Ich weiß nicht, ob die Person am Steuer des Wagens mich nicht gesehen hatte oder für Einbildung hielt. Wundern würde es mich nicht. Wie wahrscheinlich ist es, dass dir nachts um 3, wenn du, warum auch immer im Auto sitzt und irgendwohin unterwegs bist, jemand über die Landstraße vors Auto rennt und mehr zufällig als durch aktives Zutun nicht unter die Räder kommt?
Für mich war es nichts weiter als ein Moment der Verwirrung. Das Gefühl den Faden eines Willens oder Gedankens verloren zu haben. Puls, der mir gegen den Unterkiefer wummert, kalte feuchte Haut. So außer Atem sein, dass es brennt.
Diesmal war es nicht weit. Vielleicht 5 Kilometer von unserer Wohnung entfernt. Aber es war das erste Mal, dass es auf diese Art gefährlich war. Und – vielleicht muss ich das hinzufügen, weil ich es nicht genauer weiß – das erste Mal, dass ich es als so gefährlich wahrgenommen habe, wie es ist.
Das Auto fuhr weiter, ich blieb mit einem Fuß im Straßengraben stehen und sah ihm nach. Es war Dienstagmorgen, in ein paar Stunden würden wir in die Schule müssen. Klausuren schreiben, Dinge lernen. Reden. Zuhören. Und später arbeiten. Und am Abend würden wir mit unserer Therapeutin darüber reden, warum es wieder losgegangen ist.
Dieses Weglaufen mitten in der Nacht, das wir seit ein paar Jahren schon immer wieder um diese Zeit herum erleben. Nie um irgendwo hinzukommen, wohl aber um wegzukommen, scheinbar egal wie.
Als ich nach Hause lief, dachte ich nur darüber nach, was für eine verdammte Scheiße das ist und warum ich mich eigentlich nie zusammenreißen kann. Ich schmückte meine Unzufriedenheit über mein Unvermögen mit Flüchen und festem Auftreten auf die Straße, die niemand außer mir benutzte, und wärmte mich daran auf. Wie tröstlich so eine Prozession mit allem, was man kennt. Wut, Aggression, alles über_greifende Strenge.
13 Wachstunden später, machte die Therapeutin eine Geste zu einem Geräusch, die sie noch nie gemacht hatte. Vielleicht brauche ich merkwürdige Erstmaligkeiten, um zu Bewusstsein zu kommen, denke ich jetzt. Denn wieder war es, als würde ich in einem Gedankensein unterbrochen oder würde einen Faden verloren haben, den zu haben mir vorher nicht bewusst war. Ich hörte ihr zu und begriff, dass wir diese Nacht hätten verletzt werden können. Sterben können. Überfahren von jemandem, der nachts übers Land donnert, weil er nicht mit Menschen oder Tieren rechnet, die seine Strecke kreuzen.
In der nächsten Nacht verpackten wir den Haustürschlüssel und schlossen uns ein. Das hatte wohl in den letzten Jahren geholfen, aber mehr als die Erinnerungen und Notizen der Therapeutin begründete diese Maßnahme nicht für mich.
Heute beschäftigt mich, ob das meine Art von Vertrauen ist. Dinge zu tun, die auf der Erfahrung und Erinnerung anderer Menschen beruhen und nicht auf dem, was ich denke oder glaube. Über das Weglaufen dachte ich nämlich im Grunde nichts außer, dass es scheiße ist, weil es mir beweist, wie wenig Kontrolle ich über mich (uns) habe. Und, weil es gefährlich ist und zwar so gefährlich, dass unsere Therapeutin etwas tut, das sie sonst nicht tut. Was irgendwie in sich eine neue Gefahr ist.
In der Nacht blieben wir zu Hause. Ich fand mich verwirrt und abgekämpft im Flur wieder, so ausgelaugt und ängstlich wie mich nur desorientierte Innens fühlen lassen.
Das ist besser als beinahe überfahren zu werden und im Dezember mit nassen Hosen nach Hause zu laufen. Aber mehr auch nicht.
Es ist 2:40 Uhr.
Ich liege in unserer Schleiereulenhöhle, schaue auf die fluoreszierenden Sterne und höre dem Innen zu.
Wo es immer schreit und weint, schreit und weint es. Wo es immer Lösungen sucht, flackerflirrsirrsummen Wort-und Wissenscluster. Wo es nach Eindrücken greift, stinkt es nach Angstschweiß und wo ich bin, das ist es schmerzensstill wie im Auge eines Tornados.
Jemand von uns sagte, dass man klagen können müsste. Mehr als wehklagen, mehr als selbstbefreiend und selbstregulierend klagen. Man müsste strukturell klagen können. Auf Schmerzensgeld, Entschädigungen für entstandenes Leid und wirtschaftlichen Schaden, Wiedergutmachungsleistungen nach seelischen Verletzungen und Verletzung der Menschenrechte.
Allein die Möglichkeit das zu können – die Wahl darum zu haben, für sich auf struktureller Ebene eintreten zu können, würde für manche von uns einen erheblichen Unterschied bedeuten und die Situation erträglicher gestalten.
Man müsste es nicht einfach hinnehmen durch den verspäteten Aufnahmetermin in der Klinik, dann eben Dinge abgesagt zu haben, die Geldeinnahmen bedeutet hätten und jetzt vieles einfacher aussehen lassen würden. Man müsste nicht einfach hinnehmen, dass man uns behandelt hat, wie jemand di_er ganz die eigene Krankheit ist, statt ein Jemand, das seit 16 Jahren in der inhaltlichen Auseinandersetzung und dem Umgang mit dem eigenen als Krankheit bezeichneten Zustand ist. Man müsste das fachlich inkompetente Eingreifen in unsere zukünftigen Behandlungs- und Unterstützungsmöglichkeiten nicht hinnehmen.
Man müsste einfach nicht gezwungen sein, sich demütigen und kränken, behindern und verletzen lassen zu müssen. Von anderen Menschen. Erneut.
Und erneut ohne wie auch immer gelagerte Konsequenzen für diese Menschen.
Hintergund dieses Wunsches, war ein gestern angekommener Arztbrief von der Klinik, in dem in den Diagnosen stand wir hätten eine „dissoziative Identitätsstörung bei narzisstischer Persönlichkeitsstruktur“, Asperger-Syndrom … , bla bla – der ganze Rest.
Nachdem wir mit den Kränkungsgefühlen, die mit dem Begreifen der Annahme der Gegenüber, dass es sich bei uns um a) eine Person mit Persönlichkeit und darauf fußend b) eine Person, die sich selbst so großartig macht, dass ihr alles Äußere irrelevant bis nieder(er) erscheint, weil sie ein inexistentes Selbstwertgefühl hat, handelt, fertig waren, klackerten Verständnisprozesse wie Dominosteinketten durch uns hindurch.
Plötzlich ergab alles Sinn. Die Verweigerung uns zuzuhören und ernst zunehmen. Die Vermeidung sich anzuhören, was genau wir für Schwierigkeiten aufgrund welcher Umstände und eigenen Reaktionen hatten. Der Entzug der Möglichkeit individuelle Lösungswege der Integration in die Therapieangebotsstrukturen für uns zu finden.
Wenn man denkt, jemand erhebt sich mit seinen Äußerungen oder macht sich wichtiger, als si_er ist, mit dem, was si_er sagt – ja sicher verhält man sich dann genau so, wie sich unsere Behandler_innen uns gegenüber verhalten haben.
Und wir dachten die ganzen 3 Wochen, wir müssten nur immer deutlicher und verständlicher sagen, was genau unsere Probleme sind.
Weil man uns immer wieder sagte, wir sollen mit diesen Menschen zusammenarbeiten, weil wir ja schließlich etwas von ihnen wollten.
Weil es für uns so ein üblicher Bestandteil der Interaktion mit anderen Menschen ist, weil wir verschiedene Behinderungen erleben.
Weil wir in dieser Klinik nie zuvor die Erfahrung gemacht haben, nicht gehört und verstanden zu werden.
Weil wir dachten, wir hätten in diesen Menschen viele Gegenüber, die daran interessiert sind uns gemäß unserem Auftrag an sie zu unterstützen und zu helfen.
Das Dilemma an so einer, wie der Begleitermensch sagt “Narzissmuskeule” ist: die absolut sichergestellte Abwertung aller Äußerungen, Einwendungen und Reaktionen, die von einer als narzisstisch bezeichneten Person kommen.
Das ist, wenn kein Narzissmus vorliegt, die absolute Unterwerfung einer Person unter die Deutungshoheit einer anderen und damit Gewalt.
So ein Umgang, wie der den wir erfahren haben wirkt sich damit auch zwangsläufig als genau so aus, wie wir es empfunden und auch gegenüber diesen Personen zurückgemeldet haben: ignorant und grausam.
Am Ende dieses Tages, in der Nacht zum nächsten Tag rastete die Erkenntnis bei uns ein, erneut Helfergewalt erfahren zu haben und genau nichts – aber auch gar nichts weiter tun zu können, als es aufzuschreiben, unser von uns dokumentiertes Handeln in der Situation auf zukünftig veränderbare Anteile zu prüfen und als die Gewalterfahrung abzulegen, die sie für uns war.
Selbstverständlich werden wir mit unserer Therapeutin darüber sprechen. Werden mit unserem schlauen Aspergerbuch unterm Arm in die Praxis gehen und ihr hoffentlich klar machen können, dass wir ihre Unterstützung dabei brauchen, diesen Arztbrief korrigieren zu lassen, weil er uns so, wie er jetzt ist, die Autismusförderung, die wir zum Schaffen der Berufsausbildung, zur effektiveren Nutzung ebenjener ambulanten Therapie und zur Anbahnung von so etwas wie Lebensqualität durch soziale Teilhabe brauchen, zerschießen kann (und aufgrund diverser Faktoren sogar relativ wahrscheinlich auch: wird).
Das ist eine Ebene, die wir können. Unter Aufwendung von viel psychischer Dissoziationsleistung, aber durch genug Erfahrungen geübt.
Die andere Ebene ist die Berührung eines wunden Punktes von uns.
Die ewige Frage danach, wer wir denn nun sind. Ob wir so etwas eine Persönlichkeit haben, oder nicht. Wie wir auf andere Menschen wirken und wie viel dieser Außenwirkung dafür verantwortlich ist und vielleicht schon unser ganzes Leben lang war, Gewalt zu erfahren.
Also: Waren wir vielleicht schon immer so ein Arschlochwesen, das man nur treten, schlagen, halbtot vergewaltigen kann, weil es so ein mieser Charakter, ein unangenehmer Störfaktor, ein unaushaltbares Irgendwas ist?
Machen wir unser Leben lang schon etwas, dass so logisch den Kontakt zu anderen Menschen für uns immer wieder ganz zwangsläufig in Gewalt an uns verwandelt?
Und kriegen wir genau das nicht mit, weil wir zu dissoziativ funktionieren, um das überhaupt jemals selbstständig verändern zu können?
Wir haben diese Fragen schon lange als typisch für in rape culture sozialisierte Menschen, die zwischenmenschliche Gewalt erfahren haben, erkannt und akzeptiert. Haben genauso lange die Antworten in uns parat, die uns sagen, dass wir selbst, wenn wir die schlimmsten, gemeinsten, bösesten Menschen auf der Welt wären, die Gewalt an uns nicht gerechtfertigt wäre.
Und dennoch sind sie da und wirken. Und tun weh, wenn passiert, was uns gerade passiert.
Wir haben 4 Jahre daran gekaut die DIS als psychische Entwicklungsform zu akzeptieren, die den Großteil der bestehenden Persönlicheitstheorien in ihrer Anwendung ausschließt. Haben noch 2 weitere Jahre für die Trauer um einen Normalitätsfakor (nämlich den eine (Kern oder Ursprungs) Persönlichkeit zu haben) gebraucht und konnten erst dann damit beginnen das als gegeben anzunehmen, was uns von einander in der Innenarbeit begegnet.
Jetzt kauen wir seit der Autismusdiagnostik an der Anerkennung eines weiteren in uns liegenden Faktors, der eine Persönlichkeitsentwicklung erschwert bzw. spezifisch beeinflusst haben wird und fühlen uns zunehmend einer guten Prognose beraubt.
Bisher haben wir weder Literatur, noch valide Fallbeispiele noch theoretische Modelle zur angemessenen Traumatherapie von autistischen Menschen mit DIS (oder andersherum hochdissoziativen Autist_innen) gefunden. Wir sehen uns vor einer Zukunft der Hilfen und Unterstützungen, die sich immer wieder durch so grundlegende Missverständnisse aufgrund von menschlichem Versagen und fachlichen Inkompetenzen auszeichnen wird, wie jetzt während der 3 Klinikwochen geschehen.
Also: Helfergewalterfahrungen, denen wir weder präventiv noch im Nachhinein mit so etwas wie Entschädigungsforderungen und als legitim verankerten Anspruch auf Wiedergutmachungen für erlittenen Schmerz begegnen können.
Zeigt mir mal bitte, wo genau hier der Opferbonus, das Behindertenspecial, der Ego-Keks, auf den ich mich selbstverherrlichen kann, ist.
Vielleicht würde das schon reichen, zu ertragen, was hier gelaufen ist.
Es ist 4:34 Uhr, als ich das letzte Mal auf die Uhr schaue und mein Gesicht an das Fell von NakNak lege, um mich von ihren Atembewegungen in den Schlaf hinein und weg von der Not streicheln zu lassen. Ich höre ein Weinen und merke irgendwann, dass ich mich selbst höre.
Und dann ist es morgens und ich stehe auf einer Wiese circa 8 Kilometer von unserer Wohnung entfernt.
Das Ende ihrer flammenden Rede für unser Recht auf Zustandsverbesserung quillt aus dem Telefonhörer in unser Ohr hinein und schubst uns ein letztes Mal an.
Es ist etwa 5 Uhr morgens. Vor einer halben Stunde sind wir durch ein offenes Kellerfenster zurück in die Wohnung geklettert und außer einem unregelmäßig aufbrandendem Impuls den Kopf zurück zulegen und sich sämtliche Organe aus dem Bauch zu schreien, ist da nichts weiter als kalte Haut unter nasser Kleidung.
“Es kann doch nicht okay für euch sein, dass ihr euch immer wieder in so einem Zustand jwd wiederfindet.”, schiebt sie nach. “Es ist auch nicht okay für uns.”, antworte ich ihr und betrachte die schlammtriefenden Fußenden der Strumpfhose in meiner Hand.
Inmitten unseres Schweigens stecke ich meine Finger in die frischen Löcher und verharre auf ihren Rändern.
“Was war denn los?”. Sie stellt die Frage in den Raum und lässt uns damit allein.
Ich merke, wie es hinter mir vor Wut zittert und sich eine Nebelbank in feinen Schlieren vor meinem Blick ankündigt. Sie macht mich so traurig mit dieser Frage und ich weiß einmal mehr nicht, wie es kommt, dass sie es bis heute vielleicht nicht richtig verstanden hat, wie das ist dissoziative Amnesien zu haben und viele zu sein.
Dass es eben auch bedeutet nicht zu wissen, was los war. Dass es bedeutet, dass selbst meine Annahme, dass ein Innen weggelaufen ist und wir uns deshalb in Schlafsachen auf einem Acker wiedergefunden haben, irgendwas zwischen “vage fühlen” und “mutig geraten” ist.
Ich sehe mich unter Druck ihr eine Ahnung, eine Idee oder eine Theorie liefern zu müssen – obwohl diese, selbst wenn wir eine hätten, im Moment überhaupt keinen konkreten Zweck für uns erfüllen würde.
Eine Andere bringt es statt meiner mit einem Glimmen in der Stimme auf den Punkt: “Die Frage ist zu groß und gerade unangemessen. Wir haben selbst kein festes Wissen und können dir jetzt nichts in die Hand geben, um das Geschehene greifbar zu machen.”. Sie schaltet den Wasserkocher an und holt einen Teebeutel aus der Schachtel. “Sie hat dich angerufen, weil du etwas zum Festhalten geben solltest.”.
“Und wer bist du?”. Die Worte klemmen sich an die Andere und legen sich wie eine Schraubzwinge um ihren Hals. “Ich.”, antwortet sie und drückt auf die rot leuchtende Taste am Telefonhörer.
“Du hast ihr nicht gesagt, dass du jetzt auflegen wirst.”, erinnere ich sie. “Sie wird gleich nochmal anrufen.”.
Sie gießt das aufgekochte Wasser in die Teetasse und in die Wärmflasche. Schlägt mit der Faust auf den großen Oberschenkelmuskel und spürt nach. “Ich weiß.”, antwortet sie und löst sich mit dem Schmerz auf.
Ich halte die Tasse in der einen Hand und wähle mit der anderen. “Entschuldigung – war nicht geplant.”, schmeiße ich in den Hörer noch bevor ich überhaupt weiß, ob es auch wirklich unsere Gemögte ist, die den Anruf angenommen hat.
“Ich war auch zu forsch – tut mir leid.“. Wir atmen gleichzeitig tief ein.
“Liest du mir was vor?”, frage ich sie und merke, wie sich die Müdigkeit Stück für Stück mehr von mir und dem Körper nimmt. “Ich würd mich gern in deine Stimme legen.”. Sie kichert “Ach – mehr nicht?”. “Eh eh, nee”, antworte ich und merke wie leicht es plötzlich dann doch ist, ihr zu sagen, was uns gerade gut tun würde.
Sie wühlt nach “unserem Buch” und fängt an.
Wir liegen unter drei Decken im Bett, schauen dem Seidentuch-Feenreigen in seinen sachten Bewegungen zu. Trinken Tee durch einen Strohhalm. Hören ihr zu. Legen auf, als die Geschichte zu Ende ist.
Und hoffen, dass unsere Gefühle von Entspannung und Sicherheit auch dort angekommen sind, wo wir selbst nichts wahrnehmen können.
“Wieso war mir das jetzt so wichtig nicht alleine nach Hause zu gehen?”, grimme ich mich selbst an.
Aus meinem Handy krümeln die Worte der Gemögten und legen eine Spur von dem Park, in dem ich meine Füße im Ententeich wiedergefunden habe, bis zu mir.
Ihr Mitleid ekelt mich fremd. Ich finde sie peinlich in ihrem Bemühen um uns. Die Angst tritt von innen gegen meine Haut und ich merke an mir, dass ich nicht nur einen Weg nach Hause suche, der die 3 Kilometer abkürzt, sondern mir auch ein Ausweg aus dieser Not.lage ist.
Wäre mein Mund nicht so verklebt würde ich schreien, glaube ich. Einfach nur so. Ohne Wörter.
Sie spricht von Wohnung umstellen, von Türen verschließen, von Zetteln an der Wohnungstür.
“Wenn ich jetzt so ein Loch unter der Nase hätte, dann könnte ich schreien.”, denke ich und ziehe meine durchnässten Hausschuhe aus. “Meine Schreie würden in den Ästen hängen bleiben und es würde aussehen, wie Laubgeister.”.
Sie fragt, ob ich noch da bin. Ich nicke. Sie schubst ihre Stimme noch eine Oktave höher. “Bist du noch da?!”.
Ich schnipse vors Handy. Denke an diese App mit der man einander beim Telefonieren sehen kann.
Sie hat schon wieder vergessen, dass ich keine Lautsprache kann. Sie vergisst ständig, dass ich Text brauche.
“Wieso werde ich ständig vergessen?”, denke ich und halte es für den besten ersten Schrei von mir.
Auf dem Gehweg vor dem Haus liegt der Schlüsselbund.
“Wie bescheuert kann man sein?”, knirsche ich hinter mich und nehme das kalte Metall in die Hand. Die Füße der Legosuperwoman streifen meine Handwurzel.
Die Gemögte will weiter reden. “Ich kann euch doch jetzt nicht allein lassen!”.
“Wenn ich jetzt losschreien würde, dann würde ich die Wohnung damit vergiften.”, denke ich und öffne die Tür, hinter der NakNak* wartet.
“Ich bin nicht mehr allein”, sagt die andere und legt ihr verfrorenes Vogelherz auf die Heizung.
Es ist 5 Uhr 37, als es aufhört weh zu tun und 7 Uhr 3, als ich ins Handy tippe:
„Es ist niemand „weggelaufen“.
Wer „wegläuft“ nimmt sein Handy nicht mit und schließt auch nicht die Tür hinter sich ab.“
Ich tippe auf „senden“ und ziehe die Decke etwas höher.
„Ich wäre gern mein eigener Schrei“, denke ich und schaue dem Tag beim heller werden zu.
“Man legt den Toten ein Tuch übers Gesicht. Ist das nicht komisch?”
Der Morgen ist diesig. Kalt. Feucht.
Ich bedecke meine Füße mit warmen Handtüchern. Warte darauf, dass es weh tut.
Ich war weg in der Nacht und irgendwo, auf dem Weg über Stock und Stein, hat das Innen auf der Flucht meine Füße verloren.
“Menschen und Trauer, das ist so eine Mischung.”.
Der Wasserkocher klickt.
Ich beherrsche mich und warte.
Schütte das Wasser auf die anderen Handtücher.
Warte.
Tausche sie aus.
Meine Füße sind tiefrot und schwarze Trauerränder krönen meine Zehen.
Es klingt so lustig, wenn ich auf Twitter darüber sinniere, dass es Mammuts braucht, um meine Nachbarn, nein die Geräusche meiner Nachbarn, fernzuhalten.
Tatsächlich wäre ein Mammut auch gut, um die Wohnungstür abzudichten.
Vielleicht würde es die Angst, das Kippen in die Panik- vielleicht das Fallen ins “Weg weg weg!” – stoppen.
Ich lege mir einen Fuß in den Schoß und streiche das kribbelnde Stechen, das durch die Haut nach außen zu drängen versucht, weg.
NakNak* liegt in ihrem Körbchen und beobachtet mich.
“Weißt du, wie das heißt?”, frage ich sie. “Dissoziative Fugue, könnte man das nennen. Füüüügk. Nur französischer gesagt.”. Zum Glück weiß der Hund, dass ich kein Französisch spreche.
Vieles wäre sonst peinlicher.
“Man könnte aber auch sagen, dass ich zu dämlich bin, meine Wohnung so einzurichten, dass mein Bett irgendwo steht, dass ich den Sex der Nachbarn nicht mehr so höre.”.
Ich lege den Fuß ab und nehme den anderen hoch.
Massiere und erinnere mich an den Tod.
Ich bin auf eine tote Amsel getreten.
Vielleicht 5 – 6 Kilometer von meiner Wohnung entfernt.
Mit dem zerknüllten Taschentuch aus meiner Schlafanzughose, habe ich ihr Gesicht bedeckt.
Und dann bin ich zurück nach Hause gegangen.
Subjektive Empfindungen und Wahrnehmungen anderer Menschen lass ich auch diesmal wieder unangetastet.
Ich denke mir, dass jede/r sagt, was er oder sie sagt, weil er/ sie es sagen will/ kann/ darf/ muss/ soll. Einen Grund gibts immer.
Wie das Wechseln so richtig funktioniert, habe ich selbst bei mir noch nicht raus. Ich weiß, dass es etwas mit meinem Stresslevel zu tun hat, der wiederum abhängig ist von meinem Außen mit all seinen Reizen.
Ich weiß, dass ich manches Wechseln beeinflussen kann und manches überhaupt nicht.
Doch niemals (wirklich niemals!) habe ich in meinem Kopf gesessen, während ein anderes Innen mit der Umwelt interagierte und dachte darüber nach, ob es mir denn jetzt genehm ist/ ich mich traue “raus zu kommen”.
So eine Sicht auf das Leben mit DIS ist so geil fürs Fernsehen oder Comics oder die Art Kunst, die ich selbst manchmal zum Ausdruck von Gefühlen, inneren Impulsen oder mir irgendwie fremden Gedankenwechseln, benutze. Das ist Abstraktion, hat aber mit – zumindest meiner- Lebensrealität so mal gar nichts zu tun.
Die Diagnose der DIS markiert ein Ende eines ganzen Spektrums von dissoziativen Störungen* und ehrlich gesagt habe ich schon ein paar Mal gedacht, dass die DIS als Diagnose eine ähnliche Konstruktionsweise wie andere Syndrome hat.
Es ist nicht A nicht B nicht C allein- es ist alles gleichzeitig und doch nicht kontinuierlich und gleichzeitig nie ganz weg.
Wer fühlt sich bei so einer Bauart nicht doch irgendwie dezent an Schizophrenie oder Borderline als Diagnosekonstruktion erinnert?
Alle Menschen dissoziieren in einem gewissen Maß (das ich aber ehrlich gesagt so noch gar nicht gefunden habe- Literaturhinweise bitte gerne in die Kommentare).
Ob sie Derealisieren, während sie gerade zur/m Wettrennenersten gekürt werden; ob sie Depersonalisieren, weil sie gerade Zeuge von Gewalt werden; ob sie auf Autopilot laufen, und sich im Nachhinein nicht mehr bewusst erinnern können, wie genau die Strecke aussieht, die sie jeden Morgen zur Arbeit fahren oder, ob sie nach einem außergewöhnlichen Ereignis grad noch der Lebensbegleitung sagen, dass sie jetzt gehen und dann für Stunden, Tage, Wochen, Monate als jemand anders irgendwo anders ein völlig anderes Leben führen- alles das sind dissoziative Erlebnis- bzw.. Wahrnehmungsweisen, die in das Spektrum der dissoziativen Störungen fallen.
Wenn die Menschen sich von diesen Wahrnehmungen gestört (und ergo belastet) fühlen, können sie sich das schriftlich von einem Arzt geben lassen und so eine Chance darauf bekommen in einer (Psycho-)Therapie daran zu arbeiten nicht mehr davon gestört zu werden oder- vielleicht als eine Art Trostpreis: sich nicht mehr davon gestört zu fühlen.
Eine Grundlage ist aber immer eine Abwesenheit von Bewusstsein (welches sich in aller Regel auf Assoziation als mehr oder weniger objektiv funktionaler Ablauf stützt). Was dissoziiert wird, ist in dem Moment nicht bewusst- was eine ernsthafte und tiefe Wahrnehmung von zum Beispiel Schamgefühl und Ratio ausschließt- was wiederum etwas ist, was ein “sich nicht trauen rauszukommen” ausschließt.
Ich kenne Momente, in denen ich prophylaktische Schamgefühle habe, weil ich Impulse wahrnehme, die mich beschämen und die ich mich deshalb nicht traue zu äußern.
Das ist irgendwie so ziemlich jede Therapiestunde oder andere Situation in der jemand mich so mittelmäßig stresst, dass ich mehr Impulse wahrnehme, gleichzeitig aber auch immer größere Entfernung von mir selbst bzw. von als zu mir Gehörendem spüre.
Klassiker unter den Stressfragen: Wer bist du? Was willst du?
BÄNG! Selbstdarstellung, Zentrum auf dem Ich, raus aus dem diffusen für sich selbst irgendwie mit klitzekleinen Leuchtkegeln markierten Selbstgefühl und genauso schlagartig der Reflex in die Unterwerfung, die Kampf oder Fluchtbereitschaft
Auf solche Fragen- diese Art Stress- reagiert mein Gehirn schneller als es das Licht schafft einen Schatten zu produzieren. Da bin ich für mich inzwischen und vor mir selbst jedenfalls schon richtig gut, wenn ich es schaffe, nicht gleich zu dissoziieren, sondern eben erst mal Selbstregulation zu betreiben und diese Vorannahme von “diese Art Stress = es geht um Leben und Tod” a) zu bemerken und b) mit der Realität abzugleichen.
Scham und ein Zögern haben nicht die Vorannahme von “es geht um Leben und Tod” sondern : “Es geht um die Art meiner Wirkung im Außen”.
Das ist auch Selbstdarstellungsstress und Stress aufgrund des Selbst im Schlaglicht, aber das ist eine ganz andere Gangart von ein und dem selben Batmobil.
Dieser Multimythos kommt aus der Grundannahme, der Begriff “multiple Persönlichkeit” sei ein Synonym für “Unterschiedlichkeit in Verhalten und Wirkung” bzw.. dem Schema von einem Menschenfleischsack mit gleichgroßen völlig autark herumgetragenen Menschen, die wenn sie keine Lust mehr auf das Wandeln in ihrer eigenen Welt drinnen haben, ab und zu mal einen Ausflug in die Welt des Außen machen und sich auf dem Weg dorthin noch überlegen, was sie dafür anziehen, damit sie am Ziel einigermaßen okay aussehen und sich nicht zum Spaten machen.
Wenn das alles so einfach wäre… hach multipel sein wär so toll und einfach.
Wenn es so wäre, würde man sich nicht oder (so denke ich mir das zumindest) nicht so sehr gestört fühlen, dass man zum Arzt rennt, sich ein Stigmakärtchen auf die Stirn tackern lässt und dann zum therapeutisch wertvollen Werkzeugkasten greift um an seinem Ich herumzuschrauben.
Es wäre halt multipel sein – exklusive Dissoziation auf dem äußeren Spektrumrand… also nicht multipel sein… und genau deshalb so was von verdammt wünschenswert für die eigene Lebensqualität.
Ich sitze am Schreibtisch und starre auf die Kerzen in Sonnenblumenform, während sie ihre Schwallschallwellen, wie kaltes Wasser auf mich zu schütten versucht.
Ich sitze einfach da und warte, bis sie fertig ist.
Ich wollte wissen, wie ich meine löchrigen Turnschuhe irgendwie noch ein bisschen abdichten kann, bevor es sowieso zu kalt wird, sie zu tragen und sie nach 8 Jahren dann endgültig im alte Schuhe- Himmel landen.
Meine roten Schuhe durchs Wunderland von Oz.
Echte Kangaroos. Meine ersten Markenschuhe aus zweiter Hand. Knallrot aus Leder und Gummi.
Sie redet noch immer, obwohl sie es nicht weiß und ich greife zum Gummikleber, um dann aber zu fühlen, dass sie noch immer nass sind.
„Was treibst du da?!“, fragt sie. „Wieso hast du nicht schon längst aufgelegt?“, denke ich.
– „Ich stopfe sie mit Zeitungspapier aus, damit sie schneller trocknen“, sage ich.
„Hast du mir überhaupt zugehört?“
– „Nein.“
Sie ist beleidigt. Mir ist es egal.
Ich hab andere Probleme.
Mir ist heute Nacht aufgefallen, dass rote Schuhe in purem Vollmondlicht wie altes Blut aussehen.
Dass um einen Vollmond herum immer so ein gelbes Licht ist.
Dass die Nacht laut ist und sogar das eigene Herzrasen übertönen kann.
Ich hatte einen Moment Angst vor meinen Wunderschuhen und rannte los, ohne zu wissen, ob in Richtung Bullergeddo oder noch weiter weg von dort.
„A.?“. Schon wieder unterbricht sie mich. Hätte ich doch einfach nur das Internet benutzt.
– „Was?“
„Ist der Körper verletzt?“
– „Was geht dich das an?“
„Ist er es?“
– „Er funktioniert. Reicht.“
„A.- bitte! Was ist los?“, sie winselt fast und ich fange an, mich vor ihr zu ekeln.
– „Meine Schuhe sind undicht und ich fragte dich, ob du weißt, wie lange Gummikleber zum Trocknen braucht. Wieso du mich angerufen hast, weiß ich nicht.“
Sie stöhnt auf. Innen rumst es.
Was solls.
Schalte ich das Telefon eben auf lautlos.
Die Schuhe sind wichtig. Nicht der schissige Löwe, die Scheuche ohne Verstand, der herzlose Blechmann, von allen Zauberern, Hexen und Wunderwesen mal ganz abgesehen.
Es geht ums Laufen neben dem gelbem Ziegelsteinweg.
Ich habe da diese Macke fürs Blindsein über mich selbst als ganzer Mensch.
Für mich sind Dinge eine Definitionsfrage, die für andere Menschen scheinbar felsenfest klar sind. Meine Lebensrealität ist eine Mischung aus unterschiedlicher Sehstärke und absoluter Blindheit.
Ich nehme Dinge in all ihrer Unsicherheit auf und passe mich ihr an. Bin permanent gezwungen dem Fakt gegenüber zu stehen, dass ich nichts beeinflussen kann- nicht einmal mein Handeln, Fühlen, Denken. Wenn ich nicht da bin, sind andere Innens da. Sie handeln manchmal in meinem Sinne, meistens jedoch in ihrem allein. Kompromisse beziehen sich allein auf einen Entsprechungs- , Anpassungs- , früher, wie heute auch Überlebensdrang. Vor allem, wenn es eine Bündelung braucht, weil es (noch) kein eigenständiges Innen gibt, das von sich aus bereits komplett darauf abgestimmt ist.
So zum Beispiel heute, der Umgang mit Menschen die uns positiv gegenüber stehen. Oder auch Menschen, die unser früheres Leben anders bewerten als wir, mitsamt allen geistig-sozialen Normen und Werten. Im flachen Miteinander gibt es Innens die daran angepasst sind. Sie nicken, lächeln, sagen was gehört werden will. Es ist ein zurechtgespaltenes Anpassen. Ohne Bezug zu dem was für andere Innens wahr und echt ist. „Das Außen lebt Wahrheit XY und erfordert die Vertretung von Norm und Wertesystem AB? – Kein Problem- finde ich auch- mache ich auch- das Außen ist Chef- ich kann das vertreten.“.
Diese Trennung der heutigen Welt mit allem was in ihr passiert, von der in der wir früher lebten, ist selten besprochen. Der Umstand beides nebeneinander stehen lassen zu müssen, weil es keine klare, wirklich ganzheitliche, Positionsentscheidung darüber gibt, ist zeitgleich quälend, wie aber doch auch schlichte Realität in unserem derzeitigen Dasein. Sie ist so sehr Alltag, dass ich sie lebe, ohne sie wirklich oft zu erwähnen oder zu hinterfragen. Oder auch zu spüren. Die Anpassung ist fertig, weil lebbar. Mehr braucht es nicht. Für mich ist es dann so wie ein Buch, das man ausgelesen hat. Inhalt ist im Kopf, man klappt es zu und legt es im Bücherregal ab.
Gestern habe ich mit unserer Therapeutin telefoniert. Am Ende sagte sie, was sie irgendwie immer sagt: „Wir sehen uns nächste Woche“. Als wäre das ein Fakt, der in jedem Fall so einträte und als gäbe es keinen Grund daran zu zweifeln. Das ist so die Sparte „Es gibt immer ein Morgen und wir werden es erleben.“
Ich weiß nicht warum, vielleicht war ich einfach entspannt und „auf“, als ich da so auf dem Schlafzimmerboden saß und den Hund am Bauch hatte, keine Ahnung. Aber ich sagte so etwas wie: „Ja, wenn wir es bis dahin schaffen, dann sehen wir uns dann.“.
Ich glaube, für sie klang das wie eine Suiziddrohung oder etwas Ähnliches. Als hätte ich gerade gesagt: „Ja das können wir uns vormerken, aber ich halte mir hier meinen Notausgang frei, mir das Leben zu nehmen, wenn ich es nicht mehr aushalte.“. Wir sprachen also kurz über Verantwortung und darüber was unser Tod so verursachen könnte. Sie sprach über Einschätzbarkeit- genau wie ich, als ich das sagte. Nur jeweils von einer anderen Grundlage aus betrachtet.
Sie folgte einem Kontrollimpuls (oder sollte ich besser sagen „Kontrollzwang, der ihr aufgedrückt wird“?) und ich deutete den zentralsten Teil meiner Lebensrealität an: in weiten Teilen des Alltags absolute Kontrolllosigkeit.
Therapeuten sollen einschätzen können, ob sich jemand das Leben nimmt oder nicht. (By the way- ein beschissener Anspruch an Menschen in diesem Beruf, denn Suizid ist so ziemlich das Selbstbestimmteste, das es gibt für ihre Klienten- wenn sie sich dafür entscheiden, haben sie nichts damit zu tun. Die Handlung ist von Klienten geplant und durchgeführt- nicht vom Therapeuten initiiert, eingefordert oder gar durchgeführt. Nur, weil sie diese Menschen begleiten, haben sie, meiner Meinung nach, keine Verantwortung dafür. Weder, weil sie die „Profis“ sind, noch weil sie Kontakt zu ihnen hatten.)
Wir haben für die Therapie eine Vereinbarung getroffen, keinen Suizid zu begehen, solange wir bei ihr in Behandlung sind und uns zu melden, wenn es Impulse in diese Richtung gibt bzw. Hilfen in Anspruch zu nehmen, um diese Impulse im Durchbruch nach außen zu verhindern. Entsprechend dieser Vereinbarung bin ich gezwungen eine gewisse Selbstkontrolle durchzuführen, ob es diese Impulse gibt oder nicht und die Wahrscheinlichkeit für eine entsprechende Handlung nach außen einzuschätzen.
Schätze ich sie hoch ein, rufe ich bei ihr an- manchmal auch, ohne das genau so zu formulieren. Es steht immer eine Not dahinter, die auch ohne die Erwähnung von Suizidimpulsen, weniger groß erscheint, wenn wir sie ihr gegenüber ausdrücken und/ oder sortieren können.
Ich wurde fast wütend, weil ich glaubte, sie hielte es für wahrscheinlich, dass ich mir jederzeit einen Suizid quasi freihalte- anstatt meinen Wahrnehmungsalltag zu benennen.
Doch dann raunte es mich von innen an, dass sie es vielleicht einfach nicht weiß, oder gerade nicht so bewusst hat. Wir vielleicht auch einfach noch gar nicht darüber gesprochen haben, was wir Innens jeweils so wahrnehmen und erinnern im Alltag.
Ich bin eine Frontgängerin. Ich mache viel Alltag, bin nach Außen aktiv. Ich bin ein Produkt dieses Anpassungsdrangs an „die andere Welt“. Der Welt in der es Menschenrechte, Ethik, Moral und Respekt gibt. Ich vertrete diese Normen und Werte nach außen hin und kann mich einigermaßen sicher darin bewegen.
Doch von einem Tag erlebe ich etwa 10%- wenn wir aktiver sind als jetzt (also ohne Arbeit oder viel Sozialleben) sind es etwa 15-20%. Der Rest wird von den anderen gelebt- erlebt- wahrgenommen. Sie leben ihr Leben in meinem drin, oder auch nebenher. Ich erfahre davon in Stichworten im Tagebuch, finde hier und da mal etwas davon in meiner Wohnung oder bügle ihre Konflikte aus, auch ohne wirklich (als ich) damit zu tun zu haben. Es ist normal für mich. Ich rechne jeden Tag damit mit einer fetten Kaufhausrechnung konfrontiert zu sein, Dinge die mir lieb sind, zerstört, tot oder weggeworfen zu finden, den Körper verletzt, benutzt zu erfahren. Das ist einfach so der Alltag mit dissoziativen Amnesien. Alles kann passieren, jeden Tag, jeden Moment- ob ich es will oder nicht. Egal, wie ich das einschätze und es gerne hätte.
Und eben leider auch eigentlich egal, welche Absprachen ich allein mache.
Sobald eine Absprache alle von uns betrifft (auch die, die sich nicht als Teil von „uns allen“ betrachten), klappt es. Da habe ich einen Haken zum dran Festhalten, Schwung holen und Handeln. So zum Beispiel eben bei den Vereinbarungen zur Therapie. Doch eine Antisuizidvereinbarung allein bedeutet eben nicht, dass ich so ganz sicher zum nächsten Termin auch erscheine.
Natürlich habe ich noch nie einen Termin versäumt oder absagen müssen- aber es gab bereits genug Termine zu denen ich erschien, nachdem ich einige Kilometer rennen musste, um pünktlich zu sein. Etwa, weil 15 Stunden vorher jemand geflüchtet ist und ich mich irgendwo im Nirgendwo wiederfand. Oder auch Termine vor denen ich erst mal noch nicht einschätzbar lange irgendwo zu warten hatte, um etwas zu erledigen, weil es gerade der letzte Fristtag war.
Das passiert mir heute nicht mehr so oft wie früher, als es noch Zeiten gab in denen uns Täter zu Therapieterminen fuhren, oder von dort direkt mitnahmen. Als es noch Zeiten gab, in denen wir alle diesen Fakt der Selbstblindheit- der Amnesie für sich und sein Leben, als ein von Therapeuten eingeredetes Konstrukt hielten und noch viel weiter von einander weg dissoziiert waren.
Aber es passiert. Es ist wahr und echt und eben mein Alltag.
Ich habe gestern etwas gesagt wofür ich mich heute irgendwie ohrfeigen könnte, obwohl es stimmt.
„Nein, es ist nur eine Perspektivenfrage. Ich lebe mit Todesangst und sie nicht.“.
Ich hätte richtigerweise sagen müssen, dass ich mit Amnesien und Kontrollverlusten lebe. Noch richtiger, dass ich mit einem Maß von Dissoziation lebe, dass sie nicht von sich kennt.
Doch Todesangst ist auch richtig.
Wir würden nicht so viel dissoziieren, hätten wir keine Todesängste oder Ängste, die uns an Todesängste erinnern.
Wer Todesangst hat lebt ausschließlich in der Gegenwart, mit mehr oder weniger bewusstem Bezug zur Vergangenheit. Das Morgen ist immer mehr nebulöse Option, schwammiges Hoffnungsschimmern an dem man sich festzuhalten versuchen kann. Man kann das machen, man kann es tun. Wir tun das auch.
Doch wir tun das nicht in der festen Überzeugung, es auch wirklich zu erleben.
Das Morgen ist für uns noch immer die Belohnung für die Mühen das Gestern und Heute geschafft zu haben.
Es ist eine Schwärze, die sich nicht zwischen Samt und Unendlichkeit entscheiden kann.
Es ist eine Kälte, die nicht weiß, ob sie beißen oder stechen soll.
Es sind Schritte eines Kindes im Körper eines Erwachsenen.
Es ist Angst im Heute vor etwas Gestrigem.
Es ist immer die gleiche Frequenz, immer der gleiche Satz, immer der gleiche Ton.
Ein blitzschneller Zug des Schlüssels aus dem Schloss, ein Aufreißen und hinter sich zuschlagen.
Abschließen. Einschließen. Wegschließen.
Und dann jeden Treppenabsatz im Ganzen runterspringen.
So schnell wie es nur geht.
Ein Rasen.
Ein Rennen.
Ein Laufen.
Ein Joggen.
Ein schnelles Gehen.
Ein Schritt nach dem Anderen.
Ein mechanisches Traben.
Ein Vorwärtsschleppen.
Bis zu dem Moment in dem Raum genug für das fragende Innen ist.
„Weißt du eigentlich, wo du bist?“
Dann erst kommt die Angst, die sie sterben lässt.
Sie ist 8 und sah ihren Besitzer.
Ich bin 27 und sehe das Ortschild einer Stadt ca. 24km von meiner Wohnung entfernt.