übers Verstecken und versteckt werden

„Sie verstecken sich.“
An der letzten Therapiestunde war so vieles problematisch, so viele rote Flaggen wehten im Wind, der sich wohl schon länger unbemerkt von mir gedreht hatte. So viel, dass mir dieser Abschnitt erst jetzt wieder einfällt.
„Sie verstecken sich.“

Ich hatte erzählt, dass es mich manchmal anstrengt, nicht mehr einfach so viele sein zu können wie früher im Bullergeddo. Nicht, weil hier ein striktes Wechselverbot oder Anteilnahmeverbot am Leben mit dem Freund herrscht, sondern, weil wir einfach nicht mehr alleine sind und es heute von Relevanz für jemanden ist, was bei uns los ist.
Unser Sein im Bullergeddo war oft sehr einsam und viel davon beeinflusst, dass wir nicht wissen konnten, was wir nicht wussten. Waren wir nachts draußen auf dem Rad unterwegs oder in Panik durch die Heide rennend? Haben wir gegessen? Wenn ja, was? Wann war ich zuletzt duschen? Das war zwar immer irgendwie wichtig, aber nicht wirklich relevant. Viele Menschen machen sich einfach nicht klar, dass dissoziative (Alltags-)Amnesien vor allem wegen ihres Anspruchs an Bewusstsein für alles überhaupt ein Problem ist oder als krank eingeordnet wird – wenn man damit einfach so lebt, ohne jeden Anspruch oder Notwendigkeit dafür, zeigt sich das aber sehr.
Wenn ich nicht wusste, ob ich geduscht hatte, bin einfach nochmal gegangen. Essen kann man auch mehrfach am Tag. Sich umziehen. Aufräumen. Sich auf Wunden untersuchen. Die eigene Kommunikation nachverfolgen. Man kann viel kompensieren und wenn man nur sich selbst auf die Reihe kriegen muss, dann muss man das nur mit sich in der akuten Situation abstimmen.

Jetzt leben wir mit dem Freund zusammen. Und obwohl wir uns keine Wohnung teilen, so teilen wir doch unsere Leben miteinander und manches müssen wir heute anders kompensieren als in den letzten Jahren. Das ist anstrengend. Für ihn auch, der ebenfalls einige Jahre vorher alleine gelebt hat. Das bedeutet nicht, dass wir uns verstecken.

Wir haben Texte gelesen, in denen Viele beschreiben, wie sie sich Pläne machen, wer was wann wie „dr_außen/vorne machen darf“. Wie viel Kraft es sie kostet und wie sehr es sie kränkt, wenn die Inneren im Außen nicht erwünscht sind. Viele Viele müssen sich wirklich aktiv verstecken und leiden darunter. Bei uns ist das nicht so.
Unser ganzes Konzept dazu ist völlig anders.
Erstens können wir überhaupt nicht nach Plan wechseln oder nach Entscheidung. Wir sind nach wie vor auf Triggermechaniken bzw. Handlungsautomatismen angewiesen und nach dem Modell der strukturellen Dissoziation ist das auch total logisch so – nichts daran ist falsch oder krank, sondern wirklich so richtig knacke logisch.
Zweitens bedeuten Wechsel bei uns nicht, dass wir sie immer sofort selber merken, so nach dem Motto: „Ah jetzt endlich bin ich mal draußen, jetzt kann ich endlich XY machen.“ Es ist viel öfter so, dass wir tun, was wir immer tun, wenn wir da/aktiv/bewusst sind und erst dadurch der Wechsel überhaupt möglich zu erkennen und zu benennen ist. Und noch viel öfter ist es so, dass jemand etwas tut und dann sofort wieder weg ist und es völlig irrelevant ist, ob jetzt X oder Y dieses oder jenes getan hat, weil getan ist getan und relevant ist, mit der Verantwortung für das Getane umgehen zu können. Das ist etwas, das uns so derartig eingeprügelt eintrainiert reintherapiert wurde, dass es uns einzelne Innens unsichtbar – versteckt – macht und gleichzeitig aber auch sehr an das Handeln als Einsmensch bindet, was ja die Realität ist und die Ebene, auf der wir mit der ganzen Mitwelt interagieren.

Drittens ist unser individuelles Unsichtbargemachtsein und -bleiben im Grunde genommen auch genau, was frühere Therapien bewirken sollten. Wir konnten uns über Jahre nicht dagegen wehren, wenn Erwachsene – Behandler_innen, wie Pflegepersonal – uns dafür bestraft haben, was wir getan haben, ohne, dass wir wussten, was wir getan hatten (und warum). Wenn sie uns emotional wie (unter Zuhilfenahme der anderen Patient_innen einer Station) sozial unter Druck gesetzt haben, um uns zu Verhalten zu zwingen, das dieses permanente Nichtwissen kompensiert und unsere individuelle innere Beteiligung verunsichtbart.
Es ist also auch eine Helfertraumafolge, dass wir einerseits unfassbar krasse Panik davor haben, wenn einzelne von uns mit Namen und Funktion sichtbar werden – gleichzeitig aber auch ein Therapieerfolg, dass es keine Relevanz für uns hat, dass es diese Einzelnen von uns überhaupt gibt.

Wenn wir uns Sorgen machen zu wechseln, dann weil wir um die Folgen  und Implikationen wissen.
Es ist der totale Kontrollverlust, wenn zum Beispiel ein Wechsel zu Kinderinnens nicht verhinderbar ist, weil irgendein Traumatrigger greift, der nur über eine Handlung außen kompensierbar ist. Dann haben wir ein ernsthaftes Problem, sind ernsthaft schutzbedürftig und brauchen unter Umständen Reorientierungsreize, um den Zustand zu verlassen bzw. „zurückzuwechseln“. Aber das eigentlich Schlimme ist dann schon passiert. Unser Gehirn hat dann eine Situation fehlinterpretiert und auf einen Zustand umgeschaltet, damit umzugehen. Das Schlimme, das Kranke, das Gefährliche an unserer Traumafolge ist eben diese Fehlinterpretation. Die Annahme, jetzt gerade oder ganz gleich passiere die Wiederholung einer Traumatisierung und das mit dem Wechsel verbundene Wiedererleben.
Für uns, für mich, Hannah, ist es an sich überhaupt nicht schlimm, wenn Kinderinnens außen sind – für mich, für uns, ist daran schlimm, dass wir als Einsmensch innerlich eine Traumatisierung wieder_erleben bzw. wie in Zeiten er_leben, die traumatisch waren. Bei uns ist noch nie ein Kinderinnen draußen gewesen, weil es das so gerne wollte, sondern immer nur, weil wir als Einsmensch auf bestimmte Situationen im Außen noch keine andere Reaktionsmöglichkeit entwickelt haben, als die, wie wir sie als Kind haben entwickeln müssen.
Deshalb sind Kinderinnens im Kontakt mit Behandler_innen oder Freund_innen für uns kein Zeichen von Vertrauen, sondern von einem Macht(Gewalt)verhältnis und also akuter Bedrohung bzw. von einer Situation, in der es so viele Parallelen gibt, dass unser Gehirn sie als (möglicherweise) traumatisierend einordnet.

Als Einsmensch sind wir nicht unsichtbar. Als Einsmensch, der Viele ist auch nicht.
Alle mit denen wir regelmäßig Kontakt haben wissen, dass wir Viele sind. Dass wir sehr lange Gewalt erlebt haben und bis heute davon beeinträchtigt sind.
Wir sind unter dem Namen Hannah C. Rosenblatt Autor_in, die_r offen damit umgeht, dass sie_r gewalterfahren und Viele ist. Podcaster_in, die_r in über 50 Folgen darüber spricht, wie das ist gewalterfahren und Viele zu sein. Dieses seit über 10 Jahren öffentlich zugängliche Blog hat über 1.500 Beiträge darüber, dass ich Viele bin und was ich erlebe.
Ich, wir, sind absolut keine Person, die sich versteckt. Viel eher sind wir eine Person, die nicht erkannt wird. Die nicht verstanden wird. Die in einigen doch einigermaßen relevanten Aspekten nicht gesehen wird. Und das ist eine völlig andere Sache. Eine, die wir nur wenig beeinflussen können, weil das in anderen Menschen passiert und eine, die uns viel öfter versteckt, als wir das je herstellen könnten.

Wir können immer nur sagen: „Hier, dieses Buch erklärt ganz gut, was Vielesein ist.“ Sagen: „Frag mich, wenn du etwas nicht verstehst.“ Erklären. Ressourcen bereitstellen. Aufzeigen, dass man mit uns nicht umgehen muss, als wäre unsere Er_Lebensrealität ein außerordentlich schwer zu entschlüsselndes Geheimrätsel.
Viele Viele müssen sich wirklich verstecken. Sie werden von Täter_innen bedroht, müssen aufpassen, dass sie sich nicht in Situationen bringen, die sie zur Anzeige von Straftaten zwingen. Manche müssen Angst haben, dass man ihnen Sorge- und andere Rechte entzieht. Dass sie ihren Job verlieren, ihre Würde, ihre soziale Stellung. Ihre Zukunft, ihre Gegenwart.
Wir müssen das nicht und halten das für ein Privileg von uns. Wir können es uns leisten so sichtbar zu sein, wie wir es im Moment sind.

Es ist nur nicht leicht.
Das ist es wohl nie.