Als ich der Ärztin damals sagte: „Ich habs immer überlebt“, war für mich bereits absolut klar, dass ich mir so viele dieser abnorm gefärbten Körperteile wie möglich abhacken muss. Mein Leben voller Verdeckungs- und Vermeidungsperformance war ja offensichtlich nicht genug. Nicht das Richtige. Nichts, was mich als jemanden sichtbar macht, die_r es richtig wirklich und echt doll versucht okay für andere zu sein. Okay genug, um nicht von ihnen verletzt zu werden. Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich selbst nichts bin, mit dem ich jemals irgendwo sicher einfach sein kann.

Meine Kunst, die einzige Möglichkeit für jüngere Innere, sich auszudrücken, ihre Geschichte zu teilen und sich in der Gegenwart zu orientieren, war nur ein Opfer dieser Abhack-Entscheidung. Das zweite Opfer war eine Freiheit, um die ich mit meiner Entdeckungsangst ringe – die Freiheit, nicht vermeiden zu müssen. Ich habe mir damals auch abgehackt, mir zu wünschen, dass ich Kunst mache. Irgendwie okay zu finden, was ich früher mal gemacht habe. Mich mit Menschen zu verbinden, die diese Wünsche in mir wecken könnten. Ausstellungen, Werkstätten, Projekte zu besuchen, die mich an dieser Stelle reaktivieren könnten. Mein ganzer Materialkram ist da, weil mein Entschluss, nicht zu verschwenden, besteht. Die Kisten und Ordner sind heute in einem Raum, den ich nur öffne, um ihn zu durchlaufen. Die Tür ist immer zu. Ich gehe da nicht rein, weil ich mir nicht trauen kann, dass nicht doch irgendein Innen irgendetwas macht, was mir und dem Rest der Welt meine abnorm gefärbten Körperteile aufzeigt. Denn klar, als Salamander kann man sich Körperteile abhacken – die kommen aber wieder. Man muss in der Angelegenheit sehr konsistent sein. Was wiederum nicht sehr schwer ist, wenn es sich um eine Sache handelt, die in Auti-Trauma-Beton gegossen ist. Jeder nette Kommentar über meine Kreativität führt zu einem präventiven Hack an mir. Jede Rückmeldung zu einem Text als „selbstdarstellend“ – hack of the doom. Jede Erwähnung meiner Arbeiten früher – hack hack hack.

Mag sein, dass ich damals, 2016 in der Klinik, ganz viel komplett falsch verstanden habe. Und niemand jemals von mir erwartet hat, dass ich mich für mich selbst schäme. Ich bin geübt genug in Reparations-/Entschuldigungs-/Wieder-gut-mach-/Klärungsgesprächen mit nicht autistischen Menschen, um zu wissen, dass am Ende IMMER ich die Person bin, die da was nicht richtig verstanden hat. Die irgendwas zu ernst nimmt. Die sich auf eine Art fühlt, die nicht die Intention war und deshalb halt Pech hat, weil da ja nun wirklich niemand was für kann. Außer mir.
In Bezug auf diesen Klinik-Gau, werde ich zu keinem Zeitpunkt jemals einen Moment haben, in dem die Last, der Schmerz, die Angst, die Verletzung von mir genommen wird. In ihrer Natur ist diese Erfahrung damit meinen Gewalterfahrungen in der Herkunftsfamilie und jedem anderen sozialen Nahfeld gleich. Infolge dessen sehe ich keinen Grund, meine daraus folgenden Entscheidungen nicht zu generalisieren.
Ja, die Ärztin war nicht meine Herkunftsfamilie, alle meine anderen Mitmenschen zwischen 1986 und 2016, oder irgendjemand anders, die_r mich wegen meiner abnormen Färbung verletzt hat. Aber sie hatte den gleichen Bezugspunkt, um mich zu verletzen und mich in das Erleben einer Lebensgefahr zu bringen.
Es wäre unlogisch, das zu ignorieren. Traumalogisch ausgedrückt: lebensgefährlich dumm.

Meine Therapeutin beendet ihre Geste und spricht eine Weile. Sie sagt, ich könne mich fragen, ob ich das Ereignis mein Leben so umfassend bestimmen lassen will. Ob ich dem weiter so viel Macht geben will.
Diesen Ansatz finde ich unsinnig. Es ist ja nicht das Ereignis, dem ich Macht gebe, sondern die Beschämung, von der ich weiß, dass sie praktisch automatisch kommt, egal von wem und in welcher Absicht. Das Ding ist nicht, dass das passiert ist, sondern, dass es passiert ist, obwohl ich mich so unfassbar aufgerieben und angestrengt habe, dass es nicht passiert. Eine Klinik für Psychosomatik ist der einzige gesellschaftlich gewollte Rahmen und Ort, von dem man annehmen darf, dass man dort nicht wegen sich selbst verletzt wird. Darum war ich da. Ich brauchte Hilfe und war abnorm. Nirgendwo sonst, dachte ich, könnte ich mich risikoarm und sicher damit befassen und arbeiten.
Das Ereignis hat eine Generalisierung, die ich vorher bereits hatte, bestätigt und erweitert. Es hat nicht mehr Macht über mich, als jeder belustigte Kommentar über mein wörtliches Verstehen, jedes amüsierte Nachmachen meines Körperausdrucks, jede Demütigung nach einem Missverständnis, jede soziale Dynamik, die entsteht, weil nicht oder auch anders behinderte Menschen Behinderung mit aufwertender Sonderstellung verwechseln oder Autist_innen (oder auch Menschen mit DIS) als interessant mystische Sonderlinge einordnen.
Jetzt, wo ich weiß, dass sich in diesen Dingen mein Autismus zeigt und Autismus etwas ist, das ich, im Gegensatz zu anderen Dingen, nicht verlernen oder „einfach nicht machen“ kann, sondern ich selbst bin – jetzt ist es unmöglich, dass es keine Macht über mich hat. Es trifft immer mich. Es geht immer um mich. Ich bin immer das Problem der Witz  Trigger Auslöser ja, verdammt, ich kann das nicht einmal sachlich, nicht selbstabwertend benennen, wenn ich es versuche.

Ich habe zu viel Angst, einfach wieder anzufangen und es zuzulassen. Ich weiß, dass es nicht nur wieder passieren kann, ich weiß, dass es mit hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit auch wieder passieren wird. Aber ich weiß, was ich tun kann, damit es mir nicht wegen etwas passiert, das ich sicher auch lassen kann.
Das ist nicht nur Traumalogik.
Das ist auch die Logik der Gewalt.
Beschämung ist Gewalt. Beschämung ist ein Machtinstrument. Sie hat Macht. Es ist irrelevant, ob ich ihr die zuschreibe oder nicht. Ich gebe sie ihr nicht. Sie hat sie. Sie hatte sie schon immer.

Meine Therapeutin redet weiter. Ich antworte und beobachte, wie unsere Worte im Raum, zu einem Bild verwachsen. „Ich könnte es ausdifferenzieren wie beim Schreiben“, denke ich. „Statt mich darzustellen, stelle ich meine Themen und Perspektiven dar. Wer sich daraus ein Bild von mir macht, ist selbst dafür verantwortlich. So hab ich das ja immerhin trotz allem Abhackdruck halten können. Aber geht das beim Fotografieren? Beim Malen? Zeichnen? Comics machen? Drucken?“
Das könnte ich versuchen.
Vielleicht.
Wenn ich mich traue.

Todesangst

„Wovor hast du denn Angst, es passiert doch nichts.“ Das, diese Frage ohne Fragezeichen, diese Aussage mit Lüge drin, ist mir im Leben bereits sehr oft begegnet. So oft, dass ich sie nicht mehr hasse. So oft, dass ich sie behandle wie viele andere Versatzstücke von Gesprächen, die ich weder wirklich durchdringe noch wahrhaft als Marker für die Natur des Gesprächs nutze. Denn es tut mir nicht gut, mit Menschen über Angst zu sprechen, die Angst nur als periodisches Erleben besonderer Situationen kennen und den Lauf der Dinge, in dem immer irgendetwas irgendwie passiert, ebenfalls nicht stets und ständig, sondern nur dann und wann überhaupt wahrnehmen.
So bleibt es, was ist: eine Mikroaggression, eine Alltagsignoranz.

Und ein Marker für eine soziale Falle. Denn die meisten Menschen sagen das, um zu vermitteln, dass man (mit ihnen) sicher ist. Dass alles okay ist. Es ist aber nicht alles okay, wenn eine Person Angst kommuniziert und die andere nicht einmal eine Idee davon hat, worum es bei der Angst geht. Diese Person irrt sich. Sie bemerkt etwas nicht, sie ist nicht im Bilde über die Lage und möchte ihr Sicherheitsgefühl natürlich auch nicht verlieren. Deshalb sagt sie diese Phrase. Diese Floskel. Diesen kleinen sozialen Abwatscher, der der anderen Person vermittelt, sie würde etwas sehen, fühlen, bemerken, das nicht da ist.
Und die andere Person? Vielleicht versucht sie nochmal, zu schildern, was ihr Angst macht. Vielleicht erklärt sie. Doch je weiter ihre Ängste, ihr Erleben von Angst, die Rolle von Angst in ihrem Leben, von der der anderen Menschen abweicht, desto häufiger wird genau diese Erfahrung der Abwehr, der Mikroaggression und des Infragestellens der eigenen Wahrnehmung.
Und dadurch werden andere Menschen oder auch nur der Kontakt mit ihnen einfach grundsätzlich immer unsicher. Auch die Netten. Die Lieben. Die Vertrauenswürdigen. Die ganz wirklich überhaupt nichts Böses wollen. Die nur helfen möchten. Die nicht einen Hauch von Negativität in sich haben.

*

Ich habe geträumt, ich hätte Sookie erschossen.
Meine Assistenzhündin, mein erster echter emotionaler Spiegel, das Wesen, die Entität, mit der ich mich rückhaltlos verbunden gefühlt habe. Sookie, die letztes Jahr gestorben ist.
Es war die Art Traum, gegen die ich mich entscheiden konnte. Ich hob meine rechte Hand und drückte damit meine linke Schulter, um mich aufzuwecken. Das ist meine Traumunterbrechungsgeste. Wenn ich mich an die erinnern kann, während ich träume, weiß ich, dass ich sie ausführen kann und alles Schlimme oder Unangenehme unterbrechen.
Doch als ich aufwachte, war da keine lebende Sookie. Kein warmer, weicher Brustkorb, der sich an meine Seite schmiegt. Da war nur die Tatsache, dass sie tatsächlich tot ist und nie wieder lebendig sein wird.

Nach Sookies Tod hatte ich nicht viel Raum für die Verarbeitung ihres Todes. Ich hatte viel zu viel Angst, meine neue Arbeitsstelle nicht behalten zu dürfen. Ich hatte die Fahrschule, die mit viel Angst einherging. Neben dem Podcast, der Verlagsarbeit, den Projekten, an denen ich mich privat beteilige.
Damals habe ich ein Mal geweint. Direkt noch mit Sookie im Arm auf der Wiese. Reflexhaft, als würden sich meine Tränendrüsen übergeben müssen. Und ein Mal brach F., ein Kinderinnen, weinend aus mir heraus, als ich meine Therapeutin in einem Notfalltelefonat hatte.
Die Trauer um meine so nahe Begleiterin zeigte sich im Alltag eigentlich nur in einem Fähigkeitsverlust. Ich war nicht traurig und auch nicht sicher, ob ich trauern würde. Wenn ich in der Zeit danach mal nicht von Angst über für andere unsichtbaren, irrelevanten Kleinscheiß des Alltags umgetrieben wurde, dann hatte ich Sehnsucht nach Sookie. Nach den langen Wanderungen im Wald. Sie in ihrem unermüdlichen Weg vor und wieder zu mir und vor und wieder zu mir, Anspielen, Dinge beriechen, Schauen, Teilen, vor und zurück. Nach dem Gefühl, dass wirklich alles okay ist, weil wir so viel miteinander teilen, was der Moment in sich hat. Eine Sehnsucht, die ich sonst nur habe, wenn ich mir eine Freundin wünsche, obwohl ich schon welche habe. Oder eine Familie, obwohl ich schon eine habe. Nur eben nicht so.

In der Nacht des Traums, dem Moment der Orientierung in die Realität, kam die Traurigkeit, wie etwas, das mich töten könnte.
Ich konnte kaum noch atmen, meine Brust war so zusammengepresst, dass weder Töne heraus noch Luft hinein kam. Mein Weinen hatte meine Augen so anschwellen lassen, dass es sich anfühlte, als hätte ich Steine darauf liegen. Ich konnte kaum sehen, kaum atmen und das, während der emotionale Schmerz mich in einer Radikalität erfüllte, die ich nicht anders als grenzenlos beschreiben kann. Etwas, das ich nur von Kinderinnens kenne. Ganz entfernt. Eher theoretisch als je selbst erlebt. Ich dachte, ich bekäme einen Herzinfarkt. Mehr fremd als selbst ging ich zu meinem Mann runter. Er verstand sofort, dass es sich schlimm anfühlen würde, so einen Traum gehabt zu haben und dann in eine so gleich schlimme Realität aufzuwachen. Er tröstete mich. Und ich? Ich bin nicht in einer warmen Wolke der Liebe gelandet und fühlte mich besser. Ich bin emotional, seelisch, ichlich gestorben. Meltdown, Krampfanfall. Der erste große, den mein Mann direkt miterlebt hat. Das reine Wahrnehmen der Traurigkeit hat mich getötet.

Am Ende der Shutdown. Das dissoziative Nachwehen als diffuse Masse aus Reiz und Reaktion, ein Ich im Wiederaufbau. Das Ausgeliefertsein an die Umwelt, während das Fühlen der Angst darüber noch gar nicht wieder möglich ist. Wie auch Gefühle von Sicherheit und Liebe. Geborgenheit und Nähe.
Wir lagen zu dritt auf dem Bett, wie ein ganz intimes Familiensandwich. Bubi an meinem Bauch, mein Mann an meinem Rücken.
Ich konnte nichts empfinden. Nicht einen Gedanken halten. Nur meinen Körper entlang ihrer Atmung rekonstruieren und warten, bis ich mich als lebend wiedererkenne.

*

Vor solchen Momenten habe ich Angst.
Solche Momente habe ich fast jeden Tag in abgeschwächter Form. Nicht immer mit einem Krampfanfall. Immer wieder jedoch mit einem innerlichen Meltdown. Der absoluten Ohnmacht und der im Grunde fast immer bestehenden, sehr umfassenden, Einsamkeit wegen der für andere Menschen offenbar unmöglichen Nachvollziehbarkeit dessen, was in mir vorgeht, wenn ich mein Leben, aber auch meine eigene Lebendigkeit erlebe.
Da geht es nicht um Vertrauen oder Nichtvertrauen, wen ich lieb finde und wen nicht. Ob ich mir genug oder zu viel zutraue, ob ich zu wenig soziale Codes verstehe oder hinnehme. Ob ich mich meinen Ängsten stellen, sie mir abtrainieren oder als in der Regel unbegründet akzeptieren muss oder nicht.

Es geht darum, dass ich mich daran sterbend erlebe und weiß: Wer noch nie an seinen eigenen Gefühlen gestorben ist – wer sich noch nie an Verzweiflung, an Not, an innerer Spannung so umfassend selbst verloren hat – wird immer denken: „Ach komm. So schlimm ist das nicht.“

die Videos

Ich verlasse das kühle Haus und stoße gegen unbewegliche Hitze.
Wir hatten einen besonderen Termin, meine Therapeutin und ich. Und meine Freundin K.. Wir kamen zusammen, um zwei Videos zu besprechen, die ich seit 23 Jahren wie zwei glühende Wackersteine mit mir herumtrage. In jeder Hinsicht.
Die Videos zeigen zwei Situationen im professionellen Setting. Mich mittendrin. Erst 16, dann 17 Jahre alt. Erst dick, dann dünn. Erst angespannt, dann sicherer. Ich habe vor 10 Jahren schon mal versucht, sie anzusehen, eine unerträgliche Panik hat den Versuch beendet.
Und auch diesmal sehen wir sie nicht an. Wir sprechen darüber drüber.
Meine engsten Vertrauten haben es gesehen. Ich glaube ihnen. Vertraue darauf, dass sie mir den Inhalt richtig wiedergeben.

Ich wollte wissen, ob ich bequatscht wurde. Mir die DIS eingeredet, ich falsche Annahmen ausgelöst oder bestätigt habe. Wollte wissen, wie meine Therapeutin die Situation aus professioneller Perspektive sieht. Wie meine Freundin aus ihrer. Haben sich die Erwachsenen in dieser Situation angemessen und professionell verhalten?
Hätten wir es angesehen, hätte ich mich betrachtet. Versucht mich zu sehen, zu erkennen. Wer war da? Willenlose Klapsleiche, compliant Patient*in, loyale Tochter oder böses Mädchen?

Und ohne dass es mir wirklich bewusst war, war da auch die Frage, ob man es sieht.
Meine Verlassenheit. Meine Unterlegenheit. Meine Auslieferung. Meine Machtlosigkeit. Meine Unreife. Meine Überforderung. Mein Leiden.
Nicht unter der DIS. Nicht unter den Symptomen. Nicht unter mir selbst, sondern allem anderen.

Als im Zug die Klimaanlage meine Haut kühlt und die Landschaft an mir vorbeizieht, rutscht eine Traumawahrheit in mich hinein. „Niemand sieht mich.“
Eine Wahrheit, die ich routiniert abwehre. Denn ich bin ja eine gute Patientin, nicht? Ich bin kein Opfer mehr, deshalb sind solche Gedanken und Gefühle ja kompletter Quark. Ich werde ja gesehen. Guck hier Realitätscheck: Seit über 20 Jahren gucken mich Therapeut_innen an. Heute ist heute, die Realität ist klar und deutlich eine, in der ich gesehen werde. Es ist ja niemand in meinem Umfeld komplett ignorant oder rücksichtslos. Alle stellen sich auf mich ein und fragen, was ich brauche, sind für mich da, wenn ich möchte – das ist doch „gesehen werden 3000“.
Oder etwa nicht? Was will ich denn noch mehr? Gibt es denn da überhaupt keinen Punkt, der mir reicht?

Dieses Empfinden des endlosen Bedarfs, des unerfüllbaren Brauchens, das ist für mich, die_r lange ausschließlich im therapeutischen Kontakt präsent war, bis heute etwas, das ich nicht ausdrücke. Erwähne. Bespreche.
Dieses Empfinden ist gefährlich für mich. Es führt in Mutter-Übertragungen, in Dynamiken, die mit Überforderung oder Unzulänglichkeitsthemen auf Behandler_innenseite zu tun haben und damit – so meine Erfahrung bis zur Arbeit mit meiner jetzigen Therapeutin – in den Kontaktabbruch. Die Entlassung in die Lebensgefahr.

Den Balanceakt, den es bedeutet die traumareaktiven inneren Bedarfe (anderer Innens) zu spüren, die eigene Hilfebedürftigkeit zu bemerken, aber im richtigen Maß zu kommunizieren, angemessen mit den zur Verfügung gestellten Ressourcen zu stillen und dabei immer wieder zu vermitteln, dass es reicht, obwohl es das nicht immer tut oder nicht richtig oder an einer Stelle, die unerwartet dazugekommen ist – diesen Akt, zu schaffen war ein Kernaspekt meiner Präsenz.
Hätte ich, Hannah, wir Rosenblätter, uns nicht herausgeschliffen aus dem, was die Lebensrealität einer komplex traumatisierten Person mit DIS in Armut, mit damals noch nicht bekannter Behinderung und ohne nicht professionelle Bezugspersonen, zwischen 2002 und 2012 bedeutet hat, hätte unsere Klapskarriere nie geendet. Wir hätten nie aufgehört, nach Hilfe zu schreien. Nach Rettung. Nach Gesehenwerden in der Not. Da bin ich mir sehr sicher. Der Strudel, der mit diesem, aber natürlich auch noch vielen anderen Fragmenten des Trauma(wieder)erlebens einhergeht, ist einfach regelhaft Kompetenzen und Ressourcen üb.er.fordernd für Helfer_innen. Für Begleitende. Für Freund_innen.
Und dabei ist eine Sache leider die: Niemand kann jemanden die_r sich in absolut existenziell bedrohlicher Lage erlebt, jemals sehen. Denn sobald man jemanden sieht, ist die Lage einfach nicht mehr existenziell bedrohlich.

Was ich da fühle, ist „mein Opferscheiß“. Es ist Mimimi. Es ist das „Gah, das ist alles schlimm und scheiße und ich brauche unbedingt …“, das im Heute nicht mehr real ist – und ein reales Gefühl. Eine manchmal extrem dringliche Empfindung. Eine, die ganz real und in mir drin alles bestimmend wirkt, obwohl ich sie nicht habe. Obwohl ich sie empfinde. (Ja, so kompliziert ist „eine DIS haben“.)

Meine Kompetenz ist, diesen Unterschied zwischen Früher und Heute zu machen und den unerträglichen Clash, den diese Unterschiedlichkeit von Realität und Empfinden auslöst, nicht unaufgefordert oder aus eigenem Belastungsempfinden heraus zu kommunizieren.
Früher habe ich ihn nicht einmal empfunden. Da war ich noch viel stärker dissoziiert von den Anteilen, die diese Bedürftigkeit als akutes Erleben in einer Gewalterfahrung hatten. Heute schwappt das deutlicher zu mir über. Und mein Umgang damit ist weiterhin abwehrend nach innen, um nach außen nicht davon beeinflusst zu werden. Früher ging es dabei viel um Performance, heute eher um Funktionserhalt. Ich habe nun keine Therapeutin mehr, die mein Verhalten mit meinem Sein gleichsetzt – daher habe ich keinen Performancedruck mehr. Trotzdem ist nach wie vor in mir drin: Wenn ich da bin, bleibt dieser gefährliche Opferscheiß entweder komplett raus oder wird passend abgeschwächt – sonst funktioniert das hier nicht sicher als Therapie und damit ich selbst nicht mehr.

Und der Anfang von diesem Ding – diesem Anspruch therapiegerecht zu funktionieren, während gleichzeitig ganz andere existenzielle Höllenfeuer laufen, die aus unterschiedlichen Gründen heraus nicht lösbar, beendbar, benennbar, besprechbar oder (wieder) gut machbar sind und entsprechend unsichtbare Innere komplett allein lassen – dieses Ding hat da angefangen.
In einem Setting, in dem man mich bis heute ansehen kann. In dem ich schon damals von sehr viel mehr Menschen angesehen wurde, als mir lieb war. In dem ich mit meinem Vielesein gesehen wurde – mit 16 und nicht erst mit 26, 36 oder 46, was sich viele andere Viele wahrscheinlich sehr gewünscht hätten.

Aber ich war damals nicht nur eine Patientin mit DIS.
Ich war auch eine 16- dann 17-jährige Person im X. psychiatrischen Aufenthalt, weil sie absolut keine Kontrolle über sich selbst hat. Ein_e Jugendliche_r, die_r froh ist, nicht mehr zu Hause zu sein und gleichzeitig schwer heimwehkrank. Ein Teenager mit unerträglicher Kindheit. Eine Patientin, in ständiger Anspannung, dass sich die Missbrauchssituation durch einen Psychologen wiederholt. Eine Tochter ohne Familie. Ein_e Heranwachsende_r ohne Freund_innen. Ein Opfer, das nur von Täter*innen hört, dass es gut wäre, wäre es nicht länger in der Psychiatrie. Ein_e hochbegabte Person, die sich gleichzeitig runterdummen und intellektuell massiv überfordernden Inhalten widmen muss. Eine unerkannt autistische Person mit gleichermaßen unerkannten Kommunikations- und Verständnisproblemen. Ein_e Jugendliche_r, mit Todesangst vor dem Leben. Jemand, die_r ziemlich genau nur eine Perspektive in die Zukunft hat – nämlich die immer an sich arbeiten zu müssen, weil das Leiden sonst nicht aufhört.
Ich war so viele.

Doch egal wie gewogen, befreundet, vertraut man auf diese Aufnahmen schaut, man sieht nur, was die Kamera damals aufgezeichnet hat.
Und das war nicht das Leiden.

Dass ich weiß, dass ich fühle, dass ich mir sicher darüber bin, dass K. und meine Therapeutin es trotzdem sehen, ist eine besondere Erfahrung für mich. Sie verbindet mich mit der Realität. Mit dem Heute. Mit der Welt, in der diese Erfahrung möglich ist, weil ich Teil davon bin.

Und es ist meine Erfahrung. Mein Gefühl. Mein Wissen. Meine Sicherheit.
Nicht die der Inneren, die sich damals nicht gesehen gefühlt haben.
Der Clash zwischen ihrem Gefühl und meiner Realität, er begleitet mich über Tage und verschwindet rückstandslos, als sich durch mein Alltagsgekruschel einfach keine weitere Lücke ergibt.
Muss ich da jetzt hinterher? Wollen sie das? Brauchen sie das? Ich habe keine Ahnung. Niemand wird es mir sagen können.
Aber merken werde ich es. Wir sind nicht mehr so weit voneinander getrennt.
Aufarbeitung ist ein Prozess.

die Ausnahme, Teil 1

„Beweglich wie die Hindenburg“, denke ich unzufrieden mit mir selbst, als ich die Praxis meiner Therapeutin verlasse. Ineffizient komme ich mir vor. Komplett behämmert, hätte ich jetzt Zeit und Raum für eine altbewährte Selbsthass-Schleife. Ich habe aber nicht mehr viel Zeit. Die Therapiestunde war sehr lang, ich habe nur noch 50 Minuten für meine anderen Erledigungen, bevor mein Zug nach Hause abfährt. Der Stress macht es mir leicht, den Fokus nach außen zu drehen. Ich ziehe durch. Erledige alles, arbeite im Zug, fahre vom Bahnhof direkt zum Training und von da nach Hause.
Erst geduscht, mit dem Abendessen im Bauch, kann ich mich wieder etwas aufmachen.
Erst dann hole ich die Puppe aus dem Rucksack und lege das schöne Packpapier, in das sie eingeschlagen war, flach ins Bastelregal.

Die Puppe habe ich in Italien gekauft. Im Spielzeugladen in Arezzo.
In meinem üblichen Alltag gehe ich nur in Spielzeuggeschäfte, um jemandem ein Geschenk zu besorgen. Für mich selbst kaufe ich bei diesen Gelegenheiten entweder einen Kreisel, denn die sammeln wir, oder sensorisch interessante Tüddel, die in die Hosentasche passen.

Ich ziehe ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Vielen aus dem Umstand, dass ich in solche Geschäfte gehen kann, ohne in einen kindlichen Zustand zu kippen. Überhaupt bin ich ziemlich stolz darauf, mich in der Hinsicht inzwischen überwiegend im Griff zu haben. Also in 99,9 % der Fälle. 0,01 % der Fälle sind Traumareaktionen. Wechsel, die ich nicht beeinflussen kann, weil ich die Situation nicht (genug) beeinflussen kann. Etwa in der Therapie oder in Situationen, die traumatischen Situationen sehr ähnlich sind. Wie der Zustand nach einer Narkose.

Ich mag, dass Kindliches praktisch kaum eine Rolle in meinem Leben spielt. Ich habe keine designierte „Innenkinderzeit“, ich mache keine außerordentlichen Besonderheiten speziell für meine Kinderinnens und die haben auch keine Freund_innen oder Aufgaben im außen. Es gibt sehr eng gesteckte Rahmenbedingungen dafür, wann Innenkinder etwas neben mir her miterleben oder mitmachen dürfen bzw. können. Und noch viel engere dafür, dass sie sich mit mir vermischen.
M., eine frühere Freundin von mir, fand mich immer fies deswegen. Hat oft zum Ausdruck gebracht, ich wäre viel zu hart, viel zu krass, viel zu brutal in der Hinsicht. Mich hat es verletzt, dass sie nie die Fiesheit, die Brutalität gesehen hat, die dazu führte, dass ich diese Haltung entwickelt habe.

Meine „Fiesheit“ an der Front ist ganz klar das Ergebnis von therapeutischen Eingriffen in stationären Kliniksettings. Von der Brutalität, die sich daraus ergab, dass ich auf eine psychiatrische Unterkunft und Hilfe angewiesen war, um zu überleben, aber Wechsel, dissoziatives Erleben, bestimmte „auffällige Symptomatik“ (wie es Wechsel zu traumareaktiven (kindlichen) Anteilen nun einmal sind) teils massiv sanktioniert wurden. Unterstützung von der Pflege – nur als Erwachsene_r. Anerkennung von Leiden, Beistand in unerträglichem Wiedererleben oder emotionalen Flashbacksituationen – nur wenn man sprechen und verstanden werden kann. Nur, wenn sich Pflege, Betreuung, Therapeut_innen sicher und wohlfühlen, sonst Keule. Also Medikamente. Betäubung. Kopp zu.
Zudem bin ich unter diesen Bedingungen erwachsen geworden. Ich war 16 als das anfing und Anfang 20 als es aufhörte. Den Umgang anderer Menschen mit meinen dissoziativ von mir getrennten kindlichen Anteilen habe ich häufig als etwas erlebt, das benutzt wurde, um mich in meiner Selbstbestimmung einzuschränken und in meiner jugendlichen Alltäglichkeit bzw. jungen Erwachsenheit infrage zu stellen.
Und als Einfallstor der Überforderung für Therapeut_innen, die entweder keine oder wenig oder keine fundierte (bindungs)traumatherapeutische Vor-, Weiter-, Fortbildung hatten und entsprechend inkompetent mit Übertragungen, Traumaexploration- oder -exposition umgegangen sind.

In der Zeit konnte ich nicht verhindern, dass es zu Wechseln (für mich: Amnesie) kommt – diese Gefahrensituationen sind immer wieder aufgetreten und ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, irgendwelche Konsequenzen abzuschätzen. Sollte sie aber antizipieren, um von Therapieerfolg oder Entlassung ausgehen zu können. Ich dachte also, ich würde nur dann je normal oder gesund sein, würde ich mich zu jedem Zeitpunkt kontrollieren können. Und Kontrolle, das hatte ich mir übersetzt mit dem Umgang, der mir in diesen Kliniken geschah: Unterdrückung. Kopp zu. Unsichtbarkeit. Es besteht Kontrolle, wenn niemand was von den inneren Vorgängen mitbekommt. Dann ist alles gut. Alle sind zufrieden. Niemand dringt in mich ein. Niemand überfordert mich.

Dieses Verständnis von Kontrolle über mich selbst nach innen hatte ich vorher nicht. Ich komme nicht aus einem Täter_innenkreis, der mich zur Unauffälligkeit erzogen hat. Mir wurde das nicht in irgendeinem dunklen Keller reingequält, sondern vor aller Augen und mit vollster Unterstützung der Gesellschaft psychiatrisch antrainiert. Ich sollte immer mitmachen – sonst. Ich sollte immer verstehen – sonst. Ich sollte immer reden, denken, einsehen – sonst. Und ich dachte und spürte sehr genau, dass ich nur überlebe, wenn ich diesem Anspruch auch Folge leiste.
Meine Gefühle, meine Einschätzungen von bestimmten Dingen, die wurden stets als bekannt vorausgesetzt und nur von einer Therapeutin, in der Tagesklinik, die ich dann als junge Erwachsene öfter aufsuchte, auch mal abgefragt.
Meine Behandlung war in sehr vielen Bereichen ein von mir unkontrollierbarer Selbstläufer, den ich sehr lange weder verstehen noch wirklich selbstbestimmt mitgestalten konnte. Es war die beste Entscheidung, die ich für mein Weiter- und Rauskommen aus diesem stationäre Psychiatrie-teilstationäre Tagesklinik-Drehtür-Elend treffen konnte, einfach ganz extrem böse fies gemein brutal hart gegenüber meinen Kinderinnens (und Jugendlichen und Bösen und Dunkelbunten …) zu sein. Und sie so weit wie nur irgend möglich zu versiegeln – noch bevor ich sie überhaupt selbst mal frei und im sicheren Rahmen wahrgenommen oder auf ihre Funktionen für mein Innenleben geprüft habe.

Soweit meine Erzählung.
Die übliche Traumaerzählung über so fiese Kinderhasser-Innens wie mich ist: ANPs, die alltagskompetenten (angeblich) untraumatisierten Anteile, suchen Kontrolle über sich, weil sie so die Konfrontation mit dem Trauma vermeiden. Kinderinnens = Traumaträger, also Kinderinnens – Nein, danke. Will ich nicht, kann ich nicht, Adios, Tschö, bitte gerne ohne mich
Ist viel dran. Keine Frage. Trifft komplett auch auf mich zu.
Enthält aber auch das Problem, dass man Verhalten zum Zustand erklärt und in der Folge aus dem Blick verliert, zu prüfen, ob es durchgehende Eigenschaften, Merkmale, Prädispositionen gibt, die dieses Verhalten auch bedingen.

Ich bin nämlich nicht nur extrem fies zu Kinderinnens. Ich bin auch richtig gemein zu Anteilen, deren Auftauchen oder Bedarfslage unsere Handlungskripte herausfordern oder bestehende Situationen unübersichtlich machen. Und dabei geht es 0 um Traumakonfrontationsvermeidung, sondern um die Vermeidung einer Traumatisierung.
Ich bekomme Probleme durch „abweichlerische Innere“, weil mir diverse alternative Handlungsskripte fehlen, die ich heute als erwachsene Person einfach nicht mehr beigebracht bekomme und für die mir auch kaum mehr Lern- und Übungsraum zugestanden wird.
Die Erwartung ist, dass ich jederzeit einfach weiß, welche Konventionen wann greifen, einfach merke, was wer wie wann warum meint oder denkt oder fühlt. Verhalte ich mich unkonventionell oder sozial unangemessen, wird einfach angenommen, dass ich ne schräge (gefährliche) Else oder „voll gegen den Mainstream“ bin. Und entsprechend ist der Umgang mit mir. Man fürchtet mich vielleicht einfach oder meidet mich oder tritt mir gegenüber konfrontativ auf – und ich weiß nicht, warum.
Oder man öffnet sich mir gegenüber komplett in der Annahme, ich wäre bereit für emotionale oder auch sexuelle Intimität und ich muss gucken, wie ich das balancieren kann und will. Grenzen dies das – Sicherheit! dies das. Und das immer unerwartet, nicht beeinflussbar und unabhängig davon, welches Innen aktiv ist oder wo wir gerade sind oder was wir warum, wie mit wem machen.
In diesem Zusammenhang ergibt sich die traumareaktive Dynamik erst nach einer ganz anderen Problematik, nämlich der, ein autistischer Mensch unter nicht-autistischen Menschen zu sein und als solcher den Alltag, aber auch die Therapie, die Beziehungen und Lebensthemen zu navigieren.

In Italien zu sein, war eine der krassesten positiven Ausnahmesituationen der letzten Jahre für mich.
Ich mache Ausnahmen. Ich kann Ausnahmen. Wenn ich weiß, wie lange, wofür und warum.
Und manchmal werde ich in so einer Situation über.mutig. Dann denke ich, dass, weil in der Situation, in diesem Moment im Grunde alles möglich ist, weil es eine Ausnahme ist, mir selbst auch alles möglich ist.
Neue Dinge auszuprobieren, fällt mir dann auch tatsächlich leichter. Essen, das ich nicht kenne. Mit Menschen reden, die ich nicht kenne. Irgendwo schlafen, wo ich noch nie geschlafen habe, zum Beispiel.
In einer Ausnahmesituation sind für mich alle Parameter sämtlicher Eigenschaften und möglicher Verläufe in die Zukunft auf einem Level. Alles kann genauso gut, wie schlecht laufen.
Das Gantt-Flussdiagramm in meinem Kopf, über die Abläufe, Funktionen und Mechaniken in meiner direkten Umgebung, wird dann eher zu einer Momentsammlung. In einer Ausnahmesituation kann ich gar nicht viel mehr aufnehmen und prozessieren als den akuten Moment. Ich weiß, dass ich mich an Ausnahmen nur selten so umfänglich und detailliert erinnern kann wie an meinen Alltag. Vor allem nicht, wenn ich mir keine Notizen mache oder Ankerpunkte zum Prozessieren setze. Wie und was genau ich da erlebe – die Kapazität, das einzuordnen und zu bewerten, die halte ich dann gar nicht erst bereit.

Ausnahmen, die ich gezielt zulasse, müssen sich für mich lohnen. Ich muss mich sicher fühlen. Ich muss (wenigstens für mich allein) wissen, dass ich sie jederzeit sofort beenden kann und niemanden dafür brauche.
Dort im Spielzeugladen von Arezzo war die Ausnahme bereits bestehend. Und ich in alle Richtungen offen wie ein Scheunentor. Hätte mich etwas ungünstig getriggert, hätte es mich umklatschen können und tja Ciao Kakao, mal gucken, wie es weitergeht. Es hat mich aber nichts getriggert. Ich stand da, Lisa, die Praktikantin, mit der ich da war, zeigte mir ein besonders weiches Objekt und ich folgte einem Wunsch, die anderen Gegenstände in dem Regal auch anzufassen. Uns, einigen Kinderinnens, Jugendlichen und mir, hat ein Objekt gut gefallen, weil es viele verschiedene Strukturen hat. Wir wollten es haben und wir haben es gekauft. Nicht sofort, aber auf dem Rückweg, als mir klar wurde, dass ich es nicht umsetzen würde, wäre die Ausnahme vorbei. Ohne Ausnahme kaufe ich im Spielzeugladen einen Kreisel oder einen Tüddel oder ein Geschenk. Das ist das Skript. Zu Hause habe ich keinen Anlass für eine Ausnahme.
Wir bezahlten das Objekt, das ich, einmal ausgesucht und länger in der Hand, überhaupt erst als Puppe erkannte, und sagten ja, als wir gefragt wurden, ob sie eingepackt werden soll. Und so brachten wir sie nach Hause. In einer großen bunten Papiertüte, in braunem bedrucktem Packpapier.

Die Tüte stellte ich ins Schlafzimmer, meinen Rucksack in den Flur. Ankommen, auspacken, Wäsche waschen, den Text schreiben, Maillawine auffangen …
Alles war gut.
Bis ich am nächsten Morgen an der Tüte vorbeiging und von echter Panik ins Gesicht geboxt wurde.

die Reise nach Italien

„Das ist also Bologna“, denke ich reiseneblig im Kopf.
19 Grad, Regen. Im Kiosk hängen Schinken von der Decke, am Gleis patrouillieren zwei Soldaten. Wir haben etwas Zeit bis zum letzten Umstieg, ich übernehme die Gepäckwache. Seit etwa 24 Stunden tue ich etwas, was man nicht mal eben so tun sollte. Ich folge der Einladung einer fremden Person, die ich nur aus Mails und einigen Zoomgesprächen kenne. Erst nach Bayern, dann nach Italien. Genauer in das ländliche Umland von Arezzo. Das Gewicht meines Rucksacks ist erheblich, die Luft schiebt sich spürbar in meine Lunge. Die Menschenmenge rieselt gemächlich an mir vorbei. Ich warte auf Anzeichen für Gefahr, doch außer den beiden Soldaten und einem kleinen Trupp Securityleute sehe ich nichts. Es ist das übliche Bahnhofsgeschehen. Nur auf Italienisch. Binari. Pfeilsymbol. Servizio. WC-Symbol. Informazioni. Schaffnersymbol. Biglietti. Ticketsymbol. Uscita principale. Kein Symbol, also eine grundsätzliche Aussage? Eine prinzipielle Aussage? Kann hier nur ja nur irgendwas mit Herkommen oder Weggehen zu tun haben. Binari. Das Wort gefällt mir. Daniela ist die Person, die mich eingeladen hat. Matthias ist einer ihrer Mitarbeiter. Als die beiden zurückkommen, frage ich, was Binari bedeutet. „Gleis“, antwortet Matthias. Mir gefällt das Wort gleich noch mehr. Bi – Zwei – nari. „Zwei Naris ergeben ein Gleis“, denke ich. Später erfahre ich jedoch, dass „Narici“ „Nasenlöcher“ bedeutet und Binari, eigentlich eher „Spur“. Mein Kopf macht aus diesen Informationen einen Zug, der die Spuren abschnüffelt.

Bisher hatten wir keine Zeit, um miteinander zu sprechen. Der Zug von München bis Bologna war komplett ausgebucht, wir hatten keine Plätze zusammen. Doch nun sitzen wir einander im Zug nach Arezzo gegenüber. Draußen ist es bereits frühlingsgrün. Einzelne Berge und Hügel ragen in den hellgrauen Himmel. Matthias fragt mich nach Stationen meines Lebens, Daniela hört zu. Wann war was schwierig, wie hat sich was entwickelt? Ich bin nicht meinetwegen hier, deshalb verfolge ich den Anspruch, dass jede meiner Antworten auch der Klientin hilft, zu deren Wohn-, Hilfe- und Lebensort wir gerade fahren.

Es ist das erste Mal, dass ich so konkret als Helfer_in mit Helfer_innen zusammen bin. In der Regel bekomme ich E-Mails mit Fragen. Oder einer Bitte um Input. Wünschen nach Feedback, Meinung, Ideen aus meiner Perspektive als Viele, die das schon durch haben. Das, die schwierige Zeit. Die extrem angewiesene Zeit. Das, die Hilflosigkeit auf allen Ebenen. Manchmal auch die der Helfer- und Unterstützer_innen. Diesmal bin ich nicht Hannah, der (hoffentlich) hilfreiche Geist aus dem Internet, sondern Hannah, die_r zum Helfen kommt. So richtig mit Körper und Geist, Gepäck und Fahrtkostenthematik.
Als wir in Arezzo ankommen, werden wir abgeholt. Typisch deutsche Kinder- und Jugendhilfe: in einem alten VW-Bulli. Der Flashback scheppert sachte in meinem Hinterkopf, wird aber gut vom Zustand der Straßen und der Landschaft verstreut. Wir werden durchgerüttelt und fahren so enge Kurven, dass ein Wunder ist, dass wir niemanden dabei beobachten, wie sie_r aussteigt, das Auto hinten anhebt und auf der Stelle dreht.

Angekommen im Wohnhaus spüre ich das Summen in meinen Muskeln. Ich muss jetzt unbedingt liegen, die Augen schließen und den Gehörschutz unter den Kopfhörern haben. Mein Körper fährt noch Zug, meine Muskeln sollen verstehen, dass sie jetzt aufhören können, mich zu schützen. Obwohl alles neu ist. Fremd. Anders. Mein Körper schläft, bevor ich mich dazu entschließen kann.

*

Es gibt einen groben Plan. Darin trifft sich das Team und erlaubt mir, dabei zu sein, um einen Eindruck zu bekommen. Dieses Team ist besonders, weil Daniela und Matthias dabei sind. Sie sind nur ein Mal im Monat dabei, da kommen ganz bestimmte Themen auf den Tisch.
Danach gibt es ein Team mit der Klientin.

Wie wir da so sitzen, mit einem Tisch voller Nüsse und Kekse, Kaffee und Tee, einem Laptop und Notizenheftchen, fühle ich mich wie beim Plenum im Verlagskollektiv. R., Z. und A., die Jugendlichen in mir drin, können es kaum fassen. Das solls schon sein? DAS ist „Team“? Die verbotene Zeit? Die Zeit, in der niemand ansprechbar ist und man sich melden soll, wenn was ist, aber eigentlich wäre es jetzt richtig schlecht, wenn was wäre, weil es krass stört, also strengt man sich voll an, dass nichts ist, aber die Anstrengung macht alles schlimmer, also ist dann relativ schnell im Grunde alles was, aber man soll ja nicht stören, außer es wäre was, aber eigentlich wäre ja voll kacke, wenn jetzt was ist, weil es stört, also zerfasert man sich in tausend kleine durchsichtige Fäden, verschmilzt mit der Wand, dem Boden und der Decke und fragt sich vielleicht noch kurz, ob dieser kleine Tod nicht besser für immer wäre, weil man dann nie Gefahr läuft, jemals irgendwie zu stören, weil (man selbst) was ist.

Ich konzentriere mich. Sammle Eindrücke und Umstände, versuche die zeitgleiche Übersetzung für die italienischen Kolleginnen auszublenden. Schnell bin ich mir relativ sicher über die Quelle der Unsicherheiten und Momente des Unverständnisses zur Lage. Und erleichtert. Denn es ist nichts Großes. Nichts Schlimmes. Nichts, was nirgendwo sonst nicht auch passieren kann. Hier kann Information helfen. Verständnis über die Mechanik der dissoziativen Identitätsstörung. No need for special special „Das kann aber nur eine fachliche Fachperson leisten.“ Tatsächlich hat Danielas Gefühl gestimmt: Die Innensicht von jemandem, die_r Viele ist, kann das letzte Stückchen zum Verstehen- und Nachvollziehenkönnen entwickeln helfen.

Die Klientin hatte vor wenigen Jahren um Danielas Hilfe gebeten.
Die Diagnose stand bereits, als die Hilfe begann. Die Klient_in erlebt sich als viele und ist bis heute insgesamt instabil, obwohl die Hilfe kontinuierlich und sehr umfangreich geleistet wird. Wenn nicht Himmel und Hölle, so doch die eine oder andere lokale Mechanik wurde in gemeinsamer Anstrengung bewegt, um äußere Sicherheit für die Klient_in herzustellen. Aber wirklich besser geworden ist seitdem eher wenig. Krise folgt auf Krise. Niemand versteht wirklich so richtig, warum. Aber langsam kommt Erschöpfung auf. Reinkriechende Hilflosigkeit. Allgemeine Unsicherheit. Und die Frage „Helfen wir eigentlich richtig?“

Fachlich beurteilen kann ich das natürlich nicht. Sowas gehört in die Kategorie „special special fachliche Fachperson“ und die Einschätzung der Klientin.
Ich habe also geteilt, was ich mir als am ehesten zutreffend denke. Nämlich, dass man sich als Mensch ohne DIS und ohne Aufwachsen in konstant toxischem Stressniveau einfach nicht vorstellen kann, wie es ist am Leben zu sein, wenn das Stressniveau so viel niedriger ist und die dissoziative Identitätsstruktur zu stören beginnt.
Der Krankheitswert der DIS ist im Kern, nicht damit zurechtkommen zu können, wenn alles gut ist. Und zwar nicht wegen irgendeiner emotionalen, sozialen oder intellektuellen Einstellung, irgendwelcher Werte oder Persönlichkeitsmerkmale, sondern ganz schlicht und einfach, weil der ganze Körper in praktisch allen Funktionen daran angepasst ist, unter Stress – und zwar existenziell bedeutsamem Stress – zu leben.

Es erscheint widersinnig, ist aber für (komplex) traumatisierte Menschen einfach logisch und wichtig, Krisen zu haben – und wenn nötig auch zu produzieren, um in (genug) Stress zu kommen, um dann bestimmte Funktionen abrufen zu können. Das ist (soweit ich das von anderen Vielen und mir selbst mitbekomme) nie eine bewusste Entscheidung, sondern eher wie eine Art unbewusster Pfad oder das, was Ungeschlagene manchmal auch als Intuition bezeichnen. Bewusst oder unbewusst ist so gut wie immer klar: „Wenn die Lage komplett eskaliert, es saugefährlich ist, ALLES auf dem Spiel steht, ich richtig runter bin mit allem, dann wirds schon irgendwie gehen. Da kommt ein Wechsel oder so – irgendwie krieg ich das dann schon hin.“
So sind Menschen mit DIS durchs Leben gekommen, bevor die Gewalt oder die unsichere Lebenssituation endete. Der Körper hat gelernt: „Wenn mein Tank fast leer ist, fahr ich das beste Rennen (zur nächsten Tankstelle, wo ich mir dann nur ein ganz bisschen reinfülle, weil ich so ja am besten fahren kann).“

Wenn dann der Tank immer voll ist – die Person durchgehend weniger Stress hat – kommt manchmal (noch) gar kein Funktionsimpuls und die Person bekommt Probleme mit Dingen, die man sich als Mensch ohne DIS kaum vorstellen kann. Basics wie essen, trinken, Körperhygiene, soziale Interaktion und Kommunikation, Körpersignale bedarfsgerecht beantworten, können mal mehr, mal weniger unschaffbare Herausforderungen werden. Gleichzeitig werden aber die, gerade im Kontrast zum Scheitern vor diesen „Banalitäten“, viel krasseren Herausforderungen scheinbar mühelos gemeistert. Dass das so ist, gerade weil es die krasseren Herausforderungen sind, muss man einfach wissen, um es zu verstehen.

Diese Mechanik ist an sich nicht DIS-spezifisch. Viele Menschen kennen es, wenn sie in Zeiten chronischer Erschöpfung oder Überforderung oder Überreizung keine oder nicht genug Zeit und Raum zur Regeneration und Regulation bekommen. Irgendwann vermag es eben nur noch die Angst vor dem Jobverlust, der Deadline, der Strafe für Versagen, dem Stress mit jemandem, den man gern hat oder braucht, um das freizugeben, was es erfordert, um zu funktionieren.
Das Problem damit ist, dass es keine Energie ist, die man einfach so in sich drin hat und dann rauslässt, sondern ein Reflex, der körpereigene Ressourcen bereitstellt, um das Überleben zu sichern. Deshalb sind Menschen mit echtem Burn-out auch so profund körperlich krank und deshalb kommen so viele auch nach einer Therapie und viel Erholungszeit nie wieder an ihr altes Kraftniveau. Dieser Überlebensreflex zieht die nötige Energie aus dem, woraus der Körper sich selbst am Leben und in Integrität hält. Tiefer kann man nicht in die eigene Lebendigkeit eingreifen.

Bei Menschen mit DIS ist dieser Reflex an das geknüpft, was man im Allgemeinen als „Persönlichkeit“ bezeichnet, weil sie – so der Stand der Traumaforschung – in traumatischen (also extrem stressenden) Umständen aufgewachsen sind. In so einem Aufwachsen erlebt man nicht immer die gleichen Gründe für extremen Stress – aber man erlebt immer die ganz reale Wahrscheinlichkeit für extremen Stress in Abwechslung mit Momenten, denen das eigene Leben tatsächlich bedroht ist oder bedroht erscheint, wie das bei traumatischen Erfahrungen der Fall ist. Man entwickelt alle persönlichen Eigenschaften, mit denen man eben so auf die Welt kommt, in mehr oder weniger bewussten oder unbewussten Todesängsten und den damit einhergehenden Vermeidungsmotiven. Also in hohem Stressniveau und permanenter Anstrengung, das zu kompensieren.

Nun bringt das neue Leben ohne dieses Stressniveau also eine neue Grundlage hinein. Eine, mit der noch nicht viel Selbst_Erfahrung besteht. Eine, auf die der Körper noch nicht immer richtig im Sinne von „den Umständen, sozialen Erwartungen und den eigenen Fähig- und Fertigkeiten entsprechend angepasst“ reagieren kann. Selbstverständlich kommt es zum Scheitern. Zu „Symptomen“. Zu komplett widersprüchlichem Verhalten und einem sehr unausgewogenem Fähig- und Fertigkeitenprofil. Niemand, die_r sein Leben unter Wasser verbracht hat, macht ohne Anlass, Übung und Vorbild einen Spaziergang an Land.

Die gute Seite daran: Die Krisen zeigen Prozess an.
Die schwierige Seite: Krisen tun weh und können, ungenügend begleitet, wiederum das Potenzial haben zu traumatisieren.

Was steht also immer an in der Begleitung von Menschen mit DIS (und anderen (komplexen) Traumafolgestörungen? – Die Krisentäler abflachen und eine gute Begleitung sicherstellen.
Krisen lassen sich in dieser Phase nicht vermeiden. Es ist ein schöner Wunsch und eine wunderbare Eigenschaft, wenn man Menschen keinen Schmerz wünscht, aber in so einer Begleitung, in diesem so umfassend umwälzenden Entwicklungszeitraum, kann man ihn immer nur lindern. Und darüber trösten, dass er überhaupt da war. Und wieder da sein wird, bis er wieder weg ist. Und wiederkommt. Und wieder geht.

Man muss Krisen nachbesprechen, damit sie alle, die sie (mit)erlebt haben, verstehen können und damit die Dinge, an denen die betroffene Person ihre Vermeidungsstrategien trainiert, weniger werden. Die Person kann so lernen, dass man über Schwieriges sprechen kann. Weil es sagbar ist.
Krisen oder emotionale Einbrüche werden weniger schlimm, je besser man sie versteht. Je besser man sie versteht, desto eher werden sie vorhersehbar. Das Vermeidungsverhalten kann nachlassen, wenn man – durch das entstandene Verständnis und eine kompetente Anleitung – in die Lage versetzt wird, ein anderes Verhalten auszuprobieren. Neue Strategien zu entwickeln, neue Überzeugungen zu entwickeln und alte dafür abzulegen.

Es gibt eine – in meinen Augen – Superkraft, die die meisten Menschen ohne Komplextrauma und ohne dissoziative Störung an sich selbst komplett ignorieren: Sie wissen fast immer einfach, wenn etwas mit ihnen zu tun hat. Wenn sie etwas machen, dann wissen sie, dass sie das machen. Diese Menschen empfinden ihren Tag, ihr Leben an einem Tag, einer Woche, in einem x-beliebigen Zeitraum als etwas, das ihnen passiert, und zwar genau da, wo es passiert. In ihrem Zuhause, ihrem Arbeitsplatz, in der Natur, unter Freund_innen. Zu jeder Zeit. Menschen mit DIS haben diese Kraft (noch) nicht (so umfänglich). Sie müssen sie sich erarbeiten und dann auch noch darauf klarkommen, was es mit ihnen macht, sie zu haben.
Mit dieser „Superkraft“ oder etwas weniger idealisierend formuliert „Fähigkeit“ kommen viele Betreuer_innen in Hilfeeinrichtungen wie die, die ich in Italien besuchte, leisten Hilfen wie diese und nehmen dennoch an, sie müssten noch so viel mehr machen und schaffen und leisten. Obwohl sie das Wichtigste schon jeden Tag und immer machen: Sie sind da und leben mit sich selbst (mehr oder weniger) assoziiert. Egal, was sie machen, sie bieten ein Vor_Bild zum Leben in sicheren Umständen. Das ist sehr viel und in meinen Augen das, was keine stationäre oder ambulante Psychotherapie leisten kann (ohne den Rahmen der ethisch korrekten Behandlung zu verlassen).

Das bedeutet für die Hilfe, dass man sich nicht großartig auf die Extreme konzentriert – also die Krisen und das Trauma – sondern auf die Grundlagen. Die Grundversorgung und was es macht, wenn sie gemacht ist. Die Grundbedürfnisse und was es macht, wenn man sie spürt, wie man sie wahrnimmt, wie man sie, wann, wo und womit effizient und unter Berücksichtigung bestimmter Faktoren erfüllen könnte. Grenzen. Eigener Wille. Der Wille anderer Menschen. Alles Dinge, für die man Menschenkindern zig Jahre zum Erlernen einräumt. Menschen mit DIS müssen das nachholen. Sie müssen gewissermaßen nachreifen. Man darf nicht den Fehler machen zu glauben, dass sie über diese Basiskompetenzen verfügen, nur weil sie sie dann und wann unter (letzten Endes Todes-) Angst ausführen können. Die meisten können es nicht. Manche, so wie die Person, die das hier gerade schreibt, bis ins 30. Lebensjahr hinein nicht.

Die Teamzeit ist um. Alle atmen tief ein, manche stöhnen beim Aufstehen. „Das war jetzt ganz schön viel“, darüber sind wir uns alle einig. Draußen kommt die Sonne durch auseinanderziehende Wolken.
Jetzt wird gekocht, die Töpfe scheppern mir durch den Kopf. Zeit für eine Ressourcenpause. Zum ersten Mal stehe ich vor einem blühenden Pfirsichbaum und fotografiere zum ersten Mal eine große Mauerbiene.

große schwarze Biene mit bläulichem Flügel

*

Das Team mit der Klientin ist eine Situation mit Einschlägen bei mir.
Mein kleiner Stein im Schuh, R., findet es „krass cool“, dass die Klientin auch in der Runde sein darf und dass man das immer für alle machen sollte, denn „es geht ja um sie und das ist ja nur fair.“ Als ich ihr zeige, welche Hinweise es darauf gibt, dass es für die Klientin gleichzeitig auch eine Überforderung sein könnte, so beteiligt zu sein, weil sie gewissermaßen „liefern muss“, also auch Dinge aussprechen können muss, die sie vielleicht noch nicht aussprechen kann, weil sie sie noch nicht weiß oder fühlen kann oder sich noch gar nicht traut überhaupt darüber nachzudenken, trifft es R. unerwartet. Was mich wiederum überrascht. Direkt neben R. spüre ich eine unserer Klapsleichen und kapiere selber erst dann: „Ahja. Ja. R. kann sowas krass cool finden, weil es nicht R. war, die hat liefern müssen.“
Ich gehe etwas weiter von ihnen weg. Es geht jetzt nicht um uns. Das hier ist kein Zwangskontext. Keine geschlossene Einrichtung. Die Klientin ist erwachsen. Es ist keine eingeräumte Freiheit, dass sie sich an der Hilfe für sich selbst beteiligen darf. Es ist ihr Recht. Sie ist vielleicht noch nicht an dem Punkt, an dem sie das nicht mehr überfordert, aber Überforderung darf auch kein Grund sein, jemandem die Rechte nicht zugänglich zu machen. Das passt also schon. Nicht perfekt, nicht ohne Gnih und Gnah, aber alles andere wäre falsch.

Die Situation ist schwierig. Die Dissoziation der Klientin und ihre dumpf-ohnmächtige Stille erfassen alle im Raum. Ich zähle im Kopf bis 10 und prüfe, ob jemand etwas sagen will. Zähle noch einmal bis 10 und prüfe, ob sich jemand bewegt. Dann breche ich die Situation auf. Fenster auf, kurz etwas Bewegung im Raum. Dem Körper vermitteln: Hier ist kein Freeze nötig. Kein Durchhalten, Aushalten, alles ist beweglich und sicher.
Wir haben gerade über die grundlegende Versorgung gesprochen – das gehört dazu. Was passiert war, nennen manche „Energieübertragung“, manche machen unsere Spiegelneuronen dafür verantwortlich, manche sprechen von „Ansteckung“ oder von „psychologischer Übertragung“. Die Überforderungsreaktion der Klientin war die Dissoziation. Sie wusste nicht, was sie sagen soll, welche Antwort richtig ist, vielleicht auch, was gemeint ist mit den Fragen, die an sie gerichtet wurden. Vielleicht hat sie auch nicht ganz einordnen können, was die Fragen mit was (wem) von ihr zu tun haben könnten. Vielleicht hatte sie Impulse ganz andere Dinge anzusprechen, dann aber nicht gewusst, wie sie sie der Situation angemessen formulieren könnte. Vielleicht wollte sie im Grunde auch gar nicht da sein, hatte sich aber nun doch gewissermaßen verpflichtet, hier dabei zu sein. Und was kann man nur machen, wenn man irgendwo feststeckt und nicht körperlich ausbrechen kann – man verkrümelt sich, man „macht sich weg“. Man dissoziiert. Im Fall der Klientin praktisch übergangslos und automatisch.

Solche Situationen entstehen durch die Überforderung auf Klient_innenseite, aber auch durch Überforderung auf Helfer_innenseite. Da will man höflich sein und warten und der Klientin allen Raum lassen, ihr gewissermaßen „die Bühne bieten“. Da will man bloß keine Grenze berühren oder stressen. Und dann ist auch noch die Chefin da, da will man ja auch irgendwie passend performen – und bringt sich selbst und eben auch die Klientin damit in ein hohes Stresslevel, weil die persönliche Unsicherheit (unbewusst) als Reaktion auf einen unsicheren Raum eingeordnet wird.
Dass man sich zu einem Zweck und aufgrund bestimmter Kompetenzen und Arbeitsaufträge (also Dinge, die nichts mit den Personen der Helfer_innen zu tun haben) zusammengefunden hat, gerät dabei schnell aus dem Bewusstsein.
Wenn ich auf Seiten der Hilfe- oder Unterstützungsbeauftragten bin, verpasse ich solche sozialen Fallstricke in der Regel. Das war hier ganz praktisch, denn ich konnte das erklären. Diese dumpfe Stille und die folgende Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, vielleicht auch Ohnmachtsgefühle – die haben nichts mit dem Auftrag zu tun. Nichts damit, ob man etwas richtig oder falsch macht. Hier geht es um Angst, Unsicherheit, Unklarheit, Planlosigkeit, vielleicht auch fehlende Strukturen – und um fehlende Kommunikation, also Verbindung miteinander. Was logisch ist, wenn sich eine Partei (oder auch gleich noch die andere) in dem Gespräch gerade „weggemacht hat“.

Mein in der Regel informationsbasierter Fokus in solchen Situationen zeigt mir ziemlich zuverlässig auf, was ich tun kann oder was dran wäre zu tun. Ich werde auf zwischenmenschlichen Ebene nicht so schnell verunsichert, wenn mir jemand zeigt oder sagt, dass sie_r etwas nicht kann. Wenn etwas nicht geht, dann muss man gucken, wie man sich annähert. Für mich ist das eine relativ einfache Prüfung und Abgleichung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen und ein pragmatisch lösbares Thema.
Was man aber in dem Fall nicht ignorieren darf (nur weil man sich dann so toll produktiv fühlt), ist, dass es für die Klientin nicht nur eine pragmatische, sondern auch emotionale – traumalogische – Ebene hat. Sie fühlt und glaubt deshalb, dass sie etwas nicht kann. Zum Beispiel, sich selbst in den Grundlagen zu versorgen, bevor sie anstrengendere Dinge macht.

Die Realität ist, dass viele Menschen mit DIS die für die Grundversorgung nötigen Funktionen (Fähig- und Fertigkeiten) noch nicht zuverlässig abrufen und ausführen können. Dann kommen die Helfer_innen und sagen: „Du musst aber, das ist wichtig.“ Und die DIS-Klient_innen haben nur einen Bezugsrahmen zu dieser Erfahrung – ihre Lernerfahrungen im traumatisierenden Kontext. Für sie ist also ziemlich schnell klar: „Ich muss das jetzt hinkriegen, sonst passiert mir was Schlimmes – aber ich kann das nicht. Nicht so, nicht jetzt. Oh G’tt wenn ich das sage – oh nein, aber vielleicht auch, wenn ich nichts sage und nicht mitmache – also vielleicht JETZT GLEICH passiert was – ich weiß es ganz genau, jetzt bin ich dran. Ich werde sterben.“
Das ist eine traumalogische Annahmenkette. Das sind die Schlussfolgerungen, die ihnen früher das Leben gerettet haben, weil sie nicht davon ausgehen konnten, dass es nicht ihre Lebensbedrohung zur Folge haben könnte, wenn sie nicht machen oder schaffen, was andere (überlegene) Menschen von ihnen wollen, fordern, abverlangen.
Diese Traumalogik hat aber nicht nur die Erfahrungen der Klient_innen als Quelle, sondern auch bestimmte Traumawahrheiten über sich und andere Menschen. Eine Traumawahrheit könnte sein: „Ich kann nichts (wirklich/genug/gut/richtig) machen.“ Und eine weitere: „Andere Menschen übergehen immer meine Grenzen (sind also gefährlich für mich)“. Auf Helfer_innenseite ist man in diesen traumalogischen Annahmen immer der Arsch. Immer auf einer Ebene mit früheren Täter_innen. Und das ist ein sozialer Fallstrick, den man mit einem gewissen Kraftaufwand übersteigen muss. Geht man darauf ein, kommt man nicht weiter. Die Klient_innen können noch keine andere Ebene aufmachen – sie würden diese Gleichstellung nicht machen, hätten sie einen anderen Referenzrahmen für solche Situationen. Den müssen sie erst entwickeln und zwar in der Hilfeleistung, um die es geht. Der beste Weg also jemandem zu zeigen, dass sie_r keine Täter_in ist oder sich wie die früheren Täter_innen verhält, ist nicht gewaltvoll mit dieser Situation umzugehen.

In dem Fall der Basisversorgung ist das ganz schön aufzuzeigen, weil es um so etwas ganz Grundlegendes geht. Die Person mit DIS (oder anderer komplexer Traumafolgestörung) muss lernen können, wie sie sich selbst anfühlt und wozu sie fähig ist, wenn sie grundlegend versorgt ist. Sie kann es lernen, wenn sie immer grundlegend versorgt ist. Also muss sie sich jeden Tag damit befassen, ausreichend zu essen und zu trinken. Sie muss regelmäßig zur Toilette. Sie muss sich waschen, kämmen, die Zähne putzen. Sie muss frische Wäsche anziehen. Sie muss ihre Wohnung aufräumen und sauber machen bzw. halten. Ihre Hilfsmittel müssen immer vollständig, heil, sauber und verfügbar sein.

Eine Möglichkeit wäre, der betreffenden Person aufzuzwingen, dass sie das alles machen muss, „sonst läuft hier gar nichts (was ihr Spaß macht oder sehr wichtig für sie ist)“. Das ist der alltagsgewaltvolle Klassiker in vielen pädagogischen Einrichtungen. Da spielen oft gewaltlogische Schlüsse von Helfer_innen eine Rolle und aufgrund der Alltagsgewalten, mit denen Kinder zum Beispiel oft erzogen werden, fällt diese Umgangsweise selten wirklich als Helfergewalt auf. Hier wird das, was der Klientin wichtig ist, genommen, um ein gewünschtes Verhalten zu erzwingen und damit legitimiert, dass das gewünschte Verhalten das Ziel der Hilfe sei. Sie will ja gut leben. Die Gewaltlogik dahinter: „Für ein gutes Leben muss man halt auch was machen (was einem nicht gefällt/weh tut/unangenehm ist/schwer ist). Wer richtig sein will, muss sich richtig verhalten.“ Grundversorgung ist aber nicht nur ein Verhalten. Und Hilfe ist keine Dressurmaßnahme zur Vorbereitung auf eine Daueraufführung im Leben außerhalb der Einrichtung bzw. der Hilfemaßnahme.

Die bessere Möglichkeit ist, den Fokus auf die langfristigen Ziele der Klientin zu halten, die ja den Auftrag der Hilfe enthalten. Ein übliches Ziel von Menschen mit DIS ist, aus dem Überlebensmodus rauszukommen und dahin, auch gern am Leben zu sein. Es ist also sinnvoll, den Menschen dabei zu helfen, ihre Lebendigkeit als etwas kennenzulernen, das Qualitäten hat, die sich entsprechend der Umstände verändert. Zu Beginn spüren sie immer (nur?) den Überlebensmodus. Besonders, wenn es ihnen schlecht geht. Aber um die Chance zu bekommen, eine andere Qualität überhaupt kennenzulernen, müssen sie ihre Lebensumstände verändern. Und dabei geht es nicht nur um so große Dinge wie Kontakt zu Täter_innen beenden oder den Inneren, die nur Trauma kennen, einen Wunsch zu erfüllen oder es ihnen schönzumachen (damit im Inneren Ruhe ist). Sondern um genau die Faktoren, die bestimmen, ob es sich gut oder okay anfühlt, in der eigenen Haut zu stecken oder nicht.
Jede Umstandsveränderung bringt auch eine Zustandsveränderung. Ein Mal Hände waschen – zack, ganz andere Möglichkeiten der Interaktion mit der Mitwelt als mit dreckigen Händen. Ein Mal um den Block laufen – ganz andere Empfindung im Körper als vorher.
Das kann man als Helfer_in immer wieder vermitteln: „Du möchtest aus dem Überlebensmodus – du musst deinen Lebensmodus dafür erkennen können. Die Grundversorgung ist der wichtigste Schritt dafür. Lass uns mal schauen, welchen Schritt wir heute dafür probieren können. Was kannst du alleine? Wobei kann ich dir Hilfestellung (wie zum Beispiel Anleitung geben, Vormachen, Aufgabe in kleinere Teilschritte aufteilen, die Aufgabe über den Tag verteilt immer wieder versuchen, (emotional) Händchen halten) bieten?
Du möchtest das heute nicht probieren? Soll ich später am Tag nochmal fragen? Du denkst, du kannst das nicht? Ist die Aufgabe zu groß? Hast du inneren Stress deshalb? Kannst du formulieren/ausdrücken/aufschreiben, wie das für dich ist? Ist etwas davon pragmatisch lösbar? Welche innere Überzeugung traust du dich zu prüfen? Heute ist ja so vieles anders – vielleicht zeigt sich, dass der innere Stress/Druck/Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn du es unter den Umständen heute probierst. Oder morgen. Oder übermorgen.
Wenn du deine Grundversorgung schaffst, wird alles, was du am Tag vorhast, mehr Spaß machen. Du wirst mehr Kraft haben. Deine Chancen, weniger Symptome kompensieren zu müssen, steigen.“

In einer stationären 24-Stunden-Betreuung kann es geleistet werden, den ganzen Tag auf diese Herausforderungen einzugehen und dranzubleiben. Es gibt keinen Anlass, wie zu wenig Fachleistungsstunden oder starre Klinikstrukturen, irgendwo in der Mitte abzubrechen und die betreute Person aufgewühlt in ihren traumalogischen Schleifen und Traumawahrheiten über sich zurückzulassen.
Als Helfende_r hat man alle Zeit und allen Raum, um immer wieder auf den Grund für die Konzentration auf die Grundversorgung zurückzukommen und klarzumachen, dass die eigene Präsenz daraus entsteht, dass man dabei hilft, das Ziel für die Hilfe zu erreichen.
Erwachsenen Menschen mit DIS, die nicht in einer Zwangsmaßnahme stecken, steht es frei, sich gegen ihr Ziel zu entscheiden. Sie können sich selbst in ihrer Traumalogik bestärken und die Traumawahrheiten über sich aufrechterhalten. Das sind legitime Entscheidungen, die einem überlebbaren Leben nicht im Wege stehen. Aber vereinbar mit dem Hilfeauftrag an den Träger sind sie nicht. Dafür wird die Betreuung und die Unterkunft nicht zur Verfügung gestellt.
Es kann sinnvoll sein, eine Absprache darüber zu machen, wie lang der Zeitraum sein kann, in dem sich die betroffenen Personen gegen ihre Ziele der Hilfe entscheiden. So kommt man gemeinsam in die Lage zu prüfen, was die Gründe für diese Entscheidung sind und ob zusätzliche Arbeitsräume, etwa eine psycho-, ergo-, kunst- sozio-, *therapeutische Sitzung hilfreich sein könnten, um zu unterstützen, das eigene Ziel zu halten. Es kann aber auch sein, dass sich das Ziel verändert hat. Auch das kann mit dieser Absprache überprüft werden.

Grundsätzlich kann es gut sein, sich klarzumachen, dass wer keine Hilfe braucht, auch nicht um welche bittet. Aber nicht immer ist die Hilfe, um die gebeten wird, auch die, die gebraucht wird. Auch das ist Realität. Manchmal kann die bestmögliche Hilfe sein, herauszufinden, welche Hilfe wirklich oder zusätzlich noch gebraucht wird. Dann kommt man zwar nicht gemeinsam ans gesteckte Ziel, aber man hat der Person weiter.geholfen.

Wir gehen aus dem Team mit einer Idee für einen ersten Schritt, etwas zu versuchen.
Wieder tiefes Atmen. Seufzen. Langsam rausbewegte Anspannung bei allen.
Ich fotografiere zwei Wiesenschnaken, die mit der Erhaltung ihrer Art beschäftigt sind.

zwei Wiesenschnaken auf der Wiese während der Paarung

*

Später fahre ich mit Matthias zum Supermarkt. Wie bei uns zu Hause ist das mit einer längeren Autofahrt auf kaputten Straßen und der Konfrontation interessanter Vorstellungen anderer Autofahrer_innen verbunden. Der Supermarkt sieht aus wie die Art ländlicher Klüsten-Edeka, den es nur gibt, weil kein anderer Laden da ist. Bisschen abgeranzt, alles ein bisschen schrabbelig, aber das Wichtigste ist da.
Ich fotografiere einen Käsekuchen.

Eine

Am Abend holen wir Daniela von ihrer Wohnung ab und gehen essen.
Ich fotografiere eine Prachtkatze vor einer Prachttür und das einzige Gericht ohne Fleisch auf der Karte des Restaurants.

*

Am nächsten Tag sind alle da. Teamtag. Mit Kolleginnen und Praktikantin von einem anderen Team.
Wir wissen bereits, dass wir vertiefen, was wir am Tag zuvor besprochen haben. Warum sind die Basics so schwierig? Was hilft? Wie genau können die Helfer_innen das umsetzen?
Manche Fragen kommen noch dazu und machen die Zusammenhänge rund.

Zum Beispiel die Frage nach selbstverletzendem Verhalten. Niemand der Anwesenden kann (und möchte) es ertragen mit anzusehen, wie sich jemand verletzt.
Mich berührt der Schmerz, den eine Helferin beim Schildern einer solchen Situation ausdrückt. Eine Klapsleiche in mir würde sich vor Scham am liebsten gegen die Steinwand hinter ihr werfen. Ich walze den Abstand zwischen ihr und meiner Gegenwart aus. Es ist bald 20 Jahre her, dass wir zuletzt jemanden in die Lage gebracht haben, unseren Selbsthass und die Gewalt an uns selbst zu bezeugen. Jetzt ist Heute. Ich habe einen Auftrag.

Ich erkläre, dass zum sicheren Umfeld gehört, dass keine Gewalt ausgeübt wird. An einem sicheren Ort wird niemand verletzt. Die Helfer_innen nicht und auch die Klient_innen nicht. Das Verhalten darf passiv unterbrochen werden – nicht weil es „böses Verhalten“ ist, sondern weil es den Raum unsicher macht. In einem unsicheren Raum kann niemand die gesteckten Ziele erreichen. Sich nicht zu verletzen, ist ein Beitrag zum Ziel. Wenn sich jemand selbst verletzt (und Helfer_innen das miterleben müssen) übt die Person Gewalt aus und entscheidet sich entsprechend gegen das Ziel.
Die Helfer_innen helfen mit dem Unterbinden (etwa durch Schutz des Kopfes oder andere Körperteile) einen für die Person ungewohnten Zwischenschritt, eine ungewöhnliche Nuance in ihr Gewalt(er)leben einzubringen. Sie kann die Tätigkeit ausführen, sie aber nicht zum gewohnten Ende bringen. Die entstehende Irritation kann ein Fenster für alternatives Verhalten öffnen und die Haltung bzw. die Realität der Helfer_innen deutlicher machen. Für die Klient_innen mag die Selbstverletzung logisch und zwingend nötig sein – für die Helfer_in ist es Gewalt und die wird in einer sicheren Umgebung nicht geduldet. Keine_r der Helfer_innen bezeugt in diesem Haus Gewalt. Und zwar nicht, weil die Klient_innen so liebenswert sind oder weil die Helfer_innen das einfach so gerne hätten, sondern, weil die Grundlage für diesen Kontakt, für diese Hilfe und die Umstände vor Ort, eine der Sicherheit ist und bleiben soll.

Es ist nicht die angenehmste, doch vielleicht erst einmal die eindrücklichste Möglichkeit für eine Person mit DIS, eine Idee davon zu bekommen, was Sicherheit eigentlich ist und hier vor Ort bedeutet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist für sie Sicherheit etwas, das entsteht, wenn sie nicht erreichbar ist (weil sie dissoziiert ist). Wenn sie nichts fühlt, nichts denkt, nichts will. Und jetzt ist sie aber in einer Situation, in der sie auch dann sicher ist, wenn sie etwas fühlt, möchte oder denkt. Darauf wird sie in so einer Selbstverletzungssituation natürlich gewissermaßen brutal aufmerksam gemacht und kann es vielleicht eine ganze Weile lang weder verstehen noch begreifen. Sie wird nicht wissen, wie sie sich alternativ verhalten kann. Da hilft nur Wiederholung und Nachbesprechung. Immer wieder sagen: „Nein, das machen wir hier nicht. Hier ist ein sicherer Ort, hier wird niemand verletzt. Verletzung/Gewalt ist in diesem Haus keine Option. Ich bezeuge keine Gewalt in diesem Kontakt.“

Die Gründe für die Selbstverletzung sind bei der Durchsetzung dieser Grenze nicht relevant. Diskussionen darüber sind Kämpfe gegen Windmühlen. Auch hier wird es Trauma- und Gewaltlogik geben, die nicht zugänglich ist für die Realitäten, die hier und jetzt bestehen. Diese Logiken innerlich aufzulösen, gehört meiner Meinung nach in die traumatherapeutische Arbeit. In der pädagogischen Hilfe vor Ort funktioniert es besser, wenn man sich darauf konzentriert, welche Alternativen akut machbar sind. Selbstverletzung tritt immer in bestimmten Zuständen auf – Zustände sind veränderlich. Auch wenn die betreute Person mit DIS das selbst noch nicht wahrnehmen kann, wenn sie im Alltag viel „Zeit verliert“ und sich nicht (mit sich selbst assoziiert) erinnert, wie viele Selbstzustände sie am Tag warum und in welcher Form und Ausgestaltung annimmt.

Ich erkläre, dass die ganzen tollen Skills, auf die man beim Thema Selbstverletzung immer wieder trifft, aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) kommen und ebenfalls Zustandsveränderungen zur Folge haben sollen. Mal durch konzentrierte Selbstempfindung, mal durch gezieltes Lenken der Gedanken, der Wahrnehmung oder Konzentration auf bestimmte Aufgaben. Am Ende jeder Übung steht das Ziel einer Veränderung der Selbst- und Umweltwahrnehmung durch Emotionsregulation. Diese Skills sind super, wenn es um das Erleben von emotionalem Druck oder Anspannung geht.
Bei profund traumalogischem Selbsthass, traumabedingter Reinszenierung oder real bestehenden Ausschluss/Verlassenheits/Auslieferungs/Hilflosigkeitserfahrungen helfen sie hingegen kaum, sondern können die Anspannung noch verstärken und zu Momenten umfassender Überreizung führen, weil der Auslöser nicht aufgehoben oder verändert wird. In so einem Moment sind Erfahrungen sicherer Bindung und Selbstwirksamkeit der Hebel zur Zustandsveränderung. Soweit jedenfalls meine eigene Erfahrung und die von praktisch allen Vielen, die mit mir bisher über die Wirksamkeit von klassischer DBT gesprochen haben.

Wenn die Selbstverletzung also zum Beispiel als „nötig weil nicht anders verdient“ erklärt wird (also eine Wiederholung der Gewalt gemacht wird), kann es passen zu sagen, dass hier gerade niemand ist, die_r darüber urteilt, was wer verdient und also gar nichts gemacht werden muss. „Hier sind gerade nur du und ich. Wir sind hier an einem sicheren Ort, hier wird niemand verletzt. Ich finde, was jetzt nötig ist, ist [Grundversorgung] und dann [aktive Tätigkeit, positive Alltagsressourcen]. Komm, das machen wir jetzt. Willst du mit [Grundversorgungsaufgabe 1 (vielleicht was trinken) oder Grundversorgungsaufgabe 2 (vielleicht mal das Gesicht waschen)] anfangen?“
Von da aus lassen sich Alltags-orientierende Handlungsketten aufbauen, die den Selbstzustand verändern (Wechsel zu Alltagspersönlichkeiten möglich machen). Am Tagesende oder zur üblichen Reflexionszeit des Tages kann man dann nochmal so über die Situation sprechen, wie über jede andere Lernerfahrung. Denn auch wenn es vielleicht krasser wirkt als andere Momente am Tag, schließlich ist es ja auch gefährlicher – am Ende ist sich nicht zu verletzen oder zu gefährden, nichts anderes als sich grundzuversorgen. Das müssen alle wissen und immer im Kopf behalten, auch wenn solche Momente natürlich krass viel aufregender sind und ja auch alle (und nicht nur die betreute Person) betreffen (weil sie mit Gewalt zu tun haben).

Wieder gehen alle voll bis oben hin in die Pause. Diesmal mit turbulent italienischem Handgefuchtel über mangiare zum Tellerklappern und Aufdecken. Ich fotografiere den Po eines gebänderten Pinselkäfers.

Hinterteil des gebänderten Pinselkäfers, der aus einer rosa Blüte herausschaut

Zum Nachtisch gibt es Crostata.

Crostata, ein Kuchen mit Kreizmuster aus Teig drauf, ähnlich wie eine Linzer Torte

*

Wir machen weiter mit den Fragen, die die Betreuer_innen noch haben.
Was ist mit Weglaufsituationen? Es gibt viele Menschen mit DIS, die Anteile haben, die scheinbar anlasslos oder allgemein unerwartet weglaufen. Worum geht es dabei?

Auch dieses Thema nehme ich, um die auch darin liegende Entscheidung gegen das Hilfeziel aufzuzeigen. Und was ist, was in diesem Zusammenhang für alle klar sein muss.
Erstens: Es gibt immer einen Auslöser, der real ist.
Zweitens: Weglaufsituationen sind so gut wie immer ein Versuch, Sicherheit herzustellen. Auch wenn das Weglaufen in einem maximal unsicherem Umstand passiert (stark befahrene Straße, in körperlich geschwächtem Zustand, ohne sicher erreichbare alternative Orte der Versorgung).
Drittens: Traumalogik besiegt Realität fast immer. Sie ist schneller, als sicherer erlebt und (siehe oben) die betroffene Person hat mehr Selbsterfahrung mit sich und ihrer Leistungsfähigkeit in (scheinbar) lebensbedrohlichen Situationen.
Durch die Helfer_innenbrille ergibt es überhaupt keinen Sinn, den Ort zu verlassen, wo alle eigenen Sachen sind, wo die Grundversorgung ohne Probleme möglich ist, um sich sicher zu fühlen. Mit der Traumabrille (also der Annahme von Todesangst als treibende Kraft) draufgeschaut ergibt es aber total Sinn, die Beine in die Hand zu nehmen, wenn man wo ist, wo man sich unsicher, ausgeliefert und hilflos fühlt. Es ist ein absolut logischer Schluss – nur leider nach einer fehlerhaften Einschätzung der Realität.

Jeder Mensch mit DIS muss über sich lernen, dass er diese „Traumabrille“, diese Kraft aus der Todesangst, schneller abruft als seine „rationale Brille“. Sein Körper, seine Psyche wird eine ganze Weile lang immer mehr Sicherheit in der Annahme finden, dass man ihm schaden will, dass er gefährdet ist, dass er nicht sicher ist, als in irgendwelchen anderen Ideen, Realitäten, Möglichkeiten.
Er muss es hinkriegen, sich selber etwas Zeit zum Prüfen seiner Gefühle und Annahmen zu verschaffen. Seine Helfer_innen können ihn darin immer nur damit begleiten, dass sie ihm ihre Einschätzung und Wahrnehmung der Situation mitteilen. Und dann anbieten, wie er sich darin bewegen könnte.

Wenn eine Person mit DIS noch sehr schnell in Traumareaktionen steckt, darf man von Helfer_innenseite nie davon ausgehen, dass sie schon von selber merkt, dass sie alle gernhaben. Dass sie schon von alleine denkt und glaubt, dass alle nur da sind, um ihr zu helfen. Dass sie sich schon von alleine dran erinnern kann, wer ihr wie oft und gut und umfassend und voller Liebe geholfen und Schönes für sie gemacht hat. In dem Moment, in dem ein Wechsel in einen Zustand, also zu einer anderen „Persönlichkeit“, passiert, die sich im Leben bedroht fühlt, spielen diese Erfahrungen (noch) keine (ausschlaggebende) Rolle. Diese Selbstzustände/Anteile/Persönlichkeiten können sich daran – an alles Gute und Verbindende – nicht erinnern. Manche kennen vielleicht noch nicht einmal die Betreuer_innen, von denen sie weggehen.
Mit diesem Verhalten wird für andere Anteile nicht in Frage gestellt, ob die Helfer_innen nett sind. Oder gut. Verhalten wie Weglaufsituationen, aber auch selbstverletzendes Verhalten, Verweigerung der eigenen Grundversorgung sind keine Aussage über die Qualität oder die Wirksamkeit der Hilfe, sondern über das Ausmaß der Hilflosigkeit, mit der Situation anders als so – die eigene Ziele verwerfend, sich selbst und andere gefährdend, traumalogisch – umzugehen.
Ziel der Hilfemaßnahme (und evtl. auch einer zusätzlichen Traumatherapie) muss also sein, die Hilflosigkeit in diesen Momenten zu verringern. Gemeinsam mit der Klientin zu überlegen: Was kann ich machen, wenn ich mich gefährdet fühle? Wie können mir die Betreuer_innen dabei helfen? Wie kann ich „da sein“ (nicht dissoziiert sein) und mich sicher fühlen?

Auch in diese Teamrunde kommt die Klientin am Ende mit hinein.
Wir beginnen mit einer Befindlichkeitsrunde, in der ich merke, wie hart ich hier gerade selbst am Wind segle, als sie sagt, dass sie sich ausgeschlossen fühlt.
Ich war 16 als ich in einer ähnlichen Lage war. Viele Leute haben über mich geredet und mich angeguckt während ich vorgeführt befragt wurde, während ich dachte, dass man aktiv an meiner seelischen Ermordung arbeitete und nirgendwohin konnte. Diese Situation, die ich als Videoaufnahme besitze und noch nicht ansehen konnte, hat mich traumatisiert. Ich bin bis heute nicht fertig mit der Aufarbeitung. Und jetzt sitze ich hier und tue der Klientin das an? Ist es wirklich das Gleiche? Wo sind die Unterschiede? – Alter, Kontext, allgemeine Gestaltung. Sie ist dabei, sie wurde gefragt. Es gibt die Einwilligung und Zustimmung. Ich führe sie nicht vor. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass ich keine special Fachperson bin, die der Weisheit letzten Schluss erzählt. Ich bin hier, um den Helferinnen eine Perspektive, meine Erfahrungen und Ideen zu vermitteln, nicht, um ihnen zu sagen, wie sie es richtig machen würden.
Die Ausgeschlossenheit ergibt sich aus dem Auftrag der Klientin. Die Helfer_innen helfen. Sie bekommt die Hilfe. Beide Parteien haben unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Beide Seiten bekommen die gleichen Informationen von mir – aber sie müssen unterschiedliche Dinge damit machen. Das ist das trennende Element. Das ist real, aber nicht lebensbedrohlich. Und auch etwas, das in meiner Situation früher ganz anders gelaufen ist.

Wir gehen mit einem versicherten Konsens über die allgemeine und wohlwollende Verbundenheit auseinander.
Ich lehne mich innerlich ein bisschen an R., die den Druck der Klapsleichen von mir abschirmt und halte ihr meine Hand hin. Jemand macht ein Foto von der Landschaft um das Haus.

Landschaftsaufnahme, dramatischer Wolkenhimmel, sanfte grüne Hügel und Bäume

Am Abend gehe ich wieder mit Daniela und Matthias essen.
Diesmal fotografiere ich vorher zwei andere Katzen.

hellblond-rote Katze neben zwei großen Terracotta-Kübeln auf der Straße

getigerte Katze, die direkt in die Kamera schaut und auf einem Tisch sitzt, umgeben von Terracotta-Kübeln

*

Am nächsten Tag regnet es wieder. In Norditalien gibt es Überschwemmungen. Ich schaue nach, ob es meine Rückreise verkompliziert und ärgere mich, dass ich nicht schon früher angefangen habe, Italienisch zu lernen. Es sollte aber alles klappen.
Ich lese bis sich eine Möglichkeit ergibt, die Klientin ohne Hilfeüberbau zu treffen. Ich darf zu ihr in die Wohnung, notiere mir aber im Geist, dass das eventuell schon ein Tick zu viel sein könnte. Pragmatisch gesehen wäre es kalt und oll geworden, wenn ich vor der Tür hätte bleiben müssen – emotional musste sie aber ein Stück ihres privaten Rückzugraumes für mich freigeben, obwohl sie mich nicht kennt und keinen Grund hat, mich oder Situationen mit mir als sicher einzuordnen. Vielleicht hätten wir das Treffen besser verschieben müssen auf eine Zeit, in der wir im Garten hätten sitzen können.
Unser Gespräch wird trotzdem nett. Als ich den Eindruck habe, dass sie erschöpft ist, gehen wir. Ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich mit Lisa, einer der Praktikantinnen, nach Arezzo zum Rumgucken fahre. Ein bisschen Erholung vorher ist genau die Grundversorgung, über die wir in den Tagen zuvor gesprochen haben.

Arezzo ist alt wie das Dorf beim Wohn- und Hilfehaus. Bisschen angerottet überall, aber auch aufgehübscht und modern. Ein bisschen wie in der Bielefelder Innenstadt, nur dass der Age-Gap nicht 18hundert vs. 50er bis 70er Jahre ist, sondern 13hundert vs. heute. Ich finds schön, wie mich die Straßen und Häuser mit den Leuten von so weiter Vergangenheit verbinden. Damals gab es sicherlich auch schon hundische Ladenchefs.

Rauhhaardackel, der in einer offenen Ladentür sitzt

In der Innenstadt finden wir verschiedene Geschäfte, am Rand einen Park mit schöner Aussicht. Mittendrin den Dom, dessen Innenausstattung außerordentlich beeindruckend ist. Wir essen ein winziges, sehr sehr gut schmeckendes Eis.

eine Kugel Schokoladeneis in einem Pappbecher

In einem kleinen Laden kaufen wir regionale Spezialitäten, für die mein Mann nie Geld ausgegeben hätte, und finden uns stark und erwachsen, weil uns die Schinken über dem Kopf nicht zum Kotzen gebracht haben. Für uns nehmen wir ein mehr als faustgroßes Stück Baiser mit. In der Tüte sieht es aus wie ein Stück harte Wolke.

großes Baiser-Stück in einer braunen Papiertüte

Am Abend gehen wir mit Daniela und Matthias in das Gasthaus eines anderen Ortes. Die Ereignisse des Vortages bewegen die beiden noch und auch dieser Tag war nicht so einfach. Ich bin müde. Ein letztes Mal esse ich ein Pastagericht und konzentriere mich auf die Tatsache, dass ich das hinkriege. Es ist alles anders als sonst, aber in den für mich wesentlichen Punkten noch vertraut genug, um nicht zu erstarren oder die Orientierung zu verlieren. Im italienischen Fernsehen läuft eine Debatte über Meloni und Musk. Ich kann nicht herausfinden, ob sie kritisch geführt wird oder nicht.
Nach unserer Verabschiedung schiebt sich meine Sorge um die Rückfahrt noch eine ganze Weile gegen den Schlaf. Mit einigem Gepopel kriege ich die Verbindung in die Deutsche Bahn-App und immerhin auch die italienischen Tickets in die Trenitalia-App. Da steht zwar noch nicht, worüber ich mir die meisten Sorgen mache – nämlich die Gleisnummer, damit ich einschätzen kann, wie viel Verspätung okay und wie viel ein Problem ist – aber immerhin. Am nächsten Tag würde ich bei Mastodon nachfragen. Manchmal hat man ja Glück.

*

Am nächsten Tag drückt mir Daniela ein Osternest in die Hände. Dann sagen wir Tschüss, Ciao und Auf Wiedersehen und fahren mit einem Fiat kaum größer als mein Aixam über die Hoppelstraße nach Arezzo.
Ich drücke Daniela zum Abschied und klatsche mit Matthias ab. Die beiden haben heute noch viel auf dem Zettel, ich bin froh, nur eine Aktivität schaffen zu müssen: 20 Stunden lang und durch 3 Länder Zugfahren.

Ich kenne weiterhin nur das Abfahrtgleis des ersten Zuges und reize mein Hoffen auf Glück bei Mastodon aus. Und tatsächlich konnte jemand helfen. Die Gleise stehen in Italien einfach immer erst kurz vor knapp fest. Gnah. 😅 Aber ich kann mir den Status der Züge jeweils anzeigen lassen und dort kann ich auch die Gleisangaben am frühsten finden.

Alles klappt ohne Probleme. Es gibt interessante Momente, zum Beispiel einen Servicewagenmann, der 10 Minuten vor Ankunft in Bologna noch seelenruhig in den Gang reinsteuert und Kaffee verkauft, obwohl der halbe Wagen da aussteigen will. Oder auch eine junge Person, die ihr Kaninchen dabeihat und zum Streicheln rausholt. Aber insgesamt bin ich zu müde, um viele weitere Informationen oder Reize aufzunehmen. Ich schaue mir viele Alpenstücke an, lese zwei Geschichten in meinem Buch und bestimme endlich den Skorpion, den Daniela zwei Tage vorher aus dem Aufenthaltsraum getragen hat.

Euscorpius italicus, kleiner Skorpion auf hellem Steinboden
Euscorpius italicus

In Innsbruck warte ich zwei Stunden auf den Nachtzug, der fährt erst drei Stunden später los. Das Liegen tut mir gut. Natürlich werde ich von der Grenzkontrolle wach, aber selbst nicht kontrolliert. Klar, ne weiße weibliche Einzelperson, da ist wohl nicht viel Gefährdungspotenzial drin.

Als ich aufwache, sind wir bei Würzburg. Als ich zu Hause bin, habe ich eine Reise von 24 einhalb Stunden gemacht. Mein Mann bekommt seine Mitbringsel, ich ein Mittagfrühstück. Das Osternest von Daniela ist süß. Gut, dass ich es mir erst zu Hause in Ruhe angeguckt habe.

Ich bin froh, dass ich sie in echt getroffen habe.
Dankbar, dass sie mich eingeladen hat, diese Selbst- und Lebenserfahrung zu machen.
Zufrieden mit meiner Leistung.
Glücklich, dass es mir heute so gut geht, dass ich das machen konnte.

Viele-Sein – Episode 95 – mit Felice Meer über Wut

Wut

Wut, die starke Primäremotion. Das Gefühl, das Grenzen aufzeigt und verteidigen lässt. Die Kraftquelle zur Selbstverteidigung.
In dieser Episode teilen Felice und Hannah, welche Erfahrungen sie in Therapie und Alltagsleben mit dieser Emotion gemacht haben.

CN: In dieser Episode werden Gewalt- und Bedrohungserfahrungen teils konkret, teils in Andeutung geschildert. [ca. Minute 26 bis 28 und 34 bis 37]

Kapitel:

00:00:00 Intromusik
00:00:09 Begrüßung, Einleitung
00:09:15 Wut und Trauma
00:14:00 Wut statt Angst – die Drachin in Felice
00:33:12 Angst vor Wut – Hannahs Psychiatriegewalt-Erfahrung
00:41:17 Wut und Grenzen
00:54:00 Wut und Kontrollverlust
01:07:32 Wut und die politische Lage
01:18:22 Ausleitung und Verabschiedung

Transkript

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die „Therapiefalle“ – Therapie nach traumatischen Erfahrungen mit (Trauma)Therapie

In diesem (englischsprachigen) Video wird eine zwischenmenschliche Dynamik zwischen Therapeut_in und Patient_in beschrieben, die ich selbst schon erlebt habe – und heute als retraumatisierend einordne.
/ Kurz für alle, die das Video nicht anschauen wollen: Komplex traumatisierte_r Patient_in kommt in Therapie und bringt sich bindungstraumatisiert in die Beziehung ein – (komplex traumatisierte_r) Therapeut_in reagiert darauf mit persönlicher Abwehr. Es entsteht eine Wiederholung unguter Bindungsmuster, individuelle Verletzung, die_r Therapeut_in beendet die Behandlung – die_r Patient_in wird in negativen Selbstbildern und Traumawahrheiten bestätigt und kommt später ein Mal mehr bindungstraumatisiert in eine psychotherapeutische Beziehung.
Wie kommt man raus aus diesem Muster? – Man geht ins Gespräch darüber. Sowohl für sich als auch miteinander. /

*

Für mich ist dieses Video zu sehen bzw. diese Dynamik als tatsächlich stattfindend und problematisch von einem Behandler beschrieben zu erleben, sehr validierend.
Denn als ich zuletzt in so einer Situation war, dachte ich vor allem, dass ich mich nicht genug angestrengt hätte. Dass ich das unfassbar böse Monster in mir nicht genug mit Liebsein und Mitmachen verborgen hätte. Nicht genug Kommunikationsarbeit geleistet hätte. Dass ich nie genug und gleichzeitig immer zu viel bin. Das sind meine klassischen Märchen aus dem Traumascheißeland und in der Situation wurden sie durchgehend bestätigt.
Damals habe ich diese Bestätigung vordergründig aus dem Umstand des Behandlungsendes wahrgenommen – heute kann ich den Machtmissbrauch, der vorher schon passiert war, und die Komponente von persönlicher Abwehr meiner Versuche (Bindungs-)Sicherheit für mich herzustellen auch erkennen.

Trotzdem ist noch etwas übrig. Ein weiterer Klebehaken von zwischenmenschlichem Trauma könnte man sagen. Denn in solchen Situationen ist alles sehr persönlich. Man hat damals zwar auf mein Verhalten reagiert, aber in diesem Verhalten war ich ja drin und darüber konnte sich die Therapeutin weitgehend sicher sein. Sie selbst war durch Verhalten mir gegenüber hingegen verdeckt. Das wurde als therapeutisch notwendig, als professionell (von sich selbst) distanziert gerahmt. Ihr Status bzw. was allgemein damit verbunden wird, hat ihr einen Schutz gewährt, der mir nicht gewährt wurde – und der ihr bis zuletzt geholfen hat, nicht persönlich zu spüren oder mit sich persönlich zu assoziieren, war sie mir (in Zusammenarbeit mit ihren Kolleg_innen) angetan hat.

Auch ihre Präsenz als relevante Kraft in dem Kontext war verdeckt, da sich diese Erfahrung in einem Klinikkontext ereignete.
Institutionen funktionieren aufgrund von Strukturen, die individuelle Verantwortung und Leistung diffus verteilen. In der Folge wird auch individuelles Fehlverhalten diffus und gewaltvolles oder professionell unangebrachtes Behandeln nicht eindeutig erkennbar. Es gibt keine Chance für irgendwen mehr als die internen Hierarchien wirklich eindeutig erkennen und benennen zu können. So wird jede_r Patient_in zur potenziellen Störungsquelle, die – aus egal welchen und egal wie oder wofür relevanten Gründen – sowohl mit strukturellen Mitteln (wie z. B. arbiträren Regeln darüber, in welchem Selbstzustand sie wen um welche Art des Kontaktes oder der Unterstützung bitten dürfen) als auch mit persönlich durchgesetzter Macht kontrolliert bzw. abgewehrt werden muss.

Ich weiß, dass ich, wenn ich das so aufschreibe, oft nicht sehr verständlich bin für viele Lesenden. Oder Abwehr provoziere, weil diese Dynamiken von Verantwortungsdiffusion und Kontrolle in Hilfe- und Behandlungskontexten weder offen und eindeutig erkennbar noch offen und ehrlich besprechbar sind, wenn man drin ist. Oder sehr darauf angewiesen. Beruflich oder persönlich.

Für mich ergibt sich aus dieser Gemengelage von Nichtverstehen und Abwehrimpuls eine weitere Ebene, die diese Erfahrung zu einer traumatisierenden Erfahrung gemacht hat.
Denn – Traumawissen 101 – es ist nie nur das Ereignis selbst, was traumatisiert, sondern auch alles davor und danach.
Meine damalige Angewiesenheit wurde von Anfang an infrage gestellt, weil man basierend auf meinen Texten hier diverse Projektionen auf mich hatte und diese scheinbar zu keinem Zeitpunkt als solche reflektiert hat. Meine Belastung wurde ignoriert, weil man sie nicht verstanden hat bzw. mir die Schuld daran gab. Hätte ich mich nicht „so wichtig genommen“ (und einfach alles hingenommen, wie es war, weil das war ja schon immer so), wäre ja alles easy gewesen.

Als die Behandlung beendet war, konnte ich aufgrund meiner dissoziativen Struktur und der Dekompensation auf einem sehr grundlegenden Level nicht richtig vermitteln, was in mir vorging. Welche Art soziales Trauma sich für mich wiederholt hat. Wo es weh getan hat. Woran es erinnert hat. Mein Bedarf an Trost, Fürsorge, Wieder.Gutmachung und Versicherung war spürbar für mich – aber nicht stillbar, weil mein Bezug zu anderen Menschen ein Mal mehr und um eine weitere Ebene erschwert wurde und mein Bezug zu mir selbst durch die erneut bestätigten Traumawahrheiten über mich massiv angstbesetzt war.
Ich habe mich, so gut ich konnte, durch diese Phase hindurch dissoziiert und das wiederum von meinem Umfeld sehr unterstützt. Schließlich brauchte ich diese Berufsausbildung, diesen Schulabschluss, diese Arbeit. Diese so wundervoll überfordernde Lebenserfahrung, die von dem chronischen Stress, den behinderte Menschen unter weniger oder gar nicht behinderten Menschen haben, durchgehend flankiert wurde und mich insgesamt ganz ok stabil gehalten hat. Denn so funktioniert die DIS und der Vermeidungstanz, der dazu gehört.

*

Ich denke in der letzten Zeit viel darüber nach, weil ich in der Therapie vermehrt mit jugendlichen Anteilen arbeite, die mein Leben vor dem Bruch durch stationäre psychiatrische Behandlungen und instabile Wohnverhältnisse bestimmt haben.
Immer wieder muss ich Ängste regulieren. Immer wieder Annahmen über die Erwartungen meiner Therapeutin an mich prüfen. Bis heute gibt es keine Therapiestunde ohne vorheriges Aufblitzen von Panik, etwas vergessen zu haben, wozu sie mich befragen könnte. Oder Panik, gerade weil ich mir keine Sorgen darüber mache, in irgendeiner Form nicht gut genug vorbereitet zu sein oder gut genug mitzumachen. Sie haben kaum andere Erwartungen an die Traumatherapie als die angelogen, überfordert, beschämt oder verwirrt zu werden und in ihrer Hilflosigkeit ignoriert zu werden. Manche warten bis heute darauf, dass die Therapeutin sie damit überrascht, dass beim nächsten Mal eine familientherapeutische Sitzung stattfinden wird – ob sie wollen oder nicht.

Ich weiß, dass die psychiatrische Behandlung, die ich als Jugendliche erhalten habe, auch ein massives Bindungstrauma im Zusammenhang mit meiner Herkunftsfamilie bedeutet hat.
Da meine Herkunftsfamilie gewaltvoll war, konnten wir das bisher nicht wirklich breit ausdrücken und versorgen. Die Anteile, die darunter leiden, kann ich nicht halten. Die Anteile, die dieses Leiden verdecken, sind bis heute der Meinung, dass die Realität nicht echt ist. Und die Anteile, die es überstanden haben, bin ich.

Und für mich ist es bitter.
Zu wissen, dass ich die bin, die es kann – die Therapie kann, die mit Menschen umgehen kann, deren Beruf der Kontakt mit mir ist – eröffnet mir selbst eine Perspektive auf mich als Traumafolge.
Was ohnehin schon nicht sonderlich toll ist, denn ich möchte Lebensfolge sein. Erlebnisergebnis. Erfahrungsschatz.
Tatsächlich aber bin ich das Beste, was danach möglich war – und das war nicht genug, um nicht verletzt zu werden.

*

Dr. Lloyd betont in dem Video, wie wichtig der Anteil der Arbeit ist, die Therapeut_innen an sich tun, um solche Dynamiken nicht entstehen zu lassen. Das bestätigt mich darin, dass die Therapeutin, die mich damals verletzte, tatsächlich einfach nicht gut gearbeitet hat. Sie kann ein guter Mensch sein und ihr Handeln sogar gut gemeint haben, aber gut gemacht hat sie es nicht. Denn es ist schwer. Es ist leicht, diese Arbeit nicht gut zu machen. Wie in dem Video gesagt, sind auch Therapeut_innen nur Menschen.
In meiner Therapie ging und geht es bis heute aber um meine Menschlichkeit. Meine Art Mensch zu sein, meine Gedanken und Gefühle, meine Konzepte von Umwelt und Selbst aufgrund meiner menschlichen Bauart. Darüber reden wir die ganze Zeit. Die liegt immer frei und ungeschützt in dem Kontakt. Egal, wie gut oder schlecht ich als Patient_in mitmache, mich einlasse, die Regeln befolge oder Projektionen bestätige.
Und auch das ist, was für manche Therapeut_innen sehr schwer im Bewusstsein zu halten ist. Wenngleich ihnen ihre Verantwortung sehr klar ist. Auch wenn sie Richtlinien einhalten und ethisch korrekte Behandlungsentscheidungen treffen. Der Kern all dieser Vorgaben und Anforderungen ist immer der Umstand, dass ihre Arbeit mit anderen Menschen immer inmitten dieser Menschen passiert. Egal, welche Diagnose, egal wie groß der Leidensdruck. Niemand kann da schneiden, wo Psychotherapie wirkt.

*

Diese Erfahrung ist jetzt acht Jahre her. Die Therapeutin arbeitet immer noch da.
Ich kann wohl davon ausgehen, dass sie in den vergangenen Jahren nie an diese Zeit gedacht hat. Bin mir sehr sicher, dass sie bestreiten würde, etwas getan zu haben, das mich verletzt hat.
Es ist ein loses Ende für mich und ich frage mich immer öfter, ob ich je darüber hinwegkomme.

der Meltdown in der Fahrstunde

„Eine schwierige Seite von Selbsterkenntnis ist, dass sie nicht alle teilen. Nur weil man selbst etwas über sich verstanden hat, haben das nicht auch alle anderen.“ Mit diesem Gedanken verließ ich die Schwimmhalle und lief zum Auto. Darin hatte ich anderthalb Stunden zuvor mit meiner Therapeutin telefoniert, nachdem ich meinen ersten öffentlichen Meltdown seit 2016 hatte. Während meiner vorletzten Fahrschulstunde vor der Prüfung.

*

Es ist schwierig offen damit zu sein, dass ich „so etwas“ habe. Meltdowns. Oder, wie es andere Menschen nennen: Ausraster. Nervenzusammenbrüche. Durchdrehen. Keine Beherrschung über mich. Es gibt viele Aspekte in meinem Leben, in denen Kontrollverlust eine Rolle spielt und jeder davon ist belegt mit Scham und einer sich darunter kristallisierenden Schicht Selbsthass.

Ein Meltdown ist scheiße. Es ist scheiße für alle um mich herum, wenn er passiert, weil er passiert – nicht wegen all der Dinge, die dazu führen, dass er passiert. Die sind nämlich immer mein Problem. Mein ganz persönliches, mein hochindividuelles Problem. So wird es mir jedenfalls oft von den direkt Betroffenen gerahmt. Klar, die hatten ja Angst. Vor mir. Vor dem Unbekannten. Die waren ja überfordert. Mit mir. Dem Unbekannten. Den Konsequenzen. Den unbekannten. Sie erleben sich nicht als Teil der Umstände, die zum Meltdown geführt haben, warum sollten sie also annehmen, sie hätten etwas damit zu tun?

Im schlimmsten Fall wollten sie mir nichts Böses, wollten nur helfen. Das ist für mich wirklich der allerschlimmste aller Fälle. Denn Menschen, die aus guten Absichten heraus handeln, können manchmal nicht annehmen, dass ihre Handlung vielleicht nicht gut ist.
Menschen können ihre guten Absichten nur mit viel Nähe vermitteln. Man muss einander sehr nahe stehen, um sich gegenseitig so wahrzunehmen und zu erleben, dass die Absichten eine relevante Rolle spielen. Menschen, die davon ausgehen, dass ich erkennen könnte, wie gut sie mir gegenüber eingestellt sind, gehen auch von dieser Nähe aus. Dieser gegenseitigen Perspektive, diesem gegenseitigen Verstehen. So nah komme ich Menschen in der Regel aber nicht, denn es kostet mich enorm viel Kraft. Die ich auch nicht lange aufbringen und halten kann. Die Absichten anderer Menschen werden dadurch zu Anmerkungen zur Übersetzung – nicht zum Rahmen der Grundhandlung, bildlich gesagt. Eine Lebensrealität, die die meisten Menschen einfach nicht teilen. Nicht verstehen.

Manchmal kommt es mir vor, als wäre ich der einzige Mensch, der sich diese Annahmen aktiv denkt, aktiv im Bewusstsein hält, aktiv in die möglichen Antworten, Reaktionen und Optionen der Interaktion einarbeitet. Der einzige Mensch mit einem inneren Regal voller Skriptphrasen für Menschen, die es gut mit mir meinen und von mir via Sprache vermittelt bekommen müssen: „Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst.“ Gerade nach einem Meltdown im sozialen Nahraum denke ich das und muss aufpassen, nicht in die Strudel jugendlicher Verzweiflungspaniken zu geraten. Dadrin denke ich nämlich auch, dass das nie aufhört. Dass ich gefährlich bin, mich fernhalten sollte. Dieses Vorhaben von Kontakt lassen sollte. Dass ich es nicht verdient habe, nach all den Chancen zuvor. Dass es ich es in Wahrheit vielleicht auch nie verdient, sondern immer nur geklaut habe. Dass ich nie genug bin und immer zu viel.

Dass ein Meltdown mir passiert wie ihnen, erleben die von mir oft überraschend und schmerzlich getroffenen Menschen nicht. Dass ich erst im Nachhinein und das nach einigen Stunden Analyse und Durcherzählen der Situation, selbst weiß, was die Anzeichen waren (und das eigentlich nur, wenn es um Situationen geht, die nicht zu weit von meinem Alltagsgeschehen weg sind) – und dies nicht bedeutet, dass ich den nächsten Meltdown abwenden kann – entspricht einfach nicht der Er_Lebensrealität der meisten Menschen.
Weil ich die Quelle ihrer Überforderung bin, weil ich ihre Wahrnehmung der Situation bestimmt habe, nehmen sie an, ich hätte über mich bestimmen können. Das ist ein Irrtum. Aber den Täter*innen Tätigen spricht man so etwas nicht gern zu. Ohnmacht. Angst. Hilflosigkeit. Vor sich selbst. Denn würde man das tun, dann würde das Schuldkonzept nicht mehr funktionieren. Verantwortung wäre schwieriger zu klären. Wieder.Gutmachung und Reparation müsste ein gegenseitiger Prozess sein. Alle wären Teil des Vorhers, des Geschehens und des Nachhers.

Ich habe zuletzt als Jugendliche auch andere Menschen im Meltdown verletzt. Bevor sich mehrere Erwachsene auf mich draufgeworfen haben, um mich mein Verhalten zu unter.brechen.
Inzwischen passieren die meisten meiner Meltdowns unsichtbar. Vor dem Computer, bei der Arbeit, manchmal im Laden, manchmal am Bahnhof. Deswegen unterscheide ich zwischen dem „öffentlichen Meltdown“ und „den anderen“.
Heute verletze ich mich nur noch selbst, denn eine erwachsene Person, die schreit, wird nicht angefasst. Ich kann mich selbst regulieren. Auch mit Selbstverletzung. Eine erwachsene Person, die man abstoßend, gruselig, gewaltvoll, ängstigend findet, lässt man alleine, um sich selbst zu schützen. Auch wenn es bedeutet, mich in einem schlimmen Zustand gewissermaßen zu verlassen, ist das für mich das Beste.
Wer mich in so einem Moment anders einordnet – sagen wir frech, enttäuschend unvernünftig, uneinsichtig, „in Wahrheit ganz kontrolliert/ganz bewusst um die Umstände“, narzisstisch motiviert, den eigenen Vorteil abzuringen – redet in der Regel weiter auf mich ein, kommt möglicherweise noch körperlich auf mich zu und/oder begrenzt meine Möglichkeiten mich zu bewegen oder die Situation zu beeinflussen. Diese Menschen merken nicht, dass sie mich in dem Moment sensorisch fluten und so gewissermaßen foltern. Meine Grenzen nicht nur berühren, sondern komplett ignorieren. Dass sie mir eine Einsicht abzwingen wollen, die ich nicht habe oder falsch finde. Dass sie ein Verhalten von mir fordern verlangen, das meinem Willen und mir zuwiderläuft. Sie meinen es nur gut. Oder haben Recht. In ihrer Logik, ihrer Wahrnehmung des Moments bin ich das Problem, weil ich ihre Hilfe, ihre Annäherung abwehre, mit der doch wieder alles gut werden könnte.

*

Es fällt mir schwer, aber ich habe einen aushaltbaren Punkt gefunden, seit ich meine „Zusammenbruch-Symptomatik“ als „Not-Aus“, das aktiviert wird, weil ich mich zu lange nicht traue, das „Stopp-Aus“ oder gar das „Ich fühle mich nicht mehr gut-Aus“ zu aktivieren, einordne. Niemand hat die Kontrolle, über das körpereigene „Not-Aus“. Darin bin ich anderen Menschen gleich. Alle Menschen haben so einen Punkt. Nur die Wege dahin sind unterschiedlich und unterschiedlich beeinflussbar.

Mein Wissen um mich und meine „Not-Aus“-Symptomatik hilft mir, eine Grenze zu anderen Menschen zu ziehen. Ob „nicht sprechen“, „nicht fühlen“, Krampfanfälle, Shutdowns oder Meltdowns – sie haben nichts mit den Personen um mich herum zu tun. Ich erlebe diese Symptome nicht, wegen der Leute und deren reiner Personality. Die Symptome sind keine sozialen Botschaften. Sie sind Körperreaktionen auf extremen Stress. Die Leute können es mir nur leichter oder schwerer machen, damit umzugehen. Und leider machen es sich Menschen, die einander nicht gut (genug) verstehen, ziemlich zuverlässig schwerer.
Und je älter ich werde, desto schwerer fällt es anderen Menschen, überhaupt in Betracht zu ziehen, dass ich mich nicht immer „zusammenhalten kann“. Die Lebenserfahrung ist ja eigentlich, dass man immer weniger von Dingen überrascht, erschreckt, erfreut, aufgeregt, empört, überanstrengt, überreizt … wird. Bei mir ist das scheinbar nicht so. Nicht wirklich. Eher habe ich manchmal den Eindruck, dass ich nach wie vor viele Situationen wie ganz neue Situationen erlebe. So, als ob ich sie noch nie zuvor erlebt hätte. Was ich ja – außer in dem äußert unwahrscheinlichen Fall, dass ich in einer Zeitschleife festhänge, in der doch alles exakt gleich wiederholt wird – auch wirklich so nie zuvor erlebt habe. Die wenigsten Situationen sind genau gleich. Es ist immer etwas anders. Entsprechend ist mein Stresslevel einfach immer etwas erhöht. Denn wo eine Abweichung ist, ist die zweite, dritte, vierte in der Regel nicht weit. Und auf jede reagiere ich gewissermaßen.

Seit Jahrzehnten lasse ich Menschen mit der Aufzählung von Abweichungen in Ruhe. Ich teile meine Beobachtungen nicht mehr. Lasse mir nicht anmerken, ob sie mich beunruhigen oder erfreuen. Ich habe in Kliniken trainiert, sie passieren und ohne Urteil ziehen zu lassen – bis ich gemerkt habe, dass ich das nur kann, wenn ich depersonalisiert bin. Ich habe verstanden, dass die meisten nicht-autistischen Menschen Abweichungen nicht von Unterschieden trennen und generell einfach mit sehr viel mehr Unschärfe zurechtkommen können als ich.
Ich schaffe viel Anpassungsleistung durch die Hinnahme und Kompensation dieser Umstände. Aber auch ein Gefühl falscher Sicherheit bei anderen im Kontakt mit mir. Ein Grund, weshalb Menschen von meinen Meltdowns und anderen Kontrollverlusten überrascht werden. Sie kommen für sie unerwartet. Aus heiterem Himmel. Sie haben keine Chance auf meine Selbsteinsicht und so auch nie auf mein Verständnis für die Dinge, die ich erlebe.
Andererseits wollen sie sie auch gar nicht haben. Sie können damit ja im überwiegenden Teil ihres Lebens gar nichts anfangen. Wozu also drum bemühen? Ich würde sie andersherum vermutlich auch nicht haben wollen, wäre ich nicht ständig und in allen Aspekten mit ihnen konfrontiert.

*

Zwei Dinge waren in dem Gespräch im Auto vor der Schwimmhalle passiert. Zwei hilfreiche Dinge.

Meine Therapeutin hat uns zu unserer Verletzung befragt. Ich war aus dem Fahrschulauto gestiegen und hatte mit der flachen Hand gegen eine Metallkonstruktion geschlagen. Das Hämatom ist etwa 2 2-Euro-Stücke groß und drückt auf die Sehnen vom kleinen und dem Ringfinger der Hand. Es tat immer noch weh und wurde im Inneren vor allem als Strafe gerahmt.
Das Interesse meiner Therapeutin hat das beendet. Eine Strafwunde wird nicht beachtet. Eine verdiente Verletzung nicht ver.sorgt. Böse Mädchen werden nicht gefragt, obs (noch) wehtut.

Außerdem hat sie jemandem, die_r es hören musste, gesagt, dass sie nicht glaubt, dass diese Situation mit mehr Anstrengung abzuwenden gewesen sei.
Für mich war das im Kontakt mit ihr versichernd – für das Innen erlösend. Mit diesem Gefühl von sozialer Klarheit in dem Kontakt, entstand genug Kraft und Sicherheitsgefühl bei mir, um mich in die lösungsorientierte Kommunikation mit der Fahrschule einzubringen. Ich konnte von missachteten Grenzen und verlorenem Vertrauen in den Fahrlehrer sprechen und akzeptieren, dass er um sich selbst kreist in seiner Überraschung und Überforderung. Durch die Versicherung meiner Therapeutin wurde der Kontakt zum Fahrlehrer (und der Fahrschulchefin) nicht zur einzigen Quelle von Wahrheit über die Situation. Ich wurde auch von jemandem gehört und das verlief nicht im Stummen, Uneindeutigen ohne jede Bedeutung.
Die Grenze zwischen den anderen Menschen und mir war wieder hergestellt, es entstand ein Gefühl von Ordnung und Klarheit. Wir haben eine Lösung gefunden, wie wir die letzte Fahrstunde vor der Prüfung machen und wann der Fahrlehrer und ich uns wiedersehen, um darüber zu sprechen. Wir werden uns vermutlich beide entschuldigen, ein Eis essen und wieder versichert darüber sein, dass wir einander wirklich nie Böses wollten. Und mit dieser Feststellung von Offensichtlichkeiten werden wir, befriedigt über die Bestätigung unserer Wünsche an die soziale Umwelt, auseinandergehen.

in Sachen „Weitermachen nach (re)traumatisierenden Klinikerfahrungen“

Nach dem letzten Text hat mich jemand gefragt, wie wir „das mit der Verarbeitung der Klinikerfahrung“ gemacht haben.
Die Person beschrieb, dass es für sie nicht händelbar sei, Traumawahrheiten bestätigt zu bekommen und das Gefühl zu haben, sich nicht schützen zu können. Etwas, das wir schon von vielen Betroffenen gehört haben.

Ich musste eine Weile darüber nachdenken, ob das auch meine Ausgangslage beim Klinik-GAU war.
War ich verletzlich oder nicht doch durch die Verletzungen (Traumatisierungen, die mich krank gemacht haben) schon sehr empfindsam, fragil, wenig belastbar und dadurch gewissermaßen doppelt verletzlich?
Für mich war es letzteres. Und darin befindet sich schon der Sitz einer meiner Traumawahrheiten: Wenn ich eine wehe Stelle habe, wird mich jemand genau dort wieder verletzen. Sie wird gesucht und gefunden werden. Sie wird benutzt werden, um mich unter Druck zu setzen. Sie wird benutzt werden, um mich zu demütigen. Sie wird nicht versorgt. Sie wird nicht beschützt. Es ist sicherer, sie nicht zu erwähnen oder zu zeigen.
So passiert es mir natürlich schnell Behandler_innen mit früheren Täter_innen zu verwechseln oder ihr Handeln als gezielt und planvoll verletzend anzunehmen – für mich ist die Ähnlichkeit einfach enorm. Es erfordert sehr viel Kraft und noch viel mehr Mut, einfach mal anzunehmen, dass diese Situation keine der Gewaltsituationen ist, die ich so gewohnt bin, dass ich sie sofort annehme.
Nun kann ich also entscheiden: „Okay, ich bin Opfer gewesen, ich sehe schnell mal was, was in Wahrheit nicht da ist. Wenn ich mich von anderen Menschen verletzt fühle, ist das schnell mal eine Verwechslung oder Unterstellung, die mich schützen oder beruhigen soll, das ist eben Teil der Traumafolge …“ Ich kann also die Verantwortung für die Situation übernehmen und die Menschen in meiner Umgebung davon befreien, irgendwas damit zu tun zu haben. Denn ich bin ja der Wirrkopf und niemand kann etwas für meine W.Irre in der Situation.

In institutionellen und professionalisierten Kontexten sehe ich das aber anders.
Wenn das Verhalten von Behandler_innen und Betreuenden dem Verhalten von Täter_innen so sehr ähnelt, ist das ein Problem für beide Seiten. Vor allem, wenn es als solches einfach verschwiegen werden soll oder aus strukturellen Gründen nicht verändert werden kann. Dann braucht es die Verantwortungsübernahme der Behandler_innen und Therapeut_innen dafür zu sorgen, dass sie alternativ handeln können und auch eine gewisse Offenheit und Ehrlichkeit bei der Vermittlung des eigenen Handelns an die Patient_innen. Denn nur so können diese ihre Wahrnehmung und Einordnung der Situation korrekt vornehmen und das Erlebte einordnen.
Oh – aber Vorsicht beim Anbringen so einer Ansicht.
Als Patient_in ist man nicht in der Position, den Behandler_innen zu sagen, dass sie Mist machen, wenn es um Mist geht, den sie nicht beeinflussen können, weil sie ihn machen wollen oder sollen. Vielleicht weil „das Team“ (die große Eminenz, die jede Verantwortung auf Station diffus werden lässt) ihn sehen will, vielleicht weil die_r Ober- oder Chefärzt_in ihn sehen will oder vielleicht einfach weil man nur für Mist bezahlt wird.
Hinzu kommt, dass in Klinikkontexten mit großer Selbstverständlichkeit eine Rollenzuweisung passiert, die behandlungssuchende Menschen ihrer Einflussmöglichkeiten generell beraubt: sie werden zu Patient_innen. Gewissermaßen zu pathologischer Masse, mit der gewisse Umgänge und Behandlungen gemacht werden. Dabei sind die Patient_innen in doppelter Hinsicht Auftraggebende und die Behandler_innen Arbeits.Leistende. Wir gehen dahin, um etwas zu bekommen, das uns und unserer Krankenkasse zugesichert wird, weil wir es allein nicht schaffen. Es ist überhaupt nichts falsch, krank, anmaßend daran, das auch bekommen zu wollen. Gar nichts.
Aber Patient_innen wird dieser Wunsch oft als Forderung oder auch persönlicher Angriff unterstellt. Und daraus entstehen Verstrickungen, Re_Inszenierungen und auch massive Verletzungen der allgemeinen Integrität. Alles nur, damit die Verantwortung allein bei den Patient_innen und nicht eben nicht auch bei den Behandelnden und Betreuenden bleibt. Was die machen, geht Patient_innen nichts an. Geschlossene Gesellschaft. Zum Wohle aller.

*

Ich musste auch darüber nachdenken, ob ich die Erfahrung, den Klinik-GAU, überhaupt verarbeitet habe.
Und muss sagen: Nein, habe ich nicht. Und so, wie ich das gerne hätte, werde ich sie vermutlich auch nie verarbeiten können.
Eine Erkenntnis, die so bitter ist, wie die, um jede andere Gewaltwahrheit meiner Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenenzeit. Es wird keinen Täter*in_Opfer-Ausgleich geben. Keine Mediation. Keine Wieder_Gutmachung. Keine Entschädigung. Gar nichts. Es ist passiert und niemand bedauert es.
Außer, dass ich nicht darüber schweige, in welchem Haus das war, wenn mich jemand fragt und welche Personalie in Verantwortung war, wenn es relevant ist, kann ich in der Sache überhaupt nichts weiter tun als sie zu er.tragen. Meine Gefühlsstürme spüren, den Auslösern nachempfinden, die Erfahrung so weit wie möglich zu objektivieren und immer darauf achten, dass ich meine Erfahrung von denen anderer abgrenze.
Ich muss darauf achten, mir nicht zu viele Klinikstories anzuhören, weil ich sonst von dem Meltdown oder schlimmeren Momenten des Kontrollverlusts in anderen Kliniken wie Fixierungen, den Missbrauch durch einen Pfleger oder soziale Schikanen in der Psychiatrie träume. Ich muss darauf achten, meine innere Brandrede an die damalige Therapeutin, die seit dem Klinik-GAU läuft, nicht in meine Argumentation für gute Traumatherapie-Richtlinien zu mischen. Wenn Behandler_innen mit mir sprechen, weil sie meine Arbeit interessant finden, verbiete ich mir, die aufkommenden Gefühle von Stolz, Gehörtwerden und Freude über den Kontakt zu bewerten. Ich nehme sie wahr und ordne sie weg wie ein Verwaltungsfachangestellter die Abrechnung. Nicht, dass ich wirklich irgendwann glaube, ich wäre irgendwie besonders oder in irgendeiner Weise gut in dem, was ich mache. Ich will diese Täterinnenperspektive über mich nicht bestätigen.
Der Schaden durch diese Erfahrung ist heute also dauerhaft schmerzlich schwelender Teil meines Lebens und entsprechend schwer überhaupt einzugrenzen.

Aber ich hatte vorher auch schon einen Schaden, der nie behoben werden, sondern gleichsam mehr oder weniger immer in Sanierung befindlich sein wird. Also was solls.
Vermutlich kommt man einfach nicht ohne Dellen durchs Leben. So entschmerze ich mir das manchmal, um meine Wahlmöglichkeiten bewusst zu halten. Denn auch wenn es total zynisch klingt, ist es so, dass man sich für den Schmerz entscheiden kann, wenn man sich für Vermeidung als okay und den Rest des Lebens als Option öffnet.

Ich dachte lange, ich dürfte im Leben nicht mehr vermeiden, weil ich das in Bezug auf viele traumabezogene Dinge bereits tue. Irgendwie hat sich bei mir die Überzeugung eingeschlichen, Vermeidung sei genauso schlecht wie meine PTBS-Symptomatik selbst. Vielleicht sogar eigentlich Teil der Krankheit, weil ich in der Therapie ja genau das Gegenteil tue und von mir erwartet wird. Ich soll mich widmen, ich muss mich konfrontieren, ich darf Trigger, Erinnerungen, traumabezogene Gefühle und Gedanken wahrzunehmen, nie mehr vermeiden – sonst funktioniert die Therapie nicht.
So stimmt das aber gar nicht. Jedenfalls nicht für mich.
Meine Therapieerfahrung ist, dass ich ohne bewusst zugelassene Vermeidungsstrategien überhaupt keine Kraft habe, um das zu verarbeiten, was ich mich traue, nicht mehr zu vermeiden.

In Bezug auf re.traumatisierende Klinikerfahrungen funktioniert das in etwa so:
Um mir von Behandler_innen und Pflegenden mitfühlend und verstehend anhören zu können, wie überarbeitet, überfordert, überlastet und strukturell niedergeworfen sie sind, muss ich vermeiden, an die Angewiesenheit von Patient_innen und meine Erfahrungen zu denken.
Um nicht in das Gefühl zu rutschen, mich selbst im Stich zu lassen, wenn ich „solchen Leuten“ gegenüber Mitgefühl und Solidarität ausdrücke, muss ich ganz bewusst wegschieben, dass es „solche Leute“ waren, die mich überlastet und strukturell ermächtigt, legitimiert, zuweilen gewissermaßen dazu beauftragt, verletzt haben. Wir können diesen Prozess auch gerne „Abgrenzung“ nennen, ich selbst nenne es aber „Vermeidung“, weil ich mich gegen meinen Schmerz und für die mitfühlende Fürsorge anderer entscheide. Ich bin lieber fürsorglich zu anderen als mir selbst, weil ich sonst meinen Schmerz fühlen müsste.
It’s a classic dance in the Vermeidungstanzdisco.

Und total okay für mich.
Ich habe nach dem Klinik-Gau beschlossen, erst dann wieder eine Klinik für Psychotherapie, Psychosomatik oder Psychiatrie als Hilfe in Betracht zu ziehen, wenn dieses Versorgungssystem so reformiert wurde, dass es in sich nicht mehr gewaltvoll ist.
Not so Fun Fact – aber wir sind ja bei Ähnlichkeiten: Das ist so ziemlich der gleiche Beschluss, den wir über unsere Herkunftsfamilie auch gefasst haben. Wir gehen wieder zurück, wenn sie sicher keine Gewalt mehr an uns ausüben.

Das ist kein „Nie“ – das würde viel zu viel Druck aufbauen und auch kein: Ich muss ganz allein irgendwas schaffen oder machen, damit das wieder geht. Es hängt nicht allein von mir ab, sondern bezieht beide Seiten mit ein.
Das kann ich gut er.tragen und halten, weil es mir auch Kraft dafür übrig lässt, mich um alternative Bedarfsbefriedigung zu kümmern.

Ich war immer sehr auf Kliniken und die Leute dort angewiesen, weil mich in meiner Jugend niemand haben bzw. behalten wollte. Als ich ein_e junge_r Erwachsene_r war, war die Klinik der einzige Ansatzpunkt für geschützte Tagesstruktur, Diagnoseverständnis und – verstörend eigentlich – Gemeinschaft. Ich war so allein in diesem Lebensabschnitt, dass Kliniken mehr Zuhause waren als meine eigene Wohnung und Behandler_innen mehr Familienersatz als zugegeben. Meine Angewiesenheit war so umfassend, dass ich mich den strukturellen und sozialen Gewalten dort praktisch rückhaltlos hingeworfen habe. Mit allen Konsequenzen.
Zum Beispiel der, dass ich nicht dachte, eine ambulante Therapie allein würde je für mich reichen, damit es mir besser geht. Oder der, dass ich Angst vor den Herausforderungen der Normalität was berufliche Bildung oder Arbeit bekam, weil ich dann ja nicht mehr im Intervall in die Klinik gehen könnte (und entsprechend allein und überfordert mit mir selbst und meiner Symptomatik bleiben würde, wenn der Funktionsmodus aus ist). Oder der, dass ich mich nicht getraut habe die Medikation abzusetzen, obwohl sie mich auch wesentlich daran gehindert hat, Fortschritte zu machen.
Das war so ein unfassbar hoher Preis, den ich für ein bisschen Bessergefühl, für einige stabile Stunden und hilfreiche Gesprächskontakte auf mich genommen habe. Heute würde ich den nicht mehr zahlen.
Und ich muss es auch nicht mehr. Zum Glück.

Ich konnte über das Bloggen und Twittern so viel mehr Kontakt und Austausch herstellen. Zusammen mit NakNak* hat das mein Gefühl der Einsamkeit gelöst. Durch ihre Ausbildung zur Assistenzhündin konnte ich lernen, dass viele der Dinge, die mich täglich belasten und ängstigen, beeinflussbar sind. Und zwar ganz direkt von mir. Ich muss es nur machen – und dafür sorgen, dass ich es auch durchgehend machen kann. So entstanden ganz konkrete Handlungsaufträge an mich, die über „fühlen sie mal rein, wer was dazu sagt“ und „16 Uhr Mandalas ausmalen zu Panflötenmusik“ hinausging und überhaupt ganz davon unbeeinflusst sind, ob und wie sehr ich gerade mit welchen Symptomen kämpfe.
Für mich ist das heute immer noch essenziell klar zu haben: Nichts von den Dingen, die ich benötige oder will, ist davon abhängig, ob ich Patient_in bin oder nicht, welche Diagnose ich habe oder nicht oder ob ich sie aufgrund eines Merkmals von mir verdient habe oder nicht. Dass ich das früher dachte, hat mich maximal dafür prädestiniert, meine Grenzen für Behandler_innen und Betreuende zu missachten und teils auch übergehen zu lassen. Und trotzdem war das weder meine Schuld noch Verantwortung.
Ich darf diese Situationen als man made trauma einordnen und für mich bearbeiten.

Es hilft mir auch, diese Arbeit schon zu anderen Traumatisierungen gemacht zu haben und dabei von einer Therapeut_in unterstützt zu werden, die mir das auch lässt, obwohl sie als Behandler_in ganz eigene Themen dazu haben könnte.

Und es hilft mir zu merken, wie lange ich inzwischen schon ohne Klinikanbindung zurechtkomme.
Und wie schnell ich WTF denke, wenn mir andere Viele von massiven Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten und gewaltvollen Verstrickungen mit Behandler_innen erzählen. Wenn ich früher anderen so etwas erzählt habe, hat nie jemand WTF dazu gesagt und mich daran erinnert, dass ich Menschenrechte habe und mit einem Auftrag, dem nachzukommen sich eine Klinik verpflichtet hat, dahingekommen bin. Nie.
Das kann ich heute für andere machen und mache das auch. Es tut mir gut, wenn ich in Austausch und Diskussion über Alternativen gehen kann. Es gefällt mir, zusammen mit anderen an theoretischen Grundlagen für Reformen und Richtlinien mitdenken zu dürfen.

Dass ich nicht hinnehmen muss, dass das für immer für so viele Patient_innen, Behandler_innen und Betreuende weitergeht, sondern aktiv Dinge versuchen und machen kann, gibt mir die Kraft, es eben so lange unverarbeitet zu lassen, wie nötig.
Manchmal ist einfach so: Wenn du es nicht loslassen kannst, musst es halt tragen.
Hauptsache, du bleibst nicht stehen. Es wird niemand kommen und es dir abnehmen.

das Helferding

„Aus jeder Therapie nimmt man etwas mit“, dachte ich im Zug nach Hause „Aus jeder.“
Während die feuchtgrünen Felder und Wiesen am Fenster vorbeiglitten, dachte ich an unser erstes „Mami-Ding“ und daran, was für ein verkorkstes Scheißding das insgesamt war. Kinder- und Jugendpsychiatrie, halb von zu Hause weg, halb mittendrin. 3 Suizidversuche überstanden, den 4. schon in Planung, gerade entlassen, aber doch noch zu Gesprächen mit der Psychologin hinbestellt.

Sie war klein, hatte dunkle Haare und Augen. Sie hatte nichts Blendendes an sich, nichts Überforderndes. Die Gespräche waren ruhig, auch wenn sie es nicht sein konnten. Und irgendwann wollten sie nicht mehr von da weg. Wollten immer nur noch da sein. In dieser Ruhe, dieser Anwesenheit, die nichts überreizte, niemanden überforderte. Vielleicht ginge das? Vielleicht könnten sie für immer bei ihr bleiben? Sie waren ja eh nicht gewollt zu Hause. Aber bei ihr waren sie ja immer willkommen.
Alles wäre besser, wenn sie ihre Mutter wäre.

Ich spürte R.s Druck im Oberkörper, während ich mir ihre Erinnerungen daran ansah. „Alles wäre besser gewesen, wenn wir damals jemanden gehabt hätten, die_r uns im Leben willkommen geheißen hätte.“ Sie verkrampfte und drehte sich aus unserem Kontakt.
Ich weiß aber auch so, wie es weiterging.
Jemand hatte es der Psychologin gesagt und sofort bereut. Einerseits, weil der Verrat gegenüber der Familie* so ungeheuerlich war, dass er von den Dunkelbunten sofort bestraft wurde und andererseits weil die Psychologin sich abgrenzte und keine Termine mehr anbot. „Nichts gewonnen – alles verloren“, sagte Z. deren vibrierender Puls halb in meinem verschwand. „Ab da gings nur noch bergab.“

Bergab, das klingt, als wären sie damals noch auf einem gewissen Niveau gewesen. Hätten nicht schon die Arme zerschnitten, die Schullaufbahn kaputt, die Familienbande zerfetzt, den Glauben an ein lebenswertes Leben zerstört gehabt. Aber es stimmt irgendwie doch. Sie konnten nicht mehr so tun als ob. Diese so kraftgebende Fähigkeit haben sie verloren. Sie konnten sich selbst nichts mehr vormachen. Sich keine Idee mehr von einem Kontakt machen, der etwas zum Besseren verändern könnte.
Also haben sie es nicht mehr gemacht.
R. hatte sich in ihrer Abwehr bestätigt gefühlt, Z. keinen Kontakt mehr nach Außen. Das ganze System wurde von dem, was sich in der Zeit praktisch wie von selbst entwickelte, überschrieben. Heim- und Klinikablauf förderliches Funktionieren während Täter*innen zufriedenzustellen waren, war wichtiger. Ob als Klapsleiche oder Jugendliche_r, die_r einfach immer gut mitmacht, um gut mitzumachen, weil das Leben ja erstmal aus nichts anderem mehr bestand, war keine Wahl, die sie getroffen und auch nicht gelebt haben.

Ich schaute mir noch ein Mal die Liste der unausgesprochenen Dinge zur Psychotherapie an. Die hatte ich zusammengetragen, weil wir in unserer Therapie besprachen, wie wir woran arbeiten können in der nächsten Zeit. Die Krankenkassenstunden sind verbraucht, wir warten und hoffen auf den FSM.

Wir haben feste Positionen für die Psychotherapie und den Kontakt mit der Therapeutin.
Eine davon war bis vor einigen Monaten noch, dass wir solche unausgesprochenen Dinge nicht aussprechen. Egal, ob wir seit 12 Wochen oder 12 Jahren mit jemandem in Kontakt sind.
„Es ist gefährlich – man verliert einfach zu viel, wenn man solche Dinge sagt.“, das war Z.s Argument, als wir uns damit befasst hatten, ob wir diese Liste wirklich machen und mit der Therapeutin teilen. „Wenn wir heute etwas verlieren, ist das nicht so umfassend wie früher“, argumentierte ich – die gut schnacken hat, weil sie ja eh keine Ahnung hat, wie R. sich ganz richtig und gewohnt frustrierend einbrachte.
Ich habe es dann doch gemacht. Schließlich sind wir nicht nur wegen all der Dinge, die uns gesagt wurden, sondern auch wegen all der Dinge, die nie gesagt wurden in Traumatherapie.

Unsere Positionen haben fast alle etwas mit Performance, mit Kommunikation und Interaktion zu tun.
Keine davon zwingt unser Gegenüber zu etwas, alle beziehen sich auf uns und das, was wir zulassen können. Wir leben nicht nach Schweigegeboten und unterliegen auch keinen Redeverboten – aber wir schützen uns vor Verletzungen und Gefahren, die durch Transparenz entstehen.
Schon das zu teilen war schwierig. Obwohl es so logisch ist. Und überhaupt kein Geheimnis oder etwas, das sonst wie überraschend für unsere Therapeutin oder irgendwen sein dürfte. Aber mit dem Aussprechen wird nicht nur unsere Position sichtbar, sondern auch die Angst und die Nichtbereitschaft dafür, Verletzungen hinnehmen zu müssen. Der Umstand, dass wir etwas wollen, aber nicht … so.
Nicht so wie A., die sich von einem Behandler hat missbrauchen lassen, wie Z., die sich von einer Behandlerin hat wegstoßen lassen, wie ich, die sich nie gegen die Fehlannahmen und Falschbehandlungen von Behandler_innen gewehrt hat – immer mit der Traumawahrheit im Kopf, es gehöre dazu, dass es weh tut. So sei es nun mal. Dieses Leben. Als Patientin, als Geholfene, als Empfänger_in, die froh sein kann.

So viel von unserem Behandlungsweg war in sich traumatisierend schmerzhaft und so viel von dem motivierenden Selfcaresprech, der mir mitunter begegnet, setzt gewissermaßen eine Bereitschaft zum Schmerz voraus. Therapie soll nicht schön sein. Angenehm. Die soll weh tun, die soll mich von meinen Illusionen runterholen, egal welcher Natur sie sind. Die soll mir alle möglichen irrigen Annahmen klarmachen und mir helfen, zu neuen Ansichten zu kommen.
In all dem ist die Beziehungsebene zu meiner jetzigen Behandlerin aber nie als Teil der Beziehungsgeschichte betrachtet, die ich mit früheren Behandler_innen hatte.
Wir konnten gut in die gemeinsame Arbeit einsteigen und drinbleiben, weil wir keine zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut haben. Sie war und wird von uns immer wieder dahingehend gedacht, dass sie Teil des Raumes ist. In gewisser Weise also eine Art Möbel, das zur Interaktion und Kommunikation fähig ist – aber nicht zur Verletzung. Sobald wir damit konfrontiert werden, dass sie ein Mensch ist, kommen wir in Stress. Weil Menschen einfach zur Verletzung fähig und wir damit in Gefahr sind.
Diese Realität weit genug zu verdrängen und sich dennoch zu öffnen für die Arbeit ist herausfordernd und ich glaube so auch nur möglich mit einer dissoziativen Störung.

Nun ist das Ziel aber die Dissoziation in meinem Leben weitgehend zu entstören.
Ich muss schauen, auch jetzt noch, nach der ganzen Arbeit und allem, ob die Dissoziation meiner Therapeutin nicht doch langsam auch eher störend, als hilfreich ist.