Neulich hat mich jemand gefragt, wie das bei mir war, als ich die DIS-Diagnose bekommen habe.
Für die Person war es schlimm. Für mich auch.
Ich war nicht erwachsen. Ich war 16 Jahre alt.
Das war meine 7. Diagnose in der 5. Psychiatrie in 3 Jahren.
Ich glaubte nicht mehr daran, dass mir irgendjemand mit irgendetwas helfen könnte. Ich war allein. Hatte keine Familie, kein Zuhause mehr. Ich war lange nicht mehr in der Schule. Machte Suizidversuche, ohne zu wissen warum. Zeit und Raum waren für mich kaum noch Bezugsgröße.
Man hätte mir jede andere Diagnose geben können, aber gepasst hat keine. Die der DIS erklärte meinen Zustand am besten.
Geholfen hat mir die Diagnose nicht. Sie hat mich besonders gemacht und die Gewalt der totalen Institution an mir legitimiert. Und sie hat Tür und Tor für Erzählungen über mich geöffnet, denen ich nichts entgegensetzen konnte.
Sie hat mich grundlegend aus Hilfeangeboten ausgeschlossen. Sie hat mich von Helfer_innen abhängig gemacht, die die Regeln gedehnt und die Strukturen ihres Arbeitsplatzes aufgebrochen haben.
In den ersten Jahren nach meiner Diagnose gab es mehr Romane und fiktionale Filme über die DIS als wissenschaftlich fundierte Fachbücher und theoretische Forschung. Ich habe mich und meine Er_Lebensrealität nicht abgebildet empfunden, bis ich 30 Jahre alt war.
Das Versprechen von Verbundenheit durch gleiche Diagnosen hat sich für mich nie erfüllt. Weder in Mailinglisten noch Foren noch Blogs noch Social Media noch Selbsthilfegruppen heute.
Ich habe mit der Diagnose nie mehr gewonnen als Ausschluss.
Ausschluss als Realität, Ausschluss als soziokulturelle Praxis, Ausschluss als Konzept.
Ausschluss als etwas, das ich in meine Lebenszeit integrieren muss, wenn ich leben – wenn ich Teil dessen sein will, was Hier und Jetzt ist.
Die Person schrieb, sie fühle sich wie in einem Horrorfilm.
Sie führte das nicht aus, für mich brauchte sie das aber auch nicht. Es kann ja nur entweder um den gesellschaftlich legitimierten und orchestrierten Horror des Stigmas psychischer Erkrankung oder den Horror der Aussicht auf ein ganzes Leben damit gehen. Es kann einem ja niemand sagen, ob man davon jemals heilt. Ob man überhaupt jemals ein normaler Mensch wird.
Ich habe in den ersten Jahren mit der Diagnose keinen Trost darüber gefunden.
Heute bin ich an der Stelle taub. Es ist, wie es ist.
Ich bin ein autistischer Mensch, der Pech mit der Familie hatte. Dass ich eine DIS entwickelt habe, war vom gleichen Zufall wie der in dieser Familie und später in den Psychiatrien und Hilfeeinrichtungen zu überleben. Es hätte auch alles anders kommen können und ich hätte auch damit irgendwie klarkommen müssen. Man muss immer irgendwie klarkommen.
Mein Intellekt hilft mir. Das hat er auch in den Jahren, nach denen ich die Diagnostik auf eigenen Wunsch habe erneut machen lassen. Als erwachsene Person.
Ich habe gelesen. Mich nicht nur auf die Diagnose konzentriert, sondern auf alles, was mit dem Thema Psychotrauma und Gewalt zu tun hat. Dabei habe ich mich sowohl mit der Psychologie als Wissenschaft als auch der Soziologie und ihren Theorien darüber befasst, wie Menschen zu Erklärungen kommen und welche Dynamiken sich stets und ständig wiederholen. Mir hat geholfen nicht nur zu verstehen, dass ich nicht der einzige Mensch mit DIS nach komplexer Traumatisierung bin, sondern vor allem, dass die Menschen in meiner Umgebung (also die Gesellschaft, in der ich lebe) nur ein gewisses Mü im Leben davon entfernt sind, es auch zu sein.
Ich habe nicht mehr zugelassen, dass sich Helfer_innen auf meine DIS konzentrieren. Ich habe Gewalt als normal und ihre Folgen als gesellschaftlich dissoziiert angenommen. Meinen Ausschluss als Teil eines Ganzen begriffen.
Ich habe mich für das Leben entschieden, wie es ist und dann gemerkt, dass ich nicht weiß, wie es ist. Das herauszufinden ist mein Forschungsthema bis heute.
Meine DIS-Diagnose ist dafür unwichtig. Ich bin wichtig.
Es ist mein Leben.