das Helferding

„Aus jeder Therapie nimmt man etwas mit“, dachte ich im Zug nach Hause „Aus jeder.“
Während die feuchtgrünen Felder und Wiesen am Fenster vorbeiglitten, dachte ich an unser erstes „Mami-Ding“ und daran, was für ein verkorkstes Scheißding das insgesamt war. Kinder- und Jugendpsychiatrie, halb von zu Hause weg, halb mittendrin. 3 Suizidversuche überstanden, den 4. schon in Planung, gerade entlassen, aber doch noch zu Gesprächen mit der Psychologin hinbestellt.

Sie war klein, hatte dunkle Haare und Augen. Sie hatte nichts Blendendes an sich, nichts Überforderndes. Die Gespräche waren ruhig, auch wenn sie es nicht sein konnten. Und irgendwann wollten sie nicht mehr von da weg. Wollten immer nur noch da sein. In dieser Ruhe, dieser Anwesenheit, die nichts überreizte, niemanden überforderte. Vielleicht ginge das? Vielleicht könnten sie für immer bei ihr bleiben? Sie waren ja eh nicht gewollt zu Hause. Aber bei ihr waren sie ja immer willkommen.
Alles wäre besser, wenn sie ihre Mutter wäre.

Ich spürte R.s Druck im Oberkörper, während ich mir ihre Erinnerungen daran ansah. „Alles wäre besser gewesen, wenn wir damals jemanden gehabt hätten, die_r uns im Leben willkommen geheißen hätte.“ Sie verkrampfte und drehte sich aus unserem Kontakt.
Ich weiß aber auch so, wie es weiterging.
Jemand hatte es der Psychologin gesagt und sofort bereut. Einerseits, weil der Verrat gegenüber der Familie* so ungeheuerlich war, dass er von den Dunkelbunten sofort bestraft wurde und andererseits weil die Psychologin sich abgrenzte und keine Termine mehr anbot. „Nichts gewonnen – alles verloren“, sagte Z. deren vibrierender Puls halb in meinem verschwand. „Ab da gings nur noch bergab.“

Bergab, das klingt, als wären sie damals noch auf einem gewissen Niveau gewesen. Hätten nicht schon die Arme zerschnitten, die Schullaufbahn kaputt, die Familienbande zerfetzt, den Glauben an ein lebenswertes Leben zerstört gehabt. Aber es stimmt irgendwie doch. Sie konnten nicht mehr so tun als ob. Diese so kraftgebende Fähigkeit haben sie verloren. Sie konnten sich selbst nichts mehr vormachen. Sich keine Idee mehr von einem Kontakt machen, der etwas zum Besseren verändern könnte.
Also haben sie es nicht mehr gemacht.
R. hatte sich in ihrer Abwehr bestätigt gefühlt, Z. keinen Kontakt mehr nach Außen. Das ganze System wurde von dem, was sich in der Zeit praktisch wie von selbst entwickelte, überschrieben. Heim- und Klinikablauf förderliches Funktionieren während Täter*innen zufriedenzustellen waren, war wichtiger. Ob als Klapsleiche oder Jugendliche_r, die_r einfach immer gut mitmacht, um gut mitzumachen, weil das Leben ja erstmal aus nichts anderem mehr bestand, war keine Wahl, die sie getroffen und auch nicht gelebt haben.

Ich schaute mir noch ein Mal die Liste der unausgesprochenen Dinge zur Psychotherapie an. Die hatte ich zusammengetragen, weil wir in unserer Therapie besprachen, wie wir woran arbeiten können in der nächsten Zeit. Die Krankenkassenstunden sind verbraucht, wir warten und hoffen auf den FSM.

Wir haben feste Positionen für die Psychotherapie und den Kontakt mit der Therapeutin.
Eine davon war bis vor einigen Monaten noch, dass wir solche unausgesprochenen Dinge nicht aussprechen. Egal, ob wir seit 12 Wochen oder 12 Jahren mit jemandem in Kontakt sind.
„Es ist gefährlich – man verliert einfach zu viel, wenn man solche Dinge sagt.“, das war Z.s Argument, als wir uns damit befasst hatten, ob wir diese Liste wirklich machen und mit der Therapeutin teilen. „Wenn wir heute etwas verlieren, ist das nicht so umfassend wie früher“, argumentierte ich – die gut schnacken hat, weil sie ja eh keine Ahnung hat, wie R. sich ganz richtig und gewohnt frustrierend einbrachte.
Ich habe es dann doch gemacht. Schließlich sind wir nicht nur wegen all der Dinge, die uns gesagt wurden, sondern auch wegen all der Dinge, die nie gesagt wurden in Traumatherapie.

Unsere Positionen haben fast alle etwas mit Performance, mit Kommunikation und Interaktion zu tun.
Keine davon zwingt unser Gegenüber zu etwas, alle beziehen sich auf uns und das, was wir zulassen können. Wir leben nicht nach Schweigegeboten und unterliegen auch keinen Redeverboten – aber wir schützen uns vor Verletzungen und Gefahren, die durch Transparenz entstehen.
Schon das zu teilen war schwierig. Obwohl es so logisch ist. Und überhaupt kein Geheimnis oder etwas, das sonst wie überraschend für unsere Therapeutin oder irgendwen sein dürfte. Aber mit dem Aussprechen wird nicht nur unsere Position sichtbar, sondern auch die Angst und die Nichtbereitschaft dafür, Verletzungen hinnehmen zu müssen. Der Umstand, dass wir etwas wollen, aber nicht … so.
Nicht so wie A., die sich von einem Behandler hat missbrauchen lassen, wie Z., die sich von einer Behandlerin hat wegstoßen lassen, wie ich, die sich nie gegen die Fehlannahmen und Falschbehandlungen von Behandler_innen gewehrt hat – immer mit der Traumawahrheit im Kopf, es gehöre dazu, dass es weh tut. So sei es nun mal. Dieses Leben. Als Patientin, als Geholfene, als Empfänger_in, die froh sein kann.

So viel von unserem Behandlungsweg war in sich traumatisierend schmerzhaft und so viel von dem motivierenden Selfcaresprech, der mir mitunter begegnet, setzt gewissermaßen eine Bereitschaft zum Schmerz voraus. Therapie soll nicht schön sein. Angenehm. Die soll weh tun, die soll mich von meinen Illusionen runterholen, egal welcher Natur sie sind. Die soll mir alle möglichen irrigen Annahmen klarmachen und mir helfen, zu neuen Ansichten zu kommen.
In all dem ist die Beziehungsebene zu meiner jetzigen Behandlerin aber nie als Teil der Beziehungsgeschichte betrachtet, die ich mit früheren Behandler_innen hatte.
Wir konnten gut in die gemeinsame Arbeit einsteigen und drinbleiben, weil wir keine zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut haben. Sie war und wird von uns immer wieder dahingehend gedacht, dass sie Teil des Raumes ist. In gewisser Weise also eine Art Möbel, das zur Interaktion und Kommunikation fähig ist – aber nicht zur Verletzung. Sobald wir damit konfrontiert werden, dass sie ein Mensch ist, kommen wir in Stress. Weil Menschen einfach zur Verletzung fähig und wir damit in Gefahr sind.
Diese Realität weit genug zu verdrängen und sich dennoch zu öffnen für die Arbeit ist herausfordernd und ich glaube so auch nur möglich mit einer dissoziativen Störung.

Nun ist das Ziel aber die Dissoziation in meinem Leben weitgehend zu entstören.
Ich muss schauen, auch jetzt noch, nach der ganzen Arbeit und allem, ob die Dissoziation meiner Therapeutin nicht doch langsam auch eher störend, als hilfreich ist.

#3. „Ich lerne gerne mit/von Ihnen.“

Meine DIS-Diagnose wurde gestellt, als ich 16 Jahre alt war.
Das hatte viele Vorteile für mich, denn meine Behandlungsprognose war sehr gut und ich bin gewissermaßen in die wissenschaftliche Auseinandersetzung sowie in die mediale Erzählung über und von Menschen mit DIS hineingewachsen.
Die Nachteile habe ich aus Loyalität und Unsicherheit lange verschwiegen. Ich wollte niemandem schaden, niemanden über sich selbst verunsichern und natürlich auch meine eigene Situation nicht verschlechtern. Und die war schlecht. Trotz bester Aussichten üb.er_lebte ich auch Jahre nach der Diagnose und ihrer Implikationen für Helfende in Strukturen organisierter Gewalt. In der Regel war ich die erste Person mit DIS in jeder Wohngruppe, jeder Betreuungssituation, jeder Schulklasse, jeder allgemein- und fachmedizinischen Praxis außer der Psychiatrie.

Dass ich wusste, was eine DIS ist und dass ich in der Lage war allen möglichen Menschen mit jedem möglichen Vorwissen zu vermitteln, was das ist, woher es kommt und welche Konsequenzen sich daraus für unser Miteinander ergeben, war zu der Zeit überlebenswichtig für mich. Ich war extrem darauf angewiesen, dass mein Verhalten als traumareaktiv und dissoziativ verstanden wurde, damit man mir glaubte, dass ich wirklich nicht gerne ausgebeutet und verletzt wurde. Aber auch, damit ich richtig und umfassend geschützt wurde. Damit man mir bei der Suche nach einer passenden Therapie half, damit man mich bei der Antragsstellung für bürokratische Schutzmaßnahmen unterstützte. Und letztlich auch, damit man ein wenigstens annäherndes Verständnis dafür bekam, wie umfassend meine Unterstützungsbedarfe im Alltag waren.

Damals war total klar, dass niemand tiefere Ahnung von DIS hat. Trauma war noch mehr als heute Soldatensache, irgendwas mit Krieg, Naturgewalten oder anderen Extremereignissen. Als Folge extremer Gewalt geframed hatte die DIS für viele Menschen, die dann doch davon gehört hatten, auch Elemente des widersprüchlich Fantastischen, ging es doch immer auch um „unvorstellbare Gewalt“ dabei.

Als Betroffene_r ist es für mich bis heute so, dass mich belastet, wie viele Begrifflichkeiten ich erst definieren muss, um überhaupt erst ein Mal einen gemeinsamen Grund zum Verständnis zu erschaffen. Was bedeutet Trauma? Was bedeutet „extreme Gewalt“ in speziell meinem Fall? Was ist Dissoziation? Um was für Strukturen geht es beim Begriff der „strukturellen Dissoziation“? Was ist Amnesie? Was sind Persönlichkeitsanteile/Innens/Innies?
Und was hat das alles mit meinem Bedarf in der Alltagsbegleitung zu tun?
Früher habe ich das allen erklärt, die es wissen wollten. Ich habe Betreuer_innen fortgebildet, Literatur weitergegeben und erklärt, habe zu anderen Fällen mit Vielen meine Perspektive geteilt, habe vermittelt und erklärt. Da war ich 18, 19, 20 Jahre alt und erlebte gleichzeitig noch jeden Tag, was als eine Ursache meiner DIS gilt.
Wenn mir damals jemand sagte, dass sie_r gerne bereit ist, mit mir und von mir zu lernen, wirkte das als Bindungsangebot auf mich. Und als Rettungsversprechen. Ich dachte, wenn nur alle wüssten und verstünden, dann würden sie mir auch helfen. Sie würden dann machen, dass es aufhört. Die Gewalt, aber natürlich auch die Hölle in mir und meinem Leben im Hier und Jetzt.
Das ist so nie eingetroffen.

Das (wissenschaftlich fundierte, mühsam rangeschaffte und von mir objektivierte) Wissen, das ich weitergab, wurde häufig als persönliche Erzählung, als individuelle Konstruktion zur Sinngebung meines Zustandes verstanden. Was man von und mit mir lernte, wurde in der Regel als eine Eigenschaft von mir verstanden, auf die man Rücksicht nehmen kann, wenn es passt. Die man erforschen kann, wenn man auf Problemsuche ist. Ganz als handle es sich bei der strukturellen Dissoziation der Psyche um eine Neigung oder spezielle Gedanken über sich selbst – und nicht um eine grundlegende Architektur, die jede Eigenschaft überhaupt erst ermöglicht und ausschließlich in ihrem Rahmen definierbar macht.

Dieses Verständnis von anderen Menschen zuzulassen, erfordert ein Begreifen vom Leben und der menschlichen Natur, das nicht mit einer Erklärung der DIS als diagnostizierbare Krankheit hergestellt werden kann.
Das gilt für jede Diagnose, jeden als divergent definierten Selbstzustand. Auch Autismus und Trans* sein zum Beispiel.
Niemand mit einem Verständnis von Autismus als persönliche Eigenschaft wird je wirklich kapieren, was es bedeutet autistisch zu er_leben und wird in der Folge immer wieder verletzen und missachten ohne es überhaupt zu merken oder im Nachhinein wirklich zu verstehen. Alle, die glauben Trans* sein könne allein über dya cis normatives Geschlechterverständnis erklärt werden – also in Abgrenzung der sozialen und biologistischen Konstruktion von „Mann“ und „Frau“ – werden nie dahin kommen zu kapieren, was es bedeutet, hier und heute in dieser Gesellschaft als trans* Person zu üb.er_leben. Da können sie noch so gern von und mit uns, die es betrifft, lernen. Denn wir müssen immer mitdenken, dass das, was sie glauben zu lernen, mit hoher Wahrscheinlichkeit geistige Schubladen füllt, die die grundlegend falschen sind.

In der Psychotherapie kann das anders sein. Dort geht man als Individuum hin, um individuell ganz auf sich bezogen zu sein und zu denken und zu fühlen. Man hat eine Diagnose erhalten und von dieser wird die Behandlung abgeleitet. In der Auseinandersetzung mit schwierigen Themen lernt man sich selbst besser kennen und die_r Therapeut_in kann gar nicht anders als mitzulernen, sie_r ist schließlich immer dabei.
Wenn mir meine Therapeutin also sagt, sie würde gerne mit mir lernen, dann übersetze ich mir das in etwa zu: „Ich bin gerne dabei, wenn sie sich besser verstehen.“ – weil ich in dieser Situation nicht grundlegend auf ihr Wissen über mein Selbstverständnis angewiesen bin.

Viele Menschen beginnen eine Psychotherapie aber nicht, um sich besser kennenzulernen. Die meisten (komplex) traumatisierten Menschen in meinem Umfeld suchen eine Therapie, um nicht an ihren Traumafolgen zu sterben. In so einer Situation ist es einfach zynisch, wenn ein_e Therapeut_in sagt, dass sie gerne mit der_m Patient_in lernt. Zynisch, ignorant und letztlich auch (unabsichtlich) gewaltvoll.
Denn es geht in dieser Phase nicht nur um das Individuum und das persönlichst Private, sondern häufig auch um Lebensumstände und gesellschaftliche Kontexte. In solchen Momenten ist es wichtig, dass andere Menschen ihr Wissen vermitteln.
Und als Psychotherapeut_in dann auch zu sagen: „Hier kann es nicht um diese großen Kontexte gehen. Hier machen wir Psychotherapie. Psychotherapie ist der Raum zur individuellen Auseinandersetzung darüber, wie Sie mit und in diesen Kontexten zurechtkommen.“
Diese Grenzziehung finde ich von einigen Behandler_innen oft nicht oder nicht eindeutig genug gemacht und vielleicht ist sie generell auch schwierig. Wichtig finde ich sie dennoch. Schon um als Patient_in diese Grenze nicht als Marker für Abwehr oder leichtfertig ausagierte Ignoranz (miss) zu verstehen. Es gehört zur notwendigen Orientierung dazu, zu erfahren, an wen man sich womit wenden kann und wo man welche Räume wofür hat.

Lebensgefahr (ob real oder so empfunden) ist einfach kein Zeitraum des Lernens, sondern des Erfahrens. Wenn man das als Behandler_in oder Betreuer_in oder Begleiter_in nicht weiß – im Sinne von basic Wissen über menschliches Funktionieren – hat man meiner Meinung nach nichts in der Nähe (komplex) traumatisierter Menschen (in existenziellen Krisen, Lebensgefahr, Täter_innenkontakt) zu suchen.

In den ersten 14 Jahren meiner DIS-Diagnose habe ich vor allem Erfahrungsräume gebraucht.
Ich brauchte Menschen mit vielen verschiedenen Lebenserfahrungen, die mich versichernd durch die eigenen Lebenserfahrungen begleiten, denn ich war in Gewalt erwachsen worden und wusste nicht, wie es ganz konkret anders gemacht wird. Ich brauchte also Menschen, von denen ich lernen konnte, wie (ihr) Leben geht, um mir selbst einen Begriff davon zu machen.
Ich brauchte Menschen, die mit mir zusammen ausgehalten haben, dass ich mein Leben immer wieder bedroht wahrnahm, weil ich angewiesen auf Jobcenter und andere Behörden immer wieder in de facto existenzieller Bedrohung lebte.

Niemals habe ich Menschen gebraucht, die an und von mir toll gelernt haben, was eine DIS ist. Diese Menschen haben immer mich benutzt gebraucht, um sich selber für sich selber über etwas zu versichern oder zu orientieren, statt sich selbst um Fort- und Weiterbildung zu kümmern und die Verantwortung für ihre Wissenslücke und die entsprechend niedrigere Qualität ihrer Arbeit zu übernehmen.
Es war meine Hilfsbedürftigkeit, die ausgenutzt wurde. Meine Hilflosigkeit, die verdeckt und auch für mich selbst verschleiert wurde, mit Lob über meine tolle Erklärungsfähigkeit, meine super Kompetenz so sperrige Inhalte gut zu vermitteln. Und ihr Missverstehen, das ich nicht auflösen konnte. Ihre fehlende Reflexion über das Machtverhältnis, in dem wir waren und die Kontexte, die es unaufhebbar machen.

Diese Verdeckung – dieses Vermeidungsverhalten – ist der Grund, weshalb ich diesen Satz von professionell Begleitenden, Unterstützenden und Behandelnden nicht mehr hören will.
Wir sind nicht auf der gleichen Ebene.
Wenn wir etwas voneinander lernen, dann muss es uns beide befähigen können und nicht aus der Not von einer_m von uns geboren werden. Denn sonst passiert Gewalt.

die schwere Decke in der Therapie

Kurz hatte ich doch Angst. Ging mit schnellen Schritten meinen Gedanken hinterher und prüfte sie auf Gefahren.

Ich hatte diese Erfahrung gemacht und wollte sie wiederholen. Das ist gefährlich. Auf so vielen Ebenen. Ich habe etwas gefühlt und ein Wollen entwickelt – schwierig. Und dann fand ich es auch noch gut und schön – hmm! Und als ob das nicht schon genug Sirenen aufschrillen lässt, folge ich meinem Wollen und bahne entsprechendes Handeln an – Katastrophe.
Doch alles blieb ruhig. Mein Körper nicht durchsichtig, mein Denken und Wollen weiterhin unsichtbar. Eine Bemerkung so klein und zart, dass ich sie erst überging.

Denn erst sammelte ich Mut. Über meine Scham hinweg. Entgegen der Sorge, mit 40 Kilo Mut in der Brust durch dünnes Eis zu brechen. Meine Therapeutin zu überfordern, mehr zu wollen als ich darf. Mit dem Wissen, dass das, was ich möchte, etwas ist, was die meisten Menschen nur deshalb nicht wollen, weil sie es einfach immer schon haben: Ich möchte sie hören können. Nicht als Geräuschmasse, als stückigen Eintopf, dessen Inhalt ich mir allein erarbeiten muss. Hoch konzentriert, während ich laufe, schwimme, in die Repetition meines Stimmings versunken. Danach, wenn ich nicht mehr zeitgerecht antworten kann und mit meinen emotionalen Reaktionen und Gedanken dazu allein bleibe.
Ich möchte sie hören können. Ihre Worte mit Reihenfolge. Verwoben zu Bedeutung, verbunden mit Kontexten, gesendet an mich als Teil davon. Möchte immer das Gefühl zu dem Gedanken haben: „Ich bin nicht allein (in diesem Gefühl, diesem Gedanken, dieser Erinnerung)“, weil ich sie vollständiger wahrnehmen kann. Weniger als Reizquelle, die ich mehr oder weniger diffus aufnehme und nur durch mein Wissen um die Welt zum Menschen denke; mehr als Individuum, das sich auf mich bezieht und mit mir in Kontakt geht. Mich erreichen kann und will.

Nach der Episode mit der toten Amsel in unserem Büro, hatten wir telefoniert. Ich lag unter der schweren Decke, R. hörte Musik auf den Noise Cancelling Kopfhörern über die wir auch telefonieren können. Es war Zufall. Und ohne diesen Zufall hätte ich nie erfahren, dass mein unsichtbares Verstehproblem so mysteriös gar nicht ist. Es ist eine Mischung aus Stressreaktionen auf Geräusche und allgemeiner sensorischer Sensibilität [1]. Total üblich unter autistischen Menschen.
Unter der schweren Decke kann ich mich entspannen, weil mein Körper aufhört, sich selbst zu suchen. Es werden mehr Verarbeitungskapazitäten für andere Kanäle frei. Zum Beispiel den auditiven Kanal. Dieses Prinzip habe ich in meinem Alltagsleben als erwachsener Mensch bereits an so vielen Stellen angewandt – doch immer mit meiner allgemeinen Beschissenheit Verquirktheit erklärt und aus Scham versteckt. Einfach, weil man das so nicht macht. Lektorieren und Bücher setzen mit absolut dichtem Gehörschutz, auf den Füßen sitzend, die schwere Decke auf dem Rücken. Duschen mit geschlossenen Augen. Kleidung anziehen ausschließlich im ruhigsten Zimmer der Wohnung. Man macht es nicht so, weil aus dem Nichts eine Hand, eine Faust, ein Fuß geflogen kommt. Jemand brüllt, an den Haaren zieht, zuschlägt. Man macht es nicht, weil man sonst verlassen wird. Von Mutti, die sich schämt, von Vati, zu dem eine Bindung überhaupt aufzubauen von unsichtbar verwirrenden Hürden geprägt ist. Man macht es nicht, weil niemand es so macht. Nirgendwo, wo andere sind.

Es war mein Gefühl von Randexistenz, das mir die Erlaubnis für meine ausgelebte Quirkness gab. 16 Jahre Hartz 4, niemand hat noch erwartet, dass ich irgendwie mal noch integriert werden würde. Arbeiten gehen würde. Mit jemandem zusammen leben würde. Jetzt kann ich meine Quirks in ihrer Funktion erkennen und sehen, dass ich in all den Jahren sehr wohl selbstfürsorglich mit mir war. Trotz Essstörung, trotz Sucht, trotz Selbstverletzung. Ohne diese vor den Augen anderer Menschen versteckten Verhaltensweisen hätte ich vielleicht genauso wenig überlebt wie ohne die Dissoziation. Denn ich nehme nicht wahr – ich nehme auf. Ohne diese stetige Verschiebung meiner Kapazitäten zur Reizverarbeitung würde ich weiter immer nur aufnehmen und einfügen, wie schon als Kind. Steuerung C und Steuerung V. Ohne Kontext. Ohne Bezug. Immer im Versuch so exakt wie möglich die vage verstandenen Lücken im Gespräch, im Moment des Handelns zu füllen. Immer wissend: „Es fehlt etwas. Aber ich weiß nicht was. Ich bin so allein. Aber die Verbindung kann ich mir nur herleiten. Nicht empfinden. Etwas fehlt, etwas ist nicht mit in der Gleichung für den letzten Klick.“

Meine Therapeutin konnte mich nicht sehen. Wie ich da so lag und an die Decke über meinem Bett schaute, während R. mit ihr sprach. Sie konnte es nicht sehen, nicht bewerten, nicht verhindern. Es war einfach so, wie es war und es war okay. Ich konnte sie nach 10 Jahren, die wir miteinander arbeiten, einfach hören. Einfach verstehen. Konnte einfach begreifen, was sie sagt und dass sie sagt, dass sie da ist. Und ich nicht mehr allein. Allein mit Erinnerungen an Gewalt, mit der Angst von früher, mit der Not, die immer noch empfunden wird.
Logisch, selbstverständlich, natürlich, klar! möchte ich das immer so haben. Total nachvollziehbar.
Aber.
Und.

Durch die lange Zeit zusammen hatte ich eigentlich mehr gewohnheitsmäßige Angst vor dem Beziehungsabbruch als wirklich freidrehende Panik von Kinderinnens, als ich ihr sagte, dass ich die schwere Decke in die Therapie einbauen möchte. Diesmal spielte viel mehr die Angst eine Rolle, ich könne durchsichtig für sie sein und sie würde etwas sehen, das ich nicht sehen kann, weil ich mit dieser Situation noch so neu bin. Mir kamen viele Erinnerungen an Situationen, in denen ich selig und froh um gute Gefühle war, meine direkte Umwelt sie mir jedoch als abstoßend, schlecht, abartig oder hinterlistig zurück rahmten.
In der Therapie ist das aber noch nie passiert. Vielleicht, weil meine Therapeutin meine mentale Durchsichtigkeit nicht ausnutzt. Vielleicht – vielleicht! – weil es so etwas wie mentale Durchsichtigkeit nicht gibt und die Menschen, die mich das haben glauben lassen, meine guten Gefühle zerstören wollten. Mit Unterstellungen, bösartigem Reframing, gaslighting, Urteilen entsprechend nicht-autistischer Normen und Werte.

Und dann habe ich mit einem Klick auf die Entertaste die Decke bestellt und zur Praxis schicken lassen.
Und dann haben wir den Einsatz der Decke einfach gemacht. Wie besprochen. Einfach so. Im mittleren Erregungsniveau, in einer Stunde wie immer. Fast immer. Noch nie.
Ich habe sie gehört, ich habe dazu Gefühle entwickelt, ich habe zum ersten Mal in der Therapie geweint.

 

[1] Kuiper MWM, Verhoeven EWM, Geurts HM. Stop Making Noise! Auditory Sensitivity in Adults with an Autism Spectrum Disorder Diagnosis: Physiological Habituation and Subjective Detection Thresholds. J Autism Dev Disord. 2019 May;49(5):2116-2128. doi: 10.1007/s10803-019-03890-9. PMID: 30680585; PMCID: PMC6483953.

Fundstücke #82

Das Wasser platscht mir auf den Rücken, seine Echos prallen von den Wänden auf mich zurück. Ich habe Schmerzen, ringe darum, nicht zu vergessen, wie Duschen geht. Die Seife, der Schaum, der Geruch, ein Weh im Unterleib, ich finde keinen Spalt für mich zwischen all dem. Ein Tropfen Blut landet zwischen meinen Füßen, ich bin allein in der Schwimmhallendusche. In der Dusche zu Hause vor 30 Jahren, in der Dusche zu Hause vor 25 Jahren, in der Dusche zu Hause vor 20 Jahren.

Ich bin zusammen.gerissen. Ziehe durch. Halte mich an meine erwachsene Schale und ziehe weiter. In der Umkleide ist ein Spiegel, ich sehe merkwürdig aus. Ich könnte heulen, tus aber nicht. Irgendwie fehlt mir der Grund. Und als er mir einfällt, bin ich zu Hause. Grabe Tomaten und Himbeeren ein. Betrachte das Unkraut, den Himmel, bin so weit weg, so allein, so verwirrt und traurig über etwas, das mir selber nur klar ist, weil ich weiß, dass ich sexualisiert misshandelt wurde und diese Gefühle etwas damit zu tun haben.

Ich prozessiere und weiß das. Es hat etwas mit Puzzlestücken zu tun. Hier eine Komponente, da eine. Hier das Kinderinnen dazu. Dort sein Körperempfinden. Da meine Realität. Hier, was als vergangene Realität begriffen werden muss. Verstehen, erinnern, fühlen, fern von Worten wie eh und je. Wann hört das auf, was kann ich tun, um es zu beschleunigen, das ist Kaffeesatzleserei.
Traumaverarbeitung ist nicht das gleiche wie die Realisation eines Traumas oder die Erkenntnis, was die Gegenwart ist.
Ich mache meinen Sport, esse halbwegs okay, versuche nicht weiter wegzuschieben, was sich mir aufdrängt.

Auf eine merkwürdig schmerzliche, ängstigend nahe Art hilft es mir, dass ich die Kinderinnens dazu mehr spüre. Es ist nicht länger das zusammenhanglose „Könnte was DAMIT zu tun haben, könnte aber auch zerkrankter Hirnfurz sein, kann man ja nie wissen – Bliblablö“, das mir weh tut, mich klein, eklig, zerstört, schwach, erbärmlich fühlen lässt. Es ist alles. Das Erinnern an einen Erwachsenen, der auf dem Arm seines Opfers liegt und darüber zu einem Teil von ihm wird. Der Gedanke, wie er mit seiner Tat Grenzen überging, um die es weder Wissen noch Selbstbezug gab. Die bedingungslose Bereitwilligkeit des Kindes, die mit Willen vermutlich gar nicht so viel zu tun hat. Die Traurigkeit, die mich so plötzlich zum Weinen bringt, wie der Selbsthass, der mich wieder davon wegzerrt.

Es bleibt das Greifen nach Sicherheiten, nach Trost, nach Beruhigung und Heilung, nach dem eigenen Selbst in all dem. Grundbedürfnisse, die sich nicht unterscheiden von denen, die ich heute habe. Nicht obwohl ich heute erwachsen bin, sondern weil.

Weil ich lebe, weil ich überlebt habe und das Leben eines Menschen wenig mehr als die beständige Sicherung dessen ist. Sein Leben lang. Auch sein Kinderleben lang.

Ist dir der Begriff „Trauma“ zu groß, ist dein Verständnis von Gewalt zu klein.

„Mir ist da das Wort „Trauma“ oft zu groß.“
Wir sprechen über Autismus und Trauma, ich darüber, dass es mich fassungslos macht, dass viele Autismustherapeut_innen mit Opfern von Peer-Gewalt („Mobbing“) arbeiten, aber sich primär auf deren Autismus konzentrieren.

Auf dem Weg nach Hause merke ich, dass ich wirklich Glück hatte.
Ein Haufen feministisch bewegter Frauen haben mich in den letzten Jahren therapiert und begleitet. Oft transfeindlich feministisch bewegte Frauen und in der Regel auch sexarbeit-feindlich feministisch bewegte Frauen, aber immer Frauen, denen klar war, dass meine Verfassung, mein InDerWeltSein ausschließlich mit meiner Verwundung zu tun hat – aber nie der wahre Grund für die Gewalt an mir war.
Ich musste niemals – wirklich, bei aller Falsch- und Schlechtbehandlung, die ich erfahren habe, niemals! – damit umgehen, dass jemand versucht hat, mir zu vermitteln, dass ich mich anders verhalten, anders mit den Menschen umgehen soll, die mich als Person absichtlich verletzen, damit sie mich nicht (weiter) verletzen. Vielen autistischen Kindern und Jugendlichen, die in der Schule gemobbt werden, passiert das aber und ich halte das für absolut miese Drecksscheiße, die nur von Erwachsenen kommen kann, die Kinder nicht als Täter_innen und Mobbing nicht als Gruppengewalt anerkennen können und/oder wollen. Und also bei aller guten Intention und Zugewandtheit trallalala – keine echten Verbündeten der Kinder und Jugendlichen sind.
Das sind in der Regel die gleichen Erwachsenen, die Wunden erst bei fließendem Blut oder maximaler Dysfunktion eines Menschen – also gewissermaßen im Katastrophenfall – als solche überhaupt verstehen und das Konzept von psychischer/emotionaler Gewalt nicht verstanden haben. Und oft – zumindest meiner Erfahrung nach – sind das Leute, die entweder selber als Kinder und Jugendliche (mit)gemobbt haben oder denken, dass sie nicht gemobbt wurden, weil sie alles richtig gemacht haben. Also Leute, die gewaltlogische Schlüsse nicht als solche reflektiert haben und heute entsprechend opferfeindlich denken und be_handeln.

Wer „Trauma“ für ein großes Wort hält, hat es nicht verstanden. Denn groß ist nie das Trauma selbst, sondern seine Ursache und/oder seine Nichtheilung/Nichtverarbeitung. Jedes aufgeschlagene Knie beweist das. Man knallt hin – das passiert halt, ist banal. Man hat eine Wunde, ein Trauma, und die heilt. Das juckt, man kann erstmal vielleicht nicht so gut laufen, muss sie regelmäßig säubern und trocken halten und irgendwann ist wieder gut. Trauma geheilt, bumms. Hier ist also erst einmal nur die Wirkung groß.
Aber, was, wenn man geschubst wurde. Wenn jemand wollte, dass man Schmerzen hat? Dann ist doch das Trauma nicht nur das kaputte Knie. Dann ist doch die Erfahrung, dem Willen eines anderen Menschen ausgeliefert zu sein, ganz klar auch etwas, das weh tut. Das kann man doch nicht weglassen aus der Wundversorgung oder nicht anerkennen, dass sich die Auseinandersetzung mit der anderen Person auch auf die Wunde, das Trauma und dessen Heilung auswirkt.

Und jetzt schaut bitte mal darauf, wie mit Kindern umgegangen wird, die einander absichtlich schubsen … mobben … oder sonst wie verletzend miteinander umgehen. Was, wenn nicht opferfeindlich – und also „täterlich“ – ist es in solchen Zusammenhängen dem Opfer primär zu vermitteln, dass es sich davor nur schützen kann, wenn es sich nach Schema x verhält, auf Anzeigen y achtet und so weiter. Die Wirkung kann nur die von victim blaming sein. Sie kann nur sein, dass der Eindruck entsteht, es sei von größerer Wichtigkeit, sich nicht der Versorgung der Wunde zu widmen, sondern der Verhinderung von weiteren.

Das Problem ist, dass Schutz nicht das gleiche ist wie ein Leben ohne Gefährdung. Auch der resilienteste Mensch, mit den besten Selbstschutztechniken und -mechanismen in sich, lebt nicht sicher. Lebt nicht entspannt. Kann sich nicht entfalten. Kann niemals erfahren, wie es ist, sicher zu sein – er kann immer nur wissen, wie es ist, geschützt zu sein. Und das ist etwas völlig anders. Ein völlig anderes Er_Leben.

Die Anerkennung einer Verletzung ist für Opfer nicht nur wichtig, um sich selbst zu verstehen oder irgendwie ein bisschen geplüscht zu werden, um sich selbst (wieder) (in einem sozialen Status) zu versichern. Sie ist auch für alle anderen Menschen um sie herum wichtig.
Es ist unfassbar wichtig für menschliche Gesellschaften von verletzenden, schmerzenden und gefährdenden Dingen zu erfahren – nur so kann sie Strategien entwickeln, um diese Dinge effektiv zu umgehen, einander im Schmerz zu verstehen, einander in der Heilung zu unterstützen und auch um in konsensorientierte Verhandlung darüber zu kommen, welche Art des Umgehens wie ins Miteinander eingepflegt sein muss, damit sie effektiv und effizient sind.

Opfer und Täter_in nicht eindeutig zu benennen, weil man denkt, das wäre zum Beispiel bei Kindern und Jugendlichen irgendwie die zu große Rolle, weil sie noch nicht die Reife von Erwachsenen haben oder weil man die Gewalt nicht als „wirklich krass“ einordnet (weil man sie selber nicht so schlimm findet und nur, was man selber für schlimm findet als Gewalt anerkennt) oder weil man annimmt, dass der soziale Kontext eine_n dann für überdramatisch und also nicht ernstzunehmen hält oder weil man fürchtet mit dieser Einordnung ein Urteil zu fällen – führt dazu, dass Gewalt an sich nicht konkret genug definiert wird.
Und alles, was nicht eindeutig definiert ist, bleibt unsichtbar. Unerkennbar. Unbenennbar. Unveränderbar.

Wir haben in unserer Gesellschaft ein Gewaltproblem und sind selbst schuld daran.
Wir machen einander abhängig davon, immer von allen als Nichttäter_in und nur in absoluten Ausnahmefällen als Opfer gesehen zu werden, weil wir als Gesellschaft einfach noch nicht kapiert haben, was Gewalt ist, wie sie wirkt und was sie für uns bedeutet.
Wäre das anders, hätte niemand je ein Problem damit, jemanden als Opfer anzuerkennen, wenn sie_r verletzt wurde – oder als Mit.Täter_in, wenn sie_r verletzt hat bzw. beigetragen hat zu verletzen.
Wir hätten Wund_Versorgungskompetenzen. Ganz allgemein. Wir gingen in den Kindergarten und lernten nicht nur das Wort „Entschuldigung“ wie eine „Du kommst aus dem Gefängnis frei“-Karte in unser Verhalten zu integrieren, sondern auch (Wieder)Gutmachung. Wir lernten, dass wir einen direkten Einfluss auf das Befinden eines anderen Menschen nehmen können – im Guten wie im Schlechten – und dass es in unserer Verantwortung liegt, sich darum zu kümmern. Sich zu interessieren. Auch dann, wenn keine Autorität (eine erwachsene Person, ein_e Richter_in) uns dazu auffordert.

Es ist unser Gewaltproblem, das die Anerkennung von Traumata erschwert. Es ist unser Gewaltproblem, das die Therapie der Traumafolgestörungen zu einer special Spezialisierung macht. Es ist unser Gewaltproblem, das verhindert, dass wir alle in Frieden und Zufriedenheit, Glück und Bedingungslosigkeit miteinander leben können.

Niemandem ist damit geholfen so zu tun als wäre es nicht da.
Niemandes Hilfe ist wahrhaft, wenn sie nicht aus diesem Bewusstsein heraus geleistet wird.

 

tl,dr: Ist dir der Begriff „Trauma“ zu groß, ist dein Verständnis von Gewalt zu klein.

Autismus, Trauma, Kommunikation #9

Gestern war #AutisticPrideDay und vorgestern hatten wir eine Therapiesitzung.
In mir hallte nach, dass die Therapeutin sagte, sie hätte sich ganz fest vorgenommen immer mitzudenken, dass wir eine autistische Jugendliche waren. Damit im Hinterkopf schrieb ich gestern in einem (hier von Schreibfehlern bereinigten) Thread (Link zum Thread) bei Twitter:

„Kurz nach der Autismus-Diagnose haben wir verstanden, dass unsere Wahrnehmung von sensorischen Eindrücken immer wieder zu Traumatisierungen geführt hat, die niemand sah, verstand, nachvollziehen konnte und die bis heute kaum besprechbar sind – außer mit anderen Autist_innen.
Wie es ist, immer Angst haben zu müssen, dass man von einem Geräusch zerfetzt, von einem Geruch praktisch bewusstlos geschlagen, von Farben blind geblendet wird, weil man nie weiß, wann wie wo es passiert und wie schlimm auf dieser Skala von „Hm ok“ bis „sich dem Tod nah fühlen“ es wird, das verstehen ansonsten nur noch Leute, die chronisch krank oder chronisch misshandelt wurden wirklich richtig, als die Belastung, die Verwundung, die es darstellt.
Gestern – 6 Jahre nach der Autismus-Diagnose und 19 Jahre nach der DIS-Diagnose – habe ich begriffen, dass ich ein autistisches Kind war, das Gewalt erlebt hat, UND eine Umwelt, die – egal wie lieb und traumasensibel! – nicht nicht traumatisierend hat sein können.“

Ich erinnerte mich an die Krise im Herbst/Winter 2015, die von dieser Erkenntnis ausgelöst worden war. Von der Ent_Täuschung, dessen was unserem Ausstieg und auch einem Großteil der Therapie- und Lebensmotivation zugrunde lag: Die Idee, es gäbe einen Ort des Grauens außerhalb von uns, den wir nur verlassen müssten, um ein lebenswertes, unbelastetes Leben führen zu können.

Die Idee, wir müssten im Grunde nur unser Verhalten ändern – unsere Kommunikation verbessern, unsere Therapie besser machen – um unsere Traumatisierungen abzuarbeiten, die uns dann weder weiter belasten noch uns je wieder passieren.
Die Idee, unsere Belastung wäre etwas, das uns mal passiert ist, aber heute nicht mehr.

Obendrauf kam damals noch ein Gefühl des ungesehen und betrogen worden seins. Von Therapeut_innen, die uns oft und auch erfolgreich (und in ihrem Kontext auch richtig) vermittelt haben, dass wir keine Schuld haben. Dass aus uns heraus nichts kommt, was die Belastung, die Traumatisierung „gemacht hat“, sondern aus dem Verhalten der Täter_innen und manchmal auch einfach ungünstige Zufälle.

Ich dachte damals über Suizid nach, weil ich die Traumawahrheiten bestätigt gefühlt habe, die mir gegenüber oft als blanker Unsinn abgetan wurden, selbst wenn man sich uns achtsam, traumasensibel und fürsorglich gewidmet hat: „Es hört nie auf.“ und „Die Menschen, die Welt und mein eigenes am Leben sein, sind mir feindlich gesonnen.“

Ich habe mich damals nicht bereit gefühlt für einen Kampf um mich, der beinhaltet, nicht nur gegen altes und dissoziiertes vorzugehen, sondern irgendwie auch gegen mich selbst, obwohl mir zu dem Zeitpunkt schon völlig klar war, dass das überhaupt nicht geht. Sensorische Probleme sind keine Innens mit gegensätzlicher Meinung oder eine unwillkürliche Fight-Flight-Freeze-Reaktion – sie sind das Ergebnis von neurodiverser Verkabelung. An sich sind sie nicht einmal Probleme, sondern schlicht, das was in diesem Körper, mit diesem Gehirn, in dieser Lebensumgebung nun einmal so ist. Die Probleme entstehen, wenn die Umwelt nicht dazu passt. Und die meisten Dinge, die für mich zu Problemen führen sind einfach nicht zu ändern. Die muss ich über mich ergehen lassen, auch dann, wenn ich mich dabei psychisch komplett auflöse, weil mich der Schmerz zerreißt oder die Überreizung zerfetzt.

Heute merke ich, dass es uns guttut zu hören, dass unser Umfeld das mitdenkt. Auch wenn es sie vielleicht manchmal nervt, sie nicht alles gleich auch empfinden und vielleicht manchmal auch heimlich denken, dass wir uns manchmal nur anstellen oder übertreiben. Eine Komponente, die ein Trauma zu einem Trauma macht – und ein Trauma zu einem Komplextrauma werden lassen kann – fällt damit weg: Dass man allein damit ist und bleibt. Dass man keinen Landeplatz für Trost hat. Für bedingungslose Unterstützung im Umgang damit.

Diese Funktion hat damals der Begleitermensch übernommen. Dann nach und nach unsere Gemögten und der Partner.

Jetzt auch unsere Therapeutin.
Das macht nichts gut oder weg. Aber okay genug, um weiter für und um die Verbindung mit ihnen, der Welt und dem eigenen am Leben sein zu kämpfen und es sich so angenehm wie möglich zu gestalten.

Und was, wenn..?

Ganz oder gar nicht, das ist etwas, was uns häufig als problematische Haltung eingeordnet wird. Oft, weil man denkt, wir würden traumalogisch urteilen, manchmal weil man selbst mehr als zwei Optionen zu sehen glaubt und uns diese Alternativen vorschlagen möchte.

Ja, wir sind ein rigider Mensch. Sehr scharf, sehr klar, sehr starr in unseren Entscheidungen. Einmal etwas angenommen, wird es schwierig etwas davon wieder aufzulösen. Das gilt im Positiven wie im Negativen. Wir sind konsequenter als viele andere Menschen und hartnäckiger. Damit sind wir aber auch nerviger und verursachen mehr Umstände als viele andere Menschen.
Wenn wir wissen, was wir wollen, dann tun wir alles, was nötig ist, um es zu erreichen. Auch, wenn wir eigentlich nicht mehr können. Auch, wenn es vielleicht für alle anderen Menschen als zum Scheitern verurteilt erscheint. Wir ziehen durch, weil wir uns durchzuziehen vorgenommen haben.

Wir haben uns vorgenommen zu leben, also sind wir ausgestiegen, haben angefangen zu essen, zu trinken, uns zu versorgen. Obwohl es weh getan hat, obwohl es schlimm war und manchmal noch heute ist. Wir ziehen das durch mit allen Konsequenzen. Das war eine Entscheidung und damit in unserem Empfinden keine Wahl mehr. Wir hätten wählen können, ob wir uns entscheiden oder nicht, aber einmal entschieden ist ent_schieden, also vereint auf die eine Linie.

Fehlannahmen sind für uns schwierig, aber lösbar. Wir treffen unsere Entscheidungen in der Regel basierend auf Fakten und Erfahrungswerten. Stimmen die Fakten nicht oder sind unvollständig, fällt es leicht, die darauf beruhenden Entscheidungen zu widerrufen und zu neuen Einsichten zu gelangen.
Was aber bei Dingen, die eine Folge unserer Entscheidungen sind und selbst eine Entscheidung abverlangen?

Wir können bei unserer Entscheidung für das Leben bleiben, sind aber dennoch mit den Entscheidungen über unsere Lebensqualität konfrontiert. Ist unsere Lebensqualität nicht gut, müssen wir unsere Entscheidung für das Leben neu überdenken, was wir nicht mehr wollen. Wir wollen nicht mehr infrage stellen, ob wir leben wollen, können, dürfen, sollten. Und doch müssen wir auch diesen Strang immer mitdenken. Denn entweder wir denken vollständig über Dinge nach oder nicht. Wie tragisch wäre ein halb durchdachter Suizid, wie grauenhaft ein halb erfülltes Leben?

Unsere Neurologin regte mich, in Bezug auf unser Therapie~ding~, dazu an, auch daran zu denken, dass die von uns gewollte Traumaverarbeitung als Therapieziel vielleicht nicht erreichbar ist. Ein Gedanke, den wir von Beginn der Therapie an vermeiden, um so wenig Raum wie möglich dafür entstehen zu lassen, dass das, was wir da tun sinnlos, falsch, zum Nachteil von anderen belasteten Menschen und der Therapeutin sein könnte. Wir wissen, dass, sobald wir dem Raum geben, der Fall in Altes sofort folgt. Traumawahrheiten wie „Du kannst nichts dagegen tun“, „Es wird nie aufhören“, „Was hast du gedacht – hast du gedacht, du könntest irgendwas bestimmen/kontrollieren.“ und Ähnliches senken unsere Therapiearbeitsmoral, lassen uns Kraft verlieren und am Ende auch Lebensqualität. Es wird schwierig nach innen zu motivieren und unmöglich innere Bünde aufrechtzuerhalten, die komplett auf Hoffnung und Vertrauen in die Möglichkeit der Zielwerdung beruhen.

Seit wir mit der DIS diagnostiziert sind, haben wir als Therapieziel, das Erfahrene zu verarbeiten. Seit 18 Jahren trägt uns diese Entscheidung und seitdem nehmen wir es als Auftrag an uns als Patient_in an. Wir müssen wollen, wir müssen therapiearbeitsfähig sein, wir müssen unsere Vermeidungsstrategien erkennen und auflösen, denn das ist unser Ziel. Traumaverarbeitung, um klarzukommen, um ein insgesamt befriedigendes, erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Weil in den letzten Jahren vor allem die Vorarbeiten für dieses Ziel im Vordergrund standen, war nie Thema, ob es überhaupt wirklich erreichbar ist. Was wenn nicht? Was machen wir dann? Sind wir bereit unser Leben lang, mit unverarbeitetem Trauma zu leben? Mit Flashbacks, mit Alpträumen, mit dissoziativen Brüchen, mit biografischer Amnesie, mit all dem psychosomatischen Kladderadatsch? Als wir uns für das Leben entschieden haben, haben wir uns nicht für so ein Leben entschieden, sondern für eines, das wir uns gut gestaltet haben würden. Eins ohne Trauma als alles bestimmende Größe.

Ich bin nicht bereit für so ein Leben. Für irgendeine funktionale Vermeidungsstrategie. Für dunkle Geheimnisse oder unberührbare Themenzonen haben wir nicht Kraft, nicht dauerhaft, nicht den Rest unseres Lebens.
Ja, „der Rest unseres Lebens“ ist wieder eine sehr absolute Aussage. Ja, wer weiß, was in 10 Jahren ist blablabla – aber die 10 Jahre müssen erstmal gelebt werden. Irgendwie muss man ja aushalten, zu leben ohne Aussicht auf eine Veränderung oder natürliche Auflösung der Schwierigkeiten. Ich bin nicht bereit, mich durch 10 scheiß Jahre zu quälen, nur weil danach eventuell vielleicht irgendetwas passiert, das alles anders macht als jetzt.
Wir sind Mitte 30, wir haben noch so viel mehr Zeit für ein geiles Leben mit ordentlich aufgeräumter Traumascheiße auf dem Dachboden, wie um alles in der Welt könnte ich mich damit ok kriegen, das nicht zu erreichen? Und wozu? Und für wen?

Ich würde damit sagen: „Ja, gut, gibt halt keine oder nicht die richtigen Therapieformen oder -mittel, dass ich das hinkriege“ und die Hände in den Schoß legen, weil ich halt kein_e Therapieform- und mittel-Ausdenker_in bin, sondern irgendwelche Leute, die bei ihren Formungen nicht an autistische traumatisierte Menschen denken.
Und wie zum Henker soll mich das kaltlassen. Warum um alles in der Welt soll ich das ok finden und mich halt damit abfinden, dass es ist wie es ist, kann man nix machen, muss man halt leiden.
DAS IST DOCH DER GLEICHE SCHEIß WIE FRÜHER UND OB ICH DAFÜR 18 JAHRE PSYCHOTHERAPIE GEMACHT HAB WILL ICH WISSEN

Atmung

Nein, es ist keine Option. Kann es nicht sein.
Wir haben uns für etwas anderes entschieden und vielleicht schützt uns, unsere Rigidität an dieser Stelle vor etwas, das uns das Leben kurz erleichtert, weil es uns einen Kampf abnimmt, aber auf lange Sicht nicht dazu beiträgt überhaupt für sich einzutreten, sich um sich zu kümmern und also an der eigenen Lebensqualität mitzuwirken.

stabilisierte Instabilität

Zwei Tage später wird mir klar, dass es ok ist. Dass sie Abstand nimmt und nicht dranbleibt. Die Therapeutin mit Kapazitäten ohne Kassenzulassung, die nach dem ersten Ruckeln im Kostenerstattungsverfahren mit der Krankenkasse glaubt, da würde gar nichts gehen.
Ich hätte mich in den Kampf geworfen, weil ich von der Betreuerin, die wir jetzt haben, so gut vertreten werde und ansonsten erodiere. Ich fühle die Jugendlichen, ich fühle die Kinder, ich fühle meine Gedanken und wie ich unter dem Druck der letzten Wochen an Konsistenz verliere. Es ist der perfekte Zeitpunkt für irgendeinen beknackten Bürokratiescheiß, von dem ich mich verletzen lassen kann, um nicht selber zur Klinge greifen zu müssen.
Aber nein, sie steigt aus. Einige Tage nach dem Termin mit der letzten Therapeutin und dem Begleitermenschen, in einem inneren Zustand, den ich weder überschauen, noch sortieren, noch beworten kann.

Sie ist die zweite Person, der ich davon erzähle, dass die Therapeutin uns ein Angebot gemacht hat, unser Kommunikationsproblem anzugehen und die dritte, die uns sagt, dass das doch prima ist und wir das annehmen sollten.
Plötzlich bin ich die Person vor einem Tisch voller Optionen, die nur zugreifen müsste, aber zu keiner Regung fähig ist.

Denn da ist sie wieder. Die Hilfe-Falle.
Mein Zustand jetzt ist mit „stabilisierte Instabilität“ am besten zu beschreiben, ich habe keine eigene, erwachsene, Haltung zur Lage, möchte, dass alles ~einfach irgendwie gut wird~ und keine 2 Millimeter hinter mir passiert alles von Traumawiedererleben bis kalte Ordnung, um möglichst glatt abzuschließen.
Das ist nicht der Zustand, in dem ich mich für irgendeine Hilfe oder Unterstützung oder irgendwas, das mich persönlich betrifft entscheiden kann und sollte. Und gleichzeitig ist es der Zustand, in dem ich Hilfe oder Unterstützung dringend brauche.

Eine Woche später wird klar, dass sie Krankenkasse vielleicht nicht mal die Kosten für die probatorischen Sitzungen bei der privat behandelnden Therapeutin übernimmt und R., die mir nun seit Monaten mit ihrem „Menschen sowieso aber Therapeuten ganz besonders-Misstrauen“ im Ohr, im Hirn, im Sein hängt, wird zu einem glühenden Stahlgerüst entlang meiner Knochen. Unfassbar schmerzhaft, ständig präsent und starr.
Das kenne ich von K., aber meine Lösungsversuche scheitern. Es ist, als wäre da etwas eingerastet, das ich nun wirklich nicht mehr allein frei kriege und meine Motivation nach einer neuen Therapeutin zu suchen, hat ihren Tiefpunkt erreicht.

Ich glaube nicht, dass wir in dieser Zeit jetzt jemanden finden. Ich sehe auch nicht, woher ich noch einmal Kraft nehmen könnte, noch einmal alles zu erklären, noch mal alles zu erzählen, noch mal eine Schicht mehr über R. und damit eins der wichtigsten inneren Systeme zu legen, die kennen zu lernen doch so ein großer Fortschritt war.

Also entscheide ich gar nichts. Dass ich bleibe, ist wichtig und das merke ich auch. Früher wäre schon längst niemand mehr da gewesen. R. hätte geregelt, bis sie nicht mehr kann, dann K., bis das, was durch ihre traumalogische Regelei nötig wird, ein Ich ist, das auch ohne sie funktioniert. Jetzt regle ich, indem ich gar nichts regle und mich auf den Lauf der Dinge verlasse. Not sure if win.

Kein Schicksal, keine Herzensgüte

„Haben Sie sich gestritten?“, fragt meine Neurologin auf der Suche nach einem Grund für das Ende der Therapie. „Nein, gar nicht“, antworte ich, „Das ist ja das schlimme. Das wär ja einfach.“
Weiter hinten tobt es. Ist wütend, obwohl es überhaupt keinen Sinn hat.

Zwei Tage vorher hatten wir mit der Therapeutin telefoniert. Das war so verabredet, weil ich mit der Wut nicht zurechtkam. Fürchtete, an einem nicht vorhersehbaren Punkt, die Ohnmacht hinter der Wut als unaushaltbar zu empfinden. Weiß, dass ich mich kümmern muss. Verantwortung übernehmen muss. Was in meinem Fall bedeutet, genau nicht zu tun, was das bindungszerstörte Innere will: Dissoziation, Trennung, Vernichtung bis (es) nicht.s mehr ist.
Sie hatte eine lange E-Mail von uns bekommen und war nicht darauf vorbereitet, dass ich mich damit befasst haben würde. Dass ich nicht zulassen würde, dass wir darüber reden. Dass ich ihr keinen Raum für eine Verdrehung unserer Beziehung geben würde – und uns keinen für eine Reinszenierung.

Ich sagte ihr, dass ich glaube, dass sie uns das, was die Inneren sich, uns, von der Auseinandersetzung wünschen, nicht geben kann, selbst wenn sie wollte, weil sie noch zu nah dran ist und ich, Hannah, die funktionale Helfertraumaschale, gar nicht nah genug dran bin. Und dass wir nichts von einer Auf.arbeit.ung mit ihr haben, wenn sie nicht mehr mit uns arbeiten will.
Therapie ist Beziehung, Beziehung ist Arbeit, Arbeit war die Grundlage unseres Kontaktes. Sie hat uns genauso wenig wie viel einen Gefallen damit getan, mit uns zu arbeiten, wie es mir, uns, Kraft gekostet hat, mit ihr zu arbeiten. Es ist ihr Job und meine Existenz. Kein Schicksal, keine Herzensgüte – mein Versuch unser AmLebensein aushaltbar zu machen und all die Unterstützung und Begleitung, die sie bieten konnte. Nicht mehr, nicht weniger und davon vieles, was ich als Erfahrungswissen nie verlieren möchte, gerade weil es kein Geschenk von ihr, sondern das Ergebnis meiner, unserer, Arbeit, unseres Mutes, unserer Anstrengungen ist.

Um einen Rahmen zu spannen, schlug ich vor, in einem halben Jahr einen Termin für einen Abschied zu vereinbaren. Wir sollen sie anrufen, um ihn zu vereinbaren und sind damit wieder die Person, von der alles ausgeht, die vorgeblich alles in der Hand hat, obwohl völlig klar ist, dass das nicht stimmt.

Ich glaube nicht, dass ich diejenige sein werde, die sie in 6 Monaten anruft.

über Vermeidung als individuellen Selbstschutz und die Erinnerung daran, dass jeder Mensch eine Insel für sich selbst ist

Die Ablösung tut weh und den Schmerz will ich vermeiden.
Vermeidung ist gut. Vermeidung ist nicht gleich Verdrängung, „wegmachen“, Dissoziation. Jedenfalls nicht für mich.
Ich weiß in der Regel, was ich vermeide. Bin sehr bewusst und aktiv bei der Sache, die ich vermeiden will, sonst würde ich nicht spüren, ob und wann ich sie erfolgreich vermieden habe.

Schmerz verändert mich. Dissoziiert mich. Greift in mich hinein und verschiebt meinen Bezug zu Dingen. Und das ist am Ende, was mich am meisten überfordert. Wenn ich einen Schmerz habe, bin ich nicht mehr ich selbst und die Welt um mich herum auch nicht.
Die Kompensation dessen ist zwangsläufig die Dissoziation, denn sie erzeugt Kongruenz. Er_gibt Sinn, könnte man sagen. Denn in mir entsteht im Moment des Schmerzes eine Trennung zwischen mir und allem Äußeren. Eine Lücke, die gefährlich ist in einer Welt, in der alle (noch) ganz dicht sein müssen. Alles passen muss, weil die Mechanik des Miteinanders nicht eine einzige Leerstelle zu kompensieren in der Lage ist.

Das Vermeidungsverhalten komplex traumatisierter Menschen wird in der Regel deshalb problematisiert, weil Erinnerungsauslöser vermieden werden, was den Prozess der Verarbeitung verhindert. Sich zu erinnern ist notwendig für die Verarbeitung. Zu vermeiden ist notwendig für die Aufrechterhaltung der allgemeinen Lebensfunktionen. Als komplex traumatisierter Mensch befindet man sich also immer in einem Spannungsfeld zwischen funktionalem Leben und Verarbeitungsprozessen, die mit dem Gefühl einhergehen, diese Funktionalität zu gefährden und damit das eigene Leben.
Das macht die professionelle Traumatherapie so anspruchsvoll. Man hat es immer wieder mit einer Situation zu tun, in der es um Leben und Tod zu gehen scheint und versucht mit der Therapie, mit der therapeutischen Beziehung, einen Raum zu schaffen, in dem die komplex traumatisierte Person sich traut, Lebensgefahr (wieder) zu erleben oder sich selbst als in dieser Gefahr wahrzunehmen und gleichzeitig die Sicherheit, die im Hier und Jetzt, dem Heute besteht.
Hier haben es von Menschen komplex traumatisierte Menschen besonders schwer. Denn andere Menschen und die Beziehung zu ihnen ist, ob bewusst oder unbewusst, ein Auslöser und also oft auch etwas, das vermieden wird.

Von Menschen traumatisierte Menschen sind aus meiner Sicht sehr funktionale Vermeidungskünstler_innen, denn sie verbinden oftmals Dissoziation (Trennung/Ver_Meidung) und Beziehung (Bezug/Kontakt/Erinnerungsauslöser) und schaffen es in vielen Fällen die Widersprüchlichkeit dessen in sich – nicht im Außen! – zu integrieren. Manche, weil sie hoch dissoziativ funktionieren und sich der Widersprüchlichkeit nicht bewusst sind und manche, weil sie es schaffen, diesen Umstand als (natürlich) gegeben hinzunehmen (oder vermittelt bekommen, dass es sich dabei um Hinzunehmendes, weil Unveränderliches, handelt).
Menschen sind soziale Wesen und es ist nur logisch, das Bedürfnis nach menschlichem Kontakt als genetischen Imperativ zu akzeptieren oder aber auch als etwas anzunehmen, das im gleichen Maße zum Überleben beiträgt, wie es die Vermeidung (der Möglichkeit) von zwischenmenschlicher Gewalt tut, weil es das eigene kulturelle Erbe, die Geschichte der Menschheit, so lehrt.

Das Problem: Diese Wahrnehmung führt zu einer spezifischen Perspektive und formt so eigene Werte und Normen. Zum Teil Werte und Normen, die nicht vereinbar sind mit dem Außen, der außer-ichlichen Umgebung. Sprich: anderen Menschen.
Ein übliches Dilemma, denn jeder Mensch ist für sich selbst eine Insel, abgetrennt von anderen Menschen – völlig unabhängig von Vermeidung und der Wahl von Bezugspunkten.

Eine für mich relevante Erinnerung.
Mein Vermeidungsverhalten hat etwas mit der Angst vor Kontrollverlust und der Vermeidung von Gewalterfahrungen durch Menschen zu tun. Das Vermeidungsverhalten meiner ehemaligen Therapeutin vielleicht nur mit ihr selbst und ihren (Un-)Fähigkeiten bzw. der Kompensation dessen.
In jedem Fall eignet sie sich nicht mehr dazu, zu verarbeiten, was das (Vermeidungs-)Verhalten anderer Therapeut_innen mit mir gemacht hat. Obwohl es gerade jetzt – für mich unübersehbar, ganz offensichtlich und sogar von ihr selbst getan – sichtbar ist und sich als Illustration, als Beispiel anbietet. Sie es doch eigentlich nicht übersehen kann – würde sie es nicht vermeiden (müssen).

Eine neue Einsicht. Eine neue Ohnmacht.
Ein alter Schmerz. Eine Wiederholung früherer Traumatisierung.