das Ende am Anfang

Mein Mann und ich sitzen in der Kliniklobby, als ich ihre E-Mail lese.
Es ist warm, wir sitzen auf einer von Menschenbewegung umspülten Insel. Das Branden von Schritten und das Rauschen der Belüftungsanlage mischen sich in der künstlichen Noise Cancellung auf meinen Ohren.
Die Situation ist neu. Ungewohnt. Weird. Ein bisschen schreilustig auch.

Sie trennt sich von mir und ich merke nichts als Bliss. Entspannung. Ausatmen. Loslassen.
Im Mai habe ich noch geweint. Dann gewartet. Mich wieder von einer Nachricht niederschlagen lassen. Wieder gewartet. Die Luft angehalten. Gehofft, gerätselt und analysiert, wenn das Warten mir allzu viel Kraft abverlangte. Ich habe so viel darüber geredet, mich beraten lassen, versucht, mir zu erarbeiten, woran ich in diesem Kontakt überhaupt noch bin. Nicht verallgemeinert, keine Schlüsse zugelassen, die mich schuldlos oder verantwortungsfrei machen. In meiner Welt habe ich getan, was Freund_innen tun: Für die andere Person da sein, zusammenarbeitsbereit sein, paratstehen, um auf Wünsche, Ansprüche, Bedürfnisse im Kontakt eingehen zu können.
In der Welt aller anderen Freund_innen, meines Mannes, meiner Beraterin hingegen hat jemand meine Loyalität für gegeben hingenommen und in Teilen auch ausgenutzt. Wissentlich und willentlich hingenommen, dass ich in Sorge, in Trauer und Dauerbelastung um sie bin. Sie haben eine Lüge, die mich emotional erpressen sollte, sofort erkannt. Ich konnte das glauben und war über diese Einsicht unendlich traurig.
Um mich zu trösten, versuchte ich trotzdem so zu handeln, als wäre die Geschichte wahr. Ich wollte die Realität eines Kontaktes, der mich gezielt und absichtlich unter Druck setzt, nicht annehmen. Ich wollte die Realität, in der jemand einfach etwas komplizierter als viele andere Menschen zu Schlüssen und Entscheidungen kommt. In der ich halt einfach mal zurückstecken muss, warten muss, auch wenn es unangenehm ist. Wo ich halt noch länger als sonst warten muss, bis ich verstehe, was in der Person vorgeht. Wo es ganz spezielle, ganz ganz diffizile, hochempfindliche Zartheit und Fragilität gibt, um die herum ich möglichst sanft und achtsam, verständnisvoll und geduldig agieren muss.

Im Kontakt mit komplex traumatisierten Menschen begegnet es mir nicht sehr oft, aber doch immer wieder mal, dass Grenzen als Waffe eingesetzt werden. Dass „Ich kann nicht“ zu sagen, weniger darüber aussagt, was eine Person tatsächlich kann, als darüber, was eine Person möchte. Dass gelogen wird, um die eigenen Wünsche und Bedürfnisse, aber auch Gefühle nicht sichtbar zu machen.
Das gehört zu dem traumareaktiven Vermeidungs- und Selbstschutzverhalten, mit dem das Umfeld eingespannt wird.
Da wird immer wieder betont, wie doll andere ja gar keine Ahnung haben, wie sehr sie die betroffene Person ja gar nicht wirklich sehen oder verstehen oder einfach nehmen, wie sie ist. Als wäre der Anspruch von anderen Menschen, sich bitte auch auf die Ressourcen, Fähig- und Fertigkeiten von ihnen einzustellen, etwas, das der komplex traumatisierten Person jegliche Identität oder Lebenswert abspricht. Oder ein massiv gewaltvoller und daher bis ans Ende aller Tage unverzeihlicher Übergriff bis in die tiefsten Tiefen.
Die Reaktion ist auf allen Achsen unverhältnismäßig – es sei denn, man denkt Trauma mit. Wer auf dem Zettel hat, dass es Menschen gibt, die sowohl Gewalt- als auch Traumalogik in ihrem Sozial- und Bindungsverhalten integriert haben, kann den Flashback sehen. Kann begreifen, wie logisch es ist, dass diese Menschen sehr viel Kraft daraus ziehen können, sich eben nicht mehr alles gefallen zu lassen. Sich extrem zu verteidigen, sobald sie auch nur den Hauch von etwas spüren, das sie nicht bestätigt, oder etwas von ihnen abverlangt wird, wozu sie nicht aus sich selbst heraus bereit sind.

Das Problem, die Falle, in der auch dieser Kontakt und ich gefangen waren, ist, dass der Flashback als solcher nie direkt adressiert werden kann. Es entsteht eine ständige Wiederholung von gewalt- und traumalogischen Schlüssen und dazu passenden Selbst- und Fremdzuschreibungen, die wiederum mit ganz spezifischem Anspruchsverhalten einhergehen.
Ich bin die_r Böse, die_r Täter_in, die hochproblematische Person mit Macht (also darf man allgemein legitimiert grob, respektlos oder sogar gewaltvoll mit mir umgehen) – die andere Person mein Opfer, das sich einfach nur verteidigt. Völlig zu Recht, denn was ich da anbringe, das geht ja mal überhaupt nicht. Und das wird man ja wohl noch machen dürfen. Sich verteidigen. Und dafür geht man ja schließlich auch in Therapie als Opfer, richtig – damit man lernt, sich endlich mal durchzusetzen und abzugrenzen und auch mal für sich einzustehen. Alle, die das Gegenteil sagen (oder sagen könnten), stecken mit mir („den Täter_innen“) unter einer Decke. Sind alle gegen das Opfer. Machen die Welt für jemanden zu einem schlimmen Ort, die_r es eh schon immer schwer hatte, weil sie_r so ja gewissermaßen eine komplett marginalisierte Person ist. Ein one of a kind, immer von allen unterdrückter Mensch, der in seinem Handeln ausschließlich wie ein Phönix aus der Asche steigt. Was jawohl nur gut sein kann.

Wenn man im therapeutischen Kontext davon spricht, dass man die eigene Opferrolle verlassen muss, dann geht es genau darum. Um so eine – traumalogisch absolut schlüssige! – Verkettung von Annahmen über die Situation, sich selbst und andere Menschen.
Ich merke so eine Kette bei mir immer wieder, wenn ich merke, dass ich nicht mithalten kann. Wenn meine Handball-Mitspieler_innen zum Beispiel bei lauter Musik trainieren wollen und ich aus dem Smalltalk ausgeschlossen bin, weil ich sie nicht verstehen kann. Dann merke ich wie der Schnellschluss immer wieder erst einmal ein traumalogischer ist: „Die hassen mich. Die wollen mich nicht dabei haben. Die wollen mich ausschließen, weil ich nicht kann, was sie können.“ Da habe ich die Situation noch gar nicht weiter beobachtet. Habe gar nicht geguckt, ob „die“ wirklich alle sind oder es anderen Gruppenmitgliedern auch so geht. Geprüft, ob sich wirklich alle unterhalten oder ob die meisten nicht eher einfach Musik hören und so dynamischer trainieren können, also eher eine Situation von „gemeinsam alle für sich“ entstanden ist. Ich habe außer Acht gelassen, dass es in dem Umfeld okay ist, zu fragen, ob wir nach einer bestimmten Zeit wieder leiser machen können. Dass Verhandeln und die Bedürfnisse miteinander abzugleichen ganz übliches, ganz alltägliches Verhalten unter Menschen ist.

Ich hatte sehr lange überhaupt keine Ahnung davon, dass mein Gespür für schwierige Situationen verzerrt sein könnte. Wenn jemand Gewalt an sich erkennen sollte, dann jawohl ich – ich hab doch genug davon erlebt.
Mit mehr Selbstregulation jedoch war es dann aber unübersehbar für mich. Ich war immer wieder eher bereit anzunehmen, dass etwas gegen mich gerichtet ist, als irgendetwas anderes – viel Banalereres, andere Leute Betreffendes, für mich noch näher zu Erforschendes. Weil ich das so gewohnt war. Weil das für mich mehr Sinn ergeben hat. Mir mehr Sicherheit über mich selbst in der Welt vermittelt hat. Opfer war ich immer. Immer war ich unterlegen und konnte nichts machen. Diese Rolle habe ich einfach immer gehabt. Im Realen. Im Gewalterleben als Kind, Jugendliche_r und junge erwachsene Person. Und als ich sie nicht mehr hatte, die Gewalt also endete, hatte ich überhaupt keine Vorstellung davon, was da noch alles für Rollen sein könnten außer die der Täter_innen. Als mich noch jeder Flashback direkt umgeworfen hat, ich mich von Symptomkompensation zu Vermeidung gehangelt habe, hatte ich auch noch gar keine Kapazitäten, das zu erforschen. Noch gar nicht genug Überblick über mich selbst. Noch gar keine Chancen, irgendetwas zu tun, das meinem Selbsterleben etwas anderes als passives Ertragen oder verzweifeltes Kämpfen um mein Leben hinzufügt.

Für mich war es hilfreich zu begreifen, dass es bei allen Vorgängen in der Welt auch die Möglichkeit der Beobachtung gibt. Und, dass ich Anteile in mir habe, die das gut können. Und Anteile, die mir diese Beobachtungserfahrung vermitteln können.
Das Schreiben und das Fotografieren, das hat mir den ersten Schritt aus der Opferrolle ermöglicht. Ich konnte meine gewohnten Schnellschüsse machen, aber auch erstmal nur gucken. Beobachten, mich mit dem befassen, was da ist und zu Schlüssen kommen, die neu für mich sind. Meine Traumatherapie hat genau das immer wieder unterstützt. Erst beruhigen, dann gucken, dann einordnen, dann verstehen, dann überlegen, welcher Umgang erwartet wird, ob und wie ich dem entsprechen möchte und welche Konsequenzen welcher Umgang haben könnte.
Zu keinem Zeitpunkt hat meine jetzige Therapeutin mich jemals angefeuert, mich endlich mal zu wehren. Oder gut gefunden, wenn ich (oder andere Innere) mich gewaltvoll oder absichtlich respektlos selbst verteidigt oder geschützt habe. Die gesamte Navigation dieser für mich neuen und handlungsfremden sozialen Rollen hätte ich ohne die freundlich zugewandte und grundsätzlich parteiliche, aber nicht auf meiner Opferschaft basierende Begleitung meiner Therapeutin nicht geschafft. Wir arbeiten zusammen, weil ich ein Ziel habe – nicht, weil ich ein Opfer war. Es ist ihr wie mir auch wichtig, dass wir dieses Ziel erreichen, weil wir uns davon mehr Lebensqualität für mich versprechen. Nicht weil ich zum Opfer wurde und Opfer nur das Beste vom Besten verdienen, sie haben ja schon so viel gelitten.

Opferschaft geht sehr schnell vorbei. Sie endet mit der Gewaltsituation.
Es ist ein relevanter Status, Opfer gewesen zu sein und eine prägende Erfahrung. Aber im Alltag, im Leben nach dem Trauma, das damit für manche Menschen einhergeht, entsteht sie seltener real als metaphorisch.
Das mag für manche Menschen provokativ klingen.
In unserer Gesellschaft spielen Opfer und Täter_innen ganz spezifische Rollen, weil damit Macht verhandelt wird und sich dies durch alle Facetten unseres Alltages zieht. Aber das außen vor gelassen, ist Opferschaft und auch die Opferrolle nichts, womit man im Leben wirklich weiterkommt. Irgendetwas für sich wirklich einfach nur schön machen kann. Die eigene Lebendigkeit genießen kann. Das Hier und Jetzt in aller Tiefe erfahren und erleben kann.
Deshalb ist „Man muss die Opferrolle auch mal verlassen“ zwar vielleicht erst einmal kränkend oder verletzend, weil man nicht den Eindruck hat, sie freiwillig eingenommen zu haben, sondern von den Umständen oder anderen Menschen darein gebracht worden zu sein (wie früher immer), aber auch ein wirklich zugewandter, das Leben eines Menschen sehr wertschätzender, Rat.
Es sei denn, man sagt das, ohne einen blassen Dunst davon zu haben, worum es bei diesem Ratschlag geht. Dann ist es eher Teil eines Abwehrverhaltens und Thema in einem Text über Hilfe als Gewalt.

Während mein Mann arbeitet, ribbele ich eine Strickarbeit mit Zählfehler auf.
Dieser Kontakt bestand über 10 Jahre. Der Konflikt ist entstanden, weil ich etwas von der Person brauchte und zunehmend bestimmter eingefordert habe. Am Ende konkret unterstützt von jemandem. Vielleicht gab es einige Stellen, an denen ich zarter hätte sein müssen. Wahrscheinlich habe ich mich oft viel zu direkt ausgedrückt und bestimmte Erwartungen von Zustimmung und Bestärkung enttäuscht.
Vielleicht habe ich auch schon seit Jahren gar nicht mehr als die Person funktioniert, als die mich mein Gegenüber kennengelernt hat. Vor 10 Jahren war die Reise zu dieser Person ein Akt, von dem ich mich monatelang erholen musste. Den ich erst Tage später überhaupt so prozessiert hatte, dass ich eine gewisse Sicherheit darüber hatte, was das für ein Treffen war und wie ich es fand. Ich war arm und allein. Hatte einen Alltag, der überwiegend von Angst und Vermeidung geprägt und von Symptomen bestimmt war.
Heute bin ich verheiratet, arbeite für Lohn und Ehre, arbeite mit Betroffenen und ihren Helfer_innen zusammen, habe zwei Bücher veröffentlicht und schaffe es, zielgerichtet und konstruktiv auf die Verarbeitung meiner traumatischen Erfahrungen hinzuarbeiten. Vielesein, meine Gewalt- und Opferschaftserfahrungen sind ein Aspekt neben vielen, die mein Leben bestimmen. Er taugt nicht mehr als Anlass oder Grundlage für einen Kontakt, geschweige denn eine Freund_innenschaft mit mir. Und das ist okay. Mir würde so viel von mir selbst fehlen, wäre das heute noch möglich.

Als meine Arbeit zu einem kleinen braunen Fadenball gewickelt ist, denke ich, wie witzig ist, dass das Ende dieses Balls auch der Anfang vom Neuversuch ist. Genau wie ich hier sitze für den Beginn von etwas, fast direkt nachdem dieser Kontakt endet. Und warum hier eigentlich nicht alle schreiend vor Lachen über die Gänge torkeln, weil irgendwie alles immer als das eine endet und als etwas anderes neu anfängt und endet und anfängt.

Todesangst

„Wovor hast du denn Angst, es passiert doch nichts.“ Das, diese Frage ohne Fragezeichen, diese Aussage mit Lüge drin, ist mir im Leben bereits sehr oft begegnet. So oft, dass ich sie nicht mehr hasse. So oft, dass ich sie behandle wie viele andere Versatzstücke von Gesprächen, die ich weder wirklich durchdringe noch wahrhaft als Marker für die Natur des Gesprächs nutze. Denn es tut mir nicht gut, mit Menschen über Angst zu sprechen, die Angst nur als periodisches Erleben besonderer Situationen kennen und den Lauf der Dinge, in dem immer irgendetwas irgendwie passiert, ebenfalls nicht stets und ständig, sondern nur dann und wann überhaupt wahrnehmen.
So bleibt es, was ist: eine Mikroaggression, eine Alltagsignoranz.

Und ein Marker für eine soziale Falle. Denn die meisten Menschen sagen das, um zu vermitteln, dass man (mit ihnen) sicher ist. Dass alles okay ist. Es ist aber nicht alles okay, wenn eine Person Angst kommuniziert und die andere nicht einmal eine Idee davon hat, worum es bei der Angst geht. Diese Person irrt sich. Sie bemerkt etwas nicht, sie ist nicht im Bilde über die Lage und möchte ihr Sicherheitsgefühl natürlich auch nicht verlieren. Deshalb sagt sie diese Phrase. Diese Floskel. Diesen kleinen sozialen Abwatscher, der der anderen Person vermittelt, sie würde etwas sehen, fühlen, bemerken, das nicht da ist.
Und die andere Person? Vielleicht versucht sie nochmal, zu schildern, was ihr Angst macht. Vielleicht erklärt sie. Doch je weiter ihre Ängste, ihr Erleben von Angst, die Rolle von Angst in ihrem Leben, von der der anderen Menschen abweicht, desto häufiger wird genau diese Erfahrung der Abwehr, der Mikroaggression und des Infragestellens der eigenen Wahrnehmung.
Und dadurch werden andere Menschen oder auch nur der Kontakt mit ihnen einfach grundsätzlich immer unsicher. Auch die Netten. Die Lieben. Die Vertrauenswürdigen. Die ganz wirklich überhaupt nichts Böses wollen. Die nur helfen möchten. Die nicht einen Hauch von Negativität in sich haben.

*

Ich habe geträumt, ich hätte Sookie erschossen.
Meine Assistenzhündin, mein erster echter emotionaler Spiegel, das Wesen, die Entität, mit der ich mich rückhaltlos verbunden gefühlt habe. Sookie, die letztes Jahr gestorben ist.
Es war die Art Traum, gegen die ich mich entscheiden konnte. Ich hob meine rechte Hand und drückte damit meine linke Schulter, um mich aufzuwecken. Das ist meine Traumunterbrechungsgeste. Wenn ich mich an die erinnern kann, während ich träume, weiß ich, dass ich sie ausführen kann und alles Schlimme oder Unangenehme unterbrechen.
Doch als ich aufwachte, war da keine lebende Sookie. Kein warmer, weicher Brustkorb, der sich an meine Seite schmiegt. Da war nur die Tatsache, dass sie tatsächlich tot ist und nie wieder lebendig sein wird.

Nach Sookies Tod hatte ich nicht viel Raum für die Verarbeitung ihres Todes. Ich hatte viel zu viel Angst, meine neue Arbeitsstelle nicht behalten zu dürfen. Ich hatte die Fahrschule, die mit viel Angst einherging. Neben dem Podcast, der Verlagsarbeit, den Projekten, an denen ich mich privat beteilige.
Damals habe ich ein Mal geweint. Direkt noch mit Sookie im Arm auf der Wiese. Reflexhaft, als würden sich meine Tränendrüsen übergeben müssen. Und ein Mal brach F., ein Kinderinnen, weinend aus mir heraus, als ich meine Therapeutin in einem Notfalltelefonat hatte.
Die Trauer um meine so nahe Begleiterin zeigte sich im Alltag eigentlich nur in einem Fähigkeitsverlust. Ich war nicht traurig und auch nicht sicher, ob ich trauern würde. Wenn ich in der Zeit danach mal nicht von Angst über für andere unsichtbaren, irrelevanten Kleinscheiß des Alltags umgetrieben wurde, dann hatte ich Sehnsucht nach Sookie. Nach den langen Wanderungen im Wald. Sie in ihrem unermüdlichen Weg vor und wieder zu mir und vor und wieder zu mir, Anspielen, Dinge beriechen, Schauen, Teilen, vor und zurück. Nach dem Gefühl, dass wirklich alles okay ist, weil wir so viel miteinander teilen, was der Moment in sich hat. Eine Sehnsucht, die ich sonst nur habe, wenn ich mir eine Freundin wünsche, obwohl ich schon welche habe. Oder eine Familie, obwohl ich schon eine habe. Nur eben nicht so.

In der Nacht des Traums, dem Moment der Orientierung in die Realität, kam die Traurigkeit, wie etwas, das mich töten könnte.
Ich konnte kaum noch atmen, meine Brust war so zusammengepresst, dass weder Töne heraus noch Luft hinein kam. Mein Weinen hatte meine Augen so anschwellen lassen, dass es sich anfühlte, als hätte ich Steine darauf liegen. Ich konnte kaum sehen, kaum atmen und das, während der emotionale Schmerz mich in einer Radikalität erfüllte, die ich nicht anders als grenzenlos beschreiben kann. Etwas, das ich nur von Kinderinnens kenne. Ganz entfernt. Eher theoretisch als je selbst erlebt. Ich dachte, ich bekäme einen Herzinfarkt. Mehr fremd als selbst ging ich zu meinem Mann runter. Er verstand sofort, dass es sich schlimm anfühlen würde, so einen Traum gehabt zu haben und dann in eine so gleich schlimme Realität aufzuwachen. Er tröstete mich. Und ich? Ich bin nicht in einer warmen Wolke der Liebe gelandet und fühlte mich besser. Ich bin emotional, seelisch, ichlich gestorben. Meltdown, Krampfanfall. Der erste große, den mein Mann direkt miterlebt hat. Das reine Wahrnehmen der Traurigkeit hat mich getötet.

Am Ende der Shutdown. Das dissoziative Nachwehen als diffuse Masse aus Reiz und Reaktion, ein Ich im Wiederaufbau. Das Ausgeliefertsein an die Umwelt, während das Fühlen der Angst darüber noch gar nicht wieder möglich ist. Wie auch Gefühle von Sicherheit und Liebe. Geborgenheit und Nähe.
Wir lagen zu dritt auf dem Bett, wie ein ganz intimes Familiensandwich. Bubi an meinem Bauch, mein Mann an meinem Rücken.
Ich konnte nichts empfinden. Nicht einen Gedanken halten. Nur meinen Körper entlang ihrer Atmung rekonstruieren und warten, bis ich mich als lebend wiedererkenne.

*

Vor solchen Momenten habe ich Angst.
Solche Momente habe ich fast jeden Tag in abgeschwächter Form. Nicht immer mit einem Krampfanfall. Immer wieder jedoch mit einem innerlichen Meltdown. Der absoluten Ohnmacht und der im Grunde fast immer bestehenden, sehr umfassenden, Einsamkeit wegen der für andere Menschen offenbar unmöglichen Nachvollziehbarkeit dessen, was in mir vorgeht, wenn ich mein Leben, aber auch meine eigene Lebendigkeit erlebe.
Da geht es nicht um Vertrauen oder Nichtvertrauen, wen ich lieb finde und wen nicht. Ob ich mir genug oder zu viel zutraue, ob ich zu wenig soziale Codes verstehe oder hinnehme. Ob ich mich meinen Ängsten stellen, sie mir abtrainieren oder als in der Regel unbegründet akzeptieren muss oder nicht.

Es geht darum, dass ich mich daran sterbend erlebe und weiß: Wer noch nie an seinen eigenen Gefühlen gestorben ist – wer sich noch nie an Verzweiflung, an Not, an innerer Spannung so umfassend selbst verloren hat – wird immer denken: „Ach komm. So schlimm ist das nicht.“

Gleichzeitigkeiten

Manchmal sind es Gleichzeitigkeiten, die es mir schwer machen, Auslöser für Traumareaktionen und meine eigenen Fehlschlüsse zu erkennen, obwohl sie mit nur ein wenig veränderter Perspektive unübersehbar sind.
Gleichzeitigkeiten in der Bedeutung von Dingen, um genau zu sein.

Erklärender Ausschwiff, was ich damit meine:
Dass man auch „Verbrenner“ zu bestimmten Autos sagt. Da hatte ich mal eine einigermaßen fürchterliche Zeit, weil ich Verbrennungsvorgänge im Zusammenhang mit Autos nicht vereinbar mit der üblichen Funktionsweise eines Autos empfand. Wenn ein Auto verbrennt, fährt man nicht damit, denn das wäre potenziell tödlich.
Dann habe ich gelernt: Die Fahrzeuge nennt man „Verbrenner“, weil sie im Motor etwas verbrennen, um zu fahren.
Was ich aber brauchte, um eine unfassbare Angst während des Autofahrens nicht mehr zu haben, war eine Einordnung darüber, dass man in einem „Verbrenner“ – ja – in einem Auto sitzt, in dem es brennt (genauer: es einen Verbrennungsvorgang gibt), aber nein – das Auto deshalb nicht automatisch eine Feuerfalle wird, wenn man zu lange damit fährt.
Ja, nein, man macht nicht deshalb eine Rast an Raststätten. Ja, nein, wenn „der Motor überhitzt“, ist das kein erstes Zeichen für eine unkontrollierte Verbrennung, sondern eins für fehlerhafte Kühlung. Ja, wenn die Sonne stark auf die Metallkarosserie scheint, wird sie sehr heiß, aber, nein, der Kraftstoff im Auto kann deshalb weder ausdünsten und wie Gas im Auto entflammt werden – vom Zündschlüssel, den man in das Auto steckt – noch von der Hitze entzündet werden.

Die Gleichzeitigkeit ist in dem Beispiel sowohl die Bedeutung des Wortes, als auch der Schlüsse, die ich damals gezogen hatte. Ich war kein irrational bockiges Kind, das rumspinnt und sich aus Lust am Horror in ein absolutes Katastrophenszenario reinsteigert. Ich habe aus den mir vorliegenden Informationen etwas geschlossen und eine absolut logisch nachvollziehbare Todesangst gehabt, die ich – anders als die Erwachsenen in meinem Leben – weder mit Erfahrungswissen konfrontieren noch mit Vertrauen in meine Bezugspersonen beruhigen konnte.
Bei dem Auto-Feuer-Thema war informierende Differenzierung wichtig, gerade weil es stimmt, dass mit dem Autofahren Feuergefahren bestehen, nur eben nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte.

Ähnliche Differenzierungsbedarfe habe ich bis heute, wenn es um Trigger für traumareaktives Verhalten geht. Nur dass das noch insofern einen weiteren Komplikationsgrad hat, als dass mir meine eigenen Schlüsse aufgrund der strukturellen Dissoziation nicht immer gleich bewusst sind.

Ich habe jetzt den Auslöser für meinen Rückfall in die Essstörung gefunden.
It’s a classic. Drohender Kontrollverlust aufgrund meines aktuellen BMI während meiner Schwangerschaft und unter der Geburt
Für mich mit meinem medizinisch vorbelasteten Autibrain eine absolut klare Kiste: Mediziner *innen haben ihre Werttabellen und daran orientieren sie sich. Punkt. Keine Diskussion. Meine Selbstbestimmung der hill, auf dem ich alleine sterben gelassen werde, weil natürlich niemand jemals wirksam gegen das widerspricht, wozu Ärzt *innen raten. Würde mir ein *e Behandler *in sagen, dass mein BMI irgendetwas nicht zulässt, würde mir niemand beistehen. Ich wäre alleine. Mit einem ausgesprochenen Risiko, das mich vielleicht noch nicht einmal wirklich betrifft, weil der BMI einfach viel mehr zur Messung sozio-ökonomischer und anderer sozialer Diskriminierungsfaktoren taugt als sonst irgendwas. Und es wäre komplett egal, ob ich damit recht habe oder nicht.
Ich wäre allein. Niemand würde mir mehr helfen. Ich wäre in Lebensgefahr.

Schon beim Aufschreiben dieses Absatzes habe ich, ohne es bewusst zu merken, mehrfach geschrieben: „Ich wäre alleine“. Und das, was ich nicht aufgeschrieben habe, hat einfach alle Traumaflaggen auf jedem Erker: „Andere würden mit mir machen, was sie wollen können für richtig/wichtig/angemessen/(mich zwingend) nötig halten, ganz egal, wie das für mich ist.“ „Ich müsste alles mit mir machen lassen, damit mich niemand alleine lässt.“

Da ist sie, diese tückische Gleichzeitigkeit von Gewalt-Trauma und Gewalt-Realität.
Ich habe wirklich und echt so gar keinen Grund, dem medizinischen Apparat grundsätzlich vertrauensvoll zu begegnen. Null. Und gerade im Themenkreis „Schwangerschaft und Geburt“ haben Menschen, die Kinder bekommen können, noch x-mal weniger Grund zur Annahme, im Fall des Falls wäre ihre Selbstbestimmung für irgendwen von Wert. Fast jeder Geburtsbericht einer traumatischen Geburt schreit zwischen den Zeilen in die Welt: „Ich hab zugestimmt, damit ich nicht allein sterbe.“
Da ist immer der Wunsch (und Auftrag und Pflicht und Eid) von Behandler*innen nicht zu schaden und von Angehörigen nur das Beste zu wollen. Und gleichzeitig eine Person, die genau deshalb zu Schaden kommt und die eigene Lebendigkeit (und/oder die des Kindes) als das Beste begreifen soll und in vielen Fällen auch muss.

In genau diesem Dreieck fand das statt, was ich heute als Helfertrauma aufarbeite.
Also jetzt gerade ganz akut. In jeder der letzten Therapiestunden. Ich, Hannah, bin immer wieder extrem aufgemacht an dem Komplex, an dem mein Ich entstanden ist. Als Schutzsystem für eine_n Jugendliche_n, die_r am Helfen anderer Schaden nimmt.
Logisch kommt es zu spontanen Querschlägern, unbewussten Schnellschlüssen, erst einmal nicht nachvollziehbaren Reaktionen, die auch aufgrund des Autismus nicht mal eben einfach mit ein bisschen mehr Reorientierung als sonst containt kriege. Ich bin gleichzeitig in der autistischen Kompensation (die ehrlicherweise auch weitgehend Retraumatisierungsvermeidung ist), der Traumaverarbeitung und in der Traumareaktion.

Ich bin gerade in einem Momentum des Traumaverarbeitungschaos. Das entsteht aus mehr Alltagsamnesien als sonst. Dadurch mehr Anspannung. Dadurch mehr Herausforderung an meine Autismuskompensation im Alltag. Die mich so schon oft über meine Grenzen bringt und mich dünnhäutig macht. Meine Dünnhäutigkeit bietet jüngeren Inneren unerwartet große Fenster in die Gegenwart. Meine Ängstlichkeit über das Gefühl ihrer Blicke durch mich hindurch wird zu einem paradoxen Helfer für mich. Ich habe Angst, sie zu spüren, aber durch meine Angst fühle ich mich sicher. – Wieder so eine Gleichzeitigkeit – Angst haben und so daran gewöhnt sein, dass es mehr Angst machen würde, wäre sie weg, weil ich mich dann nicht mehr sicher im Sinne von zuverlässig fühlen kann.
Und gleichzeitig zu all dem, was allein schon wirklich richtig schwer und zuweilen auch schmerzhaft ist, gehört ein Trigger, der mir – obwohl er mir jetzt unübersehbar erscheint – noch nicht wirklich bewusst war: „Jetzt geht DAS wieder los. Die Klapse und alles. Weil ich mitgemacht hab, aber nicht gut genug. Jetzt knall ich komplett unrettbar durch. Jetzt kann mir niemand mehr helfen.

Jetzt werde ich alleine gelassen.
Eingesperrt.
Mir selbst überlassen.

Ohne jede Möglichkeit, über mich zu bestimmen.

Weil ich zeitweise nicht mal mehr weiß, was ich will.
Was wollen ist.
Wie bestimmen geht.

Es wird eben doch nie enden.

Andere müssen vor mir geschützt werden.
Egal, wie das für mich ist.

Es ist das Beste, wenn ich nicht mehr hier bin.
Ich sollte weg.
Ich muss weg.“

Das hat dann alles gar nichts mehr mit der Verarbeitung von schwierigen Erfahrungen zu tun, sondern mit der Verarbeitung eines Selbstzustandes, in dem die schwierige Erfahrung nicht mehr nur in mir drin ist, sondern auch im Raum, im Kopf, im Herz meiner Therapeutin und dadurch mit einer anderen Perspektive angeschaut.
Ein Selbstzustand mit neuen bisher ungelebten inneren Zusammenhängen, Selbsterfahrungen und Handlungsmöglichkeiten.
Ich, wir alle als Einsmensch, könnten alles Mögliche machen. Da ist ja was zusammengekommen. Mehr verfügbar als vorher. So ganz objektiv draufgeschaut. Heute ist ja, auch wenn ich mich in diesem inneren Chaos befinde, alles sicher. Alles okay soweit. Und gleichzeitig können wir das noch nicht. Wir können gerade nur, was wir als System jeweils können.

Ich kann richtig kompetent Angst haben und meine Therapeutin anrufen und auf alle ihre Fragen „Ich weiß nicht antworten“, darüber komplett verzweifeln und genau deshalb aber auch präsenter und alltagshandlungsfähiger werden.
Die Anderen können die Kämpfe wieder aufnehmen, die sie damals gegeneinander geführt haben, weil sie gegen nichts und niemanden außen kämpfen konnten. In Form von der Essstörung. Das ist ihr Ding. Ihr Lösungsweg.

Ein Lösungsweg, der schon damals überkomplex war und über zwei andere Systeme hinweg überhaupt gar nichts verbessert hat. Aber etwas sichern konnte. Selbstbestimmung als aktiver Akt. Also etwas, das jeden Tag in bestimmten Handlungen gemacht werden kann.
Selbstbestimmtes nicht alleine Verhungern. Selbstbestimmtes hoffentlich vielleicht an Erbrochenem ersticken. Selbstbestimmter Magendurchbruch. Selbstbestimmter Dauerbauchschmerz. Selbstbestimmte Heimlichkeiten. Selbstbestimmte Schamgrenzen. Selbstbestimmt weggegebene Würde. Selbstbestimmte Zahlenziele. Selbstbestimmte Ideale. Selbstbestimmter Zeitlupensuizid.
0 % Angst. 100 % Kontrolle über die Inneren anderer Systeme, die immer wieder aus ihnen rausbrechen, weil sie um ihr Überleben kämpfen.

Vielesein ist genau diese Art der Gleichzeitigkeiten immer und auf so vielen Ebenen.
Alles ist immer irgendwie verbunden und gleichzeitig komplett voneinander abgetrennt.
Ich kann das alles wissen und trotzdem von genau den Dingen, die ich weiß und über die ich schon tausend Mal gesprochen habe, radikal geschnetzelt werden, einfach nur, weil irgendein bisher nicht so präsentes Innen durch meine Haut sieht und versteht, dass Gewicht immer noch Relevanz in Bezug auf die Selbstbestimmung hat.

„Ja, so wie damals, aber nein, nicht so.“, in einem anderen Szenario könnte ich mich hinsetzen, mich konzentrieren und die Sicherheit vermitteln, das zu erklären. „Schau hier sind die Unterschiede, das läuft so und so … deshalb ist es zwar gleich, aber nicht gleich.
In diesem heutigen Jetzt müssen wir alle, die anderen Inneren und ich alle zusammen, das von anderen Menschen erklärt kriegen. Ich brauche Sicherheiten, die anderen das konkrete Erleben von Selbstbestimmung durch für sie so radikale Akte wie selber etwas (anderes als den Essens/Selbstverletzungs/Suizidschissel) wollen und es dann tun. Wie das geht, müssen wir lernen. Mit Anleitung, denn so etwas hat noch kein Mensch von alleine gelernt.

was es gekostet hat

Ich steige mit der Tür ein. Der gelben Tür, die hinter mir zuschlägt und alles verändert. So beginnt mein Manuskript, weil ich so beginne. Nie kam ich davor. Mir fehlte ein Bindeglied. Eine Idee von mir bevor der Deckel der Station schwer in seinen Rahmen schlug.

Zuletzt haben wir in der Therapie viel Raum dafür gelassen, was mich dahin gebracht hat. Was mich gemacht hat. Zuletzt ging es viel um die Klapsleichen. Davor darum, was es uns gekostet hat, Objekt des Hilfesystems zu sein. Am Ende der Stunde war ich zerschossen von den Querschlägern meiner Gefühle.

„Sie waren absolut am Boden“, hat meine Therapeutin gesagt.
Sie hat in 13 Jahren nur zwei Mal etwas gesagt, das mich in einer Situation ähnlich eindeutig verortet, beschreibt, einordnet.
Jetzt fühlt es sich an, als hätte sie damit einen Keil unter die gelbe Tür geschoben. So, als hätte sie eine Kraft aufgebracht, eine Klarheit hergestellt, um die ich seit vielen Jahren gerungen, doch nie erreicht habe.

Ich kann es auf meiner Haut spüren. Dieses „Vorher“, das wie eine Hitzewand vor der Tür steht und die Eigenschaft hat, mich in eine 14-Jährige zu verwandeln, die nicht weiß, wie ihr geschieht, eigentlich noch 13 ist und diese Tür als entbeinende Schleuse erlebt. Als entkernendes, ent-selbstigendes Moment.
Mein Gefühl ist drückend uneindeutig. Die Erkenntnis aber klar.
Das hat es sie gekostet. Nicht nur die Familie. Die erweiterte Familie. Vermögen. Schulfreund *innen. Die Band. Die Chöre. Die Gemeinde. Die Freund *innen da. Die Nachbarin mit dem Klavier. Die Anarchofriends. Jede Aussicht auf Zukunft. Jeder Raum für eigene Wahrheit. Persönliche Freiheit. Selbstbestimmung.

Es hat sie auch sich selbst gekostet.

Fundstücke #91

Ich legte auf und hielt mein Gesicht nah an den Ventilator.
Die kalte Luft bewegte meine Wimpern, das Summen des Motors rüttelte meine Gedanken in eine Richtung.
So ist das also, wenn ich darüber rede. Meine Essstörung. Und das. Also alles. Irgendwie. Draußen fahren immer noch Autos lang, das Korn wiegt sich, die Maschine vor mir pustet Geräusch und Wind auf mich.

Ich habe nicht erwartet, dass die Welt untergeht. Aber ich habe erwartet, dass es mir schlecht geht. Dass ich mich mit einer Antwort befassen müsste, die mich überfordert oder verletzt. Obwohl ich mir ein Gegenüber gesucht hatte, das sich auskennt. Und mehr Sicherheitsvorkehrung praktisch nicht möglich ist. Am Ende sind Gespräche unkontrollierbar, Menschen unvorhersehbar, empfindliche Themen empfindlicher Menschen einfach sehr empfindlich.
Da kommt der Mut ins Spiel.
Oder die Verzweiflung.
Druck auf jeden Fall. Energie. Kraft.
Und davor eine Entscheidung für den Kontakt. Nicht: der Wunsch nach Kontakt oder die Hoffnung darauf. Sondern: Ja, das mache ich jetzt.

Die Person fragte mich, warum ich bisher noch nicht mit meiner Therapeutin darüber gesprochen habe. Das war eine gute Frage für mich. In der Antwort war für mich ein Faden zu meinem Grundproblem rund um die Essstörung und warum ich sie jetzt nach über 20 Jahren in meinem Leben erneut belastend erlebe. Rosenblattscher Classic: Angst und Vermeidung. Keine Angst vor dem Beziehungsabbruch oder Verletzung, sondern vor Überforderung und Enttäuschung. Scham und Ohnmacht. Wir haben ein Arbeitsverhältnis – ich habe hier etwas am Laufen, vor dem ich mich handlungs- also arbeitsunfähig erlebe.
Und die klapstrainierten Patient_innen in mir werfen sich mir jedes Mal schreiend vor die Brust, wenn ich auch nur plane, Anlauf zu nehmen, um ihr zu sagen: Ähm, ja hm, wir machen grad hier Traumadings, das wir schon ewig angebahnt und vorbereitet haben in 14-tägig stattfindenden Terminen – wie wärs mit einem Problem, das ich schon länger habe und zu dem ich nicht mal eine Lösungsidee habe, die nicht davon beeinflusst ist?

Es ist eine pragmatische Entscheidung dagegen. Ich weiß, dass mir die Traumaarbeit mit anderen Innens in der Regel neue Einordnungskompetenzen und manchmal auch Handlungsfähig- und fertigkeiten gibt. Die Therapie wie ich sie jetzt nutze, ist für dieses Problem eher komplementär hilfreich. Also zusätzlich zu anderen Dingen.
Und es ist eine vermeidende Entscheidung, einfach aus dem Umstand heraus, dass ich mich gerade wegen meiner Kinderwunschbehandlung damit befasse. Ich weiß, dass meine Therapeutin nicht ewig am Symptom rummachen würde, sondern direkt an die Störungsquelle geht. Ist ja schlau. Effizient. Wegen dieser Eigenschaft bzw. dieser Kompetenz schätze ich sie als Arbeitspartnerin sehr.
Die Störungsquelle liegt jedoch im medizinischen Kontext. Ein Kontext, den ich von verschiedenen Seiten her als gewaltvoll und traumatisierend erfahren habe. Und ich will nicht von ihr hören, dass das dazugehört. Dass man da nichts machen kann, weil es ist, wie es ist und tja, mit unsensiblem oder grenzberührendem Umgang, Inkompetenz oder mit der „nicht jederzeit alles auf Zettel haben können“-heit anderer Menschen und der generellen Alternativlosigkeit muss man halt klarkommen. Das können mir alle Hanzeln und Franzeln auf der Welt sagen, die nicht wissen, was ich in Krankenhäusern erlebt habe. Die nichts von den Patient_innen in mir wissen. Und die mit solchen Aussagen ja auch markieren, dass sie gar nicht mit mir in Kontakt kommen wollen.
Aber meine Therapeutin soll mir das nicht sagen. Sie soll auch nicht in Gefahr geraten, mir das potenziell aus Versehen aus einem Moment von „kurz mal irgendwie nicht ganz so konzentriert sein“ zu sagen. Und da ich es ihr nicht verbieten kann und Gespräche insgesamt unkontrollierbar sind, kontrolliere ich mich. Und vermeide.

Da geht es überhaupt nicht um mein Vertrauen in sie, sondern um mein Vertrauen in den Lauf der Dinge. Meine Erfahrungen mit dem Unkontrollierbaren. Ich bin mir so bewusst darüber, dass ich mich im Gespräch mit ihr nicht schützen kann, ohne mich gegen den Kontakt mit ihr zu entscheiden (und im Zuge dessen möglicherweise sogar so stark zu dissoziieren, dass ich zu einem anderen Innen wechsle), dass es letztlich sogar mehr Entscheidung für den Kontakt mit ihr als dagegen ist.

Ich weiß, dass diese traumalogische Kette für die Begleiter_innen und manchmal auch Behandler_innen von komplex traumatisierten Menschen ein wiederkehrendes Problem darstellt. Manchmal wird es für beide Seiten ein dauerhaft anstrengendes Ringen um Wollen und Sollen, Einladungen wahrnehmen, glauben und annehmen bzw. Einladungen machen und absichern – nur um dann doch vielleicht wieder bei Dissoziation oder Vermeidungsverhalten zu landen.
Weder meine Therapeutin noch ich sind alleine damit.

Umso wichtiger erlebe ich gerade meinen Ausbruch aus dem Risiko dieser Dynamik. Ich habe mir selbst erarbeitet, was mich belastet. Habe selbst beobachtet, welche Symptomatik wieder verstärkt ist und mich damit befasst, wie ich meine Vermeidung einerseits erhalten, andererseits vermeiden kann. Nur weil ich mit meiner Therapeutin nicht darüber sprechen möchte, muss ich nicht dazu schweigen oder generell erstarren und mich wieder von allem entfernen. Deshalb der Kontakt mit der Person am Telefon.

Es zeigte sich, dass mein Problem, meine Essstörung gerade durch keine meiner üblichen Maßnahmen containen zu können, von mehreren Faktoren beeinflusst wird.
Wir müssen sortieren. Was geht pragmatisch? Wie kann ich meine Angst vor bestimmten Lösungsversuchen konkretisieren und in der Folge aktiv beruhigen? Wie viel Vermeidung ist mir bewusst und wichtig und wie viel reflexhaft aus traumalogischen Vorannahmen heraus und dadurch doppelt zu prüfen?
Mir hilft gerade auch etwas aus dem Buch „Trauma verstehen, bearbeiten und überwinden“ von Prof. Dr. L. Reddemann und Dr. C. Dehner-Rau im Kapitel „Was hilft bei Angst und Panik?“. Darin gibt es einen Absatz dazu, dass es absurd klingen mag, aber dass Angst manchmal auch ein Schutz vor Dissoziation ist, wenn es (unbewusst) erträglicher ist, Angst zu haben, als Derealisation oder Depersonalisation zu erleben. Das trifft auf mich in manchen Situationen definitiv zu, weil Angst mich aktiviert und Dissoziation deaktiviert. Jetzt weiß ich zwar noch nicht genau, wie ich das in meinem Unterfangen konkret für mich nutzen könnte, aber es gibt mir einen weiteren Hinweis auf eine Energiequelle in mir. Und es setzt meine Angst in ein Verhältnis zu mir, in dem sie nicht mein Feind ist, obwohl sie es mir gerade schwer macht, ein echt ungünstiges Problem anzugehen.

die Videos

Ich verlasse das kühle Haus und stoße gegen unbewegliche Hitze.
Wir hatten einen besonderen Termin, meine Therapeutin und ich. Und meine Freundin K.. Wir kamen zusammen, um zwei Videos zu besprechen, die ich seit 23 Jahren wie zwei glühende Wackersteine mit mir herumtrage. In jeder Hinsicht.
Die Videos zeigen zwei Situationen im professionellen Setting. Mich mittendrin. Erst 16, dann 17 Jahre alt. Erst dick, dann dünn. Erst angespannt, dann sicherer. Ich habe vor 10 Jahren schon mal versucht, sie anzusehen, eine unerträgliche Panik hat den Versuch beendet.
Und auch diesmal sehen wir sie nicht an. Wir sprechen darüber drüber.
Meine engsten Vertrauten haben es gesehen. Ich glaube ihnen. Vertraue darauf, dass sie mir den Inhalt richtig wiedergeben.

Ich wollte wissen, ob ich bequatscht wurde. Mir die DIS eingeredet, ich falsche Annahmen ausgelöst oder bestätigt habe. Wollte wissen, wie meine Therapeutin die Situation aus professioneller Perspektive sieht. Wie meine Freundin aus ihrer. Haben sich die Erwachsenen in dieser Situation angemessen und professionell verhalten?
Hätten wir es angesehen, hätte ich mich betrachtet. Versucht mich zu sehen, zu erkennen. Wer war da? Willenlose Klapsleiche, compliant Patient*in, loyale Tochter oder böses Mädchen?

Und ohne dass es mir wirklich bewusst war, war da auch die Frage, ob man es sieht.
Meine Verlassenheit. Meine Unterlegenheit. Meine Auslieferung. Meine Machtlosigkeit. Meine Unreife. Meine Überforderung. Mein Leiden.
Nicht unter der DIS. Nicht unter den Symptomen. Nicht unter mir selbst, sondern allem anderen.

Als im Zug die Klimaanlage meine Haut kühlt und die Landschaft an mir vorbeizieht, rutscht eine Traumawahrheit in mich hinein. „Niemand sieht mich.“
Eine Wahrheit, die ich routiniert abwehre. Denn ich bin ja eine gute Patientin, nicht? Ich bin kein Opfer mehr, deshalb sind solche Gedanken und Gefühle ja kompletter Quark. Ich werde ja gesehen. Guck hier Realitätscheck: Seit über 20 Jahren gucken mich Therapeut_innen an. Heute ist heute, die Realität ist klar und deutlich eine, in der ich gesehen werde. Es ist ja niemand in meinem Umfeld komplett ignorant oder rücksichtslos. Alle stellen sich auf mich ein und fragen, was ich brauche, sind für mich da, wenn ich möchte – das ist doch „gesehen werden 3000“.
Oder etwa nicht? Was will ich denn noch mehr? Gibt es denn da überhaupt keinen Punkt, der mir reicht?

Dieses Empfinden des endlosen Bedarfs, des unerfüllbaren Brauchens, das ist für mich, die_r lange ausschließlich im therapeutischen Kontakt präsent war, bis heute etwas, das ich nicht ausdrücke. Erwähne. Bespreche.
Dieses Empfinden ist gefährlich für mich. Es führt in Mutter-Übertragungen, in Dynamiken, die mit Überforderung oder Unzulänglichkeitsthemen auf Behandler_innenseite zu tun haben und damit – so meine Erfahrung bis zur Arbeit mit meiner jetzigen Therapeutin – in den Kontaktabbruch. Die Entlassung in die Lebensgefahr.

Den Balanceakt, den es bedeutet die traumareaktiven inneren Bedarfe (anderer Innens) zu spüren, die eigene Hilfebedürftigkeit zu bemerken, aber im richtigen Maß zu kommunizieren, angemessen mit den zur Verfügung gestellten Ressourcen zu stillen und dabei immer wieder zu vermitteln, dass es reicht, obwohl es das nicht immer tut oder nicht richtig oder an einer Stelle, die unerwartet dazugekommen ist – diesen Akt, zu schaffen war ein Kernaspekt meiner Präsenz.
Hätte ich, Hannah, wir Rosenblätter, uns nicht herausgeschliffen aus dem, was die Lebensrealität einer komplex traumatisierten Person mit DIS in Armut, mit damals noch nicht bekannter Behinderung und ohne nicht professionelle Bezugspersonen, zwischen 2002 und 2012 bedeutet hat, hätte unsere Klapskarriere nie geendet. Wir hätten nie aufgehört, nach Hilfe zu schreien. Nach Rettung. Nach Gesehenwerden in der Not. Da bin ich mir sehr sicher. Der Strudel, der mit diesem, aber natürlich auch noch vielen anderen Fragmenten des Trauma(wieder)erlebens einhergeht, ist einfach regelhaft Kompetenzen und Ressourcen üb.er.fordernd für Helfer_innen. Für Begleitende. Für Freund_innen.
Und dabei ist eine Sache leider die: Niemand kann jemanden die_r sich in absolut existenziell bedrohlicher Lage erlebt, jemals sehen. Denn sobald man jemanden sieht, ist die Lage einfach nicht mehr existenziell bedrohlich.

Was ich da fühle, ist „mein Opferscheiß“. Es ist Mimimi. Es ist das „Gah, das ist alles schlimm und scheiße und ich brauche unbedingt …“, das im Heute nicht mehr real ist – und ein reales Gefühl. Eine manchmal extrem dringliche Empfindung. Eine, die ganz real und in mir drin alles bestimmend wirkt, obwohl ich sie nicht habe. Obwohl ich sie empfinde. (Ja, so kompliziert ist „eine DIS haben“.)

Meine Kompetenz ist, diesen Unterschied zwischen Früher und Heute zu machen und den unerträglichen Clash, den diese Unterschiedlichkeit von Realität und Empfinden auslöst, nicht unaufgefordert oder aus eigenem Belastungsempfinden heraus zu kommunizieren.
Früher habe ich ihn nicht einmal empfunden. Da war ich noch viel stärker dissoziiert von den Anteilen, die diese Bedürftigkeit als akutes Erleben in einer Gewalterfahrung hatten. Heute schwappt das deutlicher zu mir über. Und mein Umgang damit ist weiterhin abwehrend nach innen, um nach außen nicht davon beeinflusst zu werden. Früher ging es dabei viel um Performance, heute eher um Funktionserhalt. Ich habe nun keine Therapeutin mehr, die mein Verhalten mit meinem Sein gleichsetzt – daher habe ich keinen Performancedruck mehr. Trotzdem ist nach wie vor in mir drin: Wenn ich da bin, bleibt dieser gefährliche Opferscheiß entweder komplett raus oder wird passend abgeschwächt – sonst funktioniert das hier nicht sicher als Therapie und damit ich selbst nicht mehr.

Und der Anfang von diesem Ding – diesem Anspruch therapiegerecht zu funktionieren, während gleichzeitig ganz andere existenzielle Höllenfeuer laufen, die aus unterschiedlichen Gründen heraus nicht lösbar, beendbar, benennbar, besprechbar oder (wieder) gut machbar sind und entsprechend unsichtbare Innere komplett allein lassen – dieses Ding hat da angefangen.
In einem Setting, in dem man mich bis heute ansehen kann. In dem ich schon damals von sehr viel mehr Menschen angesehen wurde, als mir lieb war. In dem ich mit meinem Vielesein gesehen wurde – mit 16 und nicht erst mit 26, 36 oder 46, was sich viele andere Viele wahrscheinlich sehr gewünscht hätten.

Aber ich war damals nicht nur eine Patientin mit DIS.
Ich war auch eine 16- dann 17-jährige Person im X. psychiatrischen Aufenthalt, weil sie absolut keine Kontrolle über sich selbst hat. Ein_e Jugendliche_r, die_r froh ist, nicht mehr zu Hause zu sein und gleichzeitig schwer heimwehkrank. Ein Teenager mit unerträglicher Kindheit. Eine Patientin, in ständiger Anspannung, dass sich die Missbrauchssituation durch einen Psychologen wiederholt. Eine Tochter ohne Familie. Ein_e Heranwachsende_r ohne Freund_innen. Ein Opfer, das nur von Täter*innen hört, dass es gut wäre, wäre es nicht länger in der Psychiatrie. Ein_e hochbegabte Person, die sich gleichzeitig runterdummen und intellektuell massiv überfordernden Inhalten widmen muss. Eine unerkannt autistische Person mit gleichermaßen unerkannten Kommunikations- und Verständnisproblemen. Ein_e Jugendliche_r, mit Todesangst vor dem Leben. Jemand, die_r ziemlich genau nur eine Perspektive in die Zukunft hat – nämlich die immer an sich arbeiten zu müssen, weil das Leiden sonst nicht aufhört.
Ich war so viele.

Doch egal wie gewogen, befreundet, vertraut man auf diese Aufnahmen schaut, man sieht nur, was die Kamera damals aufgezeichnet hat.
Und das war nicht das Leiden.

Dass ich weiß, dass ich fühle, dass ich mir sicher darüber bin, dass K. und meine Therapeutin es trotzdem sehen, ist eine besondere Erfahrung für mich. Sie verbindet mich mit der Realität. Mit dem Heute. Mit der Welt, in der diese Erfahrung möglich ist, weil ich Teil davon bin.

Und es ist meine Erfahrung. Mein Gefühl. Mein Wissen. Meine Sicherheit.
Nicht die der Inneren, die sich damals nicht gesehen gefühlt haben.
Der Clash zwischen ihrem Gefühl und meiner Realität, er begleitet mich über Tage und verschwindet rückstandslos, als sich durch mein Alltagsgekruschel einfach keine weitere Lücke ergibt.
Muss ich da jetzt hinterher? Wollen sie das? Brauchen sie das? Ich habe keine Ahnung. Niemand wird es mir sagen können.
Aber merken werde ich es. Wir sind nicht mehr so weit voneinander getrennt.
Aufarbeitung ist ein Prozess.

die Ausnahme, Teil 1

„Beweglich wie die Hindenburg“, denke ich unzufrieden mit mir selbst, als ich die Praxis meiner Therapeutin verlasse. Ineffizient komme ich mir vor. Komplett behämmert, hätte ich jetzt Zeit und Raum für eine altbewährte Selbsthass-Schleife. Ich habe aber nicht mehr viel Zeit. Die Therapiestunde war sehr lang, ich habe nur noch 50 Minuten für meine anderen Erledigungen, bevor mein Zug nach Hause abfährt. Der Stress macht es mir leicht, den Fokus nach außen zu drehen. Ich ziehe durch. Erledige alles, arbeite im Zug, fahre vom Bahnhof direkt zum Training und von da nach Hause.
Erst geduscht, mit dem Abendessen im Bauch, kann ich mich wieder etwas aufmachen.
Erst dann hole ich die Puppe aus dem Rucksack und lege das schöne Packpapier, in das sie eingeschlagen war, flach ins Bastelregal.

Die Puppe habe ich in Italien gekauft. Im Spielzeugladen in Arezzo.
In meinem üblichen Alltag gehe ich nur in Spielzeuggeschäfte, um jemandem ein Geschenk zu besorgen. Für mich selbst kaufe ich bei diesen Gelegenheiten entweder einen Kreisel, denn die sammeln wir, oder sensorisch interessante Tüddel, die in die Hosentasche passen.

Ich ziehe ein gewisses Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen Vielen aus dem Umstand, dass ich in solche Geschäfte gehen kann, ohne in einen kindlichen Zustand zu kippen. Überhaupt bin ich ziemlich stolz darauf, mich in der Hinsicht inzwischen überwiegend im Griff zu haben. Also in 99,9 % der Fälle. 0,01 % der Fälle sind Traumareaktionen. Wechsel, die ich nicht beeinflussen kann, weil ich die Situation nicht (genug) beeinflussen kann. Etwa in der Therapie oder in Situationen, die traumatischen Situationen sehr ähnlich sind. Wie der Zustand nach einer Narkose.

Ich mag, dass Kindliches praktisch kaum eine Rolle in meinem Leben spielt. Ich habe keine designierte „Innenkinderzeit“, ich mache keine außerordentlichen Besonderheiten speziell für meine Kinderinnens und die haben auch keine Freund_innen oder Aufgaben im außen. Es gibt sehr eng gesteckte Rahmenbedingungen dafür, wann Innenkinder etwas neben mir her miterleben oder mitmachen dürfen bzw. können. Und noch viel engere dafür, dass sie sich mit mir vermischen.
M., eine frühere Freundin von mir, fand mich immer fies deswegen. Hat oft zum Ausdruck gebracht, ich wäre viel zu hart, viel zu krass, viel zu brutal in der Hinsicht. Mich hat es verletzt, dass sie nie die Fiesheit, die Brutalität gesehen hat, die dazu führte, dass ich diese Haltung entwickelt habe.

Meine „Fiesheit“ an der Front ist ganz klar das Ergebnis von therapeutischen Eingriffen in stationären Kliniksettings. Von der Brutalität, die sich daraus ergab, dass ich auf eine psychiatrische Unterkunft und Hilfe angewiesen war, um zu überleben, aber Wechsel, dissoziatives Erleben, bestimmte „auffällige Symptomatik“ (wie es Wechsel zu traumareaktiven (kindlichen) Anteilen nun einmal sind) teils massiv sanktioniert wurden. Unterstützung von der Pflege – nur als Erwachsene_r. Anerkennung von Leiden, Beistand in unerträglichem Wiedererleben oder emotionalen Flashbacksituationen – nur wenn man sprechen und verstanden werden kann. Nur, wenn sich Pflege, Betreuung, Therapeut_innen sicher und wohlfühlen, sonst Keule. Also Medikamente. Betäubung. Kopp zu.
Zudem bin ich unter diesen Bedingungen erwachsen geworden. Ich war 16 als das anfing und Anfang 20 als es aufhörte. Den Umgang anderer Menschen mit meinen dissoziativ von mir getrennten kindlichen Anteilen habe ich häufig als etwas erlebt, das benutzt wurde, um mich in meiner Selbstbestimmung einzuschränken und in meiner jugendlichen Alltäglichkeit bzw. jungen Erwachsenheit infrage zu stellen.
Und als Einfallstor der Überforderung für Therapeut_innen, die entweder keine oder wenig oder keine fundierte (bindungs)traumatherapeutische Vor-, Weiter-, Fortbildung hatten und entsprechend inkompetent mit Übertragungen, Traumaexploration- oder -exposition umgegangen sind.

In der Zeit konnte ich nicht verhindern, dass es zu Wechseln (für mich: Amnesie) kommt – diese Gefahrensituationen sind immer wieder aufgetreten und ich hatte zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit, irgendwelche Konsequenzen abzuschätzen. Sollte sie aber antizipieren, um von Therapieerfolg oder Entlassung ausgehen zu können. Ich dachte also, ich würde nur dann je normal oder gesund sein, würde ich mich zu jedem Zeitpunkt kontrollieren können. Und Kontrolle, das hatte ich mir übersetzt mit dem Umgang, der mir in diesen Kliniken geschah: Unterdrückung. Kopp zu. Unsichtbarkeit. Es besteht Kontrolle, wenn niemand was von den inneren Vorgängen mitbekommt. Dann ist alles gut. Alle sind zufrieden. Niemand dringt in mich ein. Niemand überfordert mich.

Dieses Verständnis von Kontrolle über mich selbst nach innen hatte ich vorher nicht. Ich komme nicht aus einem Täter_innenkreis, der mich zur Unauffälligkeit erzogen hat. Mir wurde das nicht in irgendeinem dunklen Keller reingequält, sondern vor aller Augen und mit vollster Unterstützung der Gesellschaft psychiatrisch antrainiert. Ich sollte immer mitmachen – sonst. Ich sollte immer verstehen – sonst. Ich sollte immer reden, denken, einsehen – sonst. Und ich dachte und spürte sehr genau, dass ich nur überlebe, wenn ich diesem Anspruch auch Folge leiste.
Meine Gefühle, meine Einschätzungen von bestimmten Dingen, die wurden stets als bekannt vorausgesetzt und nur von einer Therapeutin, in der Tagesklinik, die ich dann als junge Erwachsene öfter aufsuchte, auch mal abgefragt.
Meine Behandlung war in sehr vielen Bereichen ein von mir unkontrollierbarer Selbstläufer, den ich sehr lange weder verstehen noch wirklich selbstbestimmt mitgestalten konnte. Es war die beste Entscheidung, die ich für mein Weiter- und Rauskommen aus diesem stationäre Psychiatrie-teilstationäre Tagesklinik-Drehtür-Elend treffen konnte, einfach ganz extrem böse fies gemein brutal hart gegenüber meinen Kinderinnens (und Jugendlichen und Bösen und Dunkelbunten …) zu sein. Und sie so weit wie nur irgend möglich zu versiegeln – noch bevor ich sie überhaupt selbst mal frei und im sicheren Rahmen wahrgenommen oder auf ihre Funktionen für mein Innenleben geprüft habe.

Soweit meine Erzählung.
Die übliche Traumaerzählung über so fiese Kinderhasser-Innens wie mich ist: ANPs, die alltagskompetenten (angeblich) untraumatisierten Anteile, suchen Kontrolle über sich, weil sie so die Konfrontation mit dem Trauma vermeiden. Kinderinnens = Traumaträger, also Kinderinnens – Nein, danke. Will ich nicht, kann ich nicht, Adios, Tschö, bitte gerne ohne mich
Ist viel dran. Keine Frage. Trifft komplett auch auf mich zu.
Enthält aber auch das Problem, dass man Verhalten zum Zustand erklärt und in der Folge aus dem Blick verliert, zu prüfen, ob es durchgehende Eigenschaften, Merkmale, Prädispositionen gibt, die dieses Verhalten auch bedingen.

Ich bin nämlich nicht nur extrem fies zu Kinderinnens. Ich bin auch richtig gemein zu Anteilen, deren Auftauchen oder Bedarfslage unsere Handlungskripte herausfordern oder bestehende Situationen unübersichtlich machen. Und dabei geht es 0 um Traumakonfrontationsvermeidung, sondern um die Vermeidung einer Traumatisierung.
Ich bekomme Probleme durch „abweichlerische Innere“, weil mir diverse alternative Handlungsskripte fehlen, die ich heute als erwachsene Person einfach nicht mehr beigebracht bekomme und für die mir auch kaum mehr Lern- und Übungsraum zugestanden wird.
Die Erwartung ist, dass ich jederzeit einfach weiß, welche Konventionen wann greifen, einfach merke, was wer wie wann warum meint oder denkt oder fühlt. Verhalte ich mich unkonventionell oder sozial unangemessen, wird einfach angenommen, dass ich ne schräge (gefährliche) Else oder „voll gegen den Mainstream“ bin. Und entsprechend ist der Umgang mit mir. Man fürchtet mich vielleicht einfach oder meidet mich oder tritt mir gegenüber konfrontativ auf – und ich weiß nicht, warum.
Oder man öffnet sich mir gegenüber komplett in der Annahme, ich wäre bereit für emotionale oder auch sexuelle Intimität und ich muss gucken, wie ich das balancieren kann und will. Grenzen dies das – Sicherheit! dies das. Und das immer unerwartet, nicht beeinflussbar und unabhängig davon, welches Innen aktiv ist oder wo wir gerade sind oder was wir warum, wie mit wem machen.
In diesem Zusammenhang ergibt sich die traumareaktive Dynamik erst nach einer ganz anderen Problematik, nämlich der, ein autistischer Mensch unter nicht-autistischen Menschen zu sein und als solcher den Alltag, aber auch die Therapie, die Beziehungen und Lebensthemen zu navigieren.

In Italien zu sein, war eine der krassesten positiven Ausnahmesituationen der letzten Jahre für mich.
Ich mache Ausnahmen. Ich kann Ausnahmen. Wenn ich weiß, wie lange, wofür und warum.
Und manchmal werde ich in so einer Situation über.mutig. Dann denke ich, dass, weil in der Situation, in diesem Moment im Grunde alles möglich ist, weil es eine Ausnahme ist, mir selbst auch alles möglich ist.
Neue Dinge auszuprobieren, fällt mir dann auch tatsächlich leichter. Essen, das ich nicht kenne. Mit Menschen reden, die ich nicht kenne. Irgendwo schlafen, wo ich noch nie geschlafen habe, zum Beispiel.
In einer Ausnahmesituation sind für mich alle Parameter sämtlicher Eigenschaften und möglicher Verläufe in die Zukunft auf einem Level. Alles kann genauso gut, wie schlecht laufen.
Das Gantt-Flussdiagramm in meinem Kopf, über die Abläufe, Funktionen und Mechaniken in meiner direkten Umgebung, wird dann eher zu einer Momentsammlung. In einer Ausnahmesituation kann ich gar nicht viel mehr aufnehmen und prozessieren als den akuten Moment. Ich weiß, dass ich mich an Ausnahmen nur selten so umfänglich und detailliert erinnern kann wie an meinen Alltag. Vor allem nicht, wenn ich mir keine Notizen mache oder Ankerpunkte zum Prozessieren setze. Wie und was genau ich da erlebe – die Kapazität, das einzuordnen und zu bewerten, die halte ich dann gar nicht erst bereit.

Ausnahmen, die ich gezielt zulasse, müssen sich für mich lohnen. Ich muss mich sicher fühlen. Ich muss (wenigstens für mich allein) wissen, dass ich sie jederzeit sofort beenden kann und niemanden dafür brauche.
Dort im Spielzeugladen von Arezzo war die Ausnahme bereits bestehend. Und ich in alle Richtungen offen wie ein Scheunentor. Hätte mich etwas ungünstig getriggert, hätte es mich umklatschen können und tja Ciao Kakao, mal gucken, wie es weitergeht. Es hat mich aber nichts getriggert. Ich stand da, Lisa, die Praktikantin, mit der ich da war, zeigte mir ein besonders weiches Objekt und ich folgte einem Wunsch, die anderen Gegenstände in dem Regal auch anzufassen. Uns, einigen Kinderinnens, Jugendlichen und mir, hat ein Objekt gut gefallen, weil es viele verschiedene Strukturen hat. Wir wollten es haben und wir haben es gekauft. Nicht sofort, aber auf dem Rückweg, als mir klar wurde, dass ich es nicht umsetzen würde, wäre die Ausnahme vorbei. Ohne Ausnahme kaufe ich im Spielzeugladen einen Kreisel oder einen Tüddel oder ein Geschenk. Das ist das Skript. Zu Hause habe ich keinen Anlass für eine Ausnahme.
Wir bezahlten das Objekt, das ich, einmal ausgesucht und länger in der Hand, überhaupt erst als Puppe erkannte, und sagten ja, als wir gefragt wurden, ob sie eingepackt werden soll. Und so brachten wir sie nach Hause. In einer großen bunten Papiertüte, in braunem bedrucktem Packpapier.

Die Tüte stellte ich ins Schlafzimmer, meinen Rucksack in den Flur. Ankommen, auspacken, Wäsche waschen, den Text schreiben, Maillawine auffangen …
Alles war gut.
Bis ich am nächsten Morgen an der Tüte vorbeiging und von echter Panik ins Gesicht geboxt wurde.

die Reise nach Italien

„Das ist also Bologna“, denke ich reiseneblig im Kopf.
19 Grad, Regen. Im Kiosk hängen Schinken von der Decke, am Gleis patrouillieren zwei Soldaten. Wir haben etwas Zeit bis zum letzten Umstieg, ich übernehme die Gepäckwache. Seit etwa 24 Stunden tue ich etwas, was man nicht mal eben so tun sollte. Ich folge der Einladung einer fremden Person, die ich nur aus Mails und einigen Zoomgesprächen kenne. Erst nach Bayern, dann nach Italien. Genauer in das ländliche Umland von Arezzo. Das Gewicht meines Rucksacks ist erheblich, die Luft schiebt sich spürbar in meine Lunge. Die Menschenmenge rieselt gemächlich an mir vorbei. Ich warte auf Anzeichen für Gefahr, doch außer den beiden Soldaten und einem kleinen Trupp Securityleute sehe ich nichts. Es ist das übliche Bahnhofsgeschehen. Nur auf Italienisch. Binari. Pfeilsymbol. Servizio. WC-Symbol. Informazioni. Schaffnersymbol. Biglietti. Ticketsymbol. Uscita principale. Kein Symbol, also eine grundsätzliche Aussage? Eine prinzipielle Aussage? Kann hier nur ja nur irgendwas mit Herkommen oder Weggehen zu tun haben. Binari. Das Wort gefällt mir. Daniela ist die Person, die mich eingeladen hat. Matthias ist einer ihrer Mitarbeiter. Als die beiden zurückkommen, frage ich, was Binari bedeutet. „Gleis“, antwortet Matthias. Mir gefällt das Wort gleich noch mehr. Bi – Zwei – nari. „Zwei Naris ergeben ein Gleis“, denke ich. Später erfahre ich jedoch, dass „Narici“ „Nasenlöcher“ bedeutet und Binari, eigentlich eher „Spur“. Mein Kopf macht aus diesen Informationen einen Zug, der die Spuren abschnüffelt.

Bisher hatten wir keine Zeit, um miteinander zu sprechen. Der Zug von München bis Bologna war komplett ausgebucht, wir hatten keine Plätze zusammen. Doch nun sitzen wir einander im Zug nach Arezzo gegenüber. Draußen ist es bereits frühlingsgrün. Einzelne Berge und Hügel ragen in den hellgrauen Himmel. Matthias fragt mich nach Stationen meines Lebens, Daniela hört zu. Wann war was schwierig, wie hat sich was entwickelt? Ich bin nicht meinetwegen hier, deshalb verfolge ich den Anspruch, dass jede meiner Antworten auch der Klientin hilft, zu deren Wohn-, Hilfe- und Lebensort wir gerade fahren.

Es ist das erste Mal, dass ich so konkret als Helfer_in mit Helfer_innen zusammen bin. In der Regel bekomme ich E-Mails mit Fragen. Oder einer Bitte um Input. Wünschen nach Feedback, Meinung, Ideen aus meiner Perspektive als Viele, die das schon durch haben. Das, die schwierige Zeit. Die extrem angewiesene Zeit. Das, die Hilflosigkeit auf allen Ebenen. Manchmal auch die der Helfer- und Unterstützer_innen. Diesmal bin ich nicht Hannah, der (hoffentlich) hilfreiche Geist aus dem Internet, sondern Hannah, die_r zum Helfen kommt. So richtig mit Körper und Geist, Gepäck und Fahrtkostenthematik.
Als wir in Arezzo ankommen, werden wir abgeholt. Typisch deutsche Kinder- und Jugendhilfe: in einem alten VW-Bulli. Der Flashback scheppert sachte in meinem Hinterkopf, wird aber gut vom Zustand der Straßen und der Landschaft verstreut. Wir werden durchgerüttelt und fahren so enge Kurven, dass ein Wunder ist, dass wir niemanden dabei beobachten, wie sie_r aussteigt, das Auto hinten anhebt und auf der Stelle dreht.

Angekommen im Wohnhaus spüre ich das Summen in meinen Muskeln. Ich muss jetzt unbedingt liegen, die Augen schließen und den Gehörschutz unter den Kopfhörern haben. Mein Körper fährt noch Zug, meine Muskeln sollen verstehen, dass sie jetzt aufhören können, mich zu schützen. Obwohl alles neu ist. Fremd. Anders. Mein Körper schläft, bevor ich mich dazu entschließen kann.

*

Es gibt einen groben Plan. Darin trifft sich das Team und erlaubt mir, dabei zu sein, um einen Eindruck zu bekommen. Dieses Team ist besonders, weil Daniela und Matthias dabei sind. Sie sind nur ein Mal im Monat dabei, da kommen ganz bestimmte Themen auf den Tisch.
Danach gibt es ein Team mit der Klientin.

Wie wir da so sitzen, mit einem Tisch voller Nüsse und Kekse, Kaffee und Tee, einem Laptop und Notizenheftchen, fühle ich mich wie beim Plenum im Verlagskollektiv. R., Z. und A., die Jugendlichen in mir drin, können es kaum fassen. Das solls schon sein? DAS ist „Team“? Die verbotene Zeit? Die Zeit, in der niemand ansprechbar ist und man sich melden soll, wenn was ist, aber eigentlich wäre es jetzt richtig schlecht, wenn was wäre, weil es krass stört, also strengt man sich voll an, dass nichts ist, aber die Anstrengung macht alles schlimmer, also ist dann relativ schnell im Grunde alles was, aber man soll ja nicht stören, außer es wäre was, aber eigentlich wäre ja voll kacke, wenn jetzt was ist, weil es stört, also zerfasert man sich in tausend kleine durchsichtige Fäden, verschmilzt mit der Wand, dem Boden und der Decke und fragt sich vielleicht noch kurz, ob dieser kleine Tod nicht besser für immer wäre, weil man dann nie Gefahr läuft, jemals irgendwie zu stören, weil (man selbst) was ist.

Ich konzentriere mich. Sammle Eindrücke und Umstände, versuche die zeitgleiche Übersetzung für die italienischen Kolleginnen auszublenden. Schnell bin ich mir relativ sicher über die Quelle der Unsicherheiten und Momente des Unverständnisses zur Lage. Und erleichtert. Denn es ist nichts Großes. Nichts Schlimmes. Nichts, was nirgendwo sonst nicht auch passieren kann. Hier kann Information helfen. Verständnis über die Mechanik der dissoziativen Identitätsstörung. No need for special special „Das kann aber nur eine fachliche Fachperson leisten.“ Tatsächlich hat Danielas Gefühl gestimmt: Die Innensicht von jemandem, die_r Viele ist, kann das letzte Stückchen zum Verstehen- und Nachvollziehenkönnen entwickeln helfen.

Die Klientin hatte vor wenigen Jahren um Danielas Hilfe gebeten.
Die Diagnose stand bereits, als die Hilfe begann. Die Klient_in erlebt sich als viele und ist bis heute insgesamt instabil, obwohl die Hilfe kontinuierlich und sehr umfangreich geleistet wird. Wenn nicht Himmel und Hölle, so doch die eine oder andere lokale Mechanik wurde in gemeinsamer Anstrengung bewegt, um äußere Sicherheit für die Klient_in herzustellen. Aber wirklich besser geworden ist seitdem eher wenig. Krise folgt auf Krise. Niemand versteht wirklich so richtig, warum. Aber langsam kommt Erschöpfung auf. Reinkriechende Hilflosigkeit. Allgemeine Unsicherheit. Und die Frage „Helfen wir eigentlich richtig?“

Fachlich beurteilen kann ich das natürlich nicht. Sowas gehört in die Kategorie „special special fachliche Fachperson“ und die Einschätzung der Klientin.
Ich habe also geteilt, was ich mir als am ehesten zutreffend denke. Nämlich, dass man sich als Mensch ohne DIS und ohne Aufwachsen in konstant toxischem Stressniveau einfach nicht vorstellen kann, wie es ist am Leben zu sein, wenn das Stressniveau so viel niedriger ist und die dissoziative Identitätsstruktur zu stören beginnt.
Der Krankheitswert der DIS ist im Kern, nicht damit zurechtkommen zu können, wenn alles gut ist. Und zwar nicht wegen irgendeiner emotionalen, sozialen oder intellektuellen Einstellung, irgendwelcher Werte oder Persönlichkeitsmerkmale, sondern ganz schlicht und einfach, weil der ganze Körper in praktisch allen Funktionen daran angepasst ist, unter Stress – und zwar existenziell bedeutsamem Stress – zu leben.

Es erscheint widersinnig, ist aber für (komplex) traumatisierte Menschen einfach logisch und wichtig, Krisen zu haben – und wenn nötig auch zu produzieren, um in (genug) Stress zu kommen, um dann bestimmte Funktionen abrufen zu können. Das ist (soweit ich das von anderen Vielen und mir selbst mitbekomme) nie eine bewusste Entscheidung, sondern eher wie eine Art unbewusster Pfad oder das, was Ungeschlagene manchmal auch als Intuition bezeichnen. Bewusst oder unbewusst ist so gut wie immer klar: „Wenn die Lage komplett eskaliert, es saugefährlich ist, ALLES auf dem Spiel steht, ich richtig runter bin mit allem, dann wirds schon irgendwie gehen. Da kommt ein Wechsel oder so – irgendwie krieg ich das dann schon hin.“
So sind Menschen mit DIS durchs Leben gekommen, bevor die Gewalt oder die unsichere Lebenssituation endete. Der Körper hat gelernt: „Wenn mein Tank fast leer ist, fahr ich das beste Rennen (zur nächsten Tankstelle, wo ich mir dann nur ein ganz bisschen reinfülle, weil ich so ja am besten fahren kann).“

Wenn dann der Tank immer voll ist – die Person durchgehend weniger Stress hat – kommt manchmal (noch) gar kein Funktionsimpuls und die Person bekommt Probleme mit Dingen, die man sich als Mensch ohne DIS kaum vorstellen kann. Basics wie essen, trinken, Körperhygiene, soziale Interaktion und Kommunikation, Körpersignale bedarfsgerecht beantworten, können mal mehr, mal weniger unschaffbare Herausforderungen werden. Gleichzeitig werden aber die, gerade im Kontrast zum Scheitern vor diesen „Banalitäten“, viel krasseren Herausforderungen scheinbar mühelos gemeistert. Dass das so ist, gerade weil es die krasseren Herausforderungen sind, muss man einfach wissen, um es zu verstehen.

Diese Mechanik ist an sich nicht DIS-spezifisch. Viele Menschen kennen es, wenn sie in Zeiten chronischer Erschöpfung oder Überforderung oder Überreizung keine oder nicht genug Zeit und Raum zur Regeneration und Regulation bekommen. Irgendwann vermag es eben nur noch die Angst vor dem Jobverlust, der Deadline, der Strafe für Versagen, dem Stress mit jemandem, den man gern hat oder braucht, um das freizugeben, was es erfordert, um zu funktionieren.
Das Problem damit ist, dass es keine Energie ist, die man einfach so in sich drin hat und dann rauslässt, sondern ein Reflex, der körpereigene Ressourcen bereitstellt, um das Überleben zu sichern. Deshalb sind Menschen mit echtem Burn-out auch so profund körperlich krank und deshalb kommen so viele auch nach einer Therapie und viel Erholungszeit nie wieder an ihr altes Kraftniveau. Dieser Überlebensreflex zieht die nötige Energie aus dem, woraus der Körper sich selbst am Leben und in Integrität hält. Tiefer kann man nicht in die eigene Lebendigkeit eingreifen.

Bei Menschen mit DIS ist dieser Reflex an das geknüpft, was man im Allgemeinen als „Persönlichkeit“ bezeichnet, weil sie – so der Stand der Traumaforschung – in traumatischen (also extrem stressenden) Umständen aufgewachsen sind. In so einem Aufwachsen erlebt man nicht immer die gleichen Gründe für extremen Stress – aber man erlebt immer die ganz reale Wahrscheinlichkeit für extremen Stress in Abwechslung mit Momenten, denen das eigene Leben tatsächlich bedroht ist oder bedroht erscheint, wie das bei traumatischen Erfahrungen der Fall ist. Man entwickelt alle persönlichen Eigenschaften, mit denen man eben so auf die Welt kommt, in mehr oder weniger bewussten oder unbewussten Todesängsten und den damit einhergehenden Vermeidungsmotiven. Also in hohem Stressniveau und permanenter Anstrengung, das zu kompensieren.

Nun bringt das neue Leben ohne dieses Stressniveau also eine neue Grundlage hinein. Eine, mit der noch nicht viel Selbst_Erfahrung besteht. Eine, auf die der Körper noch nicht immer richtig im Sinne von „den Umständen, sozialen Erwartungen und den eigenen Fähig- und Fertigkeiten entsprechend angepasst“ reagieren kann. Selbstverständlich kommt es zum Scheitern. Zu „Symptomen“. Zu komplett widersprüchlichem Verhalten und einem sehr unausgewogenem Fähig- und Fertigkeitenprofil. Niemand, die_r sein Leben unter Wasser verbracht hat, macht ohne Anlass, Übung und Vorbild einen Spaziergang an Land.

Die gute Seite daran: Die Krisen zeigen Prozess an.
Die schwierige Seite: Krisen tun weh und können, ungenügend begleitet, wiederum das Potenzial haben zu traumatisieren.

Was steht also immer an in der Begleitung von Menschen mit DIS (und anderen (komplexen) Traumafolgestörungen? – Die Krisentäler abflachen und eine gute Begleitung sicherstellen.
Krisen lassen sich in dieser Phase nicht vermeiden. Es ist ein schöner Wunsch und eine wunderbare Eigenschaft, wenn man Menschen keinen Schmerz wünscht, aber in so einer Begleitung, in diesem so umfassend umwälzenden Entwicklungszeitraum, kann man ihn immer nur lindern. Und darüber trösten, dass er überhaupt da war. Und wieder da sein wird, bis er wieder weg ist. Und wiederkommt. Und wieder geht.

Man muss Krisen nachbesprechen, damit sie alle, die sie (mit)erlebt haben, verstehen können und damit die Dinge, an denen die betroffene Person ihre Vermeidungsstrategien trainiert, weniger werden. Die Person kann so lernen, dass man über Schwieriges sprechen kann. Weil es sagbar ist.
Krisen oder emotionale Einbrüche werden weniger schlimm, je besser man sie versteht. Je besser man sie versteht, desto eher werden sie vorhersehbar. Das Vermeidungsverhalten kann nachlassen, wenn man – durch das entstandene Verständnis und eine kompetente Anleitung – in die Lage versetzt wird, ein anderes Verhalten auszuprobieren. Neue Strategien zu entwickeln, neue Überzeugungen zu entwickeln und alte dafür abzulegen.

Es gibt eine – in meinen Augen – Superkraft, die die meisten Menschen ohne Komplextrauma und ohne dissoziative Störung an sich selbst komplett ignorieren: Sie wissen fast immer einfach, wenn etwas mit ihnen zu tun hat. Wenn sie etwas machen, dann wissen sie, dass sie das machen. Diese Menschen empfinden ihren Tag, ihr Leben an einem Tag, einer Woche, in einem x-beliebigen Zeitraum als etwas, das ihnen passiert, und zwar genau da, wo es passiert. In ihrem Zuhause, ihrem Arbeitsplatz, in der Natur, unter Freund_innen. Zu jeder Zeit. Menschen mit DIS haben diese Kraft (noch) nicht (so umfänglich). Sie müssen sie sich erarbeiten und dann auch noch darauf klarkommen, was es mit ihnen macht, sie zu haben.
Mit dieser „Superkraft“ oder etwas weniger idealisierend formuliert „Fähigkeit“ kommen viele Betreuer_innen in Hilfeeinrichtungen wie die, die ich in Italien besuchte, leisten Hilfen wie diese und nehmen dennoch an, sie müssten noch so viel mehr machen und schaffen und leisten. Obwohl sie das Wichtigste schon jeden Tag und immer machen: Sie sind da und leben mit sich selbst (mehr oder weniger) assoziiert. Egal, was sie machen, sie bieten ein Vor_Bild zum Leben in sicheren Umständen. Das ist sehr viel und in meinen Augen das, was keine stationäre oder ambulante Psychotherapie leisten kann (ohne den Rahmen der ethisch korrekten Behandlung zu verlassen).

Das bedeutet für die Hilfe, dass man sich nicht großartig auf die Extreme konzentriert – also die Krisen und das Trauma – sondern auf die Grundlagen. Die Grundversorgung und was es macht, wenn sie gemacht ist. Die Grundbedürfnisse und was es macht, wenn man sie spürt, wie man sie wahrnimmt, wie man sie, wann, wo und womit effizient und unter Berücksichtigung bestimmter Faktoren erfüllen könnte. Grenzen. Eigener Wille. Der Wille anderer Menschen. Alles Dinge, für die man Menschenkindern zig Jahre zum Erlernen einräumt. Menschen mit DIS müssen das nachholen. Sie müssen gewissermaßen nachreifen. Man darf nicht den Fehler machen zu glauben, dass sie über diese Basiskompetenzen verfügen, nur weil sie sie dann und wann unter (letzten Endes Todes-) Angst ausführen können. Die meisten können es nicht. Manche, so wie die Person, die das hier gerade schreibt, bis ins 30. Lebensjahr hinein nicht.

Die Teamzeit ist um. Alle atmen tief ein, manche stöhnen beim Aufstehen. „Das war jetzt ganz schön viel“, darüber sind wir uns alle einig. Draußen kommt die Sonne durch auseinanderziehende Wolken.
Jetzt wird gekocht, die Töpfe scheppern mir durch den Kopf. Zeit für eine Ressourcenpause. Zum ersten Mal stehe ich vor einem blühenden Pfirsichbaum und fotografiere zum ersten Mal eine große Mauerbiene.

große schwarze Biene mit bläulichem Flügel

*

Das Team mit der Klientin ist eine Situation mit Einschlägen bei mir.
Mein kleiner Stein im Schuh, R., findet es „krass cool“, dass die Klientin auch in der Runde sein darf und dass man das immer für alle machen sollte, denn „es geht ja um sie und das ist ja nur fair.“ Als ich ihr zeige, welche Hinweise es darauf gibt, dass es für die Klientin gleichzeitig auch eine Überforderung sein könnte, so beteiligt zu sein, weil sie gewissermaßen „liefern muss“, also auch Dinge aussprechen können muss, die sie vielleicht noch nicht aussprechen kann, weil sie sie noch nicht weiß oder fühlen kann oder sich noch gar nicht traut überhaupt darüber nachzudenken, trifft es R. unerwartet. Was mich wiederum überrascht. Direkt neben R. spüre ich eine unserer Klapsleichen und kapiere selber erst dann: „Ahja. Ja. R. kann sowas krass cool finden, weil es nicht R. war, die hat liefern müssen.“
Ich gehe etwas weiter von ihnen weg. Es geht jetzt nicht um uns. Das hier ist kein Zwangskontext. Keine geschlossene Einrichtung. Die Klientin ist erwachsen. Es ist keine eingeräumte Freiheit, dass sie sich an der Hilfe für sich selbst beteiligen darf. Es ist ihr Recht. Sie ist vielleicht noch nicht an dem Punkt, an dem sie das nicht mehr überfordert, aber Überforderung darf auch kein Grund sein, jemandem die Rechte nicht zugänglich zu machen. Das passt also schon. Nicht perfekt, nicht ohne Gnih und Gnah, aber alles andere wäre falsch.

Die Situation ist schwierig. Die Dissoziation der Klientin und ihre dumpf-ohnmächtige Stille erfassen alle im Raum. Ich zähle im Kopf bis 10 und prüfe, ob jemand etwas sagen will. Zähle noch einmal bis 10 und prüfe, ob sich jemand bewegt. Dann breche ich die Situation auf. Fenster auf, kurz etwas Bewegung im Raum. Dem Körper vermitteln: Hier ist kein Freeze nötig. Kein Durchhalten, Aushalten, alles ist beweglich und sicher.
Wir haben gerade über die grundlegende Versorgung gesprochen – das gehört dazu. Was passiert war, nennen manche „Energieübertragung“, manche machen unsere Spiegelneuronen dafür verantwortlich, manche sprechen von „Ansteckung“ oder von „psychologischer Übertragung“. Die Überforderungsreaktion der Klientin war die Dissoziation. Sie wusste nicht, was sie sagen soll, welche Antwort richtig ist, vielleicht auch, was gemeint ist mit den Fragen, die an sie gerichtet wurden. Vielleicht hat sie auch nicht ganz einordnen können, was die Fragen mit was (wem) von ihr zu tun haben könnten. Vielleicht hatte sie Impulse ganz andere Dinge anzusprechen, dann aber nicht gewusst, wie sie sie der Situation angemessen formulieren könnte. Vielleicht wollte sie im Grunde auch gar nicht da sein, hatte sich aber nun doch gewissermaßen verpflichtet, hier dabei zu sein. Und was kann man nur machen, wenn man irgendwo feststeckt und nicht körperlich ausbrechen kann – man verkrümelt sich, man „macht sich weg“. Man dissoziiert. Im Fall der Klientin praktisch übergangslos und automatisch.

Solche Situationen entstehen durch die Überforderung auf Klient_innenseite, aber auch durch Überforderung auf Helfer_innenseite. Da will man höflich sein und warten und der Klientin allen Raum lassen, ihr gewissermaßen „die Bühne bieten“. Da will man bloß keine Grenze berühren oder stressen. Und dann ist auch noch die Chefin da, da will man ja auch irgendwie passend performen – und bringt sich selbst und eben auch die Klientin damit in ein hohes Stresslevel, weil die persönliche Unsicherheit (unbewusst) als Reaktion auf einen unsicheren Raum eingeordnet wird.
Dass man sich zu einem Zweck und aufgrund bestimmter Kompetenzen und Arbeitsaufträge (also Dinge, die nichts mit den Personen der Helfer_innen zu tun haben) zusammengefunden hat, gerät dabei schnell aus dem Bewusstsein.
Wenn ich auf Seiten der Hilfe- oder Unterstützungsbeauftragten bin, verpasse ich solche sozialen Fallstricke in der Regel. Das war hier ganz praktisch, denn ich konnte das erklären. Diese dumpfe Stille und die folgende Ratlosigkeit, Hilflosigkeit, vielleicht auch Ohnmachtsgefühle – die haben nichts mit dem Auftrag zu tun. Nichts damit, ob man etwas richtig oder falsch macht. Hier geht es um Angst, Unsicherheit, Unklarheit, Planlosigkeit, vielleicht auch fehlende Strukturen – und um fehlende Kommunikation, also Verbindung miteinander. Was logisch ist, wenn sich eine Partei (oder auch gleich noch die andere) in dem Gespräch gerade „weggemacht hat“.

Mein in der Regel informationsbasierter Fokus in solchen Situationen zeigt mir ziemlich zuverlässig auf, was ich tun kann oder was dran wäre zu tun. Ich werde auf zwischenmenschlichen Ebene nicht so schnell verunsichert, wenn mir jemand zeigt oder sagt, dass sie_r etwas nicht kann. Wenn etwas nicht geht, dann muss man gucken, wie man sich annähert. Für mich ist das eine relativ einfache Prüfung und Abgleichung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen und ein pragmatisch lösbares Thema.
Was man aber in dem Fall nicht ignorieren darf (nur weil man sich dann so toll produktiv fühlt), ist, dass es für die Klientin nicht nur eine pragmatische, sondern auch emotionale – traumalogische – Ebene hat. Sie fühlt und glaubt deshalb, dass sie etwas nicht kann. Zum Beispiel, sich selbst in den Grundlagen zu versorgen, bevor sie anstrengendere Dinge macht.

Die Realität ist, dass viele Menschen mit DIS die für die Grundversorgung nötigen Funktionen (Fähig- und Fertigkeiten) noch nicht zuverlässig abrufen und ausführen können. Dann kommen die Helfer_innen und sagen: „Du musst aber, das ist wichtig.“ Und die DIS-Klient_innen haben nur einen Bezugsrahmen zu dieser Erfahrung – ihre Lernerfahrungen im traumatisierenden Kontext. Für sie ist also ziemlich schnell klar: „Ich muss das jetzt hinkriegen, sonst passiert mir was Schlimmes – aber ich kann das nicht. Nicht so, nicht jetzt. Oh G’tt wenn ich das sage – oh nein, aber vielleicht auch, wenn ich nichts sage und nicht mitmache – also vielleicht JETZT GLEICH passiert was – ich weiß es ganz genau, jetzt bin ich dran. Ich werde sterben.“
Das ist eine traumalogische Annahmenkette. Das sind die Schlussfolgerungen, die ihnen früher das Leben gerettet haben, weil sie nicht davon ausgehen konnten, dass es nicht ihre Lebensbedrohung zur Folge haben könnte, wenn sie nicht machen oder schaffen, was andere (überlegene) Menschen von ihnen wollen, fordern, abverlangen.
Diese Traumalogik hat aber nicht nur die Erfahrungen der Klient_innen als Quelle, sondern auch bestimmte Traumawahrheiten über sich und andere Menschen. Eine Traumawahrheit könnte sein: „Ich kann nichts (wirklich/genug/gut/richtig) machen.“ Und eine weitere: „Andere Menschen übergehen immer meine Grenzen (sind also gefährlich für mich)“. Auf Helfer_innenseite ist man in diesen traumalogischen Annahmen immer der Arsch. Immer auf einer Ebene mit früheren Täter_innen. Und das ist ein sozialer Fallstrick, den man mit einem gewissen Kraftaufwand übersteigen muss. Geht man darauf ein, kommt man nicht weiter. Die Klient_innen können noch keine andere Ebene aufmachen – sie würden diese Gleichstellung nicht machen, hätten sie einen anderen Referenzrahmen für solche Situationen. Den müssen sie erst entwickeln und zwar in der Hilfeleistung, um die es geht. Der beste Weg also jemandem zu zeigen, dass sie_r keine Täter_in ist oder sich wie die früheren Täter_innen verhält, ist nicht gewaltvoll mit dieser Situation umzugehen.

In dem Fall der Basisversorgung ist das ganz schön aufzuzeigen, weil es um so etwas ganz Grundlegendes geht. Die Person mit DIS (oder anderer komplexer Traumafolgestörung) muss lernen können, wie sie sich selbst anfühlt und wozu sie fähig ist, wenn sie grundlegend versorgt ist. Sie kann es lernen, wenn sie immer grundlegend versorgt ist. Also muss sie sich jeden Tag damit befassen, ausreichend zu essen und zu trinken. Sie muss regelmäßig zur Toilette. Sie muss sich waschen, kämmen, die Zähne putzen. Sie muss frische Wäsche anziehen. Sie muss ihre Wohnung aufräumen und sauber machen bzw. halten. Ihre Hilfsmittel müssen immer vollständig, heil, sauber und verfügbar sein.

Eine Möglichkeit wäre, der betreffenden Person aufzuzwingen, dass sie das alles machen muss, „sonst läuft hier gar nichts (was ihr Spaß macht oder sehr wichtig für sie ist)“. Das ist der alltagsgewaltvolle Klassiker in vielen pädagogischen Einrichtungen. Da spielen oft gewaltlogische Schlüsse von Helfer_innen eine Rolle und aufgrund der Alltagsgewalten, mit denen Kinder zum Beispiel oft erzogen werden, fällt diese Umgangsweise selten wirklich als Helfergewalt auf. Hier wird das, was der Klientin wichtig ist, genommen, um ein gewünschtes Verhalten zu erzwingen und damit legitimiert, dass das gewünschte Verhalten das Ziel der Hilfe sei. Sie will ja gut leben. Die Gewaltlogik dahinter: „Für ein gutes Leben muss man halt auch was machen (was einem nicht gefällt/weh tut/unangenehm ist/schwer ist). Wer richtig sein will, muss sich richtig verhalten.“ Grundversorgung ist aber nicht nur ein Verhalten. Und Hilfe ist keine Dressurmaßnahme zur Vorbereitung auf eine Daueraufführung im Leben außerhalb der Einrichtung bzw. der Hilfemaßnahme.

Die bessere Möglichkeit ist, den Fokus auf die langfristigen Ziele der Klientin zu halten, die ja den Auftrag der Hilfe enthalten. Ein übliches Ziel von Menschen mit DIS ist, aus dem Überlebensmodus rauszukommen und dahin, auch gern am Leben zu sein. Es ist also sinnvoll, den Menschen dabei zu helfen, ihre Lebendigkeit als etwas kennenzulernen, das Qualitäten hat, die sich entsprechend der Umstände verändert. Zu Beginn spüren sie immer (nur?) den Überlebensmodus. Besonders, wenn es ihnen schlecht geht. Aber um die Chance zu bekommen, eine andere Qualität überhaupt kennenzulernen, müssen sie ihre Lebensumstände verändern. Und dabei geht es nicht nur um so große Dinge wie Kontakt zu Täter_innen beenden oder den Inneren, die nur Trauma kennen, einen Wunsch zu erfüllen oder es ihnen schönzumachen (damit im Inneren Ruhe ist). Sondern um genau die Faktoren, die bestimmen, ob es sich gut oder okay anfühlt, in der eigenen Haut zu stecken oder nicht.
Jede Umstandsveränderung bringt auch eine Zustandsveränderung. Ein Mal Hände waschen – zack, ganz andere Möglichkeiten der Interaktion mit der Mitwelt als mit dreckigen Händen. Ein Mal um den Block laufen – ganz andere Empfindung im Körper als vorher.
Das kann man als Helfer_in immer wieder vermitteln: „Du möchtest aus dem Überlebensmodus – du musst deinen Lebensmodus dafür erkennen können. Die Grundversorgung ist der wichtigste Schritt dafür. Lass uns mal schauen, welchen Schritt wir heute dafür probieren können. Was kannst du alleine? Wobei kann ich dir Hilfestellung (wie zum Beispiel Anleitung geben, Vormachen, Aufgabe in kleinere Teilschritte aufteilen, die Aufgabe über den Tag verteilt immer wieder versuchen, (emotional) Händchen halten) bieten?
Du möchtest das heute nicht probieren? Soll ich später am Tag nochmal fragen? Du denkst, du kannst das nicht? Ist die Aufgabe zu groß? Hast du inneren Stress deshalb? Kannst du formulieren/ausdrücken/aufschreiben, wie das für dich ist? Ist etwas davon pragmatisch lösbar? Welche innere Überzeugung traust du dich zu prüfen? Heute ist ja so vieles anders – vielleicht zeigt sich, dass der innere Stress/Druck/Widerspruch aufgelöst werden kann, wenn du es unter den Umständen heute probierst. Oder morgen. Oder übermorgen.
Wenn du deine Grundversorgung schaffst, wird alles, was du am Tag vorhast, mehr Spaß machen. Du wirst mehr Kraft haben. Deine Chancen, weniger Symptome kompensieren zu müssen, steigen.“

In einer stationären 24-Stunden-Betreuung kann es geleistet werden, den ganzen Tag auf diese Herausforderungen einzugehen und dranzubleiben. Es gibt keinen Anlass, wie zu wenig Fachleistungsstunden oder starre Klinikstrukturen, irgendwo in der Mitte abzubrechen und die betreute Person aufgewühlt in ihren traumalogischen Schleifen und Traumawahrheiten über sich zurückzulassen.
Als Helfende_r hat man alle Zeit und allen Raum, um immer wieder auf den Grund für die Konzentration auf die Grundversorgung zurückzukommen und klarzumachen, dass die eigene Präsenz daraus entsteht, dass man dabei hilft, das Ziel für die Hilfe zu erreichen.
Erwachsenen Menschen mit DIS, die nicht in einer Zwangsmaßnahme stecken, steht es frei, sich gegen ihr Ziel zu entscheiden. Sie können sich selbst in ihrer Traumalogik bestärken und die Traumawahrheiten über sich aufrechterhalten. Das sind legitime Entscheidungen, die einem überlebbaren Leben nicht im Wege stehen. Aber vereinbar mit dem Hilfeauftrag an den Träger sind sie nicht. Dafür wird die Betreuung und die Unterkunft nicht zur Verfügung gestellt.
Es kann sinnvoll sein, eine Absprache darüber zu machen, wie lang der Zeitraum sein kann, in dem sich die betroffenen Personen gegen ihre Ziele der Hilfe entscheiden. So kommt man gemeinsam in die Lage zu prüfen, was die Gründe für diese Entscheidung sind und ob zusätzliche Arbeitsräume, etwa eine psycho-, ergo-, kunst- sozio-, *therapeutische Sitzung hilfreich sein könnten, um zu unterstützen, das eigene Ziel zu halten. Es kann aber auch sein, dass sich das Ziel verändert hat. Auch das kann mit dieser Absprache überprüft werden.

Grundsätzlich kann es gut sein, sich klarzumachen, dass wer keine Hilfe braucht, auch nicht um welche bittet. Aber nicht immer ist die Hilfe, um die gebeten wird, auch die, die gebraucht wird. Auch das ist Realität. Manchmal kann die bestmögliche Hilfe sein, herauszufinden, welche Hilfe wirklich oder zusätzlich noch gebraucht wird. Dann kommt man zwar nicht gemeinsam ans gesteckte Ziel, aber man hat der Person weiter.geholfen.

Wir gehen aus dem Team mit einer Idee für einen ersten Schritt, etwas zu versuchen.
Wieder tiefes Atmen. Seufzen. Langsam rausbewegte Anspannung bei allen.
Ich fotografiere zwei Wiesenschnaken, die mit der Erhaltung ihrer Art beschäftigt sind.

zwei Wiesenschnaken auf der Wiese während der Paarung

*

Später fahre ich mit Matthias zum Supermarkt. Wie bei uns zu Hause ist das mit einer längeren Autofahrt auf kaputten Straßen und der Konfrontation interessanter Vorstellungen anderer Autofahrer_innen verbunden. Der Supermarkt sieht aus wie die Art ländlicher Klüsten-Edeka, den es nur gibt, weil kein anderer Laden da ist. Bisschen abgeranzt, alles ein bisschen schrabbelig, aber das Wichtigste ist da.
Ich fotografiere einen Käsekuchen.

Eine

Am Abend holen wir Daniela von ihrer Wohnung ab und gehen essen.
Ich fotografiere eine Prachtkatze vor einer Prachttür und das einzige Gericht ohne Fleisch auf der Karte des Restaurants.

*

Am nächsten Tag sind alle da. Teamtag. Mit Kolleginnen und Praktikantin von einem anderen Team.
Wir wissen bereits, dass wir vertiefen, was wir am Tag zuvor besprochen haben. Warum sind die Basics so schwierig? Was hilft? Wie genau können die Helfer_innen das umsetzen?
Manche Fragen kommen noch dazu und machen die Zusammenhänge rund.

Zum Beispiel die Frage nach selbstverletzendem Verhalten. Niemand der Anwesenden kann (und möchte) es ertragen mit anzusehen, wie sich jemand verletzt.
Mich berührt der Schmerz, den eine Helferin beim Schildern einer solchen Situation ausdrückt. Eine Klapsleiche in mir würde sich vor Scham am liebsten gegen die Steinwand hinter ihr werfen. Ich walze den Abstand zwischen ihr und meiner Gegenwart aus. Es ist bald 20 Jahre her, dass wir zuletzt jemanden in die Lage gebracht haben, unseren Selbsthass und die Gewalt an uns selbst zu bezeugen. Jetzt ist Heute. Ich habe einen Auftrag.

Ich erkläre, dass zum sicheren Umfeld gehört, dass keine Gewalt ausgeübt wird. An einem sicheren Ort wird niemand verletzt. Die Helfer_innen nicht und auch die Klient_innen nicht. Das Verhalten darf passiv unterbrochen werden – nicht weil es „böses Verhalten“ ist, sondern weil es den Raum unsicher macht. In einem unsicheren Raum kann niemand die gesteckten Ziele erreichen. Sich nicht zu verletzen, ist ein Beitrag zum Ziel. Wenn sich jemand selbst verletzt (und Helfer_innen das miterleben müssen) übt die Person Gewalt aus und entscheidet sich entsprechend gegen das Ziel.
Die Helfer_innen helfen mit dem Unterbinden (etwa durch Schutz des Kopfes oder andere Körperteile) einen für die Person ungewohnten Zwischenschritt, eine ungewöhnliche Nuance in ihr Gewalt(er)leben einzubringen. Sie kann die Tätigkeit ausführen, sie aber nicht zum gewohnten Ende bringen. Die entstehende Irritation kann ein Fenster für alternatives Verhalten öffnen und die Haltung bzw. die Realität der Helfer_innen deutlicher machen. Für die Klient_innen mag die Selbstverletzung logisch und zwingend nötig sein – für die Helfer_in ist es Gewalt und die wird in einer sicheren Umgebung nicht geduldet. Keine_r der Helfer_innen bezeugt in diesem Haus Gewalt. Und zwar nicht, weil die Klient_innen so liebenswert sind oder weil die Helfer_innen das einfach so gerne hätten, sondern, weil die Grundlage für diesen Kontakt, für diese Hilfe und die Umstände vor Ort, eine der Sicherheit ist und bleiben soll.

Es ist nicht die angenehmste, doch vielleicht erst einmal die eindrücklichste Möglichkeit für eine Person mit DIS, eine Idee davon zu bekommen, was Sicherheit eigentlich ist und hier vor Ort bedeutet. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist für sie Sicherheit etwas, das entsteht, wenn sie nicht erreichbar ist (weil sie dissoziiert ist). Wenn sie nichts fühlt, nichts denkt, nichts will. Und jetzt ist sie aber in einer Situation, in der sie auch dann sicher ist, wenn sie etwas fühlt, möchte oder denkt. Darauf wird sie in so einer Selbstverletzungssituation natürlich gewissermaßen brutal aufmerksam gemacht und kann es vielleicht eine ganze Weile lang weder verstehen noch begreifen. Sie wird nicht wissen, wie sie sich alternativ verhalten kann. Da hilft nur Wiederholung und Nachbesprechung. Immer wieder sagen: „Nein, das machen wir hier nicht. Hier ist ein sicherer Ort, hier wird niemand verletzt. Verletzung/Gewalt ist in diesem Haus keine Option. Ich bezeuge keine Gewalt in diesem Kontakt.“

Die Gründe für die Selbstverletzung sind bei der Durchsetzung dieser Grenze nicht relevant. Diskussionen darüber sind Kämpfe gegen Windmühlen. Auch hier wird es Trauma- und Gewaltlogik geben, die nicht zugänglich ist für die Realitäten, die hier und jetzt bestehen. Diese Logiken innerlich aufzulösen, gehört meiner Meinung nach in die traumatherapeutische Arbeit. In der pädagogischen Hilfe vor Ort funktioniert es besser, wenn man sich darauf konzentriert, welche Alternativen akut machbar sind. Selbstverletzung tritt immer in bestimmten Zuständen auf – Zustände sind veränderlich. Auch wenn die betreute Person mit DIS das selbst noch nicht wahrnehmen kann, wenn sie im Alltag viel „Zeit verliert“ und sich nicht (mit sich selbst assoziiert) erinnert, wie viele Selbstzustände sie am Tag warum und in welcher Form und Ausgestaltung annimmt.

Ich erkläre, dass die ganzen tollen Skills, auf die man beim Thema Selbstverletzung immer wieder trifft, aus der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT) kommen und ebenfalls Zustandsveränderungen zur Folge haben sollen. Mal durch konzentrierte Selbstempfindung, mal durch gezieltes Lenken der Gedanken, der Wahrnehmung oder Konzentration auf bestimmte Aufgaben. Am Ende jeder Übung steht das Ziel einer Veränderung der Selbst- und Umweltwahrnehmung durch Emotionsregulation. Diese Skills sind super, wenn es um das Erleben von emotionalem Druck oder Anspannung geht.
Bei profund traumalogischem Selbsthass, traumabedingter Reinszenierung oder real bestehenden Ausschluss/Verlassenheits/Auslieferungs/Hilflosigkeitserfahrungen helfen sie hingegen kaum, sondern können die Anspannung noch verstärken und zu Momenten umfassender Überreizung führen, weil der Auslöser nicht aufgehoben oder verändert wird. In so einem Moment sind Erfahrungen sicherer Bindung und Selbstwirksamkeit der Hebel zur Zustandsveränderung. Soweit jedenfalls meine eigene Erfahrung und die von praktisch allen Vielen, die mit mir bisher über die Wirksamkeit von klassischer DBT gesprochen haben.

Wenn die Selbstverletzung also zum Beispiel als „nötig weil nicht anders verdient“ erklärt wird (also eine Wiederholung der Gewalt gemacht wird), kann es passen zu sagen, dass hier gerade niemand ist, die_r darüber urteilt, was wer verdient und also gar nichts gemacht werden muss. „Hier sind gerade nur du und ich. Wir sind hier an einem sicheren Ort, hier wird niemand verletzt. Ich finde, was jetzt nötig ist, ist [Grundversorgung] und dann [aktive Tätigkeit, positive Alltagsressourcen]. Komm, das machen wir jetzt. Willst du mit [Grundversorgungsaufgabe 1 (vielleicht was trinken) oder Grundversorgungsaufgabe 2 (vielleicht mal das Gesicht waschen)] anfangen?“
Von da aus lassen sich Alltags-orientierende Handlungsketten aufbauen, die den Selbstzustand verändern (Wechsel zu Alltagspersönlichkeiten möglich machen). Am Tagesende oder zur üblichen Reflexionszeit des Tages kann man dann nochmal so über die Situation sprechen, wie über jede andere Lernerfahrung. Denn auch wenn es vielleicht krasser wirkt als andere Momente am Tag, schließlich ist es ja auch gefährlicher – am Ende ist sich nicht zu verletzen oder zu gefährden, nichts anderes als sich grundzuversorgen. Das müssen alle wissen und immer im Kopf behalten, auch wenn solche Momente natürlich krass viel aufregender sind und ja auch alle (und nicht nur die betreute Person) betreffen (weil sie mit Gewalt zu tun haben).

Wieder gehen alle voll bis oben hin in die Pause. Diesmal mit turbulent italienischem Handgefuchtel über mangiare zum Tellerklappern und Aufdecken. Ich fotografiere den Po eines gebänderten Pinselkäfers.

Hinterteil des gebänderten Pinselkäfers, der aus einer rosa Blüte herausschaut

Zum Nachtisch gibt es Crostata.

Crostata, ein Kuchen mit Kreizmuster aus Teig drauf, ähnlich wie eine Linzer Torte

*

Wir machen weiter mit den Fragen, die die Betreuer_innen noch haben.
Was ist mit Weglaufsituationen? Es gibt viele Menschen mit DIS, die Anteile haben, die scheinbar anlasslos oder allgemein unerwartet weglaufen. Worum geht es dabei?

Auch dieses Thema nehme ich, um die auch darin liegende Entscheidung gegen das Hilfeziel aufzuzeigen. Und was ist, was in diesem Zusammenhang für alle klar sein muss.
Erstens: Es gibt immer einen Auslöser, der real ist.
Zweitens: Weglaufsituationen sind so gut wie immer ein Versuch, Sicherheit herzustellen. Auch wenn das Weglaufen in einem maximal unsicherem Umstand passiert (stark befahrene Straße, in körperlich geschwächtem Zustand, ohne sicher erreichbare alternative Orte der Versorgung).
Drittens: Traumalogik besiegt Realität fast immer. Sie ist schneller, als sicherer erlebt und (siehe oben) die betroffene Person hat mehr Selbsterfahrung mit sich und ihrer Leistungsfähigkeit in (scheinbar) lebensbedrohlichen Situationen.
Durch die Helfer_innenbrille ergibt es überhaupt keinen Sinn, den Ort zu verlassen, wo alle eigenen Sachen sind, wo die Grundversorgung ohne Probleme möglich ist, um sich sicher zu fühlen. Mit der Traumabrille (also der Annahme von Todesangst als treibende Kraft) draufgeschaut ergibt es aber total Sinn, die Beine in die Hand zu nehmen, wenn man wo ist, wo man sich unsicher, ausgeliefert und hilflos fühlt. Es ist ein absolut logischer Schluss – nur leider nach einer fehlerhaften Einschätzung der Realität.

Jeder Mensch mit DIS muss über sich lernen, dass er diese „Traumabrille“, diese Kraft aus der Todesangst, schneller abruft als seine „rationale Brille“. Sein Körper, seine Psyche wird eine ganze Weile lang immer mehr Sicherheit in der Annahme finden, dass man ihm schaden will, dass er gefährdet ist, dass er nicht sicher ist, als in irgendwelchen anderen Ideen, Realitäten, Möglichkeiten.
Er muss es hinkriegen, sich selber etwas Zeit zum Prüfen seiner Gefühle und Annahmen zu verschaffen. Seine Helfer_innen können ihn darin immer nur damit begleiten, dass sie ihm ihre Einschätzung und Wahrnehmung der Situation mitteilen. Und dann anbieten, wie er sich darin bewegen könnte.

Wenn eine Person mit DIS noch sehr schnell in Traumareaktionen steckt, darf man von Helfer_innenseite nie davon ausgehen, dass sie schon von selber merkt, dass sie alle gernhaben. Dass sie schon von alleine denkt und glaubt, dass alle nur da sind, um ihr zu helfen. Dass sie sich schon von alleine dran erinnern kann, wer ihr wie oft und gut und umfassend und voller Liebe geholfen und Schönes für sie gemacht hat. In dem Moment, in dem ein Wechsel in einen Zustand, also zu einer anderen „Persönlichkeit“, passiert, die sich im Leben bedroht fühlt, spielen diese Erfahrungen (noch) keine (ausschlaggebende) Rolle. Diese Selbstzustände/Anteile/Persönlichkeiten können sich daran – an alles Gute und Verbindende – nicht erinnern. Manche kennen vielleicht noch nicht einmal die Betreuer_innen, von denen sie weggehen.
Mit diesem Verhalten wird für andere Anteile nicht in Frage gestellt, ob die Helfer_innen nett sind. Oder gut. Verhalten wie Weglaufsituationen, aber auch selbstverletzendes Verhalten, Verweigerung der eigenen Grundversorgung sind keine Aussage über die Qualität oder die Wirksamkeit der Hilfe, sondern über das Ausmaß der Hilflosigkeit, mit der Situation anders als so – die eigene Ziele verwerfend, sich selbst und andere gefährdend, traumalogisch – umzugehen.
Ziel der Hilfemaßnahme (und evtl. auch einer zusätzlichen Traumatherapie) muss also sein, die Hilflosigkeit in diesen Momenten zu verringern. Gemeinsam mit der Klientin zu überlegen: Was kann ich machen, wenn ich mich gefährdet fühle? Wie können mir die Betreuer_innen dabei helfen? Wie kann ich „da sein“ (nicht dissoziiert sein) und mich sicher fühlen?

Auch in diese Teamrunde kommt die Klientin am Ende mit hinein.
Wir beginnen mit einer Befindlichkeitsrunde, in der ich merke, wie hart ich hier gerade selbst am Wind segle, als sie sagt, dass sie sich ausgeschlossen fühlt.
Ich war 16 als ich in einer ähnlichen Lage war. Viele Leute haben über mich geredet und mich angeguckt während ich vorgeführt befragt wurde, während ich dachte, dass man aktiv an meiner seelischen Ermordung arbeitete und nirgendwohin konnte. Diese Situation, die ich als Videoaufnahme besitze und noch nicht ansehen konnte, hat mich traumatisiert. Ich bin bis heute nicht fertig mit der Aufarbeitung. Und jetzt sitze ich hier und tue der Klientin das an? Ist es wirklich das Gleiche? Wo sind die Unterschiede? – Alter, Kontext, allgemeine Gestaltung. Sie ist dabei, sie wurde gefragt. Es gibt die Einwilligung und Zustimmung. Ich führe sie nicht vor. Ich habe immer wieder deutlich gemacht, dass ich keine special Fachperson bin, die der Weisheit letzten Schluss erzählt. Ich bin hier, um den Helferinnen eine Perspektive, meine Erfahrungen und Ideen zu vermitteln, nicht, um ihnen zu sagen, wie sie es richtig machen würden.
Die Ausgeschlossenheit ergibt sich aus dem Auftrag der Klientin. Die Helfer_innen helfen. Sie bekommt die Hilfe. Beide Parteien haben unterschiedliche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Beide Seiten bekommen die gleichen Informationen von mir – aber sie müssen unterschiedliche Dinge damit machen. Das ist das trennende Element. Das ist real, aber nicht lebensbedrohlich. Und auch etwas, das in meiner Situation früher ganz anders gelaufen ist.

Wir gehen mit einem versicherten Konsens über die allgemeine und wohlwollende Verbundenheit auseinander.
Ich lehne mich innerlich ein bisschen an R., die den Druck der Klapsleichen von mir abschirmt und halte ihr meine Hand hin. Jemand macht ein Foto von der Landschaft um das Haus.

Landschaftsaufnahme, dramatischer Wolkenhimmel, sanfte grüne Hügel und Bäume

Am Abend gehe ich wieder mit Daniela und Matthias essen.
Diesmal fotografiere ich vorher zwei andere Katzen.

hellblond-rote Katze neben zwei großen Terracotta-Kübeln auf der Straße

getigerte Katze, die direkt in die Kamera schaut und auf einem Tisch sitzt, umgeben von Terracotta-Kübeln

*

Am nächsten Tag regnet es wieder. In Norditalien gibt es Überschwemmungen. Ich schaue nach, ob es meine Rückreise verkompliziert und ärgere mich, dass ich nicht schon früher angefangen habe, Italienisch zu lernen. Es sollte aber alles klappen.
Ich lese bis sich eine Möglichkeit ergibt, die Klientin ohne Hilfeüberbau zu treffen. Ich darf zu ihr in die Wohnung, notiere mir aber im Geist, dass das eventuell schon ein Tick zu viel sein könnte. Pragmatisch gesehen wäre es kalt und oll geworden, wenn ich vor der Tür hätte bleiben müssen – emotional musste sie aber ein Stück ihres privaten Rückzugraumes für mich freigeben, obwohl sie mich nicht kennt und keinen Grund hat, mich oder Situationen mit mir als sicher einzuordnen. Vielleicht hätten wir das Treffen besser verschieben müssen auf eine Zeit, in der wir im Garten hätten sitzen können.
Unser Gespräch wird trotzdem nett. Als ich den Eindruck habe, dass sie erschöpft ist, gehen wir. Ich habe noch etwa eine Stunde, bis ich mit Lisa, einer der Praktikantinnen, nach Arezzo zum Rumgucken fahre. Ein bisschen Erholung vorher ist genau die Grundversorgung, über die wir in den Tagen zuvor gesprochen haben.

Arezzo ist alt wie das Dorf beim Wohn- und Hilfehaus. Bisschen angerottet überall, aber auch aufgehübscht und modern. Ein bisschen wie in der Bielefelder Innenstadt, nur dass der Age-Gap nicht 18hundert vs. 50er bis 70er Jahre ist, sondern 13hundert vs. heute. Ich finds schön, wie mich die Straßen und Häuser mit den Leuten von so weiter Vergangenheit verbinden. Damals gab es sicherlich auch schon hundische Ladenchefs.

Rauhhaardackel, der in einer offenen Ladentür sitzt

In der Innenstadt finden wir verschiedene Geschäfte, am Rand einen Park mit schöner Aussicht. Mittendrin den Dom, dessen Innenausstattung außerordentlich beeindruckend ist. Wir essen ein winziges, sehr sehr gut schmeckendes Eis.

eine Kugel Schokoladeneis in einem Pappbecher

In einem kleinen Laden kaufen wir regionale Spezialitäten, für die mein Mann nie Geld ausgegeben hätte, und finden uns stark und erwachsen, weil uns die Schinken über dem Kopf nicht zum Kotzen gebracht haben. Für uns nehmen wir ein mehr als faustgroßes Stück Baiser mit. In der Tüte sieht es aus wie ein Stück harte Wolke.

großes Baiser-Stück in einer braunen Papiertüte

Am Abend gehen wir mit Daniela und Matthias in das Gasthaus eines anderen Ortes. Die Ereignisse des Vortages bewegen die beiden noch und auch dieser Tag war nicht so einfach. Ich bin müde. Ein letztes Mal esse ich ein Pastagericht und konzentriere mich auf die Tatsache, dass ich das hinkriege. Es ist alles anders als sonst, aber in den für mich wesentlichen Punkten noch vertraut genug, um nicht zu erstarren oder die Orientierung zu verlieren. Im italienischen Fernsehen läuft eine Debatte über Meloni und Musk. Ich kann nicht herausfinden, ob sie kritisch geführt wird oder nicht.
Nach unserer Verabschiedung schiebt sich meine Sorge um die Rückfahrt noch eine ganze Weile gegen den Schlaf. Mit einigem Gepopel kriege ich die Verbindung in die Deutsche Bahn-App und immerhin auch die italienischen Tickets in die Trenitalia-App. Da steht zwar noch nicht, worüber ich mir die meisten Sorgen mache – nämlich die Gleisnummer, damit ich einschätzen kann, wie viel Verspätung okay und wie viel ein Problem ist – aber immerhin. Am nächsten Tag würde ich bei Mastodon nachfragen. Manchmal hat man ja Glück.

*

Am nächsten Tag drückt mir Daniela ein Osternest in die Hände. Dann sagen wir Tschüss, Ciao und Auf Wiedersehen und fahren mit einem Fiat kaum größer als mein Aixam über die Hoppelstraße nach Arezzo.
Ich drücke Daniela zum Abschied und klatsche mit Matthias ab. Die beiden haben heute noch viel auf dem Zettel, ich bin froh, nur eine Aktivität schaffen zu müssen: 20 Stunden lang und durch 3 Länder Zugfahren.

Ich kenne weiterhin nur das Abfahrtgleis des ersten Zuges und reize mein Hoffen auf Glück bei Mastodon aus. Und tatsächlich konnte jemand helfen. Die Gleise stehen in Italien einfach immer erst kurz vor knapp fest. Gnah. 😅 Aber ich kann mir den Status der Züge jeweils anzeigen lassen und dort kann ich auch die Gleisangaben am frühsten finden.

Alles klappt ohne Probleme. Es gibt interessante Momente, zum Beispiel einen Servicewagenmann, der 10 Minuten vor Ankunft in Bologna noch seelenruhig in den Gang reinsteuert und Kaffee verkauft, obwohl der halbe Wagen da aussteigen will. Oder auch eine junge Person, die ihr Kaninchen dabeihat und zum Streicheln rausholt. Aber insgesamt bin ich zu müde, um viele weitere Informationen oder Reize aufzunehmen. Ich schaue mir viele Alpenstücke an, lese zwei Geschichten in meinem Buch und bestimme endlich den Skorpion, den Daniela zwei Tage vorher aus dem Aufenthaltsraum getragen hat.

Euscorpius italicus, kleiner Skorpion auf hellem Steinboden
Euscorpius italicus

In Innsbruck warte ich zwei Stunden auf den Nachtzug, der fährt erst drei Stunden später los. Das Liegen tut mir gut. Natürlich werde ich von der Grenzkontrolle wach, aber selbst nicht kontrolliert. Klar, ne weiße weibliche Einzelperson, da ist wohl nicht viel Gefährdungspotenzial drin.

Als ich aufwache, sind wir bei Würzburg. Als ich zu Hause bin, habe ich eine Reise von 24 einhalb Stunden gemacht. Mein Mann bekommt seine Mitbringsel, ich ein Mittagfrühstück. Das Osternest von Daniela ist süß. Gut, dass ich es mir erst zu Hause in Ruhe angeguckt habe.

Ich bin froh, dass ich sie in echt getroffen habe.
Dankbar, dass sie mich eingeladen hat, diese Selbst- und Lebenserfahrung zu machen.
Zufrieden mit meiner Leistung.
Glücklich, dass es mir heute so gut geht, dass ich das machen konnte.

der Moment, der noch nie war

R. ist mein Stein im Schuh.
Wenn sie darüber redet, wie das für sie war, dass sie niemand verstanden hat, dann spüre ich das wie ein besonders heftiges Stechen ihrer Härte. Peripher, aber deutlich.
Die Verschlossenheit, die sie in Bezug auf DIE ALLE hat und hält, war und ist bis heute manchmal noch ein echtes Hindernis in Hilfe- und Unterstützungskontexten.
Sie würde es nie sagen, mir jedoch ist es total klar: Das frühere Unverständnis der Menschen über ihre Gefährdung hätte ihr das Leben kosten können. Uns. Mir.
Was man ihr, uns, mir in Medien, Schule, Sportverein beigebracht hat: „Sag was, wenn jemandem oder dir etwas Schlimmes passiert.“, das hat sie gemacht. Sie hat gesagt, dass anderen etwas passiert. Und weder sie noch die Menschen haben gemerkt, verstanden, gewusst, dass sie diese anderen war. Niemand hat geholfen.

So ein folgenschweres Missverständnis ist nicht nur „ein harter Schlag“ oder etwas, was das Ego ein bisschen anklatscht, wer ist schon gern unverstanden dies das. Solche Erfahrungen lösen nicht nur Enttäuschung aus. Sie führen auch dazu, dass man sich auf sich allein zurückzieht. Annimmt, die Menschen würden wollen, dass man gefährdet ist. Glaubt, die Gefährdung, die (angenommene) Lebensgefahr sei von allen (also von der ganzen Welt) gewollt. Die Todesangst gewünscht.
Ich reagiere auf solche Annahmen mit Depression, Angst, Suizidalität. R. mit Wut, Härte und authentisch kompromissloser Konsequenz. Nicht einen Filter hält sie noch hoch, wenn sie merkt, dass sie, dass wir, dass ich nicht verstanden, gehalten, getragen werde.

Innere wie R. sind es, die ich bei Vorhaben wie der Operation, aber auch der Traumatherapie möglichst weit raushalte. Noch weiter als aus anderen Interaktionen mit anderen Menschen.
Zum Einen, weil ihre Wut in der Regel zu Problemen führt, die meine kommunikativen Fähig- und Fertigkeiten weit überschreiten. Was sich unter anderem daraus ergibt, dass ich dieses Gefühl nicht mir, sondern ihr zugehörig empfinde und erst nach bewusster Reflexionszeit und manchmal auch erst nach einer Besprechung mit meiner Therapeutin den Anlass überhaupt erkenne und verstehe.

Zum Anderen, weil R. einfach bis heute nicht richtig orientiert ist. Sie kann im Heute agieren, kann den ganzen „Wissen Sie welches Jahr wir haben“-Reigen vortanzen, ohne einen Zweifel aufkommen zu lassen. Aber für sie geht es nach wie vor bei jedem Kontakt, der irgendwie und sei es noch so abstrakt darum geht, dass ihr, uns, mir jemand in irgendeiner Form hilft oder etwas unternimmt, was sie, wir, ich nicht alleine kann, um Leben und Tod.
Wenn diese mit Hilfe oder Unterstützung oder irgendeinem anderen mich betreffenden Ding beauftragten Menschen irgendetwas nicht können, nicht schaffen, nicht wollen – egal ob intentional oder natürlich bedingt – beginnt ein inneres Wiederleben von Traumatisierungen. Davon merke ich, Hannah, bis heute nichts. Ich merke nur R., die es wiederum als flutend und massiv überfordernd erlebt und reagiert. Ihre Reaktion, also die innere Schutzreaktion, macht mir wiederum Angst, weil ein Wechsel zu ihr für mich Kontrollverlust und relativ spezifische zwischenmenschliche Konsequenzen bedeutet.
R. geht im Zweifel nämlich auch einfach aus dem Kontakt und bringt absolut keine Motivation dafür auf, die Kraft zur angepassten Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen aufzubringen. Wer sich im Kontakt mit ihr nicht darum bemüht und kümmert, sie in ihrem authentischen Ausdruck zu verstehen, bekommt von ihr auch kein Bemühen. Sie behält diese Energie für sich, um selbstständig handlungsfähig zu bleiben.
Traumalogisch absolut sinnvoll. Alltagskommunikations-logisch ebenfalls absolut sinnvoll. Sozial und in Bezug auf jede Option der Kontaktgestaltung hingegen eine absolute Katastrophe.
Jedenfalls für mich. Denn R. markiert diese Kontakte den Energieaufwand nicht wert, den die reparierende oder wieder-verbindende Kommunikation für mich bedeutet, die_r in so einem Fall alle Kraft einfach aufbringt, egal, ob ich sie wirklich habe oder nicht. Bis das nicht „wieder gut“ ist, kann ich nichts anderes machen, als daran zu denken, Gespräche in meinem Kopf durchzuanalysieren, Aussprachen im Kopf üben, um auf jede Möglichkeit des Gesprächsverlaufs vorbereitet zu sein und mich auf Alternativen bzw. andere Lösungen zu konzentrieren. Das ist in der Regel die Phase, in der ich dann missverstanden werde, weil die allgemeine erste Annahme ist, ich sei durch mein Trauma so beziehungsunsicher, dass ich Konflikte nicht ertragen kann. Tatsächlich aber kann ich die Emotionalisierung von Konflikten kaum ertragen, weil sie eine oft überaus kräftezehrende Übersetzungshürde für mich darstellt und ich nicht davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber das überhaupt weiß, versteht, berücksichtigt oder, wenn es bekannt ist, nicht als Waffe gegen mich einsetzt.

Mal ganz davon abgesehen ist es mir peinlich, wenn R. übernimmt und meinen Körper steuert. R. erlebt sich als 13 Jahre alt und allein gegen die ganze Welt am eigenen Weiterleben überhaupt interessiert. Das ist einfach kein guter Zustand, wenn man inzwischen überwiegend mit Menschen zu tun hat, die es verletzen würde, würde man ihnen Desinteresse an unserer Lebendigkeit unterstellen. So wie es R.s Grundannahme über DIE ALLE ist.

Es ist R., die sich ohne jeden Skrupel hinstellt und sagt, dass es Helferversagen gibt. Wie es wirkt. Dass es mit.schuldig macht. Dass es Teil des Unrechts ist, das Opfern von zwischenmenschlicher Gewalt passiert. R. ist die einzige Seite von mir, die Entschuldigungen von Erzieher_innen, früheren Psychotherapeut_innen und auch Betreuer_innen goutieren würde. Die Einzige, die sich nicht mal dafür schämt zu sagen, dass sie das gerne hätte.
Sie kann das, weil sie sich sehr weit entfernt von diesen Menschen erlebt. Ihre Wut und ihre harte Verschlossenheit schützen sie davor, jemals wieder irgendetwas von DEN ALLEN zu brauchen.

Sie schützen sie aber nicht davor, etwas zu bekommen, wenn sie, wir, ich es brauche.
Die Situation im Krankenhaus, die Operationsvorbereitung und die Pflege danach, war so ein Moment des Bekommens. Einer der Ersten, die ich so je wahrgenommen habe.

Man ist auf allen Ebenen auf mich zugekommen. Nicht ein Schritt in dem ganzen Voruntersuchungsprozess, der Aufnahme und Vorbereitung war gehetzt oder ungeduldig mit mir. Man hat für alles immer wieder meinen Konsens abgewartet. Immer jede alternative Möglichkeit erklärt und über alle Ressourcen aufgeklärt. Alles, was ging, ging auch wirklich. Sobald ich unsicher wurde, wurde ich versichert – ohne dass ich meine Verunsicherung erklären oder entschuldigen musste.
Es war nicht im Fokus, was mich verunsichert hat, sondern dass ich weiß, worüber ich mir sicher sein kann.
Das an sich war bereits außerordentlich wohltuend für mich. Es hat verhindert, dass ich in den traumalogischen Schluss rutsche, die Kontrolle über Unkontrollierbares behalten zu müssen. Diejenigen, die in der Verantwortung für mich waren, haben sie auch übernommen und meinen Konsens darüber immer wieder abgefragt. Ich hatte bis zum Schluss das Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, ob dieser Weg zum Eingriff oder der Eingriff selbst passiert oder nicht.

Offenbar habe ich beim Aufwachen immer wieder gesagt, ich hätte Angst, dass ein Täter da wäre oder käme. Daran habe ich keine Erinnerung.
Aber ich erinnere, dass eine Stationsschwester mir dann im Patient_innenzimmer gesagt hat, dass sie aufpassen würden, dass niemand käme. Dass ich bei ihnen sicher sei.
Der kleine R.-Stein in meinem, naja, meiner Krankenhaus-Laufsocke, war deutlich spürbar, aber nicht relevant für mich. Ich war noch eine ganze Weile nicht richtig wach und dissoziierte abwechselnd mit Schlafsequenzen.

Und dann gab es den Moment, in dem mein Mann egomäßig leicht angedötscht am Bettrand saß und erzählte, wie er beim Betreten der Station erst einmal klar und unmissverständlich gefragt wurde, ob er auch wirklich mein Mann sei.
Das war dann der Moment, in dem der kleine Stein zu einem kleinen Lehmklumpen wurde.

Kurzrezension „Das Helfernetzwerk“ von Quendolin Winter

Cover des Buches "das Helfernetzwerk", mehrere Fotos mit weißem Rand umrahmen den Titel, die Stimmung ist ruhig, klar und strahlt Verbindlichkeit aus„Das Helfernetzwerk“ ist ein Handbuch, das eine komprimierte Übersicht über sämtliche Unterstützungsleistungen des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems bietet. Auf über 300 Seiten finden sich sämtliche Angebote, ihre gesetzliche Grundlage und Kostenträger sowie der jeweilige Fokus der Hilfe oder Unterstützung sinnhaft strukturiert und klar formuliert.

Ein Buch, das gut in Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen und anderen informierenden Kontexten aufgehoben ist, aber auch bei Betroffenen komplexer Traumafolgestörungen, die sich selbstständig einen Überblick verschaffen wollen.

die Eckdaten:
„Das Helfernetzwerk“
Quendolin Winter
erschienen im Selbstverlag
ISBN: 978-3-00-081262-0
Preis: 29,99 €