Wir nennen es “Kongressdepression”. Das Abschlaffen, müde, traurig werden, das uns auch mit Momenten von Sinnlosigkeit, Ohnmacht, Zweifelfrustweinen begegnet.
Es gehört für uns dazu. Immer. Egal, worum es bei der Veranstaltung ging. Wir haben auch schon nach Veranstaltungen geweint, auf denen wir nur über Sprache gesprochen haben. Obwohl Wörter uns das Liebste sind.
Wir haben einen Umgang damit. Wissen, was uns gut tut. Wissen, dass nach ein Mal schlafen alles wieder gut ist.
Diesmal erfuhren wir kurz vorm Schlafengehen, dass es zwei nennen wir es “Vorfälle” gab, die in mancher Berichterstattung als “Anschlag” und in mancher als “Terroranschlag” bezeichnet wurden.
Und, dass der eine Täter betrunken, der andere “psychisch krank” war beziehungsweise: “gewesen sein soll”.
Dass ein weißdeutscher Jens, der andere Menschen getötet und verletzt hat, wie es ein nicht weißdeutscher Anis Amri bereits vor ihm ähnlich getan hat, “psychisch krank” sein soll, das kann ich mir nur allzu gut denken.
Es ist einfach besser, wenn einer krank war, als wenn man annimmt, jemand wollte gerne Gewalt ausüben. Wollte gerne töten. Vielleicht auch nicht ganz so gerne, aber doch gern genug, um sich nicht dagegen zu entscheiden.
Nun kamen wir gerade von einer Konferenz zurück, in der es um das Leben mit einer Persönlichkeits/Identitätsstruktur nach (organisierter/ritueller/…) Gewalt ging, die als “psychische Krankheit” diagnostiziert, behandelt und diskutiert wird.
Wir gelten als “psychisch kranke” Person.
Und wie groß in uns die Angst ist, von anderen Menschen in einer Reihe mit jemandem, der so handelt, gestellt zu werden, ist unbeschreiblich.
Nicht nur, weil wir sehen, dass eine Krankheit einer Person wieder einmal als etwas dargestellt wird, das alles erklären und damit als einzige Ursache für den Tod und die Verletzungen von anderen Menschen gelten soll.
Sondern auch, weil wir sehen, welche Aspekte selbst im Fall einer psychiatrisch (gut™) behandelbaren Erkrankung™ wieder nicht benannt werden.
Die Formulierung “psychisch krank” zielt auf etwas, das nicht organisch ist.
Solange die Seele, die Psyche keinem eigenen Organ zugeordnet werden kann, wird sie im Gehirn verortet. Dem “Denkorgan”.
Und solange Wissenschaft, Medizin und Allgemeinheit die Kette “Gehirn” = “Denken/Wollen/Wünschen” = “Handeln” = “Sein” aufrecht erhalten, so lange werden wir als “psychisch erkrankte” Personen das Problem haben, dass uns wahlweise “falsche” Gedanken/Überzeugungen, mangelnde Selbstkontrolle oder unausgeglichene Neurotransmitter unterstellt werden, wenn wir von etwas berichten, das andere Menschen nicht nachvollziehen können oder nicht selbst auch erleben oder als fiktional/unmöglich einordnen.
Es wird immer darum gehen, dass wir in uns drin das Problem haben.
Niemals wird es darum gehen, dass wir in Kontexten leben, in denen das, was und wie wir er_leben, als “krank”, “unnormal”, “falsch” gesehen wird und unter Umständen falsche, schlechte, entwürdigende, verletzende, schädigende Reaktionen auf uns als Person zur Folge hat, die bei manchen Menschen den Weg in Gewaltausübung gegen sich und andere manchmal auch überhaupt erst ebnet.
Wann immer eine sogenannte „psychische Erkrankung“ zur Erklärung für Gewalttaten wird, wird der Blick auf das Leben der gewaltausübenden Person vor der Tat versperrt.
Die Tat wird zum Symptom der unterstellten Krankheit, deren Ursprung und Wirken in allein dem Täter verortet wird.
Sie wird nicht zum Symptom einer Gesellschaft, die es verhindert sich adäquat/bedarfsgerecht/sinnhaft mit sogenannt “psychisch Erkrankten” zu befassen, bevor eine Gewalttat passiert.
Sie wird nicht zum Symptom eines Gesundheitssystems, das vor allem eines systematisch tut: verhindern, dass Menschen so lange die bestmögliche und frei gewählte Unterstützung, Hilfe und medizinisch/therapeutisch hilfreiche Behandlung erhalten, bis sowohl die Symptome, als auch die ursächliche Problematik nicht mehr bestehen.
Sie wird nicht zum Symptom eines an vielen Stellen unzureichenden sozialen Hilfesystems.
Nicht zum Symptom der Ignoranz.
Nicht zum Symptom der Privilegien, die einzig dadurch entstehen, dass man als “gesund”, “normal”, “allgemein nachvollziehbar” und allgemein “befähigt” gilt.
Was uns nach Konferenzen, wie der, die wir gestern und vorgestern besucht haben, hinterher immer wieder in depressive Momente rutschen lässt, ist genau das.
Der Umstand, dass die wenigsten Menschen, die viele (“psychisch krank”) sind, ausschließlich und überwiegend darunter leiden, dass sie viele (“psychisch krank”) sind.
Die meisten leiden unter der Ursache und den Folgen ihres Vieleseins (ihrer “Erkrankung”).
Den Lebensumständen, dem Unverständnis anderer Menschen, der Einsamkeit, dem gesellschaftlichen Ausschluss.
Der Täter in Münster hätte jede Erkrankung der Welt haben können – keine einzige kann die Antwort auf die Frage nach dem Warum hinter der Tat sein. Nichts, was wir jetzt noch über diese Person erfahren, kann allein etwas sein, das den Verletzten und den Angehörigen der Verstorbenen konkret hilft, in der Zukunft mit der Tat und ihren Folgen umzugehen.
Dem zuzuhören und für diese Menschen da zu sein, sollte Kern öffentlichen Interesses sein.
Nicht zuletzt, um “psychische Erkrankungen”, wie zum Beispiel eine posttraumatische Belastungsstörung aufgrund (der direkten Beteiligung, aber auch des direkten wie indirekten Mit_Erlebens) dieses Ereignisses, zu verhindern.