Fundstücke #88

Am Abend kam noch eine E-Mail. Arbeit. Am Wochenende. Klar.
Ich arbeite 30 Stunden im Verlag, unzählige weitere selbstständig. Irgendwie ist immer irgendwas. Pause, Ruhe, den Kopf voller Raum, damit meine Gedanken sich auch mal ausstrecken und Radschlag machen können, die hab ich seit Februar eigentlich nicht mehr gehabt. Nicht so, dass ich keine Angst davor hatte, dass meine Gedanken in Traumazeugs stapfen oder Erinnerungslawinen freitreten, die ich nicht vor meinem Schreibtisch aufhalten kann.

Erreichbar zu sein ist mir wichtig, ich empfinde das als Teil meiner Aufgabe, weil ich es oft mit Menschen zu tun habe, die noch nicht wissen, wie Buchsatz funktioniert und was er bedeutet. Oder, was ich umsetzen kann und was nicht. Welche Effekte auf Fotos welche Grundlage haben. Dass man nicht alle großen schweren Texte mal eben so in Leichte Sprache schreiben kann.
Ich finde es wichtig, da zu sein. Sicherheit durch Wissen und Verstehen zu vermitteln. Ich nehme die Projektbabys anderer Leute sehr ernst und zu dieser Ernsthaftigkeit gehört ein sachorientierter Umgang für mich. In der Regel kann ich mir den emotionalen Anteil, die persönliche Bedeutung von Projekten für die Menschen herleiten. Und auch, wenn ich darin oft nicht sehr konkret werden kann, so weiß ich doch immer: Es soll gelingen. Es soll nicht weh tun, es soll weder finanziell noch persönlich Grenzen sprengen. Es soll einfach klappen, mit allem, was verfügbar ist.
Das ist meine Insel. Meine Basis. Vor allem, wenn ich es mit Menschen zu tun habe, die ich nicht gut lesen kann und die meine Sachorientierung mit Desinteresse oder wenig geteilter Hingabe für sich übersetzen. Das passiert selten, aber oft immer dauernd als ewig dräuende Wolke manchmal eben schon. Manchmal bin ich halt die einzige Person, die noch Kapazitäten hat oder die, die gerade noch so bezahlbar ist.

In einer E-Mail einige Tage davor ging es darum, mich in einem Projekt zu ersetzen, in das ich einige Monate Vorarbeit gesteckt habe. Nach 65 unbezahlten Überstunden und viel unbeantwortetem Kommunikationsproblem, ein Hammer. Eine Kränkung auch, aber doch noch haltbar. Es ist nicht mein Projekt, nicht meine Entscheidung. Ich bin dafür nicht wichtig – die Arbeit dafür ist wichtig und wenn sie jemand anderes macht, dann ist das gut fürs Projekt und also für die Leute. Und das ist doch schön.

Nur … die Ungerechtigkeit. Die nicht entlohnte Arbeit, die ungesehene (Über-)Anstrengung, die Energie, die es mich kostet, mich aus mir selbst heraus in dem Kontakt und der Arbeit zu orientieren und effizient zu werken.
Und dann diese Mail am Abend. Die noch nicht einmal an mich gerichtet war, sondern andere in dem Projekt. In der auf eine Weise über mich geschrieben wurde, die meine professionelle Haltung untergrub. Sinngemäß stand dort, dass ich zu emotional für weitere, evtl. sachlich notwendige Interaktion sei, nachdem ich einen dann unnötig gewordenen Termin, der ebenfalls unbezahlt und in meiner Freizeit hätte stattfinden sollen, verweigert habe.
Der Klassiker. Empathie für die einen – anmaßende Übergriffigkeit für die anderen. Mich zum Beispiel. Entmachtend ist das. Erniedrigend. Und wozu? Ich verstehe es nicht. Merke aber deutlich: Es tut mir weh und ist unnötig, weil sinnlos in Bezug auf das, was wir als Menschen miteinander zu tun haben.

Es läuft nur selten so schlecht in meiner Arbeit. Aber wenn, dann fast immer ziemlich genau so schlecht.
Geldminus, Kraftminus, ein Minus in dem, was es braucht, um allen Traumawahrheiten, die im Hintergrund ihre vollen Bingokarten hochheben, die Realität entgegensetzen zu können.
Noch nie wurde ich einfach nur so ersetzt oder geghostet. Wegen „gefällt nicht“ oder „Finanzierung fehlt“ oder „grundsätzliche Projektänderung“. Wenn dann, weil es sozial nicht angenehm genug war. Nicht genug verflauscht, dass bestimmte Dinge einfach nicht gehen; nicht schon im Vertrag festgelegt, dass jede Arbeitsstunde bezahlt wird, nicht genug Smalltalk, nicht genug persönlich angenehme Interaktion insgesamt.
Ich bin ein_e okaye_r Arbeiter_in, aber es macht oft einfach nur bedingt Spaß, mit mir zu arbeiten. Und das macht viel aus. Unter anderem hebt es die Schwelle, mich in Teams einzubinden. Mir Brücken in Smalltalk zu bauen. Gleichzeitig senkt es die Schwelle, mich zur Ausführungsmaschine zu degradieren. Also zu vergessen, dass ich Grenzen und Gefühle habe oder meine Grenzen und Gefühle als Störung zu behandeln, nicht respektvoll ist.

Dass ich meine Auftraggeber_innen seit der Pandemie praktisch nie sehe und viel Kommunikation per E-Mail stattfindet, trägt leider auch nicht dazu bei, mich als Mensch wie andere auch darzustellen.
Mir kommt die schriftliche Kommunikation entgegen, weil der Informationsaustausch für mich leichter erkennbar ist, als im Gespräch. Anderen Menschen ist das oft fad und anstrengend. Sie wollen und brauchen das Reizfeuerwerk des direkten Kontaktes. Spaß first, Information second.
Es ist einfach vertrackt.

Aber! Mit dem übertriebenen Elan der Überkompensation und nur genug Willen zur Zugehörigkeit, kriege ich das in der Regel dann doch mehr oder weniger hin. Meistens jedenfalls.
Meine Auftraggeber_innen wissen, dass ich Autismus und Shit kompensiere. Jedoch ist den wenigsten klar, was das genau bedeutet. Dass es genau das bedeutet – ich ballere ununterbrochen alle meine Energien aus allen Rohren nur für sie und gebe dafür einfach viel mehr als nur meine Lebenszeit her – hat für die meisten Leute gar nichts mit meinem Autismus zu tun, sondern mit meinem Charakter. Ich bin halt nett und kann nicht Nein sagen. Geringer Selbstwert. Großes Herz. Ba dumm tss.

Dabei bin ich einfach konsequent. Wenn mich jemand mit etwas beauftragt, dann führe ich den Auftrag aus. Nach bestem Wissen und Gewissen, aller Kraft, allem, was ich geben kann. Alles andere würde für mich keinen Sinn ergeben. Man bekommt keinen Arbeitsauftrag, in dem es heißt: „Machen Sie mal so lala.“ Das Ende jedes Auftrages hängt an der Zufriedenheit der Auftraggebenden und zu erraten herauszufinden, was sie zufrieden macht, ist Kern jeder Arbeit im Dienstleistungssektor. Das ist in der Gestaltung und Textarbeit nicht einen Deut anders als in der Gastro oder in der Produktion anderer Güter.
Und ich bin eine Person, die nicht gut im Dechiffrieren sozialer Hinweise ist. Man muss mir sagen, was zufrieden macht. Man muss mir sagen, was man konkret von mir erwartet. Verstehen, dass meine Vorschläge tatsächlich immer nur Vorschläge sind. Glauben, dass ich wirklich und echt nie mehr sagen will, als ich sage bzw. schreibe.

Vermutlich unterschätze ich, wie viel Anstrengung es für andere Menschen bedeutet, sich in diesen Punkten an mich anzupassen. Oder sich dem wenigstens theoretisch anzunähern.
Und vermutlich ist meine Prämisse auch einfach falsch. Warum sollten sich andere Menschen, um einen entspannten, befriedigenden Kontakt mit mir bemühen? Das mache ich ja schon.

24

Irgendwann in meinem Leben will ich es schaffen, dass Leute sehen, wenn wir mit einer Akku-Ladung zwischen 5 und 10 Prozent versuchen, dieses Ding namens „Alltagsleben“ geschissen zu kriegen.

10% fühlen sich für mich gerade an wie 100%. Weil ich die meiste Zeit mit 2% rummache.
Vielleicht wirke ich deshalb nicht so schlapp. Ich habe keine Ahnung.
Und eh – wie verwirrend ist das alles. Von allen Seiten wird mir angetragen, doch zu machen und zu tun und werden und zu sein, doch was ich tue ist entweder das Falsche machen, nicht zur richtigen Zeit machen oder irgendwie nicht nachvollziehbar oder „Das musst du selber entscheiden, ich kann dir nur sagen, was ich denke“. Uff. Ja was denn nun. Darf ich, was ich will oder soll ich „das Richtige“ machen?

Ich weiß es wirklich nicht. Denke so oft: Du hast keine Ahnung.
Und verkrieche mich hinter der Härte von K., die macht, was wir wollen, wie wir können, so lange bis von 10 noch 0.2% übrig sind. Weil ich nicht weiß und merke, niemand sonst weiß, aber meint oder glaubt oder wünscht oder will oder findet.

Plötzlich sind da wieder Dinge zu sagen wichtig wie: „Du bist nicht, was du tust.“, „Wenn dir jemand irgendetwas sagt, das dich nominalisiert, dann ist es sehr wahrscheinlich emotional übergriffiger Mist“, „Es ist okay, nicht zu entsprechen.“, „Streiche alles, was dir von anderen angetragen wird, auf die wenigen Dinge zusammen, mit denen du konkret etwas anfangen, verändern, beenden kannst.“

Jetzt Abstand machen können, ohne persönlich zu kränken, ohne irgendwelche Dinge zu verkomplizieren. Einfach ein Fenster ins Jetzt ritzen, durchklettern und nahtlos hinter sich verschließen. Ganz leise. Damit es nicht auffällt, kommentiert wird, bewertet oder zu einer Eigenschaft erklärt wird. Das wär gut. Kurz mal weg sein für eine Weile. Nur kurz. Eine Woche vielleicht. Ohne, dass das was bedeutet oder bewirkt oder erklärt oder gerechtfertigt oder irgendwie mit irgendwas aufgeladen werden muss.

Einfach nur so. Eine Woche nicht sprechen. Nicht außen sein müssen. Nur dem Ladebalken nachspüren. Merkwürdig, was das plötzlich für ein Privileg ist.

11

„Was passiert, wenn der neue Lehrer nicht das gleiche Autismus-Briefing kriegt, wie die anderen Lehrer?
Richtig – er unterstellt Täuschung und Lüge für eine bessere Note, wenn man auf Kommunikationsprobleme und Missverständnisse hindeutet, die zu schlechten Noten führen.

Das macht so viele Gefühle gleichzeitig in mir, dass ich obendrauf noch frustriert über mich bin, die_r diese ganzen Gefühle hat und nicht abstellen kann.
Und dann klopfts an der Tür und der ganze Selbsthass steht wieder da.

Und die Müdigkeit. Die auch. Schon in so einer Art vorauseilendem Gehorsam, weil klar ist, wer das klären muss, klar ist, wer wieder länger bleiben, mehr reden, mehr erklären muss.
Und das wofür?