die schwere Decke in der Therapie

Kurz hatte ich doch Angst. Ging mit schnellen Schritten meinen Gedanken hinterher und prüfte sie auf Gefahren.

Ich hatte diese Erfahrung gemacht und wollte sie wiederholen. Das ist gefährlich. Auf so vielen Ebenen. Ich habe etwas gefühlt und ein Wollen entwickelt – schwierig. Und dann fand ich es auch noch gut und schön – hmm! Und als ob das nicht schon genug Sirenen aufschrillen lässt, folge ich meinem Wollen und bahne entsprechendes Handeln an – Katastrophe.
Doch alles blieb ruhig. Mein Körper nicht durchsichtig, mein Denken und Wollen weiterhin unsichtbar. Eine Bemerkung so klein und zart, dass ich sie erst überging.

Denn erst sammelte ich Mut. Über meine Scham hinweg. Entgegen der Sorge, mit 40 Kilo Mut in der Brust durch dünnes Eis zu brechen. Meine Therapeutin zu überfordern, mehr zu wollen als ich darf. Mit dem Wissen, dass das, was ich möchte, etwas ist, was die meisten Menschen nur deshalb nicht wollen, weil sie es einfach immer schon haben: Ich möchte sie hören können. Nicht als Geräuschmasse, als stückigen Eintopf, dessen Inhalt ich mir allein erarbeiten muss. Hoch konzentriert, während ich laufe, schwimme, in die Repetition meines Stimmings versunken. Danach, wenn ich nicht mehr zeitgerecht antworten kann und mit meinen emotionalen Reaktionen und Gedanken dazu allein bleibe.
Ich möchte sie hören können. Ihre Worte mit Reihenfolge. Verwoben zu Bedeutung, verbunden mit Kontexten, gesendet an mich als Teil davon. Möchte immer das Gefühl zu dem Gedanken haben: „Ich bin nicht allein (in diesem Gefühl, diesem Gedanken, dieser Erinnerung)“, weil ich sie vollständiger wahrnehmen kann. Weniger als Reizquelle, die ich mehr oder weniger diffus aufnehme und nur durch mein Wissen um die Welt zum Menschen denke; mehr als Individuum, das sich auf mich bezieht und mit mir in Kontakt geht. Mich erreichen kann und will.

Nach der Episode mit der toten Amsel in unserem Büro, hatten wir telefoniert. Ich lag unter der schweren Decke, R. hörte Musik auf den Noise Cancelling Kopfhörern über die wir auch telefonieren können. Es war Zufall. Und ohne diesen Zufall hätte ich nie erfahren, dass mein unsichtbares Verstehproblem so mysteriös gar nicht ist. Es ist eine Mischung aus Stressreaktionen auf Geräusche und allgemeiner sensorischer Sensibilität [1]. Total üblich unter autistischen Menschen.
Unter der schweren Decke kann ich mich entspannen, weil mein Körper aufhört, sich selbst zu suchen. Es werden mehr Verarbeitungskapazitäten für andere Kanäle frei. Zum Beispiel den auditiven Kanal. Dieses Prinzip habe ich in meinem Alltagsleben als erwachsener Mensch bereits an so vielen Stellen angewandt – doch immer mit meiner allgemeinen Beschissenheit Verquirktheit erklärt und aus Scham versteckt. Einfach, weil man das so nicht macht. Lektorieren und Bücher setzen mit absolut dichtem Gehörschutz, auf den Füßen sitzend, die schwere Decke auf dem Rücken. Duschen mit geschlossenen Augen. Kleidung anziehen ausschließlich im ruhigsten Zimmer der Wohnung. Man macht es nicht so, weil aus dem Nichts eine Hand, eine Faust, ein Fuß geflogen kommt. Jemand brüllt, an den Haaren zieht, zuschlägt. Man macht es nicht, weil man sonst verlassen wird. Von Mutti, die sich schämt, von Vati, zu dem eine Bindung überhaupt aufzubauen von unsichtbar verwirrenden Hürden geprägt ist. Man macht es nicht, weil niemand es so macht. Nirgendwo, wo andere sind.

Es war mein Gefühl von Randexistenz, das mir die Erlaubnis für meine ausgelebte Quirkness gab. 16 Jahre Hartz 4, niemand hat noch erwartet, dass ich irgendwie mal noch integriert werden würde. Arbeiten gehen würde. Mit jemandem zusammen leben würde. Jetzt kann ich meine Quirks in ihrer Funktion erkennen und sehen, dass ich in all den Jahren sehr wohl selbstfürsorglich mit mir war. Trotz Essstörung, trotz Sucht, trotz Selbstverletzung. Ohne diese vor den Augen anderer Menschen versteckten Verhaltensweisen hätte ich vielleicht genauso wenig überlebt wie ohne die Dissoziation. Denn ich nehme nicht wahr – ich nehme auf. Ohne diese stetige Verschiebung meiner Kapazitäten zur Reizverarbeitung würde ich weiter immer nur aufnehmen und einfügen, wie schon als Kind. Steuerung C und Steuerung V. Ohne Kontext. Ohne Bezug. Immer im Versuch so exakt wie möglich die vage verstandenen Lücken im Gespräch, im Moment des Handelns zu füllen. Immer wissend: „Es fehlt etwas. Aber ich weiß nicht was. Ich bin so allein. Aber die Verbindung kann ich mir nur herleiten. Nicht empfinden. Etwas fehlt, etwas ist nicht mit in der Gleichung für den letzten Klick.“

Meine Therapeutin konnte mich nicht sehen. Wie ich da so lag und an die Decke über meinem Bett schaute, während R. mit ihr sprach. Sie konnte es nicht sehen, nicht bewerten, nicht verhindern. Es war einfach so, wie es war und es war okay. Ich konnte sie nach 10 Jahren, die wir miteinander arbeiten, einfach hören. Einfach verstehen. Konnte einfach begreifen, was sie sagt und dass sie sagt, dass sie da ist. Und ich nicht mehr allein. Allein mit Erinnerungen an Gewalt, mit der Angst von früher, mit der Not, die immer noch empfunden wird.
Logisch, selbstverständlich, natürlich, klar! möchte ich das immer so haben. Total nachvollziehbar.
Aber.
Und.

Durch die lange Zeit zusammen hatte ich eigentlich mehr gewohnheitsmäßige Angst vor dem Beziehungsabbruch als wirklich freidrehende Panik von Kinderinnens, als ich ihr sagte, dass ich die schwere Decke in die Therapie einbauen möchte. Diesmal spielte viel mehr die Angst eine Rolle, ich könne durchsichtig für sie sein und sie würde etwas sehen, das ich nicht sehen kann, weil ich mit dieser Situation noch so neu bin. Mir kamen viele Erinnerungen an Situationen, in denen ich selig und froh um gute Gefühle war, meine direkte Umwelt sie mir jedoch als abstoßend, schlecht, abartig oder hinterlistig zurück rahmten.
In der Therapie ist das aber noch nie passiert. Vielleicht, weil meine Therapeutin meine mentale Durchsichtigkeit nicht ausnutzt. Vielleicht – vielleicht! – weil es so etwas wie mentale Durchsichtigkeit nicht gibt und die Menschen, die mich das haben glauben lassen, meine guten Gefühle zerstören wollten. Mit Unterstellungen, bösartigem Reframing, gaslighting, Urteilen entsprechend nicht-autistischer Normen und Werte.

Und dann habe ich mit einem Klick auf die Entertaste die Decke bestellt und zur Praxis schicken lassen.
Und dann haben wir den Einsatz der Decke einfach gemacht. Wie besprochen. Einfach so. Im mittleren Erregungsniveau, in einer Stunde wie immer. Fast immer. Noch nie.
Ich habe sie gehört, ich habe dazu Gefühle entwickelt, ich habe zum ersten Mal in der Therapie geweint.

 

[1] Kuiper MWM, Verhoeven EWM, Geurts HM. Stop Making Noise! Auditory Sensitivity in Adults with an Autism Spectrum Disorder Diagnosis: Physiological Habituation and Subjective Detection Thresholds. J Autism Dev Disord. 2019 May;49(5):2116-2128. doi: 10.1007/s10803-019-03890-9. PMID: 30680585; PMCID: PMC6483953.

weites Feld

„Stressmagen“ Das Wort poltert in meinem Kopfmund herum, als ich die Praxis meiner Hausärztin verlasse. Ich habe schon wieder eine Magenschleimhautentzündung, der Stress ist schuld. Und das Ibuprofen, obwohl ich es gar nicht mehr täglich und auch schon lange nicht mehr chronisch überdosiert nehme.
Mein Schmerzproblem bleibt. „Das ist ein weites Feld“, sagt meine Hausärztin, „Das ist zu unkonkret“ mein Partner. Das stresst mich, denn es fühlt sich an, als läge dieses weite, unkonkrete Feld zwischen uns. Als müsse ich akzeptieren, dass es ist, wie es ist und nie anders sein wird.

Seit einem halben Jahr habe ich die Webseite einer Schmerzambulanz in den Lesezeichen meines Browsers und genauso lange demotiviere ich mich selbst, mich dort vorzustellen.
Sehr viele Gewaltopfer leben mit chronischen Schmerzen; sehr viele Menschen mit Uterus durchleben die zyklischen hormonellen Veränderungen in ihrem Körper mit Schmerzphänomen; Stress ist ein Gift, dem viel zu viele Menschen jeden Tag über lange Zeit ihres Lebens ausgesetzt werden – m.eine (Er.)Lösung zu finden, wird sich in einem Aufwendigkeitsbereich bewegen, der nicht zu rechtfertigen ist. Ich bin in Traumatherapie, möchte meine Möglichkeiten Kinder zu gebären nicht verlieren und lebe nicht in einer Welt, in der ich irgendetwas ohne Stress machen kann.

Am nächsten Tag ziehe ich meine Bahnen im neuen Schwimmbad. Mein Magen tut weh, meine Oberschenkelknochen, meine Hüften, der untere Rücken tun weh, meine Muskulatur fühlt sich an, als versuche sie, sich von meiner Wirbelsäule abzulösen. Ich kämpfe mich ins High, werde warm und könnte heulen vor Selbstmitleid. Was ist das für eine beschissene Gesamtscheiße. Warum bin ich immer noch so trapped in Schmerz. Warum hört es nicht endlich auf.
Nach einer Stunde ist mir egal, dass mir alles weh tut. Alles ist wattiert, summt, ist lebendig und beweglich. Ich trinke einen Kaffee im Auto und höre dem frühen Vogelzwitschern zu. Mein Tag ist wieder ziemlich voll. Mit schönem, gewollten, mit sehr frei gewählten Projekten und Arbeiten. Lieben Kontakten, spannenden Themen, schaffbaren Aufgaben. Und keine 2 Millimeter dahinter eine grenzenlose Qual, die so diffus ist, so unkonkret, so viel NICHTS.

Jetzt versuchen wir ein anderes Schmerzmittel. Eine am Tag, immer um 10.
Es kommt mir vor, als würde ich eine Lüge schlucken, weil mir klar ist, dass mein Schmerz auch etwas mit Erinnerung zu tun hat. Aber wie genau, weiß ich nicht.
Auch das ist ein weites Feld.

der Notfall

Es war spät. Wir waren nach draußen gegangen, um im letzten Abendlicht eine Gute-Nacht-Runde „Flügelschlag“ zu spielen.
NakNak* kam auf mich zugestakt und stupste mich an. Der Rücken rund, das Gesicht starr, wie so oft in den letzten Wochen, die Hinterbeine in Schonposition.

Vor etwas über zwei Wochen hatte sie einen dicken Fuß, hinten rechts. Ein dicker Gewebeballen über dem, was bei uns Menschen die Zehengrundgelenke sind.
Damit waren wir mehrfach bei der Tierärztin, eine Ursache konnte nicht gefunden werden. Es war ein Hämatom, ja klar, sie ist einfach eine springende Rennmaus, wenn sie ihre 5 Minuten hat und die hat sie jeden Tag. Auch jetzt, mit 14 einhalb Jahren. Nach zwei Wochen Behandlung mit Heparin ist die Schwellung weg, ihr Fuß weiter unerklärlich krumpelig, ein Bobbel, der ihr die Beugung erschwert, geblieben.
Ich war nachmittags bei der Nachsorge. Wir haben ein Kontrollröntgen machen lassen, auch von ihrem Rücken, denn da war sie immer noch empfindlich. Aber außer Arthose war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Meine kleine warme Hundeomi hat einfach schlimme Körperstellen.

Und nun, einige Stunden später, also starke Schmerzzeichen. Kurz vor 10 am Abend. Auf dem Land. Zwei komplex traumatisierte Menschen, die auf (drohende) Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht reagieren, wie Maschinen – besonders, wenn es um etwas geht, was wehtun könnte. Eine alte Border Collie Mischlingshündin, die ihr Verhalten immer noch nicht an ihren körperlichen Verfall angepasst hat.

Ich habe für solche Momente keinen Notfallplan mehr.
Und das hat keinen anderen Grund als Scham. Ableistisch begründeten Selbsthass. Die Abwertung meiner Bedürfnisse vor dem Ziel der eigenen Normalisierung.
Als ich noch allein gelebt habe, hatte ich für alles eindeutige Notfallpläne, weil ich immer allein war und mir andere Menschen maximal als Assistenz, als Erfüllungshelfer_innen ins Leben holen musste. Ich brauchte mich nicht schämen, war nicht so schnell einzufangen in Fragen darum, was ich wann wie wo machen darf und was nicht, weil wie wirkt das denn? Als bekloppte Psycho-Uschi ist es einigermaßen leicht, sich Gutes zu tun und sei es noch so ~merkwürdig~. Und Bielefeld ist einfach eine besondere Stadt. Es wurde immer eher wertgeschätzt, wenn ich mich im Vornherein über Abläufe und Optionen informiert habe, vorausschauend organisierte, mich selbst um meine Assistenzbedarfe gekümmert habe und sagen konnte, was ich wie, wozu und wie sehr brauchte, wenn das nicht gereicht hat. Hilfe zu brauchen, ist dort nicht im Ansatz so stigmatisiert wie hier.

Jetzt lebe ich anders. Ich werde als Frau in einer hetero cis Beziehung gelesen. Als Person, die nervt, weil sie es genau wissen will. Als störend, weil mich Dinge stören, die schon immer so gemacht werden. Als unruhiger bis immer unzufriedener Mensch, weil ich optimiere, was für andere gar keiner Optimierung bedarf. Mein autistisches, komplex traumatisiertes Funktionieren war mein ganzes erwachsenes Leben lang nicht so ein Problem, so eine Behinderung wie in dieser Lebensphase und in dieser Lebensumgebung.
Und jetzt leben wir auch noch in einer Pandemie. Für mich als behinderte Person bedeutet das seit 3 Jahren permanenten Ausnahmezustand, weil sich die Menschen, die sich nicht auf den Schutz und die Unterstützung durch andere Menschen angewiesen fühlen, nicht an diese neue Situation anpassen wollen. Wie bockige Kinder verweigern sie sich jeder Maßnahme, jedem bisschen mehr als sich selbst zu helfen und machen es damit für alle unnötig schwer, Alltag zu gestalten, gesund zu bleiben, produktiv zu sein, in die Zukunft planen zu können. Es ist zum Kotzen und meine Wut über so viel unverdientes Privileg zur Dummheit und Ignoranz ist grenzenlos.
Aber meine Wut ist irrelevant. Jemand wie ich wird immer als wütend gelesen. Jemand wie ich ist immer unzufrieden über irgendwas (belangloses). Und das macht etwas.

Es bestärkt meinen Selbsthass darüber angewiesen zu sein. Hilfe zu brauchen. Nicht immer alles zu können – wie andere Leute (die bewusst oder unbewusst verdrängen, dass auch sie angewiesen sind und nicht alles immer können).
Es rahmt meine Wut als persönlichen Makel. Als etwas, das nur ich allein lösen kann – und soll.
Es gibt mir das Gefühl, etwas Falsches zu tun, wenn ich mir Gutes tue. Wenn ich mich um mich kümmere, mir Pläne mache, mich absichere, ich mich an erste Stelle nehme, wenn klar ist, dass ich es bin, womit ich langfristig zurechtkommen muss.

Zum Beispiel, wenn es um die Versorgung von NakNak* geht. Auch die letzte mögliche Versorgung.
Ich will – muss – verhindern, dass sie in einer (fremden) Tierarztpraxis eingeschläfert wird. Ich weiß, dass man das nicht zu 100 % vermeiden kann. Wenn sie angefahren wurde oder an Gift verendet, ja, dann kann sie nicht sediert und nach Hause gebracht werden, wo wir sie in Ruhe einschläfern lassen können. Aber in den meisten anderen Fällen geht das. Da hängt es nur an der Einsicht und dem Wollen der ermächtigten und fähigen Menschen in der Situation, das zu ermöglichen. Und in der Regel sind diese Leute einfach routinedumm. Macht ma nich, machen wa nich, wolln wa nich – da könnt ja jede_r kommen.
Oder es gibt die Idee, dass in so einer Situation das Tier unnötig leiden würde, nur weil ich es gut haben will. Aber ein sterbendes, sediertes Tier leidet mehr unter mir, wenn ich nicht ganz bei ihm sein kann. Wenn unser Kontakt gestört wird von Formalgetue, von Desinfektionsgestank, von schlechtem Raumhallmanagement, von meiner Überanstrengung in der Kommunikation mit fremden Menschen, die mich nicht verstehen und entsprechend anstrengend, nervig, störend finden.
NakNak* hat mir in ihrem Leben so viel beigebracht und so viel ermöglicht – es ist nur angemessen, wenn ich ganz und gar bei ihr bin, wir es ruhig und gut haben. Wenn sie auf ihrer Decke liegen kann, wenn das ganze Rudel bei ihr ist, wenn ihr Sterben in so vielen Aspekten wie möglich ihrem Leben gleicht.
Es ist die einzige für mich barrierefreie Möglichkeit, ihr Gutes zu tun (weil ich mir Gutes tue).

Das wird oft missverstanden, wenn man über Barrierefreiheit spricht. Aber auch über Selbstfürsorge.
Viel zu viele Menschen denken, dass man Selbstfürsorge machen soll, um sich gut zu fühlen, obwohl nichts gut ist. Und ebenfalls viel zu viele Menschen denken, dass behinderte Menschen Barrierefreiheit fordern, damit sie Dinge machen können, obwohl sie behindert sind.
Dabei sind beide Dinge, Selbstfürsorge wie Barrierefreiheit, notwendige Grundlagen, um in die Lage versetzt zu werden, weder das eine noch das andere zu benötigen. Sie sind keine Lösung für Dinge, die eine Behinderung zu einer solchen machen.
Um es anders zu formulieren: Wo man Barrierefreiheit braucht, wurde Behinderung produziert. Wo man Selbstfürsorge braucht, gibt es nichts und niemanden, die_r sich um oder für dich sorgt.

In der Notfallsituation gestern Abend waren wir auf den Notdienst angewiesen. Den hatte die Tierklinik in der nächstgrößeren Stadt, etwas über 20 Kilometer von hier. Der Partner telefonierte mit der Praxis, ich beruhigte NakNak*, musste unterbrechen, um das Auto des Partners leerzuräumen. Er hatte nicht daran gedacht, dass ich noch mal ins Haus müsste. Mich um meine Grundversorgung kümmern wollen würde. Wie immer war ich es die, die Abläufe unterbricht, um ihren Tüddel zusammenzusuchen. Gehörschutz, Wasser, Ankergegenstand, Handy. Für mich ist das kein Tüddel, sondern die in mich hineingefressene Antizipation davon, wie es mir in einem nicht barrierefreien Umfeld gehen wird, wo mein Befinden für irrelevant erklärt ist.

Wir haben keinen Plan dafür gehabt, wie wir die Situation managen. Entsprechend konnten wir nur überrascht und überrollt werden von dem, was dann war. Zutritt nur mit FFP2 – der Partner hatte nur Papierlappen im Auto, ich hatte keine eingesteckt, um nicht noch mehr Zeit für meinen Tüddel einzunehmen – und nur eine Person pro Tier. Auch wenn ich also eine passende Maske gehabt hätte, hätte ich nicht reingekonnt. Ich brauche in solchen Momenten eine Assistenz, die hat man mit diesen Beschränkungen ausgeschlossen, man hat mich als behinderten Menschen strukturell diskriminiert. Und dank der ganzen Infektionsrealitätsverweigerer gibt es genau keinen Raum mehr, um irgendeine alternative Möglichkeit zu erfragen, ohne eine automatisierte Abwehr-Konfliktsituation zu provozieren.
Mein Partner, der erst seit 4 Jahren mit NakNak* das Leben teilt, der nicht weiß, was Hunde mit Schmerzen für eine Interaktion brauchen und das viel größere Infektionsrisiko hat, ging also in die Praxis. Wo kurz nach seinem Eintreten eine Reinigungskraft ohne Maske durch jeden Raum ging und schwer atmend arbeitete.
Während ich mit meinem Gehörschutz an der Hauptstraße stand und nicht mal einen Fitzel der Wut zeigen durfte, die in mir tobte.

Wir hatten Angst, dass sie einen Bandscheibenvorfall gehabt haben könnte. Das wäre eine Situation gewesen, in der wir nichts mehr tun könnten. Für eine Operation ist sie zu alt, wir hätten sie einschläfern lassen müssen. In einer fremden Klinik. Ohne mich dabei. Vielleicht.
Es ist nicht dazu gekommen, sie hat vermutlich so etwas wie einen Hexenschuss gehabt und brauchte nur eine Injektion.
Mein schweißgebadeter Partner und die immer noch hechelnde NakNak* im Auto bin ich erleichtert und taub zugleich. Ich sitze neben ihm, höre unserem Gespräch aktiv wie dissoziiert zu und beschließe, dass es das jetzt war.

Keine Kompromisse für einen falschen Frieden mehr.
Ich will meine Pläne. Ich mache meine Pläne.
Es ist kein Tüddel es ist Selbstschutz, weil mich keiner schützt.
Es ist meine Selbstfürsorge, weil ich mich nicht auf die bedarfsgerechte Sorge meiner Mitmenschen verlassen kann.
Ich bin behindert, aber nicht weniger. Ich habe Rechte, auch im Notfall.

Ich fürchte, dass mein Partner das in der Praxis nicht gut findet. Nicht unterstützt. Dass er das alles anders sieht und deshalb anders machen will. Vermutlich werden wir uns streiten. Vielleicht auch immer wieder.
Aber ich habe nichts von seiner Zustimmung außer Abhängigkeit und davon habe ich bereits genug.
Vielleicht finden wir eine gemeinsame Basis und tierärztliche Praxen, mit denen wir im Fall des Falls rechnen können.

Hoffentlich.
Wenn nicht, muss sich etwas ändern.
Viel.
Vielleicht alles.
Obwohl.

Wunden und Narben

Zum Geburtstag schenkte mir jemand das Arbeitsbuch zum Buch „Leben, Schreiben, Atmen“. Es ist ein rotes Buch mit Leineneinband, „Eine Einladung zum Schreiben“. Es enthält Schlagwörter, zu denen man schreiben kann, auf drei nachfolgenden zart linierten Seiten.

Von Anfang an schreibe ich dort Traumazeugs rein und schockiere mich damit selbst. Üben wollte ich leichter zu schreiben. Weg von der Schwere, von dem Schmerz, hin in die süße Oberflächlichkeit des Hier und Jetzt. Aber sie stellt sich einfach nicht ein. Der Text über Gummibärchen wurde ein Text über Suizidalität, der über Betten einer, den ich nicht mal nachlesen will. Jetzt liegt das Buch neben mir und die Überschrift: „Wunden und Narben“ schaut daraus hervor. Ich hab kurz aufgelacht. Das kürzeste Lachen – ha! – das wie Luftkotze aus meinem Hals kommt, um ohne Echo in der Mundhöhle zu sterben.

Vorhin habe ich irgendwo gelesen, kPTBS sei eine Wunde und keine Identität. Das hat mich geärgert, wie immer. KPTBS ist eine These. Ein Gedankenstück. Eine arbiträre Kategorie. Sie ist nichts weiter als eine geordnete Grabbelkiste ferner Beobachter_innen. Eine Diagnose, ein Werkzeug in einer Arbeit, die nichts produziert, um den eigenen Körper am Leben zu erhalten. Eine Diagnose kann nicht verwunden. Sie kann nur kommunizieren, dass eine Wunde vorliegt. Und das kann eine Identifizierung ermöglichen. Und Identität herstellen. Weil äußere Ordnung und inneres Erleben kongruent – identisch – werden.
Dass über diese Dinge, diese Vorgänge so undifferenziert gesprochen und nachgedacht wird, schlägt mir Wunden, die nicht bluten. Manchmal merke ich, dass ich da etwas verwechsle oder vermische. Und manchmal weigere ich mich, meine Verletzungsgefühle ausschließlich alten Wunden zuzuordnen. Ich habe so viel Mühe, so viel Arbeit damit zu verstehen, wovon Menschen sprechen. Bin so stark davon abhängig, dass ich die verwendeten Ordnungssysteme anderer Menschen verstehe, um überhaupt eine Chance zu bekommen, ihre Worte und Aussagen mit ihrem Werten und Verhalten in Verbindung zu bringen. Wenn sie uneindeutigen Kram sagen, dann kränkt mich das. Macht mich hilflos. Verständnislos. Un_Einsichtig. Es trennt mich, isoliert mich. Meine Arbeit war umsonst und mein Schmerz daran wird wundlos.
Ich habe gelernt zu denken, dass das ohne Absicht passiert. Zu akzeptieren, dass ich in diesem Vorgang keine Rolle spiele. Mein Schmerz einen Anlass hat, aber keine reale, greifbare, veränderbare Ursache, weil die Kongruenz mit dem Außen fehlt. Und dass dies das wahrhaftig aut.istische Moment in meiner Existenz ist. Und der Trigger.

Denn in keinem anderen Moment im Leben ist man so. So grundlegend nicht und gleichzeitig ganz. Das ist das Inmitten eines Traumas. Das Moment, in dem alle Grenzen gleichzeitig gesprengt sind, jede Verbindung gekappt, jeder Sinn sich selbst entrissen ist. Man würde all das nicht spüren, wäre man tot – doch weil es passiert, ist man nicht mehr.

Wunden sind so harmlos daneben. Und Narben erst. Was können die uns schon sagen, was über sie hinaus geht? Wofür außer sich selbst können sie stehen? Für nichts. Sie sind reine Projektionsflächen. In meinem Fall eine ribbelige, weißlich glänzende Projektionsfläche, die manche Menschen ins schweigende Gaffen, andere ins abwertende Urteilen über mich bringt.
Sie sind Reste von etwas, über das man nie im Leben kongruent sein kann. Außer vielleicht, wenn man stirbt. Oder geboren wird. Beides kann man schlecht herausfinden, denn das Leben selbst ist die letzte Grenze, die man wundlos durchbricht.

Ja, wie es aussieht, kann ich da wirklich nichts Einfaches, Leichtes, Fluffiges reinschreiben.

Grenzen

Die Sonne geht gerade auf, Wolken schleichen um sie herum, am Horizont steht eine Gruppe Wild.
Ich fahre zur Schwimmhalle, blinzle mir Fetzen aus den Augen. Der Impuls ist, sich zu verkriechen. Einrollen, verstecken, dunkel, still, nichts und niemand. Ich spüre ihn genauso deutlich wie den monolithen Leuchtturm in mir, der mich in die Selbstfürsorge leitet.

Das Wasser ist kühl, im Becken schwimmen außer mir nur drei andere Menschen. Das Morgenlicht wird zu hellen Rhomben, Drei- und Vielmehrecken auf der Oberfläche. Ich schalte meine Augen aus, um nicht die Orientierung zu verlieren.
Zwei Wochen war die Schwimmhalle geschlossen, weil so viele Mitarbeiter_innen krank gewesen sind. Ich liebe, wie anstrengend es nun wieder ist, mich vorwärtszubewegen. Meine Glieder schreien mich an, ich fühle mich ihnen näher als vorher. Die dumpfen Erinnerungen auf meiner Haut werden zu Schatten und verlieren ihre Macht über mich. Und endlich kann ich es loslassen. Das drängende Gefühl, mich um etwas kümmern zu müssen, was seit mehr als 25 Jahren nicht mehr bekümmerbar ist. Das Gefühl des Versagens, das damit verbunden ist. Das Gefühl der Überforderung vor einem Anspruch, der vielleicht nur von mir ausgeht, aber irgendwie doch nicht so richtig vom Außen zu lösen. Die Furcht vor Gesprächen, die dem Geständnis der Nichtversorgung von Kinderinnens folgen könnten.

Meine körperliche Anstrengung gleicht meiner psychischen. Ich fühle mich rund in mir und kann leichter mit der Eckigkeit der Welt umgehen. Ihre scharfen Kanten müssen im richtigen Winkel auf mich treffen, um nicht an mir abzurutschen, ich muss nur meinen Sicherheitsabstand zu ihr bewahren. Grenzen setzen, vielleicht.

In Gedanken suche ich meine Körpergrenzen ab und stolpere in die Geschichte meiner Narben. Ja, auch das war Kongruenz, Metapher, reale Invasion. Selbstverletzung, Angriff, Zugriff. Aus- und Nutzung. Leute, die Kinder schneiden, Kinder, die sich schneiden. Wenn man das übereinander legt, gibt es nicht nur Gegensatz und Ausschluss, sondern auch Gemeinsamkeit. Kongruenz. Rundsein. Identität.

Auf dem Rückweg scheint die Sonne. Nicht mehr lange, dann können wir wieder mit dem Fahrrad zur Schwimmhalle fahren. Ein Kinderinnen schickt mir seine Freude über den Gedanken durch ein Fuchteln. Manche Grenzöffnung ist okay.

unverzeihlich und vorbei

Wir haben uns lange nicht mehr als Körper erlebt. Meine Kolleg_innen und ich. Wir trafen uns zur Besprechung aller Dinge und zur Befühlung aller Prozesse, die es nicht von Monitor zu Monitor schaffen.
Hohes Risiko für alle. Auf allen Ebenen. Und auch – das Leben. Das es nicht ohne Risiko gibt. In dem man nur tun kann, was man tun kann.

Ich moderiere, führe durch die Methode, schreibe mit, bin stolz und dankbar, die Traumaarbeit am Tag vorher so gut ziehen lassen zu können. Das war so lange nicht möglich. So lange so viel belastender als jetzt. Was ich jetzt fühle und denke, das hat alles mit meinen Kolleg_innen zu tun. Und damit, dass ich sie am Herzen trage. Sie sind mir wichtig, ich mag sie, wir gehören zueinander.
Wir erwarten einen großen Prozess in diesem Jahr, ich erwarte meine Überforderung. Wir planen und überlegen zusammen, ich behalte meine Befürchtung für mich, denn mehr als diffuse Furcht ist es noch nicht.

Auf dem Weg zum Bett für die Nacht mischt sich das Dröhnen der Zugklimaanlage mit dem Erinnern an das Dröhnen meines eigenen Blutes im Ohr. Ich schütte Musik hinzu wie frisches Gemüse in eine Tütensuppe. Tippe mir den Rhythmus auf die Grenze zwischen der Welt und mir. Denke nichts, fühle nichts. Bin dankbar mir sicher zu sein, dass ich dennoch da bin. Ich bin nicht meine Gedanken, ich bin nicht meine Gefühle. Ich bringe sie hervor – wenn ich es kann, wenn ich es will, wenn ich es muss, kann, darf, soll. Sie brauchen mich, ich bin auch ohne sie. Es ist okay.

K. schreibt mir, dass es eine Demonstration von Querdenkern in der Innenstadt gibt. Ich plane Umwege ein, obwohl ich kaum die Augen aufhalten kann. Es regnet, ist kalt. Wer es ernst meint, lässt sich davon nicht abhalten und hat deshalb gerade jetzt die Gelegenheit Menschen wie mich echtem Psychoterror auszusetzen. Denn mir ist wirklich unbegreiflich, wie ernst man solchen Unsinn wie Impfchips und Freiheitsbedrohung durch Rücksicht auf chronisch kranke, behinderte, sehr junge und sehr alte Menschen meinen kann. Mir macht das Angst. Zusätzlich zur Angst vor Ansteckung und damit der Angst meinen Partner durch Ansteckung zu töten. Zusätzlich zur Angst, eine Ansteckung zu überleben und dann mit Longcovid umgehen zu müssen. Zusätzlich zur Angst, die sich aus der Erfahrung ergibt, eine behinderte Person in dieser Gesellschaft zu sein.
Schon das Wissen, dass ihre Demos genehmigt werden, macht mir Angst. Denn mit freier Meinung hat das alles nichts zu tun, sondern mit der Idee, dass Menschenverachtung und Hass etwas mit Meinung zu tun hätte. Beziehungsweise, dass sich menschenfeindliche und hasstragende Meinungen aus irgendetwas anderem als Menschenfeindlichkeit und Hass entwickeln.
Es ist struktureller Betrug am Recht der Allgemeinheit sich frei und sicher zu fühlen, wenn man Querdenkern die Raumnahme erlaubt. Und es ist unverzeihlich.

Die Altstadt umrundet komme ich eine Stunde später als nötig an. Denke nur noch in Fetzen, esse etwas, lasse eine Serie in mich hineintropfen, falle in einen Schlaf, aus dem ich wegen Luftnot wieder herausstürze. Meine Allergie. Kurz nach 3. Draußen rauscht es, drinnen ist es still. Ich wackle in meinem Körper herum wie ein Steinchen in einer Blechbüchse. Hinter meinen Gedanken ans Trinken, meine Tablette, mein Notfallspray und der Planung meiner Lebenserhaltung rauscht ein Traumawiedererleben entlang. Dazwischen ist ein Spalt. Eine Luftbarriere. Ich weiß nicht, wie ich sie herstelle, aber sie ist da und ich halte mich auf meiner Seite, ohne zu wissen wie eigentlich.
Ich atme und trinke, huste und schleime. Halte die Arme über meinem Kopf, schaue auf die Uhr, konzentriere mich auf die Wirkung meiner Maßnahmen.
Die Bilder rauschen in meinen Ohren. Ich sehe Unverzeihliches. Fühle Unverzeihliches. Denke Unverzeihliches. 20 Minuten später ist es vorbei.

12 Stunden danach liege ich auf der Couch unter der schweren Decke. Ich bin zu Hause. Bubi liegt neben mir, der Partner spielt etwas vor, NakNak* hat uns im Blick. Ich verkörpere mich, ES ist vorbei.
Unverzeihlich und vorbei.

Und was, wenn..?

Ganz oder gar nicht, das ist etwas, was uns häufig als problematische Haltung eingeordnet wird. Oft, weil man denkt, wir würden traumalogisch urteilen, manchmal weil man selbst mehr als zwei Optionen zu sehen glaubt und uns diese Alternativen vorschlagen möchte.

Ja, wir sind ein rigider Mensch. Sehr scharf, sehr klar, sehr starr in unseren Entscheidungen. Einmal etwas angenommen, wird es schwierig etwas davon wieder aufzulösen. Das gilt im Positiven wie im Negativen. Wir sind konsequenter als viele andere Menschen und hartnäckiger. Damit sind wir aber auch nerviger und verursachen mehr Umstände als viele andere Menschen.
Wenn wir wissen, was wir wollen, dann tun wir alles, was nötig ist, um es zu erreichen. Auch, wenn wir eigentlich nicht mehr können. Auch, wenn es vielleicht für alle anderen Menschen als zum Scheitern verurteilt erscheint. Wir ziehen durch, weil wir uns durchzuziehen vorgenommen haben.

Wir haben uns vorgenommen zu leben, also sind wir ausgestiegen, haben angefangen zu essen, zu trinken, uns zu versorgen. Obwohl es weh getan hat, obwohl es schlimm war und manchmal noch heute ist. Wir ziehen das durch mit allen Konsequenzen. Das war eine Entscheidung und damit in unserem Empfinden keine Wahl mehr. Wir hätten wählen können, ob wir uns entscheiden oder nicht, aber einmal entschieden ist ent_schieden, also vereint auf die eine Linie.

Fehlannahmen sind für uns schwierig, aber lösbar. Wir treffen unsere Entscheidungen in der Regel basierend auf Fakten und Erfahrungswerten. Stimmen die Fakten nicht oder sind unvollständig, fällt es leicht, die darauf beruhenden Entscheidungen zu widerrufen und zu neuen Einsichten zu gelangen.
Was aber bei Dingen, die eine Folge unserer Entscheidungen sind und selbst eine Entscheidung abverlangen?

Wir können bei unserer Entscheidung für das Leben bleiben, sind aber dennoch mit den Entscheidungen über unsere Lebensqualität konfrontiert. Ist unsere Lebensqualität nicht gut, müssen wir unsere Entscheidung für das Leben neu überdenken, was wir nicht mehr wollen. Wir wollen nicht mehr infrage stellen, ob wir leben wollen, können, dürfen, sollten. Und doch müssen wir auch diesen Strang immer mitdenken. Denn entweder wir denken vollständig über Dinge nach oder nicht. Wie tragisch wäre ein halb durchdachter Suizid, wie grauenhaft ein halb erfülltes Leben?

Unsere Neurologin regte mich, in Bezug auf unser Therapie~ding~, dazu an, auch daran zu denken, dass die von uns gewollte Traumaverarbeitung als Therapieziel vielleicht nicht erreichbar ist. Ein Gedanke, den wir von Beginn der Therapie an vermeiden, um so wenig Raum wie möglich dafür entstehen zu lassen, dass das, was wir da tun sinnlos, falsch, zum Nachteil von anderen belasteten Menschen und der Therapeutin sein könnte. Wir wissen, dass, sobald wir dem Raum geben, der Fall in Altes sofort folgt. Traumawahrheiten wie „Du kannst nichts dagegen tun“, „Es wird nie aufhören“, „Was hast du gedacht – hast du gedacht, du könntest irgendwas bestimmen/kontrollieren.“ und Ähnliches senken unsere Therapiearbeitsmoral, lassen uns Kraft verlieren und am Ende auch Lebensqualität. Es wird schwierig nach innen zu motivieren und unmöglich innere Bünde aufrechtzuerhalten, die komplett auf Hoffnung und Vertrauen in die Möglichkeit der Zielwerdung beruhen.

Seit wir mit der DIS diagnostiziert sind, haben wir als Therapieziel, das Erfahrene zu verarbeiten. Seit 18 Jahren trägt uns diese Entscheidung und seitdem nehmen wir es als Auftrag an uns als Patient_in an. Wir müssen wollen, wir müssen therapiearbeitsfähig sein, wir müssen unsere Vermeidungsstrategien erkennen und auflösen, denn das ist unser Ziel. Traumaverarbeitung, um klarzukommen, um ein insgesamt befriedigendes, erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Weil in den letzten Jahren vor allem die Vorarbeiten für dieses Ziel im Vordergrund standen, war nie Thema, ob es überhaupt wirklich erreichbar ist. Was wenn nicht? Was machen wir dann? Sind wir bereit unser Leben lang, mit unverarbeitetem Trauma zu leben? Mit Flashbacks, mit Alpträumen, mit dissoziativen Brüchen, mit biografischer Amnesie, mit all dem psychosomatischen Kladderadatsch? Als wir uns für das Leben entschieden haben, haben wir uns nicht für so ein Leben entschieden, sondern für eines, das wir uns gut gestaltet haben würden. Eins ohne Trauma als alles bestimmende Größe.

Ich bin nicht bereit für so ein Leben. Für irgendeine funktionale Vermeidungsstrategie. Für dunkle Geheimnisse oder unberührbare Themenzonen haben wir nicht Kraft, nicht dauerhaft, nicht den Rest unseres Lebens.
Ja, „der Rest unseres Lebens“ ist wieder eine sehr absolute Aussage. Ja, wer weiß, was in 10 Jahren ist blablabla – aber die 10 Jahre müssen erstmal gelebt werden. Irgendwie muss man ja aushalten, zu leben ohne Aussicht auf eine Veränderung oder natürliche Auflösung der Schwierigkeiten. Ich bin nicht bereit, mich durch 10 scheiß Jahre zu quälen, nur weil danach eventuell vielleicht irgendetwas passiert, das alles anders macht als jetzt.
Wir sind Mitte 30, wir haben noch so viel mehr Zeit für ein geiles Leben mit ordentlich aufgeräumter Traumascheiße auf dem Dachboden, wie um alles in der Welt könnte ich mich damit ok kriegen, das nicht zu erreichen? Und wozu? Und für wen?

Ich würde damit sagen: „Ja, gut, gibt halt keine oder nicht die richtigen Therapieformen oder -mittel, dass ich das hinkriege“ und die Hände in den Schoß legen, weil ich halt kein_e Therapieform- und mittel-Ausdenker_in bin, sondern irgendwelche Leute, die bei ihren Formungen nicht an autistische traumatisierte Menschen denken.
Und wie zum Henker soll mich das kaltlassen. Warum um alles in der Welt soll ich das ok finden und mich halt damit abfinden, dass es ist wie es ist, kann man nix machen, muss man halt leiden.
DAS IST DOCH DER GLEICHE SCHEIß WIE FRÜHER UND OB ICH DAFÜR 18 JAHRE PSYCHOTHERAPIE GEMACHT HAB WILL ICH WISSEN

Atmung

Nein, es ist keine Option. Kann es nicht sein.
Wir haben uns für etwas anderes entschieden und vielleicht schützt uns, unsere Rigidität an dieser Stelle vor etwas, das uns das Leben kurz erleichtert, weil es uns einen Kampf abnimmt, aber auf lange Sicht nicht dazu beiträgt überhaupt für sich einzutreten, sich um sich zu kümmern und also an der eigenen Lebensqualität mitzuwirken.

traumabasierte „Entscheidungen“ erkennen und was helfen könnte

Es gibt traumareaktives Verhalten, das man selbst als Entscheidung wahrnimmt.
Man glaubt, man würde sehr rational bewerten, würde das einzig Mögliche Richtige tun; in eine Zukunft handeln, die besser wäre als ~alles~ jetzt. Und dann bleibt man bei Menschen, die eine_n nicht gut behandeln, verlässt von jetzt auf gleich eine Arbeitsstelle, Freund_innen, die Stadt, das eigene Leben. Oder man geht invasiver vor als nötig, wendet körperliche, seelische, psychische, ökonomische, strukturelle Gewalt an und lügt, um die eigene Ohnmacht, Angst, „Schwäche“ so weit von sich zu weisen bis man sie nicht mehr fühlt.

Dieses Verhalten dient der Stress- und Emotionsregulation. Alle Menschen kennen dieses Verhalten von sich, nicht alle haben dazu auch eine komplexe Traumafolgestörung, die es ihnen erschwert, es auch als solches zu erkennen und zu verändern.
Traumareaktive/traumabasierte Entscheidungen werden oft gefällt, um unaushaltbare Gefühle zu beenden vermeiden. Emotionale Betäubung zu  unterbrechen, bedrängende Ohnmachtsgefühle, Verwirrung, Unsicherheit, die an Todesangst erinnert, zu stoppen verdrängen. Häufig werden auch Probleme, die sich durch das Fehlen eigener Werte und Meinungen oder der Angst, diese zu vertreten, ergeben, mit  solchen Entscheidungen gelöst aufgeschoben.
Nicht jede traumabasierte Entscheidung ist deshalb irrational oder falsch – aber sie ist nicht wirklich selbstbestimmt, nicht so frei, wie nicht traumatisierte Menschen entscheiden können und in der Regel dient sie der Kompensation von Problemen – nicht der Lösung.

Traumabasierte Entscheidungen bestätigen so gut wie immer auch Traumawahrheiten. Also die Wahrheiten, Einsichten, Ideen, die man brauchte, um der erlittenen Traumatisierung Sinn und Kontext zu bieten. „Mir wurde XY angetan, weil ich … bin.“, „Alle [Berufsbezeichnung/Geschlecht/äußerliche Eigenschaft/sonstige Zugehörigkeit des_der Täter_in] sind abstoßende Arschlöcher“, „X ist tödlich/Y ist lebensgefährlich“, „Ich habs nicht anders verdient, weil ich …“
Traumawahrheiten sind keine Lügen. Sie sind nur nicht so umfassend, belastbar richtig, wie man sie wahrnimmt – und so manche Traumawahrheit ist als Legitimationsgrund für Gewaltausübung sehr tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Etwa: „Leute, die X tun, sind selber schuld, wenn dann Y [etwas Schlimmes, Traumatisierendes] passiert.“

Woran erkennt man eine Traumawahrheit?
Sie dreht sich immer (irgendwann in der Argumentationskette) um Leben und Tod, um 100 % richtig/wahr und 100 % falsch/gelogen, um Top oder Flop. Es gibt kein Dazwischen, kein „Moment mal kurz…“, keine Optionen für Gleichzeitigkeit. Sie sorgt dafür, dass man an sich selbst einen anderen Maßstab anlegt als an andere Menschen.
Und was viele Traumawahrheiten noch auszeichnet, ist der Zirkelschluss. Also eine logische Kette, die immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückfindet und sich damit selbst bestätigt. Das ist die Eigenschaft, die viele Traumareinszenierungen anstößt und auch diesen Erfahrungen wiederum Kontext und Logik gibt.

Was kann man tun, wenn man merkt, dass man sich in einer Situation befindet, die zu traumabasierter Entscheidung führen könnte?
Was mir gut hilft ist, zu prüfen, wie erwachsen meine Gefühle und Einschätzungen zu einer Situation gerade sind und wie erwachsen ich mich fühle in Bezug auf das Entscheiden selbst.
Für mich ist ein Marker für „Ich fühle mich erwachsen“, dass ich mich traue, in Betracht zu ziehen, gar keine Entscheidung zu treffen und mir Zeit dafür zu erbitten oder sie mir zuzugestehen. Ich weiß, dass mein erwachsen sein, mein überlegt und rational sein, im vorderen Teil meines Gehirns steckt und dass dort tendenziell Sendepause ist, wenn ich Zeitdruck habe. Also sorge ich für so viel Zeit, wie ich aushalten und vor anderen auch verantworten kann. Das kann ein Zeitraum von 5 Minuten sein, es können aber auch Wochen und Monate sein. Je länger ich mir, uns, Zeit für eine Entscheidung gebe, desto breiter wird das Spektrum dessen, was die Entscheidung für mich, für uns, bedeutet. Aus einer 1 oder 0-Entscheidung wird so eine 1 oder 2 oder 3 oder 4 oder auch gar nix-Entscheidung und dies wiederum erfordert auch mehr Überlegung (Erwachsenheit) von mir und festigt mich in der Situation.
Denn was das Kindliche, Jugendliche, Traumatisierte in mir sehr gut kann, sind 1 oder 0-Entscheidungen. Also die klassische Traumamechanik. Alles, was schnell gehen muss, um das Überleben zu sichern. Die Dinge, mit denen ich heute konfrontiert bin, sind aber Entscheidungen des Lebens. Gestaltungsfragen, wenn man so will. Wenn ich uns mehr Zeit gebe, können sie diesen Unterschied manchmal miterleben, was hilft, wenn es darum geht noch mehr zwischen früher und heute zu unterscheiden.

Was mir auch hilft ist, ist zu prüfen, ob ich Angst vor den Konsequenzen meiner Entscheidungen habe.
Das ist ziemlich tricky, weil oft auch extrem konfrontativ, aber manchmal muss man da durch, weil es nur so weitergeht. Eine Situation kann zum Beispiel sein, dass man sich überlegt eine Beziehungsperson zu verlassen, weil man nicht (mehr) zufrieden ist mit der Beziehung. Dann kann es sein, dass man vor allem kindliche Panik vor dem Beziehungsabbruch spürt – aber auch die erwachsene Überforderung (die Todesängste triggert) vor einem Leben ohne irgendeine Beziehungsperson im Leben.
Und dann hilft es vielleicht zu gucken: Habe ich wirklich keine andere Beziehungsperson in meinem Leben? Wofür genau brauche ich eigentlich eine Beziehungsperson in meinem Leben? Sterbe ich, wenn da keine_r ist oder ist es nicht vielleicht eher so, dass ich aus mir heraus keine Selbstfürsorge oder -versorgung oder Lebensziele und -sinn aufrechterhalten kann/will/werde, weil noch nie alleine gemacht? Das sind schmerzende Fragen und vielleicht geht man mit Antworten aus dem Prozess, die niemand wissen darf, weil es so peinlich ist – aber was sich daraus ergibt, hilft eine reflektierte, informierte Entscheidung zu treffen.

In Bezug auf die kindliche Panik, die man in so einer Situation vielleicht fühlt, nur eine Sache: Man hilft Kindern nicht, wenn man ihnen gibt, was sie wollen, weil sie Todesangst haben – man hilft ihnen, wenn man ihnen die Todesangst nimmt, indem man für Sicherheit sorgt. Und man ist nicht in einer sicheren Situation, wenn sie Todesangst auslöst.

Überforderungsgefühle von erwachsenen Menschen werden selten benannt. Meistens, weil sie mit Schwäche und Unfähigkeit verbunden werden und deshalb auch mit Minderwertigkeit. Überforderung ist aber nichts weiter als ein Marker dafür, dass etwas fehlt. Vielleicht braucht es Fähigkeiten, vielleicht Werkzeug, vielleicht Unterstützung, vielleicht eine Änderung der Aufgabe – alles Dinge, die übrigens in Bezug auf schwierige Erfahrungen den Unterschied zwischen Trauma und „belastendes Lebensereignis“ ausmachen. Überforderung ist das Stück vor Trauma, das zu spüren im Alltag für mich enorm an Wichtigkeit gewonnen hat. Reguliere ich meine Überforderung, reguliere ich das traumatisierende Potenzial von neuen Erfahrungen, neuen Aufgaben, plötzlich eintretenden Sondersituationen.
Auch hier ist es natürlich wichtig wieder zu gucken, was ich wirklich selbst regulieren kann, aber in Bezug auf wichtige, große Entscheidungen, die ich für mich selbst treffe, ist es einfach wichtig, dass ich mir klarmache, dass ich mit Überforderung etwas machen kann und ihr nicht so hilflos ausgeliefert bin wie in früheren traumatisierenden Situationen.

Was möglicherweise noch helfen könnte, ist eine Liste zu haben, auf die man sich in Bezug auf das eigene Leben geeinigt hat. Oder eine Liste mit Dingen, die einem_einer einfallen, wenn man sich fragt, was man im Leben möchte, was man vom Leben möchte oder woraus das eigene Leben bestehen soll. Wichtig dabei: Nicht als „Irgendwann mal in der Zukunft, möchte ich…“ gedacht oder formuliert, sondern ganz konkret, jetzt und hier.
Bei uns steht drauf, dass wir leben wollen, dass dieses Leben nicht mehr wehtun soll und dass wir uns so in unserem Leben auskennen (können) wollen, dass wir darüber erzählen können. Das sind Punkte, die wir uns erarbeitet haben und die wir als Messlatte für alles herannehmen.
Das heißt nicht, dass wir jeden Schmerz vermeiden und auch nicht, dass wir uns zum Beispiel gegen das Schweigen über unser Leben entschieden haben, aber es bedeutet, dass wir uns zum Beispiel auf jeden Fall von Menschen trennen, die uns (wiederholt) verletzen oder unseren Schmerz am Leben nicht ernst nehmen oder erleichtern helfen und auch, dass wir so lange weiter Traumatherapie machen, bis wir uns für uns genug und sicher im eigenen Leben auskennen (und uns das auch nicht gegenseitig erschweren oder verunmöglichen) bzw. so lange wir es aushalten, daran zu arbeiten.

Was noch helfen könnte, ist sich mit jemandem zu beraten, die_r nicht von der Entscheidung betroffen ist. Am besten mit jemand, die_r Traumalogik kennt, versteht, enttarnen kann. Es nutzt überhaupt nichts, wenn mir in einer Situation, in der in mir nur noch traumalogisches Denken passiert und meine Entscheidung eigentlich eine Reaktion ist, eine andere Person mir ihr (untraumatisiertes) Bauchgefühl zur Situation mitteilt. Ja, das kann auch mal passen, aber das hilft mir nicht, von der Reaktion zur informierten, erwachsenen Entscheidung zu kommen.
Ich brauche dann jemanden, die_r mich fragt, was ich fühle, was ich denke, welchen Druck ich spüre und mir anträgt zu prüfen, ob und wenn ja in welchen Aspekten, diese Gefühle wirklich heutig und der Situation angemessen sind. Jemand, die_r emotionale Distanz zu meinem Problem einhält und mir so zeigt, dass das überhaupt möglich ist.

Und, wenn eine andere Person involviert ist, kann es helfen, mit dieser Person über diese Entscheidung zu sprechen.
Manchmal entstehen Dynamiken zwischen Leuten, in denen man sich gegenseitig in Reiz-Reaktions-Dynamiken bringt, die nur mit Konfrontation zu stoppen sind. Und damit meine ich nicht „stoppen, wie einen Zug“, sondern, wie in „innehalten und mal aussprechen, was man gerade denkt und möchte oder will oder eben nicht mehr möchte“. Manchmal merkt man dann, dass man eigentlich die ganze Zeit (traumabasiert) reagiert und gar nicht wirklich macht, was man eigentlich möchte.

Das ist alles nicht einfach, aber machbar. Es ist möglich im üblichen Alltag Entscheidungen zu treffen und Dinge zu verändern. Indem man Entscheidungen trifft, die sich auf die realen konkreten HierHeuteJetzt-Umstände und Fakten beziehen, trifft man eine Entscheidung, die der Heilung oder, anders formuliert, Weiterentwicklung nach dem Trauma, mehr Raum gibt und so direkt dazu beiträgt.