#1 „Ich bin da“

Die Präsenz anderer Menschen ist für mich schwierig.
Einerseits war oft niemand da, wenn ich es gebraucht und zutiefst gewünscht habe – andererseits kann mich die Anwesenheit anderer Menschen sensorisch überwältigen.
Ein Dilemma.

Denn natürlich habe ich auch mit den klassischen Bindungsthemen zu tun. Ich möchte Kontakt mit anderen Menschen. Ich möchte Nähe, Liebe, Geborgenheit, Gehaltensein, Miteinander und was wir Menschen nicht noch alles füreinander herstellen können.
Aber. Meine Er_Lebensrealität war lange: Ich kann mich nicht drauf verlassen. Es tut weh. Es schadet mir. Ich habe wenig bis gar keine Kontrolle über die Natur, die Ausgestaltung, den Einfluss des Kontaktes auf mich. Ich muss bei jedem Kontakt mit allen Kanälen offen sein, um mich zu schützen. Ich muss mich immer an andere Menschen anpassen (Ich darf nicht ich sein). Jeder Kontakt ist irgendwie unangenehm, anstrengend und auf die eigene Art schwierig.

Im Kontakt mit professionell helfenden, begleitenden, unterstützenden, behandelnden Menschen habe ich manchmal den Eindruck, dass sie sich selbst von allem Unangenehmen frei sehen wollen. Manche sind gekränkt oder unangenehm berührt, wenn ihnen klar wird, dass ich sie auf eine Art nicht viel anders empfinde als Menschen, die an mir zu Täter_innen wurden. Oder generell nicht nur allgemeine Gefühle von „Okay, wir sind jetzt hier miteinander“ mit ihnen verbinde.
Sie fühlen sich dann in ihren Taten gleichgesetzt und als Mensch abgewertet, weil sie Täter_innen abwerten und die eigenen Taten nicht als gewaltvoll denken können, wollen, sollen.

Erst mal ist jeder Mensch eine diffuse Reizmasse für mich. Eine Lärmquelle, die nur mit viel Konzentration, Willen zum Verstehen und Kraftaufwand zu einer menschlichen Stimme, Körpergeräuschen und Ort von Körper-Umwelt-Interaktion wird. Eine Masse, die ich mir in Abgrenzung zur Umgebung definieren muss. Ein Etwas, das ich mir erst dann als Jemanden verständlich machen kann, wenn ich Zeit und Raum hatte, alle ihm_r eigenen Muster zu erfassen, zu erkennen und verlässlich wiederzuerkennen.
Und selbst dann bin ich noch lange nicht an dem Punkt, an dem ich das Handeln einer Person und ihrer Wirkung auf mich einordnen, begreifen oder beurteilen kann.

Auf eine Art ist meine Wahrnehmung anderer Menschen also immer sehr gegenwärtig und konkret – zeitgleich aber auch diffus. Denn wenn ich mich nicht konzentrieren kann, bekomme ich kein Bild von der Person und unser Kontakt bleibt gewissermaßen virtuell oder auch hypothetisch in meinem Kopf. Ich rate, intellektualisiere, stelle Thesen auf und verfolge sie. Aber die Person ist für mich dann nicht präsent. Ich weiß zwar, dass sie da ist – dass es sie gibt – aber sie ist nicht mit mir da. Nicht wie ich präsent.
Nicht in meinem Raum, meiner Zeit, meiner Ein.ordnung des Ist da.

Ich betrachte meine sensorischen Quirks als erste Hürde für den Kontakt. Die zweite Hürde ist traumabedingt. Auch ein Flashback kann mich in meiner Ein.ordnung von Menschen verwirren und verunsichern. Und natürlich sind meine Vermeidungsstrategien für sowohl Flashbacks als auch sensorische Überwältigung und soziale Schwierigkeiten hauptsächlich deshalb effektiv, weil sie beinhalten, keinen Kontakt mit Menschen zu haben.

Aber auch die professionelle Abstinenz (oder ihre berufsspezifischen Pendants), die so oft so wichtig im professionellen Hilfe-, Unterstützungs-, Begleitungs- und Behandlungskontext ist, kann eine solche Hürde darstellen.
Das Abstinenzgebot ist eine Schutzmaßnahme für Patient/Klient_innen. Danach darf das spezielle Vertrauensverhältnis nicht für eigene Ziele und Zwecke ausgenutzt werden. Private (wie sexuelle) Kontakte sind untersagt. Auch mit nahestehenden Personen der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.

Um so einem Gebot zu entsprechen, ist eine gewisse emotionale Entfernung wichtig und auch eine bewusst gestaltete Grenze bezüglich persönlicher Involviertheit. Zumindest im Ausdruck gegenüber der behandelten/begleiteten/unterstützten Person.
Man darf sich also im professionellen Kontext verbinden – aber irgendwie auch nicht. Nicht so jedenfalls. Wie Freund_innen. Familie. Arbeitskolleg_innen. Hobby-Kumpels. Eher so wie … Ja – wie eigentlich?
Kompliziert.

Ich hatte schon Therapeut_innen, die nie irgendeine emotionale Reaktion gezeigt haben. Das hat einerseits erleichtert – und gleichzeitig unangenehme Erinnerungen ausgelöst.
Ich hatte aber auch schon mit Betreuer_innen und Therapeut_innen zu tun, die sich mir praktisch grenzenlos geöffnet haben. Das hat mich überfordert und an vielen ungünstigen Strategien festhalten lassen, weil ich daraus Verantwortung abgeleitet habe, die nicht meine war.

Inzwischen bin ich in mir selbst so weit orientiert und versichert, dass ich weiß, welche Art der Verbindung im professionellen Hilfe-/Begleitungs-/Unterstützungs-/Behandlungskontext für mich am zuverlässigsten funktioniert, nämlich die sachbezogene. Eine klar definierte und eindeutige abgesteckte Kontaktregelung, ein klarer Arbeitsauftrag, ein eindeutiges Ziel sowie eine kontinuierliche und vorhersehbare Herangehensweise entlastet mich davon, meine Behandler-/Helfer-/Unterstützer-/Begleiter_innen als Jemanden zu erkennen (und in der Folge dazu passend zu interagieren). Sie werden zu den Operatoren, wie es ihr Beruf (auf dem Papier) vorschreibt: „Für mich (im Sinne von ‚für mein Therapie-/Ziel‘) da“ – aber nicht „mit mir da“.

In 99 % der Zeit, die ich mit professionell begleitenden, helfenden, unterstützenden oder behandelnden Personen zu tun habe, will ich nicht mehr, brauche ich nicht mehr und würde verwirrt oder überfordert, wenn mir mehr gegeben werden würde.
Das eine andere Prozent der Zeit bin ich so tief in traumatischen Gefühlen von Verlassenheit verstrickt, dass es mir hilft, wenn mir jemand sagt: „Ich bin da“.
Nicht: „Ich bin ((für) immer) für dich da.“
Und auch nicht: „Ich bin da.“

Sondern: „Ich bin da.“, oder „Ich bin hier.“
Auch wenn es mir nicht immer sofort gelingt – früher oder später werde ich mich fragen, wo „da“ oder „hier“ eigentlich ist und eine erste wichtige Stufe zur Re-Orientierung darin finden.
Denn dieses Verlassenheitsgefühl, diese „Ich werde jetzt sterben, weil niemand da ist“-Empfindung ist so global, dass sie Zeit und Raum für mich zu praktisch irrelevanten Faktoren machen. Datumsangaben, sensorischer Input, der ganze daily Skillkrempel ist in dem Moment nutzlos, weil ich sie nicht mit irgendetwas verbinden kann. Mir fehlt ein Anfang. Ein first contact mit dem Hier und Jetzt, sozusagen. Eine erste Berührung, eine erste Verbindung angebahnt von jemandem, die_r es für diesen Zeitraum professionell, im Sinne von abstinent, er.tragen und halten kann, mein erster Bezugspunkt zu sein. Nicht nur mit der Stimme und den Worten „Ich bin da“, sondern auch mit der eigenen körperlichen Präsenz (und ihrer Wirkung auf mich).

Ich habe lange gedacht, dass ich mich dafür schämen muss, dass es mir so gut nutzt, wenn mir dieser Satz gesagt wird. Ich wusste nicht, welches Bedürfnis von mir damit befriedigt wird, aber die Tatsache, dass es da war, hat bereits gereicht, um in mir praktisch alles zu aktivieren, was mich früher sicher gehalten hat.
– die Gewaltwahrheit, dass ich keine Bedürfnisse haben darf
– die Traumawahrheit, dass meine Bedürfnisse schlecht, falsch, krank sind, weil es meine sind
– die Gewaltwahrheit, dass Bedürfnisbefriedigung nur unter (undurchschaubar, unkontrollierbar, willkürlich aufgestellten oder auch realistisch gar nicht erfüllbaren) Bedingungen erfolgen darf
– die Traumawahrheit, dass befriedigte Bedürfnisse mich gegenüber anderen Menschen verpflichten

Heute weiß ich, dass meine Bedürfnisse zu meiner Lebendigkeit gehören. Es also tatsächlich und nicht nur abstrakt oder im übertragenden Sinne mein Leben gefährdend ist, sie zu unterdrücken, missachten oder schlicht nicht zu erfüllen. Und, dass es mein Bindungsbedürfnis ist, das mit dem Satz „Ich bin da“ befriedigt wird. Etwas, das im professionellen Setting in der Regel nicht von irgendjemand anderem erfüllt werden kann als von der Person, die dann gerade anwesend ist.
Und etwas, das Menschen haben, um ihren anderen Bedürfnissen einen höheren Zweck als sich selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte man denn essen, trinken, schlafen, sich warm und sauber halten, wenn da niemand ist, mit dem man am Leben sein kann? Familie leben, gestalten, machen kann? Dinge erforschen, Abenteuer erleben und was sonst noch so viel geiler ist, wenn man sie mit anderen teilen kann?

Kein Bedürfnis ergibt Sinn ohne die anderen – kein Bedürfnis entsteht ohne Lebendigkeit.

Ein Kernaspekt meiner komplexen Traumatisierung und vieler Gewalterfahrungen im Leben spielt sich genau an dem Punkt ab. Ich wurde in vielen verschiedenen Kontexten beschämt, bestraft, verletzt und ausgenutzt, weil ich lebe.
Die Erfahrung zu machen, dass ich lebe, etwas brauche und es bekomme – ohne, dass es jemand ausnutzt – war und ist eine essenziell wichtige Erfahrung in meiner Traumatherapie. Nicht nur früher, sondern auch heute noch. Ich brauche diese Erinnerung und diese Versicherung immer wieder mal und zum Glück habe ich heute eine Therapeutin, die ein gutes Gespür dafür hat, wann das der Fall ist.

Und eine Therapeutin, die seit nun bald 11 Jahren da ist.
Auch das ist von Relevanz für mich. Ich habe in ihr einen Bezugspunkt im Leben, der kontinuierlich da ist. Und eben nicht nur so lange, wie es die Krankenkasse bezahlt, die Klinikregeln zulassen, der Träger das Konzept hält, die Projektförderung besteht, die persönliche Erfüllung/der Spaß an der Arbeit mit mir besteht. Sondern so lange, wie unsere gemeinsame Arbeit hilfreich und nützlich für mich ist. Ich schätze meine Chancen darauf, selbst bestimmen zu können, wann ich die Therapie nicht mehr brauche, als hoch ein und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit durch Kontrolle. Ich kann wirklich gehen, wenn ich möchte. Ich kann wirklich bleiben, wenn ich möchte. Sie ist da.

#3: „Ich weiß, dass Sie tun, was Sie tun können.“

Ich musste 19 Jahre alt werden, bis mir meine damalige Kliniktherapeutin gesagt hat, dass ihr völlig klar ist, dass ich alles tue, was ich kann, um klarzukommen.
Dass „noch mehr anstrengen“, „noch mehr wollen“, „noch mehr Motivation“ überhaupt nicht dabei helfen würde „vorwärtszukommen“.

Ich glaube, dass man bereits vorher versucht hat, mir das zu vermitteln. Mich das fühlen zu lassen. Ich war zu dem Zeitpunkt bereits seit 4 Jahren im Hilfe- und Heilbehandlungskontext unterwegs und nirgendwo hatte ich es ausschließlich mit Menschen zu tun, die schlecht gearbeitet oder mich ignoriert haben. Man war mir oft sehr zugeneigt, weil man sich mit mir „vernünftig unterhalten“ konnte. Tiefgründige Gespräche führen, Politik und Nachrichten diskutieren, mich für Kleinigkeiten begeistern konnte. Meine Unreife wurde davon häufig verschleiert. Dass ich häufig nur sehr abstraktes Verständnis von abstrakten Themen und Zusammenhängen habe, ebenfalls.

So kann ich mich zum Beispiel sehr gut und auch elaboriert zu großen Themen wie Gewalt, Strukturen und Dynamiken von Macht ausdrücken – kann es aber nicht gut aushalten, mich lange mit konkreten Einzelteilen dessen zu befassen. Ähnliches bei politischen Themen und Debatten. Ich bin sehr gut darin zu erkennen, wer welche Strategie fährt und warum und was sie zur Folge hat, aber die einzelnen Argumente inhaltlich auseinanderzunehmen und ihre persönlichen Bezugspunkte zu finden, ist für mich über.fordernd.
In Bezug auf solche Dinge – Themen und Dynamiken – bin ich ein „big picture“-Mensch und fühle mich darin auch sehr wohl.

Meine konkrete Sinneswahrnehmung hingegen funktioniert andersherum. Mir drängen sich viele konkrete Details auf und ich muss mich mühsam zur Verallgemeinerung – Abstraktion – bringen. Verallgemeinerung ist für mich in vielen Alltagssituationen das, was mich am meisten auslaugt. Denn natürlich gibt es „das allgemeine Leben“, aber „Leben“ ist unfassbar vielfältig und wird aus Gründen, die ich vermutlich wirklich nie nie nie nie NIEMALS verstehen werde, von den meisten Menschen auch jeden Tag anders gestaltet. Abwechslungsreich sozusagen. Das bedeutet für mich, dass ich bestimmte Dinge tatsächlich jeden Tag als neu oder verändert erlebe und mir aktiv als neu oder verändert einprägen muss. Denn sonst erkenne ich sie nicht wieder, kann sie also auch keinem bekannten Muster oder Struktur zuordnen und in der Folge auch nicht korrekt abstrahieren und als Teil des „big pictures“ begreifen.

Heute als erwachsene Person habe ich diesen Vorgang für die meisten Alltagssituationen schon so oft durchgearbeitet, dass ich ihn in vielen Bereichen zwar immer noch mit erheblichem Kraftaufwand, aber einer Fehlerquote wie die meisten Menschen auch durchlaufen kann. Als Kind und Jugendliche hat es mich enorme Kraft gekostet und mir sind sehr viele Fehler passiert.
Plus: mein kleines Dissoziationsproblem.
Es war für mich doppelt nicht immer möglich mich selbst und meine Umwelt als zusammenhängend zu erleben. Häufig nicht, weil ich nicht die Möglichkeiten hatte, meine Eindrücke so bewusst zu verarbeiten, wie ich es brauchte. Aber auch, weil ich es in der Regel mit Eindrücken zu tun hatte, die mir nicht eindeutig real oder mit mir zu tun habend oder sogar absolut fragmentiert erschienen.

Um ein „big picture“ zu entwickeln, braucht man mindestens ein Konzept dieses Bildes. Man braucht das Substantiv zu den Verben. Eine Abbildung, ein Modell, eine Vorstellung davon. Und um die eigenen Eindrücke von sich und der Mitwelt zusammenzufügen, muss man sie kohärent zusammenbringen können. Man muss wissen, aus welchen Handlungen eine Tätigkeit in welcher Reihenfolge, in welcher Art durchgeführt besteht. Aus welchen Komponenten bestimmte Situationen bestehen. Als Kind und Jugendliche_r übt man genau das ein bis man nicht mehr darüber nachdenkt, sondern es einfach weiß. Ich kann an zwei Händen abzählen, bei welchen Tätigkeiten es mir so geht. Ich habe meine „Alltags-big-pictures“ erst mit Anfang/Mitte 20 einigermaßen stabil beieinander gehabt und kam auch erst dann in die Lage, sie als von mir aus gestaltbar zu begreifen.

Dass ich das jetzt beschrieben habe, wirkt vielleicht erst einmal wie ein unnötig selbstdarstellerisches Element.
In Bezug auf den Satz, den ich hören musste, aber ist es wichtiges Vorwissen.
Denn diese „bottom to top“-Wahrnehmungsverarbeitung(sstörung) in Kombination mit einer „big picture“-Kommunikation führt zu widersprüchlichen Signalen von mir. Das klassische Hochbegabten-Ding: Erklärt die Welt, aber kann nicht unfallfrei essen.
Wirkt enorm reif – ist tatsächlich aber hilflos.

Ich konnte es mir nie leisten, so hilflos zu sein, wie ich war. Und zwar nicht nur, weil meine Herkunftsfamilie Hilflosigkeit verachtete und bestrafte, sondern, weil wir in einer ableistischen Gesellschaft leben und es gefährlich ist, hilflos zu sein. Was ich gelernt habe, ist zu maskieren. Nicht zu zeigen, wenn ich verwirrt war. Ich habe meine Angst durch und vor Verwirrung dissoziiert. Habe mich immer wieder davon anspornen lassen, dass ich kann, was ich will, wenn ich nur genug will und mache und tue. Und je älter ich wurde, wurde aus diesem Ansporn eine Bedingung. Ich kann keine Hilfe annehmen, bevor ich mich nicht in Grund und Boden gewollt und gekämpft und ausgelaugt habe. Nicht mal dran denken. Nicht mal wollen! Erst muss ich (mir) beweisen, dass ich wirklich nicht (mehr) kann.

Hilfe als Konzept ist tricky.
Denn manchmal ist Hilfe einfach Hilfe. Jemand springt für dich ein, wenn du nicht mehr kannst. Jemand macht etwas für dich, an deiner Stelle.
Manchmal wird aber auch Unterstützung als Hilfe bezeichnet. Jemand gibt dir ein Podest, verkürzt oder vereinfacht deinen Arbeitsweg, zeigt dir Methoden zur Effizienzsteigerung deines Handelns, damit du machen kannst, was du musst, möchtest, willst, brauchst.

Für beides ist es unerlässlich, dass die helfende oder unterstützende Person weiß, was die unterstützte, geholfene Person kann und was nicht, warum sie etwas kann oder nicht kann – und entlang welcher Parameter sie ihr Können oder Nichtkönnen definiert. Sie braucht ein „big picture“ ihrer Klient_innen.

In den Hilfekontexten, in denen ich mich bewegte, traf ich immer wieder auf Personen, die sich dieses „big picture“ von mir zu machen versucht haben, soweit sie konnten – ohne jedoch in der Lage zu sein, darauf angemessen zu reagieren. Viele Helfer-, Unterstützer, Behandler_innen operieren mit unfassbar kleinen Zeit- und Ressourcenrahmen. Einige haben den Widerspruch meiner Kommunikation nicht verstanden. Manche fanden ihn auch einfach witzig und haben ihn als Vorlage zur Beschämung vor der Gruppe zum Gruppenspaß benutzt. Oder natürlich, um mich von einer so wahrgenommenen Arroganz oder Hochmütigkeit zu kurieren zu demütigen.
Andere konnten das Ausmaß einfach nicht glauben.
Was ich aus all dem jedoch immer mitgenommen und als Konstante in mein „big picture“ von mir eingearbeitet habe, war: „Ich kann nicht genug. Ich kann nicht, was die anderen können. Ich kann weder im quantitativen noch im qualitativen Sinne genug richtig.“

Als ich 19 war und mit der Therapeutin arbeitete, dachte ich noch, dass ich vor allem deshalb in Therapie sei, weil ich mich als Viele erlebe. Und das falsch ist. Weil es ja eine Krankheit ist. Aus Sicht der inneren Jugendlichen: Die Krankheit, die mir meine Familie, meine Schule, mein Zimmer, meine Sachen genommen hat. Und deshalb geheilt werden muss. Mit Therapie. Was auch immer das genau ist. Und macht. Und machen soll. Hauptsache, ich streng mich an. Reiß mich richtig krass zusammen und stecke alles, was ich habe, da hinein. Sonst darf ich die nicht haben. Und dann bleibe ich für immer krank. Und dann werde ich sterben. Weil das einfach nicht zu ertragen ist.
Ich habe erst mit 30 wirklich verstanden, was „Traumatherapie“ ist. Was ich da eigentlich genau mache, im Therapiezimmer. Was es bewirken soll. Welche Rolle der Kontakt zu meiner Therapeutin dabei spielt. Was passen muss, um zu funktionieren. Wie ich was machen muss, damit sich übermittelt, was ich übermitteln will.
Da war ich schon die Hälfte meines Lebens in Traumatherapie.
Niemals hat sich jemand mit mir hingesetzt und mir das erklärt. Stück für Stück. Aspekt für Aspekt. Damit ich eine Chance auf ein Bild davon bekomme, was ich da eigentlich mache. Meine Krankheit wurde mir ausgiebig erklärt. Meine Dysfunktionalität. Aber die Therapie nie.

*

Ich musste mit 19 hören, dass meine Kliniktherapeutin weiß, dass ich schon alles tue, was ich kann, damit ich aufhören kann, von mir selbst zu denken, ich würde nicht genug tun, um mich am Leben zu erhalten. Denn da ich nicht wusste, wie ich es hätte richtig machen können, habe ich 24/7 alles für die Therapie und die Betreuung gemacht. Nicht für mich. Mein Leben. Meine Gegenwart. Sondern immer für eine Zukunft, von der ich aufgrund des fehlenden Zeit-, Raum- und Selbstbezuges überhaupt keine Vorstellung haben konnte.

Ich musste es mit 30 vom Begleitermenschen hören, damit ich aufhören kann zu glauben, ich sei die Arbeit all der Menschen, die mich bis dahin therapeutisch, betreuerisch, begleiterisch am und immer mehr auch im Leben gehalten haben, nicht wert.
Ich musste hören, dass mein autistisches, komplex traumatisiertes Machen auf Strukturen und Konzepte traf und trifft, die meine Vorarbeit zum Können, gar nicht erst zum „big picture“ über mein Können hinzufügen. Und mich deshalb immer wieder mit dem Eindruck zurücklassen, ich würde nicht genug oder nicht richtig können. Nicht, weil sie das so wollen oder für richtig halten oder allesamt ignorante Arschlöcher sind, sondern, weil es einfach nicht vorgesehen ist. Nicht mitbedacht. Nicht im Script.

*

Es hat mich sehr entlastet, das zu hören. Auch weil ich ein Stück Verantwortung ablegen konnte, das ich nie hätte übernehmen müssen.

Hilfe, echte Hilfe, erfordert kein Können auf Seiten der Geholfenen.
Unterstützung, echte Unterstützung, erfordert ein korrektes Einordnen und Kommunizieren können auf beiden Seiten.
Ich bin autistisch und lebe mit einer komplexen dissoziativen (in diesem Kontext) Störung. Meine Möglichkeiten zur Kommunikation sind (zum Teil extrem) eingeschränkt und fußen auf einer Selbst- und Umweltwahrnehmung, mit der sich die meisten Menschen in meiner Umwelt nicht identifizieren können.
Um kommunizieren zu können, ist es erforderlich, sich und seiner Umgebung bewusst zu sein. Um dieses Bewusstsein zu etablieren, zu stabilisieren und aufrechtzuerhalten, ist es wichtig[1]:

sich orientieren zu können

  • zum Körper
  • zur Person
  • in räumlicher Hinsicht
  • in zeitlicher Hinsicht

sich erinnern zu können

  • kurzfristig (Kurzzeitgedächtnis)
  • langfristig (Langzeitgedächtnis)

sich und die Umgebung wahrnehmen und verstehen können

Unabhängigkeit und Wohlbefinden werden hier beeinflusst von Fähigkeiten wie

  • zur Wahrnehmung des Körperschemas und des Körperbildes
  • zu riechen und zu schmecken
  • zu tasten und zu fühlen
  • zu hören
  • zu sehen und zu erkennen (einschließlich Gesichtsfeld)
  • zu lesen
  • sich zu konzentrieren

sich verbal mitteilen können

Dies wird beeinflusst von verbalen Fähigkeiten in der mündlichen und/oder schriftlichen Kommunikation

  • zur Wortfindung
  • zur Satzbildung
  • zur klaren und verständlichen Ausdrucksweise

sich nonverbal mitteilen zu können

Das Ausmaß und die Qualität nonverbaler Kommunikation werden beeinflusst von Fähigkeiten

  • in der Mimik und Gestik
  • zur Berührung

In jedem dieser Bereiche kompensiere ich Einschränkungen. Das ist, was mein Autismus, wie meine Traumafolgestörung auch, in unserer Gesellschaft zu einer Behinderung und jede Art der Hilfe und Unterstützung für mich zu einem komplexen Unterfangen macht.

Ich brauche mehr als die bloße Anwesenheit von Helfenden, Unterstützenden oder Behandler_innen und Kenntnis von ihrem Auftrag, um wissen, was ich jetzt eigentlich können muss. Was mein Auftrag ist. Wie ich richtig sein könnte.
Es reicht absolut nicht, mir Dinge zu sagen, die mir ein gutes Gefühl vermitteln sollen. In der Regel generiere ich mir das gute Gefühl im Kontakt durch die Gutheit des Kontaktes. – Hilfe-, Unterstützungs- und Behandlungskontexte, in denen ich mir nie Sicherheit darüber generieren kann, ob ich (hier) richtig bin, ob ich genug richtig mache, um drinbleiben zu können, sind weder hilfreich noch zielführend. Tendenziell wirken sie eher als Wiederholung der Gewalt, die ich bereits überstehen musste oder als Faktor, der mich hilfloser macht, als ich sowieso schon bin. Auch wenn ich nicht so wirke.

#1 „Melden Sie sich, wenn was ist.“

„Wenn was ist“ gehört für mich zu den schlimmsten Formulierungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Ich halte sie für gewaltvoll, schlecht und falsch. Will sie weder lesen noch hören. Will mit niemandem zu tun haben, der mir das sagt.
Leider haben wir sie alle schon gehört und sogar selbst in den Strom allgemeiner Alltagsgewaltätigkeiten gegeben. Diese Formulierung ist so üblich, dass viele Menschen sogar glauben, sie würden damit etwas sagen können. Für mich nur schwer nachvollziehbar.

„Wenn was ist“ wird verwendet, um der eigenen Annahme möglicher Abweichungen Ausdruck zu verleihen. „Melden Sie sich“, um ein Bindungsangebot zu machen, dass von_m Klient/Patient_in ausgeht.
„Im Fall einer Abweichung können wir in Kontakt gehen“, kommt also am Ende dabei heraus.

Problem: Mit professionell Begleitenden, Helfenden, Unterstützenden, Behandelnden ist man nie in Kontakt, weil „nichts ist“.
Die Grundlage professionellen Kontaktes ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich negativ definiert. Also über die Abwesenheit, das Fehlen von etwas bzw. die Anwesenheit eines Defizits. Sobald man also in einem Betreuungsverhältnis, einem therapeutischen Verhältnis, einem pflegerischen Verhältnis miteinander ist, hat man sich als Hilfe-/Unterstützungs-/Behandlungssuchende Person bereits gemeldet, weil ein ganz spezifisches „etwas“ ist. Nämlich Bedürfnisse, die vom familiären und sonstig näherem persönlichen Umfeld nicht erfüllt werden – also, weil „niemand (da) ist“.

Ich habe lange versucht zu entschlüsseln, was das gemeinte „Etwas“ von dem „Etwas“ unterscheidet, das mich mit Helfer_innen und Behandler_innen zusammenbrachte.
In betreuten Wohngruppen konnte das gemeinte „Etwas“ viele verschiedene Dinge bedeuten.
„Etwas war“, wenn ich eine Sache aus abgeschlossenen Räumen brauchte. „Etwas war“, wenn ich als Heimkind irgendwelche Elternzettelage in der Schule oder beim Amt einzureichen hatte. „Etwas war“, wenn meine seelische Not unerträglich für mich wurde. Mir erschloss sich nie, warum mir extra noch gesagt wurde, dass ich mich dann melden sollte, denn was sollte denn die Alternative sein? Ich bin nicht so aufgewachsen, dass ich nicht ständig und immer und immer die ganze Aufmerksamkeit bei den Leuten hatte, die am meisten über mich zu bestimmen hatten. So wirkte dieses sicherlich sinnvolle Bindungsangebot „dann melde dich“ als Erinnerung daran, dass meine ersten Gedanken zur Problemlösung oder Meinungsfindung auf gar keinen Fall bei meinen Kompetenzen und mir anfangen dürfen, sondern immer erst bei den Autoritäten in meinem Leben. – Und zwar in Bezug auf alles, was passiert, weil es „etwas“ ist.

Im ambulanten Betreuungskontext hat sich das etwas aufgelockert, weil ich im Alltag mehr Autonomie hatte und gestalten konnte. Hier wurde es dann allerdings kompliziert, weil ich kein eigenes Konzept und Übung darin hatte, in Autonomie und ihren Folgen zu leben. Ich war die Betreuung gekommen, weil meine schwere Symptomatik meine Möglichkeiten der Selbstbestimmung extrem begrenzten und teils auch verunmöglichten. Und weil ich als 18-jährige Person noch nie selbst über meinen Wohnraum und dessen Ausstattung bestimmt hatte. Ich wusste nicht, nach welchen Gesichtspunkten ein Haushalt zu führen, ein Finanzbudget einzuhalten, zukunftssichere Entscheidungen zu treffen sind. Ich hatte unerträgliche Panik und Kontrollverluste über mich, wenn ich diese Entscheidungen selbst treffen sollte und funktionierte mich durch die Aufgaben durch, wenn ich in Begleitung von und in Kontakt mit Autoritäten (meiner Betreuerin) war. Was letztlich der „akzeptierte Kontrollverlust“ über mich war, denn er wirkte sich nicht als dysfunktional aus. Dennoch war das ja „etwas, was war“. Und es passierte mir sowohl allein als auch, wenn ich mich bei jemandem gemeldet hatte.
Was also bewirkte es für mich, wenn ich mich meldet, weil „etwas war“? Es ergab sich für mich weiterhin kein Unterschied in der Auswirkung auf mich, wenngleich mir klar war, dass es ein Unterschied ist, allein oder in Kontakt mit jemandem diese Erfahrung zu machen.

Speziell in diesem Kontext war mir aber auch immer bewusst, dass der Kontakt etwas ist, worum ich dankbar sein musste – völlig unerheblich, ob er mir letztlich tatsächlich eine Hilfe oder Unterstützung ist. Denn schon der Umstand, dass man sich um mich, ein Opfer organisierter Gewalt mit komplexer, seltener, kontrovers diskutierter Traumafolge, sorgt kümmert fachlich fundiert auseinandersetzt, ist etwas, das mir spät erst als etwas klargemacht wurde, dass ich grundsätzlich verdient habe wie jeder andere Mensch auch.
Meine Betreuung, Behandlung und Begleitung wurde mir immer wieder als besonders herausfordernd, besondere Ausnahmen erfordernd und besonders viel (mehr) Ressourcen (als von anderen Klient/Patient_innen) abverlangend gerahmt. So habe ich mich oft selbst als das „etwas“ gefühlt, „das ist“ dessentwegen sich jemand bei jemandem melden muss, kann, darf. Es entstand der Eindruck, eine Belastung zu sein, die sich schöngeredet wird. „Interessant, was Psyche so kann.“, „Ich lerne so viel von dir“, „Du machst meinen Beruf spannend.“, „Das ist eine große Herausforderung – wir werden das aber schon hinkriegen (wenn du mithilfst)!“ Ich war zeitweilig vollkommen davon überzeugt, dass es Helfer_innen, Betreuenden, Unterstützenden unfassbar krass viel abverlangt, ihre Arbeit an mir zu machen. Dass sie sich gegen extreme Widerstände und über sämtliche Grenzen hinweg dafür entscheiden müssen, mit mir in Kontakt zu sein (– und ihren bezahlten, selbstbestimmt gewählten Job zu machen, der sie in einen Status erhebt, aus dem heraus sie aktiv über Leben wie meins bestimmen, urteilen und sprechen dürfen).
So kam unter anderem meine Wortmeldung auf der Tagung in Münster 2013 zustande. Mir war damals noch überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass man Bedarfe wie meine aus Gründen besonderisiert, die nichts mit mir zu tun haben. Dass man mein Überleben teilweise als Beweis für Dinge hernimmt, die anders nicht objektivistisch beweisbar sind.

Nie, in all den Jahren hat man mich in meinem Grundgefühl von und Wunsch nach Gleichheit mit anderen Betreuten/Behandelten/Geholfenen bestärkt. Niemand hat mir kontinuierlich vermittelt vermitteln können, dass meine Grundbedürfnisse, die gleichen sind, wie bei allen anderen Menschen auch. Vielleicht, weil das so ein basales Ding ist. Vielleicht, weil man nicht annahm, dass ich überhaupt darüber verunsichert bin. Vielleicht weil ich nie gefragt habe: „Hey, warum ist euer Verhalten über meine Bedürfniserfüllung so anders als bei den anderen Patient_innen/Mitbewohner_innen?“ Vielleicht weil man dachte, mir gefiele der Besonderheitsstatus und gebe mir damit ein gutes Gefühl von Beachtung und Wertschätzung nach einem (so angenommenen) Leben in Missachtung und Abwertung.
Am Ende hat es mich in Dankbarkeit und Angst vor dem Verlust aller Kontakte gezwungen und gehalten.

Es gab Betreuungskontexte, in denen immer „etwas sein“ musste, damit ich überhaupt Kontakt haben konnte, während ich gleichzeitig in Therapiekontexten behandelt wurde, in denen ich mich – egal womit – nicht außerhalb der Therapiestunden melden sollte. Was für mich bedeutete, dass „nichts“, also auch ich selbst nicht „sein“ durfte.

Mein Ausweg aus diesen Widersprüchen und impliziten Sozialzwängen war, aus der Betreuung auszusteigen und meine Wünsche an die Traumatherapie, die ich in der Zeit gerade neu begann, so exakt wie nur irgend möglich zu formulieren. Ich habe mich außerdem innerlich so umfassend wie möglich davon emanzipiert, ein_e „DIS-Patient/Klient_in“ zu sein und begonnen mich als Mensch mit komplexer Traumafolge zu verstehen und zu erforschen, welche Aspekte meiner Existenz warum und in welchen Kontexten, mit welchen Auswirkungen auf mich in unserer Gesellschaft als abweichend gedacht und behandelt werden.

Im Zuge der Auseinandersetzung mit meinem Autismus, habe ich dann verstanden, wie es zu meiner Verwirrung und meinem Missverstehen der so gut gemeinten Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ kam und auch heute noch immer wieder kommt.
Durch dieses Verständnis konnte ich mir dann erarbeiten, was „etwas ist“ in Bezug auf meinen Kontakt mit meiner Traumatherapeutin bedeutet.

„Etwas ist“:

  • Wenn ich suizidal bin und glaube, dass ein Kontakt mit meiner Therapeutin dazu beiträgt, dass ich eine gute, richtige, selbstbestimmte Entscheidung zum Umgang mit meiner Suizidalität treffen kann
  • Wenn ich in traumareaktiven Gedanken- oder Gefühlsschleifen feststecke und glaube, dass mich der Kontakt zu meiner Therapeutin, in einen Zustand bringt, der mich dazu befähigt, meine eigenen Orientierungsfähig- und -fertigkeiten zu aktivieren
  • Wenn ich mich in einer Situation befinde, in der meine Traumatherapeutin formal als meine Behandlerin auftreten muss, um mich vor Schaden (im Sinne einer Falschbehandlung oder Fehleinordnung) zu bewahren
  • Wenn ich mir über Termine und andere gemeinsame Absprachen unsicher bin und glaube, dass meine Therapeutin mich darüber aufklären bzw. daran erinnern kann

„Etwas“ ist nicht:

  • Wenn ich Angst habe und Versicherung auch durch andere Kontakte und Aktivitäten herstellen kann
  • Wenn ich nicht weiß, „was ich habe“, fühle, denke und will – und sich das (außerordentlich) unangenehm anfühlt
  • Wenn Kinderinnens oder innere Jugendliche eine Situation im Außen kompensieren/regulieren/managen/übernehmen
  • Wenn andere Personen zuständig sind (etwa meine gesetzliche Betreuerin oder Behörden)
  • Wenn ich keine Idee habe, wozu ich den Kontakt brauche oder nutzen kann (will)
  • Wenn ich meine Therapeutin in irgendeiner Form als Autorität über mich haben will (Zum Beispiel, damit sie mir Dinge erlaubt oder verbietet, die ich mir selbst nicht erlauben oder verbieten kann/soll)

Es war hilfreich für mich zu verstehen, dass Psychotherapie nie für Menschen konzipiert wurde, die niemanden im Leben haben (und/oder arm, behindert/chronisch krank und nicht weiß sind).
Der Grundgedanke bei Psychotherapie ist der eines Werkzeuges von vielen. Der Kontakt soll ergänzen, was man eh schon in sich hat. Die neu etablierten Methoden sollen neu überdenken lassen und vervollkommnen, was bereits genutzt und aktiv eingesetzt wird.
Der Kontakt zur_m Behandler_in ist kein Ersatz für ein soziales Umfeld im Privatraum, das sich respektvoll und bedarfsgerecht verhält. Und auch wenn Behandler_innen jeder Profession eine gewisse Autorität über die Einordnung des Zustandes ihrer Klient/Patient_innen zugesprochen wird, so sind sie nicht autorisiert über den Wert, die Gestaltung und diverse Entscheidungen diesbezüglich zu urteilen. Selbst wenn die Klient/Patient_innen diese Autorität über sich selbst (noch) nicht selbstbestimmt ausagieren können.

Hätte ich das schon als Jugendliche_r verstanden, wären mir viele Wunden im Hilfe- und Betreuungskontext nicht geschlagen worden und meine Ansprüche an meine Therapie sowie meine Therapeut_innen erfüllbarer gewesen. Und dementsprechend viel weniger Quelle für Re_Inszenierung und Re_Traumatisierung, als dem Kontakt bereits immanent ist.

Denn er ist nie bedingungslos. Er entsteht immer nach und durch verschiedene Akte der Gewalt – und wird immer durch und nach dem Üb.Er_leben von Gewalt nötig.
Die Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ bestätigt, legitimiert und reproduziert diesen Umstand. Es gibt Bedingungen, die für den Kontakt erfüllt sein müssen. Generell, um einander überhaupt kennenzulernen und eine Zusammenarbeit zu beginnen, aber auch spezifisch, wenn es um die Ausgestaltung dieser Arbeit geht.

Damit ich die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Begleitung bei der Heilung von Gewalthandlungen an mir im professionellen Kontext ertragen kann, fordere ich, dass sie mir nicht gesagt wird.

#2. „Sie sind schon so (sehr) weit.“

Ich saß vor der Kinoleinwand, die Brummschleife direkt über meinem Kopf und versuchte die Menschen im Saal zu erfassen. „Alles Freund_innen. Alles Gemögte. Alles ‚die Richtigen‘.“ sagte ich mir und hoffte einfach, dass das auch stimmt.
Meine zweite Lesung, sie lief gut. Ich war zufrieden mit dem Ablauf, den Räumlichkeiten, den kontrollierbaren Kontrollverlusten, mir selbst. „Sie sind schon sehr weit“, sagte meine Therapeutin am nächsten Tag und wieder hoffte ich das Beste. Was auch sonst?

Etwa, dass ich mich frage: „Weit“ von wo nach wo? Weit im Vergleich zu wem? Weit in Bezug worauf? Heißt „weit“ so viel wie „hoch“? Gibt es dann auch ein „tief“? „Links“ oder „rechts“? Nah?
Was ist die Einheit, in der gemessen wird? In welcher Norm bin ich schon (seit wann? Jetzt? Oder schon länger? Hab ich einen wichtigen Moment verpasst? Ich habe nichts mitgekriegt – hätte ich?) sehr weit?
Wie weit ist „sehr weit“? Gibt es auch „mittel weit“? „Bisschen weit“? Wie viel liegt zwischen „sehr weit“ und „weit“? Geht es um Symptome? 5 Mal Traumacrash am Tag ist „nicht mal losgelaufen“, aber zweimal die Woche ist „sehr weit“?

Meine Therapeutin kennt mich seit 2012. Wenn sich jemand zu meiner Entwicklung äußern darf, dann sie. Und doch will ich es nicht hören. Dass unser Kontakt von Normierung geprägt ist, gehört dazu. Sie soll mich anhand von Normen beurteilen, sie hat gar keine andere Wahl, wenn sie ihre Arbeit von der Krankenkasse bezahlt und anderen Menschen in irgendeiner Form verlässlich beurteilen lassen will. Ich muss mich darauf verlassen, dass sie meine Fortschritte normiert, denn sonst weiß sie nicht, ob unsere Arbeit meine Entwicklung unterstützt oder nicht. Ich bin auf ihre Normierungsfähigkeit angewiesen.

Ich aber möchte nichts darüber wissen.
Es verunsichert mich. Es verschiebt meinen Fokus und führt mich in Normkrisen. Zurück in Traumawahrheitskreisel und daraus entstehender Angst vor eigener Überheblichkeit, Eitelkeit, Stolz, Selbstüberschätzung.
Es fällt mir leichter meine Leistungen und Schwächen anzuerkennen, wenn ich sie mir unter den Aspekten von „Kraftaufwand“, „Effizienz“ und „Auswirkung“ anschaue. Wenn ich mich also frage:
Was hat es mich gekostet? Worauf habe ich verzichtet?
Konnte ich es umsetzen, wie gedacht? Hatte mein Plan Schwächen? Konnte ich diese Schwächen aus mir heraus auffangen oder brauchte ich Unterstützung?
Ist eingetreten, was ich mir gewünscht hatte? Wenn nein, hat es geschadet? Wenn ja, ist der Schaden behebbar? Wie viel Energie kostet es mich, diesen Schaden zu beheben?
Wenn eintrat, was ich mir wünschte: Hat es sich angefühlt, wie ich es wollte? Wenn ja, ist das ok für mich? Wenn nein, warum nicht? Wenn es sich nicht angefühlt hat wie gewünscht, warum nicht? Habe ich das beeinflussen können?

Ich verstehe, dass es in unserer Gesellschaft üblich erscheint, ein Leben wie meins mit einem Verständnis von einem Krankheitsverlauf zu betrachten. Sich zu denken: „Ach Mensch, 2010 standen hier noch krud wirre Murkstexte aus Gefühlsbrei und krassem Leidensdruck durch Symptome aller Art – jetzt lesen sie in einem Kino aus ihrem zweiten Buch, ganz alleine und selbstorganisiert. Da ist echt Entwicklung passiert – ein langer (weiter) Weg geschafft.“ Und das stimmt auch. Aber sagt im Grunde nichts. Entwicklung wäre ja schließlich auch passiert, wenn wir keine Bücher geschrieben hätten. Keine Arbeit gefunden hätten. Keine Ausbildung geschafft hätten. Auch dann wäre es ein langer Weg von damals bis heute gewesen. Auch das wäre Leistung, Entwicklung, Prozess gewesen. Vielleicht auch Heilungsweg.

Es ist so schwierig immer wieder klar zu halten, dass eine DIS das Ergebnis umfassender physiologischer Anpassung an spezifische Einflüsse ist. Es ist keine Krankheit, die man rückgängig machen oder aufheben kann. Ich werde also nie von „Genesung“ sprechen können, nie unverändert, nie neuro_normalisiert werden.
Ich werde immer besser lernen mein Verhalten, meine Interaktion und Kommunikation an die Norm anzupassen und meine Reaktionen bestimmten Normen entsprechend zu gestalten. Das wird immer zu meinem Weg gehören und vermutlich ziemlich wahrscheinlich, denn Gesellschaft wandelt sich immer, werde ich ihn bis zum Ende meines Lebens gehen, um zu überleben. Denn das ist mein erklärtes Ziel und natürliche Funktion all meiner Systeme: Überleben.
Wie jedes andere System, jeder andere Mensch auch.

Wenn man meine Lebenszeit als allgemeine Wegstrecke zugrunde legt, bin ich jetzt bei Meter 37 von etwa 83. Gehen wir davon aus, dass ich mich zunehmend daran gewöhnen werde, relevante Anpassungsleistungen zu vollbringen (oder ihre Vermeidung zu perfektionieren) sowie mit höherem Alter von Leistungsansprüchen verschiedener Art entlastet zu werden, dann ja, habe ich nicht mehr so viel vor mir, das so herausfordernd ist wie jetzt. Vielleicht die Hälfte etwa.
„Gesund“ gewesen wäre ich aber lieber früher. Viel früher.
Ich habe von meinen 37 Lebensmetern 23 mit gezielter Umentwicklung und Normentanz verbracht. Oft weil es so wie es war, einfach schlimm war, meistens, weil als Ursache dafür irgendeine mehr oder weniger zwingend zu verändernde Unnormalität angenommen wurde. Ich unnormal, meine Familie unnormal, mein Er_Leben unnormal.

Mein Lebensweg führt mich da nicht heraus. Ich komme nicht bei „Normal“ an „je weiter ich bin“ und ich wünsche es mir auch immer seltener. Einfach, weil meine Kräfte zur Umsetzung dieses Wunsches nicht mehr ausreichen. Ich werde schlicht älter. Kann Normierungsdruck eigentlich nur noch mit aktivistischer Frechheit und Glitzerkanonen oder herablassender Intellektualisierung begegnen – denn so merken nicht sehr viele Menschen, dass ich einfach nicht mehr so viel, so schnell, mit so viel Kraft kann.

Es dennoch zu versuchen gehört zu der Krankenrolle, die mir zugeschrieben wird, aber dazu. Ich darf so lange unnormal krank sein, wie ich bin, aber ich muss auch alles dagegen tun (wollen).
Diesem ableistischen Anspruch zu entsprechen, normalisiert mich in manchen Kontexten. Patient_innen gehen halt in Behandlung. Mein eigenes Ansinnen an meine Behandlung als mich ermächtigend, kann ich dort nicht einbringen, ist für manche vielleicht sogar noch nie gedacht.

Für mich ist Selbstermächtigung, was ich brauche, um mir eigene Normen zu geben. Und durchzuhalten, dass ich sie für mich etabliere. Mich selber mit Kraft dafür versorge. Mir selbst den Rücken stärke, wenn jemand sie angreift. Dafür muss ich nicht wissen, „wie weit ich schon bin“ – dafür muss ich er_leben. Und üben. Und immer wieder ausagieren. Ob bei Lesungen oder meiner Kleiderwahl, unter Freund_innen oder bei der Arbeit.

Deshalb will ich das nicht hören.

#3. „Ich lerne gerne mit/von Ihnen.“

Meine DIS-Diagnose wurde gestellt, als ich 16 Jahre alt war.
Das hatte viele Vorteile für mich, denn meine Behandlungsprognose war sehr gut und ich bin gewissermaßen in die wissenschaftliche Auseinandersetzung sowie in die mediale Erzählung über und von Menschen mit DIS hineingewachsen.
Die Nachteile habe ich aus Loyalität und Unsicherheit lange verschwiegen. Ich wollte niemandem schaden, niemanden über sich selbst verunsichern und natürlich auch meine eigene Situation nicht verschlechtern. Und die war schlecht. Trotz bester Aussichten üb.er_lebte ich auch Jahre nach der Diagnose und ihrer Implikationen für Helfende in Strukturen organisierter Gewalt. In der Regel war ich die erste Person mit DIS in jeder Wohngruppe, jeder Betreuungssituation, jeder Schulklasse, jeder allgemein- und fachmedizinischen Praxis außer der Psychiatrie.

Dass ich wusste, was eine DIS ist und dass ich in der Lage war allen möglichen Menschen mit jedem möglichen Vorwissen zu vermitteln, was das ist, woher es kommt und welche Konsequenzen sich daraus für unser Miteinander ergeben, war zu der Zeit überlebenswichtig für mich. Ich war extrem darauf angewiesen, dass mein Verhalten als traumareaktiv und dissoziativ verstanden wurde, damit man mir glaubte, dass ich wirklich nicht gerne ausgebeutet und verletzt wurde. Aber auch, damit ich richtig und umfassend geschützt wurde. Damit man mir bei der Suche nach einer passenden Therapie half, damit man mich bei der Antragsstellung für bürokratische Schutzmaßnahmen unterstützte. Und letztlich auch, damit man ein wenigstens annäherndes Verständnis dafür bekam, wie umfassend meine Unterstützungsbedarfe im Alltag waren.

Damals war total klar, dass niemand tiefere Ahnung von DIS hat. Trauma war noch mehr als heute Soldatensache, irgendwas mit Krieg, Naturgewalten oder anderen Extremereignissen. Als Folge extremer Gewalt geframed hatte die DIS für viele Menschen, die dann doch davon gehört hatten, auch Elemente des widersprüchlich Fantastischen, ging es doch immer auch um „unvorstellbare Gewalt“ dabei.

Als Betroffene_r ist es für mich bis heute so, dass mich belastet, wie viele Begrifflichkeiten ich erst definieren muss, um überhaupt erst ein Mal einen gemeinsamen Grund zum Verständnis zu erschaffen. Was bedeutet Trauma? Was bedeutet „extreme Gewalt“ in speziell meinem Fall? Was ist Dissoziation? Um was für Strukturen geht es beim Begriff der „strukturellen Dissoziation“? Was ist Amnesie? Was sind Persönlichkeitsanteile/Innens/Innies?
Und was hat das alles mit meinem Bedarf in der Alltagsbegleitung zu tun?
Früher habe ich das allen erklärt, die es wissen wollten. Ich habe Betreuer_innen fortgebildet, Literatur weitergegeben und erklärt, habe zu anderen Fällen mit Vielen meine Perspektive geteilt, habe vermittelt und erklärt. Da war ich 18, 19, 20 Jahre alt und erlebte gleichzeitig noch jeden Tag, was als eine Ursache meiner DIS gilt.
Wenn mir damals jemand sagte, dass sie_r gerne bereit ist, mit mir und von mir zu lernen, wirkte das als Bindungsangebot auf mich. Und als Rettungsversprechen. Ich dachte, wenn nur alle wüssten und verstünden, dann würden sie mir auch helfen. Sie würden dann machen, dass es aufhört. Die Gewalt, aber natürlich auch die Hölle in mir und meinem Leben im Hier und Jetzt.
Das ist so nie eingetroffen.

Das (wissenschaftlich fundierte, mühsam rangeschaffte und von mir objektivierte) Wissen, das ich weitergab, wurde häufig als persönliche Erzählung, als individuelle Konstruktion zur Sinngebung meines Zustandes verstanden. Was man von und mit mir lernte, wurde in der Regel als eine Eigenschaft von mir verstanden, auf die man Rücksicht nehmen kann, wenn es passt. Die man erforschen kann, wenn man auf Problemsuche ist. Ganz als handle es sich bei der strukturellen Dissoziation der Psyche um eine Neigung oder spezielle Gedanken über sich selbst – und nicht um eine grundlegende Architektur, die jede Eigenschaft überhaupt erst ermöglicht und ausschließlich in ihrem Rahmen definierbar macht.

Dieses Verständnis von anderen Menschen zuzulassen, erfordert ein Begreifen vom Leben und der menschlichen Natur, das nicht mit einer Erklärung der DIS als diagnostizierbare Krankheit hergestellt werden kann.
Das gilt für jede Diagnose, jeden als divergent definierten Selbstzustand. Auch Autismus und Trans* sein zum Beispiel.
Niemand mit einem Verständnis von Autismus als persönliche Eigenschaft wird je wirklich kapieren, was es bedeutet autistisch zu er_leben und wird in der Folge immer wieder verletzen und missachten ohne es überhaupt zu merken oder im Nachhinein wirklich zu verstehen. Alle, die glauben Trans* sein könne allein über dya cis normatives Geschlechterverständnis erklärt werden – also in Abgrenzung der sozialen und biologistischen Konstruktion von „Mann“ und „Frau“ – werden nie dahin kommen zu kapieren, was es bedeutet, hier und heute in dieser Gesellschaft als trans* Person zu üb.er_leben. Da können sie noch so gern von und mit uns, die es betrifft, lernen. Denn wir müssen immer mitdenken, dass das, was sie glauben zu lernen, mit hoher Wahrscheinlichkeit geistige Schubladen füllt, die die grundlegend falschen sind.

In der Psychotherapie kann das anders sein. Dort geht man als Individuum hin, um individuell ganz auf sich bezogen zu sein und zu denken und zu fühlen. Man hat eine Diagnose erhalten und von dieser wird die Behandlung abgeleitet. In der Auseinandersetzung mit schwierigen Themen lernt man sich selbst besser kennen und die_r Therapeut_in kann gar nicht anders als mitzulernen, sie_r ist schließlich immer dabei.
Wenn mir meine Therapeutin also sagt, sie würde gerne mit mir lernen, dann übersetze ich mir das in etwa zu: „Ich bin gerne dabei, wenn sie sich besser verstehen.“ – weil ich in dieser Situation nicht grundlegend auf ihr Wissen über mein Selbstverständnis angewiesen bin.

Viele Menschen beginnen eine Psychotherapie aber nicht, um sich besser kennenzulernen. Die meisten (komplex) traumatisierten Menschen in meinem Umfeld suchen eine Therapie, um nicht an ihren Traumafolgen zu sterben. In so einer Situation ist es einfach zynisch, wenn ein_e Therapeut_in sagt, dass sie gerne mit der_m Patient_in lernt. Zynisch, ignorant und letztlich auch (unabsichtlich) gewaltvoll.
Denn es geht in dieser Phase nicht nur um das Individuum und das persönlichst Private, sondern häufig auch um Lebensumstände und gesellschaftliche Kontexte. In solchen Momenten ist es wichtig, dass andere Menschen ihr Wissen vermitteln.
Und als Psychotherapeut_in dann auch zu sagen: „Hier kann es nicht um diese großen Kontexte gehen. Hier machen wir Psychotherapie. Psychotherapie ist der Raum zur individuellen Auseinandersetzung darüber, wie Sie mit und in diesen Kontexten zurechtkommen.“
Diese Grenzziehung finde ich von einigen Behandler_innen oft nicht oder nicht eindeutig genug gemacht und vielleicht ist sie generell auch schwierig. Wichtig finde ich sie dennoch. Schon um als Patient_in diese Grenze nicht als Marker für Abwehr oder leichtfertig ausagierte Ignoranz (miss) zu verstehen. Es gehört zur notwendigen Orientierung dazu, zu erfahren, an wen man sich womit wenden kann und wo man welche Räume wofür hat.

Lebensgefahr (ob real oder so empfunden) ist einfach kein Zeitraum des Lernens, sondern des Erfahrens. Wenn man das als Behandler_in oder Betreuer_in oder Begleiter_in nicht weiß – im Sinne von basic Wissen über menschliches Funktionieren – hat man meiner Meinung nach nichts in der Nähe (komplex) traumatisierter Menschen (in existenziellen Krisen, Lebensgefahr, Täter_innenkontakt) zu suchen.

In den ersten 14 Jahren meiner DIS-Diagnose habe ich vor allem Erfahrungsräume gebraucht.
Ich brauchte Menschen mit vielen verschiedenen Lebenserfahrungen, die mich versichernd durch die eigenen Lebenserfahrungen begleiten, denn ich war in Gewalt erwachsen worden und wusste nicht, wie es ganz konkret anders gemacht wird. Ich brauchte also Menschen, von denen ich lernen konnte, wie (ihr) Leben geht, um mir selbst einen Begriff davon zu machen.
Ich brauchte Menschen, die mit mir zusammen ausgehalten haben, dass ich mein Leben immer wieder bedroht wahrnahm, weil ich angewiesen auf Jobcenter und andere Behörden immer wieder in de facto existenzieller Bedrohung lebte.

Niemals habe ich Menschen gebraucht, die an und von mir toll gelernt haben, was eine DIS ist. Diese Menschen haben immer mich benutzt gebraucht, um sich selber für sich selber über etwas zu versichern oder zu orientieren, statt sich selbst um Fort- und Weiterbildung zu kümmern und die Verantwortung für ihre Wissenslücke und die entsprechend niedrigere Qualität ihrer Arbeit zu übernehmen.
Es war meine Hilfsbedürftigkeit, die ausgenutzt wurde. Meine Hilflosigkeit, die verdeckt und auch für mich selbst verschleiert wurde, mit Lob über meine tolle Erklärungsfähigkeit, meine super Kompetenz so sperrige Inhalte gut zu vermitteln. Und ihr Missverstehen, das ich nicht auflösen konnte. Ihre fehlende Reflexion über das Machtverhältnis, in dem wir waren und die Kontexte, die es unaufhebbar machen.

Diese Verdeckung – dieses Vermeidungsverhalten – ist der Grund, weshalb ich diesen Satz von professionell Begleitenden, Unterstützenden und Behandelnden nicht mehr hören will.
Wir sind nicht auf der gleichen Ebene.
Wenn wir etwas voneinander lernen, dann muss es uns beide befähigen können und nicht aus der Not von einer_m von uns geboren werden. Denn sonst passiert Gewalt.

Fragmente einer Ausnahmesituation

In den Quetschfalten der letzten Wochen hat es mich manchmal überrollt.
Ja, mein Partner ist nicht gestorben – aber es hätte passieren können und
Meine liebe kleine alte NakNak* mit ihrem Krumpelfuß und dem leisen Stöhnen beim Aufstehen und Hinlegen – auch noch nicht tot, aber
Traumafachtag in München, warum ist das alles so kompliziert, achso achso aha, hmm, naja, aber da kann man ja was machen – einfach nur
Mein Buch ist veröffentlicht, jetzt
Buchmesse, hoppla ich bin Teil von etwas und
Oh, wir sind eine Gruppe mit Gruppenthings, da kann
Münster, Spiegel, False Memory, Wahrheit, Wissen, Wichtigtuer, was für ein Karussell oh man, oh man. Alles auf die Leseliste, das ist
Buchmesse, oh, ah, hui mit Aufzeichnung – obwohl ich so
Gruppenthings gonna always Gruppenthing aua uff oje oje oje

All die Dinge der letzten Monate, die außerhalb von mir passiert sind.
Über nichts konnte ich wirklich zu Ende nachdenken oder eine emotionale Verbindung entwickeln. Ich kenne das schon – es gibt einfach Phasen im Leben, da hat man viel im Zwischenspeicher und rumpelt in der eigenen Außenschale umher. Dass das ein Ausnahmezustand ist, habe ich erst am Sonntag begriffen. Nachdem es einen Konflikt gab, den ein jugendliches, aggressives Innen begann und durchzog bis ich die Kontrolle wieder übernehmen konnte. Solche Wechsel sind mir zuletzt vor 12–13 Jahren passiert. Als mein Leben eine endlose Kette von Ausnahmen, eine ganze Existenz im Zwischenspeicher war.
Diese Zeiten sind vorbei. Solche Wirrungen nicht mehr irrelevant. Ich erlebe meine Ausnahmesituation eingebettet in die Alltage und Er_Leben.srealitäten anderer Menschen. Deshalb geht es auch um Anpassungsleistungen. Also darum zu maskieren, zu funktionieren, während mir meine Grundlagen für die Kraft dazu fehlen und über Extrameilen beschafft werden müssen.

Bei allem Frohsein darum, dass ich jetzt nicht mehr allein im Bullergeddo wohne, eine Arbeit habe und viele Menschen kenne, mit denen mich viel verbindet, wäre ich jetzt gerne wieder an genau dem Punkt. Denn von da aus konnte ich mich immer fallen lassen. Wusste immer: „Ob ich mich jetzt aufreiße oder später oder ganz oder gar nicht, es ist im Grunde egal.“ Niemand hat nach mir gefragt, niemand auf mich gewartet, niemand etwas von mir gewollt.
Menschen sind in mein Leben gekommen, weil ich gegeben habe. Obwohl niemand darum gebeten oder darauf gewartet hat.
Das war insgesamt einfacher für mich.
Auch weil es selten vorkam, dass explizit mehr von mir verlangt wurde, als ich sowieso gegeben habe.

Ich wollte immer mehr von mir. Und habe das auch Stück für Stück geschafft.
Jetzt bin ich daran gewöhnt, viel geben zu können.
Und mein Umfeld in Teilen auch.
Sich jetzt an ein niedrigeres Niveau zu adaptieren, fällt mir schwer.

Es sind gerade tatsächlich nur 3 Stunden Konzentration, die ich aufbringen kann. Es ist gerade tatsächlich so, dass ich nicht die ganze Zeit um die möglichen Gefühle und Gedanken anderer Menschen kreise. Sondern darum, meine eigenen überhaupt mal zu empfinden und erkennen zu können. Wenn mir etwas nicht angetragen wird, denke ich nicht darüber nach. Wenn mich niemand anspricht, spreche ich nicht. Ich denke nicht in Wörtern für den Fall, dass ich jemandem davon erzählen will oder muss oder möchte, sondern in dem mir eigenen Irgendwie so.

Früher hätte ich das gemacht und mich dafür bestraft. Denn ich wollte ja mehr – weil ich sollte. Einfach nur arbeitsunfähig sein, einfach nur chronisch erkrankt sein, dafür muss es echte Anlässe geben – die habe ich mir nie an.erkannt, weil sie mein Umfeld nicht an.erkannt hat.
Heute erkennt mein Umfeld das an – und ist zuweilen verunsichert, mich so zu erleben. Freund*innenschaften werden in Frage gestellt, gemeinsame Pläne ob ihrer Umsetzbarkeit generell bezweifelt, meine gesteckten Ziele hinterfragt. Es wird bedauert, wenn ich unter einen Instagrampost schreibe, dass ich viel geschafft und wenig ganz und gar miterlebt habe in der letzten Zeit. Während ich denke: „Leute! Was denkt ihr denn, wie ich gerade durchs Leben gehe? – Mir ist vor wenigen Wochen der Partner – mein von mir geliebter, mein in mein Leben reingebackener Mitmensch – fast gestorben. Ich habe genau in der Zeit eine Retraumatisierung erlebt, die ich jetzt noch mit viel Kraftaufwand aufarbeite. Meine in den letzten 15 Jahren immer da gewesene Assistenzhündin knabbert ihr letztes Stück Lebenszeit. Seit 3 Jahren leben wir in einer Pandemie, die unsere Teilhabe- und Teilgabemöglichkeiten begrenzt – worüber unser Umfeld nur noch aus Höflichkeit nachdenkt. Was denkt ihr denn, wie viel Raum noch in mir drin ist? Wie viel von mir gerade irgendwo anders drin sein kann?“

Ich denke, dass ich viel gebe, wenn ich mich aus dem Rückzug reiße und Pläne oder Vorhaben nicht aufgebe. Wenn ich weiter ehrenamtlich arbeite. Wenn ich mich nicht krankschreiben lasse.
Gleichzeitig merke ich, dass ich mich auch dazu zwinge. Die Angst zu fallen und nie wieder aufstehen zu können – dieses Traumafragment, aus dem ich meine ganze Überlebenskraft, meinen ständigen Antrieb, ziehe – die wirkt unfassbar stark im Moment.
Manchmal rede ich auch mir ein, besonders jetzt aktiv zu bleiben, würde helfen. War ja schließlich das, was sie in der Psychiatrie mit mir gemacht haben: Wenig schlafen, viel Programm. Sinnvolles tun. Sich selber hinter irgendein aktives Handeln stellen.

Tatsächlich will ich aber nur schlafen oder liegen und mein Gesicht in den Bauchflausch von NakNak* halten, während ich Bubi die Öhrchen streichle. So wäre es gerade gut.
Aber wenn es so ist, ist es schon nach 2 Minuten nicht mehr auszuhalten.
Und die Dissoziation fängt mich auf.
Meistens passend.
Und nun auch mal total schwierig für andere.

Aber wäre das nicht passiert, hätte ich es nicht verstanden.
Ist das der Preis?

Fundstücke #86

Am Ende hielt ich ein kleines Polaroid von der ganzen Gruppe in der Hand. Ganz so wie Leute, die zu anderen Leuten gehören und sich für ein Foto zusammenstellen, weil man das eben so macht. Klick – ein gemeinsames Erlebnis dokumentiert, Zugehörigkeit markiert.

Vielleicht hätte ich unter anderen Umständen geweint. Oder nachgefragt, ob ich das Bild wirklich behalten darf. Ob es wirklich für mich ist.
So waren die Umstände aber das Ende eines Drehtages in Köln, nach einem ersten zweiten Realtreffen mit Felice, nach einer verknörgelten Anreise mit dem Zug, nach einer Therapiestunde, die mich fast umgeworfen hatte, nach zwei Tagen für die Initiative Phoenix mit Mitgliederversammlung in Mainz, nach dem Sprechen und Arbeiten auf der Performativen Buchmesse in Hamburg, nach schwierigen Arbeitstagen und vergessenen Terminen zu Hause, nach zwei Tagen Arbeiten und Lesen auf der Leipziger Buchmesse. Vor weiteren intensiven Stunden mit der Deutschen Bahn. Vor meiner Lesung gestern. Vor der Arbeit, die ich diese Woche nicht geschafft habe. Vor allem, was ich in einer neben mir herlaufenden Spur bearbeite und überlege, um es in der Therapie zu besprechen.

Am Abend lag ich im Bett und schichtete alle Decken über mich. Drückte mich an die Wand und versuchte mich in die Ruhe zu atmen. Die Eindrücke des Tages der letzten Wochen hagelten bedrohlich auf mich ein. Taten weh, erschreckten mich, ließen mich ohne Begreifen zurück. „Ich muss unbedingt schwimmen nächste Woche“, dachte ich. „Vielleicht sogar jeden Tag.“

Aufgaben im System überdenken

Und wieder eine Sprachfalle.
Meine Aufgabe im System. Jemand, ein Anteil von mir – nicht ich, aber nun mal ja doch ich irgendwie – soll mal über die Aufgabe im System nachdenken. Natürlich ohne Angabe, von welchem System die Rede ist. Selbstverständlich ohne Antwort auf die Frage, wer die Aufgabe vergibt.

Es ist schwierig für mich das zur Seite zu stellen.
Obwohl ich weiß, dass das vermutlich ✨nur so✨ gesagt ist. Gemeint ist sehr wahrscheinlich keine vergebene Aufgabe. Nicht: „Überleg mal, was du hier eigentlich für wen machst.“
Sondern: Dein Empfinden, Denken und Handeln, dein Sein, erfüllt eine oder viele Funktionen. Welche sind das? Bist du zufrieden damit? Wie wirkt es sich auf andere Aspekte deines Lebens als Einsmensch aus?
Aber es bleibt Unsicherheit. Denn es ist eine Übersetzung. Meine Annahme darüber, was meine Therapeutin mit der größten Wahrscheinlichkeit gemeint haben könnte. Ich habe gerade keine Möglichkeit, mich darin zu versichern und bin abgelenkt von den Ängsten, die das bei mir auslöst. Alle schon tausendmal durchlebt und überstanden. Reflektiert, geprüft, bewusst aufgelöst, orientiert, aber weiter da wie ein abgefräster Baumstumpf.

Ich bin mir meiner Funktion bewusst. Weiß, dass ich so wie ich damit umgehe, schon alles genau richtig mache für mein Alltagssystem. Ich kaue das einfach nur so Gesagte durch, übersetze mir die diffuse Masse in feste Formen und arbeite damit weiter, obwohl ich jagende Angst habe, weil ich praktisch nie sicher sein kann, ob das so gut geht. Ob ich richtig liege. Ob das nicht doch irgendwie falsch ist. Ich etwas vergessen oder übersehen habe. Ob ich nicht doch etwas ignoriert oder fälschlicherweise außer Acht gelassen habe. Ich habe Angst, weil ich Fehler machen könnte – um weniger Fehler zu machen. Um mir den Stoff zu liefern, den ich brauche, um meine exekutiven Dysfunktionen zu kompensieren: Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Die Stresshormone, die mich zu einem „guten Opfer“ machen, weil es den Arsch hochkriegt, statt für immer malad dem Siechtum anheimzufallen.

Was ich höre, wenn mir jemand sagt, dass ich mal über meine Aufgabe Funktion nachdenken soll, ist oft: „Das ist so schlimm/nicht okay/krank/falsch/schlecht. Lass das mal. Hör mal auf damit. Ist doch krass anstrengend. Mach mal weniger – Mir egal wie – du wirst das schon rausfinden. Du bist kompetent, das seh ich ja. Du bist aktiv und kriegst alles irgendwie hin – Wenn du es nicht packst, würd mich das schon sehr wundern, also ich hab da schon andere Erwartungen an dich – Die Konsequenzen – dein Ding. Da bin ich raus, das ist ja nicht meine Verantwortung.“
Ich erlebe es also nicht wirklich als Anreiz, ergebnisoffen darüber nachzudenken, was ich eigentlich finde oder möchte oder will. Sondern viel mehr als offene Ansage darüber wie ich sein soll oder in welche Richtung ich mich entwickeln oder verändern dürfte, wenn ich wollte.
Und könnte.

Mein Alltagssystem ist ein Angst-Kompensier-und-Nutz-System. Kein Aus-Angst-irgendetwas-anderes-mach-System. Mein Rahmen daran etwas zu ändern ist von meinem System begrenzt. Dem System, das mich in meiner Funktionalität entwickelt hat.
Das heißt nicht, dass ich nie etwas ändern kann – ich kann es aber nicht über meine Systemfunktion hinaus.
Alle Schritte aus dem traumareaktivem Angstfunktionieren heraus habe ich zum Beispiel nur machen können, weil ich kompatible Beruhigungsmechanismen angeboten bekommen habe. Die ich unterstützt ausprobieren konnte. Die anzupassen mir gezeigt wurde. Die kleinen Inseln, in denen ich heute ohne übermäßige Angst funktionieren kann, habe ich entdeckt, weil andere Menschen mir vorgemacht haben, wie das geht. Wie ich das machen muss. Womit ich rechnen muss. Wie ich damit umgehe, wenn es nicht klappt. Weil ich nicht damit alleingelassen wurde, herauszufinden, wie und wer ich bin, wenn ich nicht permanent im größten Angststress bin – obwohl ich Angst habe.

Im Moment geht es in meiner Therapie nicht um mein System und mich, sondern um Wut und ein jugendliches System.
Meine Funktion für uns als Einmensch-System ist es, Systeme wie dieses zu kompensieren, genauer gesagt zu unterdrücken. Wut ist saugefährlich in unserer Gesellschaft. Vor allem in Kontexten wie unserer Herkunftsfamilie, aber auch den Hilfesystemen, in denen wir jugendlich waren und erwachsen wurden. Da gab es nie eine andere Möglichkeit als Angst vor der eigenen Wut – völlig egal wie gerechtfertigt oder rational begründet sie war – zu entwickeln. Sie war immer genauso lebensgefährlich wie die falschen Fragen, die falschen Worte zu den falschen Menschen.
Und sie war oft ein unterstelltes Empfinden oder eine angenommene Empfindung, um Melt- und Shutdowns mit der Annahme eines nicht-autistischen Erlebens verknüpfen zu können. Mir wurde also vielfach auch dann Wut unterstellt, wenn ich schon jenseits jeder Emotionswahrnehmung war – was dazu führte, dass ich mich selbst oft als wütend dachte, obwohl ich es nicht war. Was meine Angst vor Gefühlen ins Extrem generalisiert hat. Ich bin so schon nicht gut darin zu wissen, was ich fühle, wenn es um mehr als Grundemotionen geht – mein Außen hat das aber nicht gewusst und teils auch nicht glauben wollen. Wie mir gespiegelt wurde, was man an mir für Gefühle sieht und annimmt, konnte entsprechend nur selten nicht verwirren und verunsichern – und ist auch heute noch kein Feld, auf dem ich mich sicher fühlen kann. Wer Angst hat, kann halt schlecht nochmal genau über den Anlass drüberfühlen, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.
Was das angeht, muss ich immer schneller sein als meine Angstkurve. Immer immer immer. Bei egal was. Im Laden, auf einer Veranstaltung, im Gespräch mit Freund_innen, in der Therapie. Folgerichtig habe ich im Leben auch immer Angst vor der Angst – obwohl und wahrscheinlich gerade weil ich anders überhaupt nicht funktionsfähig (und also ich selbst, Hannah) bin.

Wie ich nun also eine nicht kompensierende Verbindung zu diesem wütenden jugendlichen Innen und seinem System herstellen soll, weiß ich noch nicht sicher. Es hilft zu merken, dass sie nicht mehr die Gefahr wie früher darstellen. Es hilft auch zu merken, dass es im Kontakt mit der Therapeutin zu Zustandsveränderungen kommt, die ihr System ähnlich destabilisieren wie sich meins destabilisiert (und verändert) hat, als ich in Kontakt mit ihr ging und bleiben konnte. Es ist leichter zu erkennen, wer was wie aus.macht, wenn ein System nicht mehr perfekt funktioniert. Ich kann jetzt also leichter anfangen zu schauen, welche Funktion dieses wütende Innen für sein System hat und dann überlegen, ob ich diese Information für etwas nutzen kann, das Verbindung herzustellen hilft.

Also, wenn ich fertig bin mit der Angst vor dem Falschmachen, weil ich nicht über eine Aufgabe nachdenke, sondern eine Funktion.

Rückzug

Vor 4 Wochen ist mir etwas passiert.

So wie dieser Satz ist, fühlt es sich an. Banal und undefiniert konkret.
Ich glaube nicht, dass ich je öffentlich darüber schreibe oder spreche. Aber es ist passiert, es wirkt und auch das schreibe ich hier auf.
Auch, weil es zeigt, dass viel über Trauma und seine Folgen zu wissen im Fall einer erneuten Traumatisierung bzw. einer Re-Traumatisierung wenig zu Entlastung beiträgt einerseits und andererseits eine Reflexion ermöglicht, die eine Kontextualisierung erleichtert. Also dann doch – irgendwie – entlastet.

Zum Beispiel war mir schon in der Situation klar, dass ich traumareaktiv reagiere.
Dass ich auf Ressourcen zugreife, die mich geistig („frontalhirnig“) an meine gegenwärtige soziale Umgebung binden, weil sie eine gewisse Identität (im Sinne einer Übereinstimmung) haben. Ich habe mich absolut darauf konzentriert, dass ich erwachsen bin, weil ich weiß, dass die Menschen in meiner Umgebung daran keinen Zweifel haben. Ich wusste ganz genau, dass ich, wenn ich mich daran halte und dementsprechend erwartungsgemäß re.agiere, mit mehr Empathie, Hilfsbereitschaft und Fürsorge rechnen kann, als wenn ich re.agiere, wie ich kongruent mit meinem Selbstgefühl bin.

Mir war aber auch klar: Wenn ich „erwachsen re.agiere“ können andere Menschen nicht mehr erkennen, dass ich in Bezug auf die Erfassung der Situation, die Einordnung und die Anbahnung eines Handlungsablaufs hilflos bin.
Sie sprechen mich nicht an, als hätte ich eine wie auch immer gelagerte Verletzung. Sie bieten mir keine Unterstützung an, sondern fragen mich, warum ich welche von ihnen brauche. Wenn es vorbei ist, bietet mir niemand Fürsorge für mich an. Wund_Pflege.

Nun war mein Partner zu dem Zeitpunkt noch auf der Intensivstation und erlebte einen ganz eigenen verletzenden, todes.ängstigenden Horror. Keine_r meiner Freund_innen oder Gemögten konnte zu mir kommen. Nicht allen konnte ich überhaupt davon schreiben. Meine Therapeutin war im Urlaub – und krank. Sie telefonierte kurz mit mir, das ging fürchterlich schief und schon beim Auflegen war ich innerlich absolut blank.

Die nächste Traumareaktion.
Ich habe mich nicht mehr nach außen orientiert. Keine Kongruenz mehr gesucht, kein Trauen und auch keine Kraft mehr für die Angleichung gehabt.
Ich wurde von traumatischen Erinnerungen geflutet und das war die Kongruenz, die ich in mir selbst haben konnte. Gewissermaßen hat in der Situation also die Tatsache, dass ich nicht zum ersten Mal so unversorgt verletzt geblieben bin, mehr zu innerem Zusammenhalt (Assoziation) beigetragen als alle Skills, alles empowernde Wissen, auf das ich zugreifen hätte können.
Weird.

Dieses traumabedingte „nur in sich selbst zu Hause sein“ ist die Schnittstelle, die viele Menschen mit Autismus in Verbindung bringen, weil man über autistische Menschen bis heute noch denkt, sie wären in ihrem Körper oder einer inneren Welt gefangen.
Ich habe da eine Grenze.

Nach traumatisierenden Erfahrungen ist der Rückzug eine bio.logisch absolut perfekte Strategie. Das gesamte System „Körper“ war mehr oder weniger lange überfordert und wurde verletzt. Die Energiereserven sind aufgebraucht. Alle. Sich auszuruhen, ist zwingend notwendig. Es ist wichtig, dass man im Anschluss mehr von allem bekommt als sonst. Mehr Zuwendung, mehr Nahrung, mehr Schutz, mehr Unterstützung. Kein Körper kann aus „nichts“ „etwas“ machen. Er braucht das Außen, er braucht den Input, um Output zu generieren. Gefühle und Gedanken sind Output. Sie sind Körperprodukte. Lebenszeichen.

In einer Gesellschaft, in der das unversorgte Verletztsein die Norm ist, wird Rückzug oft nicht mehr intuitiv als Marker für Fürsorgebedarf verstanden. Also als ein Hinweis darauf, dass eine Person andere Personen zum Überleben braucht. Viel häufiger wird er als Abgrenzung verstanden. Als Akt der Individualisierung, der Betonung des Selbst oder auch der Konzentration auf sich selbst.
Deshalb erscheint es logisch in so einer Phase zu sagen: „Komm erstmal klar – du musst nicht zur Arbeit kommen, du musst nicht zum gemeinsamen Hobby kommen, du musst nicht zum üblichen Treffen kommen – sei unbesorgt, krieg dich erstmal auf die Reihe, wenn was ist, melde dich.“ Was man sagen will ist: „Wir verstehen, dass du im Ausnahmezustand bist – wir warten hier auf dich, bis wieder alles in Ordnung ist.“ Was man aber miteinander macht ist, die Wiederherstellungsarbeit zu verwalten. Die soll der verletzte Körper aus sich selbst heraus schaffen. In vollem Bewusstsein dafür, dass andere Körper erreichbar sind, wenn sie denn erreicht werden können. Mit den richtigen Worten, zur richtigen Zeit, der richtigen Ressourcenlage. Man kann also die Fürsorge bekommen, die man braucht – aber nicht sicher und schon gar nicht bedingungslos.

Vor allem nicht als autistische Person.
Meine autistische Isolation begann schon 2 Minuten nach der Realisation, dass ich gerade von etwas verletzt wurde. Nämlich in dem Moment, in dem mir klar wurde, dass ich jetzt etwas tun musste, das ich noch nie getan hatte. Ich war noch nie in der Situation. Ich habe noch nie gefühlt, gedacht, gemacht, was in dem Moment alles da war. In dieser Konstellation. Der Partner im Krankenhaus, ich alleine mit den Hunden, auf dem Land, zig Kilometer von allen entfernt, zu denen mir der Kontakt nicht so schwerfällt. Ich hatte kein Skript dafür. Und das einzige Skript, das mir einfiel, wurde quasi sofort niedergeschlagen. Und als ich es dann doch anbahnen konnte, nicht erfolgreich im Sinne von wie erwartet, erwünscht und erhofft, abarbeiten. Was zu einer ganzen Reihe von Unklarheiten führt, die meine Rolle in der Situation, meine Pflichten, meine Verantwortungen betreffen und dem nicht-autistischen Außen jetzt mühsam vermittelt werden müssen. Ohne in Gänze geklärt werden zu können.
Es bleibt gewissermaßen ein offener Topf, eine unfertige Sache, wie das unfertig abgearbeitete Skript. Für mich ist auch das ein Stück „offene Wunde“. Denn ich weiß, dass ich mit bestimmten offenen Stellen immer übrig bleibe. Dass ich damit allein klarkommen muss, obwohl ich nicht kann. Und in Bezug auf manche Aspekte auch nicht will.

Die oft fast romantisierte autistische Isolation ist die spezielle Hölle des Minderheitenstresses. Der sich in traumatischen Situationen vervielfacht. Zum Erleben der traumatischen Situation selbst kommt die stets potenziell traumatisierende Interaktion und Kommunikation mit nicht-autistischen Menschen, die ohnehin schon tendenziell nicht erkennen können, was für Bedarfe bestehen. Auch deshalb habe ich in der Situation „erwachsen“ gehandelt. Und nicht „ich (in einer überfordernden Situation, die Unterstützung von Außen nötig macht)“. Ich brauchte die größtmögliche Annäherung an die Erwartungen und Lesbarkeiten der nicht-autistischen Umwelt. Und wie schon im Supermarkt, bei der Arbeit, beim Hobby, im Ehrenamt habe ich also umgeschaltet. Ich habe mich rausgeschnitten. Dissoziiert und in mir selbst isoliert. Nur krasser. Dringlicher. Todes_Ängstlicher. Kontakt_Unterstützungs_Hilfe_Bedürftiger.

Ich habe mich zurückgezogen in den letzten Wochen. Obwohl ich im Kontakt mit anderen Menschen war. Gearbeitet habe. Spaß hatte. Kurzkettenproduktiv war. Mich auf eine Reihe gekriegt habe. Nämlich die, in der diese Erfahrung keine Rolle spielt. Nichts weiter bedeutet. Und auch nichts weiter bedeuten muss, denn so leben wir ja schließlich alle irgendwie – weshalb es für mich gerade auch Kongruenz herstellt. Obwohl es mir überhaupt nicht guttut. Und auch nicht richtig ist. Es ist nur normal.

und langsam auch Freude

Am Mittwoch war das Paket angekommen. Die ersten Rezensionsexemplare meines Buches. Kurzer Schnack mit „unserem“ Postboten, Werbung auf den Küchentisch, hoch ins Büro. Die Hunde hoben ihre Köpfe, beobachteten mich beim Öffnen.

Ich hatte mich enorm unter Druck gesetzt. Wollte, dass sie am Montag ankommen, damit ich sie sofort an die Menschen weiterschicken kann, die eine Rezension schreiben möchten. Obwohl ich am Montagmorgen noch voller Dormicum von der kleinen Kiefer-Op war. Dem Montag nach dem 4 Tage-Trip nach München, bei dem ich meine Arbeit vor und nach der Veranstaltung machte.
Drei Tage warten zu müssen, hat mich umgetrieben. Meine Pufferzeit für eventuelle Eventualitäten fies zusammengeschrumpft. Denn natürlich ist die ganze Buchsache von allen möglichen Katastrophen bedroht. Druckfehler, Satzfehler, inhaltliche Fehler, Produktionsmängel … jemandem könnte auffallen, dass ich das aufgeschrieben habe und mich deshalb beschämen, abwerten, hassen …

Dabei ist das alles Lauf der Dinge und ich hätte mich ausruhen können. Nichts tun. Verarbeiten. Vertrauen. Aber dann hätte ich meine Müdigkeit gespürt. Und die Kontrolle über meine Gedanken schleifen lassen. Ich hasse es, müde zu sein. Und ich hasse es, wenn meine Gedanken ohne mich weiterziehen, weil ich weiß, dass ich sie nur selten wiederfinde.

Mein Buch in den Händen begriff ich, dass ich noch etwas hasse: Den Umstand, nie on track zu sein mit der Kommunikation meiner Gedanken. Dass da immer etwas fehlt. Etwas nicht mit erwähnt ist. Ich irgendein Detail zurückhalten muss, weil etwas anderes mehr Raum braucht oder erfahrungsgemäß mehr Aufmerksamkeit bindet. Schön blöd, dann Bücher zu schreiben. Kleiner, beengter und umständlicher geht es heute eigentlich nur noch im direkten Gespräch.

Dann bemerkte ich das Pochen im Hals, das sich zu meiner Wunde im Oberkiefer hochwand und mein Zittern. Freudestahlender Egostolz war das nicht. Aber gleichzeitige Aufregung und Erleichterung. Und dem folgend natürlich: Angst.
Klar. When in doubt …

Ich lenkte mich damit ab, ein Foto zu machen und es bei Instagram zu teilen. Es wurde das erfolgreichste Bild seit meinem ersten Maskenselfie und damit nicht wirklich so richtig ganz hilfreich gegen die Angstgefühle.
Was geholfen hat, war wie immer: Banalität.
Das Lektorat mit Deadline bei der Arbeit, die Hunderunde im Modder von Niedersachsen, die Projektbaustellen von „Viele Stimmen“, die Doppelfolge „Viele Leben“ im April. Der Abwasch, die Wäsche, die halbe Stunde zwischen Pantoprazol und Ibuprofen. Die Tatsache, dass es nur ein Buch ist. 144 Seiten, die niemand braucht, aber vielleicht manche wollen. Nichts weiter.

Inzwischen habe ich eine Örtlichkeit in Bielefeld gefunden, wo ich lesen werde. Im Mai. Mehr dazu bald.
Jetzt kommt langsam auch Freude auf. Dass es geschafft ist. Der Pflichtteil. Und dass es ab jetzt vor allem Spaß machen und insgesamt auch etwas für mich sein darf.

Worum es geht“ erscheint am 15. März.
Ihr könnt es im analogen Buchhandel oder im Onlineshop des veganen Kollektivs „roots of compassion“ vorbestellen.

Wer eine Rezension schreiben möchte, kann sich bei mir melden und bekommt ein Exemplar zugeschickt.