die Operation

„Was mir passiert ist – sieht man das innen?“
Das fragte ein Innen, das sich für mich wie eine feste Wattenebelwand anfühlt und immer wieder in den Spalt zwischen der Welt und mir geriet.
Keines der Gespräche mit Ärztinnen, Schwestern und Pfleger_innen, die ich für diesen Tag geübt hatte, enthielt diese Frage. Zu keinem Zeitpunkt wollte ich, dass DAS überhaupt irgendwie Thema wird.

Mir war Abstand wichtig. Sachlichkeit, Objektivität. Mein Fokus lag darauf, meine behinderungsbedingten Bedarfe als etwas zu kommunizieren, was unbeachtet zu Problemen und unerwarteten Entwicklungen führen kann. Ich wollte den reibungslosen Ablauf ermöglichen, der für alle wichtig und gut ist.
Voruntersuchung, Narkose, Operation, Aufwachen. Für mich waren das Checkpoints, an denen ich so unauffällig wie möglich ein- und auschecken wollte. Soweit das mit der Unauffälligkeit eben geht, wenn Gehörschutz, schweres Tier und „Bitte nicht unerwartet anfassen“ zu den Bedarfen gehört.

Ich schäme mich für meine Bedarfe. Bewege mich ständig in Sorge und Angst darüber, die Grenzen des Systems zu berühren, die jeder Klinik inne sind.
In dieser Klinik wurde mir die Angst an vielen Stellen genommen. War nie nötig, dass ich meine Grenzen rechtfertigend erklären musste. Nur nennen musste ich sie. Das fiel mir zunehmend leichter, je öfter ich in Kontakt mit den Behandler_innen und ihrem Team war, denn sie kamen auf mich zu.
In meiner Akte stand bereits nach dem ersten Beratungsgespräch „PTBS Z. n. sex. Missbrauch“, ohne dass ich das genau so aussprechen musste. Es hat gereicht, einen früheren Befund nach einer Gewalterfahrung zu teilen und zu sagen, dass das nicht die einzige Erfahrung war.
Bei jeder Untersuchung fragte die Gynäkologin danach, ob ich bereit bin und beschrieb, was sie tat und wozu. Meine Aufgabe war nicht, einfach alles passieren zu lassen, sondern darauf zu achten, wie es mir geht, damit ich rechtzeitig sagen kann, wenn ich eine Pause brauche oder etwas weh tut. Mir hilft es generell, wenn mein Auftrag an mich als Patient_in ist, meine Selbstwahrnehmung und die Kommunikation dessen zu gewährleisten.

Trotzdem habe ich so lange wie möglich nichts von der DIS und dem Autismus gesagt. Ich wollte keine Bilder entstehen lassen, die mich zu einem Subjekt machen. In einem System wie einer Klinik ist man als Patient_in immer ein Objekt der Behandlung. Jede Subjektivierung führt zu verschobenen Grenzen und praktisch jede verschobene Grenze birgt Verletzungsrisiken für beide Seiten.
Daher mein Anspruch an Objektivität. Mein ständiger Bezug auf Lösungen für Probleme, die ich durch meine Bedarfe entstehend annehme.

Dass ich eine Operation brauchen würde, kam überraschend. Es gab keine andere Behandlungsmethode, um meinen Kinderwunsch zu erfüllen. Und so wurde aus Terminen dann und wann zur Blutabnahme und Ultraschalluntersuchungen eine gynäkologische Operation, die direkt auch der weitergehenden Diagnostik diente.

Es ging mir schlecht und zunehmend schlechter in der Zeit vor dem Termin.
Kurz vor diesem Thema war ich in der Therapie sehr konkret befasst mit meinen Erfahrungen. Hatte über Tage hinweg mit massiven emotionalen Flashbacks und Überforderungsgefühlen zu tun, selbst als sich mir keine Bildfragmente des Erlebten mehr aufdrängten.
Und dann das.
Eine geplante Auslieferung. Eine gezielte Ohnmacht. Ein vorhersehbarer Fokus auf meine Genitalien. Absehbare Schmerzen. Bekannte Risiken für Flashbacks, dissoziative Krampfanfälle und Wechsel in möglicherweise desorientierte Selbstzustände. In einem Rahmen, in dem ich mit meinem Inneren nicht relevant bin für das, was da passieren soll.

Ich war aber relevant für die Menschen dort. Das hat mich überrascht. Und jetzt, wo alles vorbei ist, freut es mich auch.
Es war ein ambulanter Eingriff. Ich war die erste Patient_in.
Mein Mann und ich fuhren in den Anfang vom Sonnenaufgang und hörten Musik, die das Fahren einem Videospiel ähnlich machte. Eine Schwester trennte uns freundlich und leitete mich in das Patientenzimmer.
Alles war ruhig. Das Licht noch gedimmt, die Mitpatientin lieb und grenzbewusst. Ich konnte mich in Ruhe umziehen und merken, wann ich meinen Gehörschutz brauchte. Geholfen hat auch der Bent, über den ich hier bereits geschrieben habe. Ich konnte ihn auf dem Oberkörper behalten, bis ich nicht mehr bei Bewusstsein war. Ich glaube nicht, dass ich ohne ihn noch mit den Schwestern in der Anästhesie hätte sprechen können. Die fanden ihn klasse. Einer Schwester gefiel auch mein Gehörschutz. Alle waren mir liebevoll zugewandt und ließen mir Raum zu verstehen, was gerade mit mir passierte.

Ich hatte Angst als das Narkosemittel einsetzte. Und ich hatte offenbar extrem viel Angst als die Wirkung nachließ. Später erfuhr ich, dass ich einen Flashback ausagiert habe und einen Krampfanfall hatte. Von einer Ärztin für Gynäkologie und Psychosomatik, die einige Stunden später zu mir geschickt wurde.
Die Ärztin war offenbar selbst krank. Das war eine heftige Erfahrung, die ich allerdings nicht allein machen musste. Mein Mann war dabei. Wir haben unseren Eindruck an die vertretende Ärztin und eine Pflegerin weitergegeben und schreiben auch nochmal eine Nachfrage mit informierendem Charakter an die Klinik. Sicher ist sicher.

Ich habe das Narkosemedikament nicht schnell und gut abgebaut. Statt nach 4 bis 6 Stunden konnte ich erst 11 Stunden später nach Hause gehen.
Immer wieder wechselten sich Dissoziation und Sedierung ab. Ich musste mich oft übergeben. Erst spät kamen wir auf die Idee, um ein Medikament gegen Übelkeit zu bitten.
Irgendwo dazwischen kam die Ärztin, die mich in der Kinderwunschklinik untersucht und nun operiert hatte, zu mir, um mir zu sagen, wie es gelaufen ist.
Ich hörte, dass alles gut gegangen sei und auch die Diagnostik keine weiteren Probleme aufzeigte. Und merkte, wie das Innere sich mit dem Druck des Gedankens „Jetzt oder nie“ vorschob, um diese Frage zu stellen.

„Nein. Man sieht wirklich gar nichts davon. Es ist alles soweit gut.“
Heute merke ich erst, wie unfassbar wichtig es war, das zu erfahren.

der Podcast „Geteiltes Leid“, eine Besprechung in 4 Teilen

Transparenzhinweis: Dieser Text entstand unbeauftragt. Finanziell ermöglicht haben ihn Steady-Unterstützer_innen. Die im Podcast und diesem Text erwähnte Emanuel Stiftung hat sich 2019 mit einem kleinen Beitrag an der Realisierung meines ersten Buches „aufgeschrieben“ beteiligt.

„Der Podcast ‚Geteiltes Leid‘ entstand im Rahmen des Projekts ‚Hast du schon gehört‘, welches durch das Programm ‚Demokratie im Netz‘ der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und vom Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben umgesetzt wurde. Mit diesem Projekt setzt Arbeit und Leben ein klares Zeichen gegen Desinformation und für eine stärkere Demokratie.“

Ich musste lachen. Denn da saß ich nun nach einigen Tagen mit E-Mails und Gesprächen über diesen Podcast und der Desinformation, die damit verbreitet wird, und las diesen Abschnitt auf der Projektwebseite. Nachdem ich die vierteilige Podcastserie gehört habe, erscheint mir kaum erreicht, was man sich mit dem Projekt vorgenommen hat. „Kritisches Hinterfragen“, „ein eindrucksvolles Beispiel für investigativen Journalismus“, „die Politik auffordern, Verantwortung zu übernehmen“ – das habe ich nicht gehört. Aber dramatische Geschichten. Viele Annahmen und unvollständige Andeutungen. Viel Vermischtes. Und das alles ohne eine Perspektive der Menschen, um die es letztlich geht.

Teil 1 – „Der Fall Leonie“

In den ersten beiden Episoden wird die Kranken- und Leidensgeschichte von Leonie (Pseudonym) erzählt. Es wird aus ihrer Krankenakte vorgelesen. Ihre Medikation und andere Details geteilt, die normalerweise besonders geschützte persönliche Informationen sind. Die man als Journalist_in nicht ohne weiteres öffentlich zitieren darf, auch wenn einem die Eltern die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben.

Das alles passiert ohne Leonie. In meinen Augen der größte Makel an „Geteiltes Leid“.
Denn der Podcast entmenschlicht sie und verdeckt die Ausbeutung ihrer Geschichte. Sowohl dadurch, dass Hörende sich keinen eigenen Eindruck von ihrer Person machen können, als auch durch unkommentierte Aussagen ihrer Eltern. Zum Beispiel die von ihrem Vater in der ersten Folge: „Wenn die Leonie zu Hause war, dann war sie ein unheimlicher Zeitfresser.“, „Man konnte auch mit ihr praktisch kein Gespräch führen. Sie konnte ins Wohnzimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und schlechte Laune verbreiten, alleine durch das, wie sie sitzt und welche Ausstrahlung sie hat. Wie ein Scheißhaufen von einem Hund.“ Es ist entsetzlich und verantwortungslos, dass eine solche Aussage überhaupt oder zumindest nicht einordnend ausgespielt wird. Man könnte oder sollte bereits hier den Podcast einfach ausschalten.

Die Erzählung von Leonies Krankengeschichte passiert nicht, um über psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie die Auswirkungen auf ihre Familien zu sprechen. Selbst die lange Zeit der lebensbedrohlichen Behinderung eines Kindes und der strukturellen wie individuellen Kämpfe, Sorgen und Prozesse, die dadurch in der Familie entstehen, wird nur ansatzweise und gefiltert durch die Leidenserzählung der Mutter erahnbar. Etwa, als sie in Folge 4 über die wöchentlichen Besuche ihrer Tochter im Pflegeheim sagt: „Und das ist so, das ist der schlimmste Nachmittag in meiner Woche.“
Das Podcast-Team möchte vielmehr aufzeigen, dass Therapeut_innen an Verschwörungserzählungen glauben und ihre Patient_innen als Beweis dafür missbrauchen, um persönliche wie politische Ziele zu erreichen.

In allen Folgen wird Leonie, genauer gesagt ihre Kranken- und Leidensgeschichte, nun wiederum als Beweis dafür benutzt, dass eben jene Erzählung über missbräuchliche Therapeut_innen und einen vor diesem Unrecht und Leid der Opfer passiven Staat wahr ist. Das ist Objektifizierung.

Für mich besonders brisant daran: Leonie ist heute offenbar schwer beeinträchtigt. Die Beschreibung ihrer Eltern legt nahe, dass sie nicht oder nur eingeschränkt fähig ist, ihre Lage zu überschauen, zu gestalten und über sich selbst zu bestimmen. Es wird nicht offengelegt, wer sie rechtlich vertritt. Dass Eltern über ihre erwachsenen Kinder aber nicht ohne richterlichen Beschluss beziehungsweise ohne eine von den Kindern erteilte Vollmacht bestimmen dürfen, wissen viele Menschen nicht. Damit erscheint Zuhörenden wahrscheinlich auch legitim, dass Leonies Eltern und Journalist_innen ihre Geschichte erzählen. Der Gedanke ist möglicherweise: „Leonie kann das ja vielleicht gar nicht mehr – dann müssen es ja andere für sie machen.“

Weil es im Podcast nicht ausführlich begründet wird, frage ich mich: Kann Leonie aufgrund ihrer Behinderung nicht selbst im Podcast sprechen? Oder bedarf es Anstrengungen von Seiten der Journalist_innen, Eltern und anderen Menschen, ihr das zu ermöglichen? Anstrengungen, auf die von dieser Seite gern verzichtet wurde? Wenn das der Fall war, warum war das für alle Beteiligten in Ordnung?

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Einwilligung und einem Einverständnis. Einen Willen kann auch jemand haben, die_r kein Verständnis von der Gesamtlage hat. Hat Leonie ein Verständnis von dem Bild, das ihre Eltern in der Öffentlichkeit von ihr vermitteln? Ist sicher, dass sie das so will? Fragen wie diese ergeben sich ganz natürlich, wenn man es mit psychisch schwer erkrankten oder intellektuell („geistig“) behinderten Menschen zu tun hat. Es erfordert eine umfassende Auseinandersetzung damit, was es bedeutet, über statt mit behinderten/(chronisch) kranken Menschen über ihre Er.Lebenserfahrungen in öffentlich zugänglichen Medien zu berichten. Das ist alles andere als trivial.

Entsprechend tauchte für mich bei diesem Podcast bereits in der ersten Folge die Frage auf, warum man sich für Leonies Geschichte entschieden hat, wenn Leonie selbst gar nicht zu Wort kommen kann oder will oder möchte. Oder soll? Direkt von etwas betroffene Menschen sind sogenannte „unzuverlässige Erzähler_innen“ – man muss ihre Aussagen stets einordnen. Warum wurde darauf verzichtet?

Später, in Folge 4, kommt eine Person, die Amelie genannt wird, zu Wort. Sie wurde ebenfalls mit der falschen Annahme konfrontiert, sie könnte Rituelle Gewalt erlebt haben und hätte eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Warum nicht diese Geschichte? Weil diese Person weniger schwer geschädigt wurde? Weil ihr Leid entsprechend geringer ausfällt – sie konnte sich ja wehren oder schützen? Brauchen Menschen wie Leonie so eine (diese?) Plattform, weil sie den schwersten Schaden haben? Woran soll das gemessen werden? Oder weil schwer geschädigt zu werden eine große Angst aller Menschen in einer ableistischen Gesellschaft wie unserer ist, wo Behinderung nach wie vor in vielen Lebensbereichen gleichbedeutend ist mit „unwert sein“?
Wie schnell man sich im Nachdenken über diese Fragen doch in einer Dynamik findet, die von ableistischer Opferfeindlichkeit und der Vermeidung der Anerkennung von Gewalt als immer leidauslösend gekennzeichnet ist. Bei einem Format, das die Demokratie stärken will, finde ich das bemerkenswert.

Ich komme nicht umhin, anzunehmen, dass man sich mit dieser Geschichte die Emotionalisierung der Debatte sichern wollte. Als sei eine Fehldiagnose, eine Behandlung durch missbräuchliche Psychotherapeut_innen oder ganz allgemein eine psychotherapeutische oder psychiatrische Falsch- oder Nichtbehandlung nicht schon schlimm genug.

Boulevard-journalistisch mag das lauter sein – menschlich, moralisch, ist es in meinen Augen nieder. Niemand, wirklich niemand, dem eine Betroffenheit zugesprochen wird, die sie_r nicht hat, von einer_einem Therapeut_in missbraucht wurde oder eine falsche Diagnose hat, hat etwas von einer emotionalisierten oder ableistischen Debatte darüber.
Die Aufmerksamkeit dient ausschließlich dem Medium und im Verlauf den Journalist_innen. Diese Art der Aufmerksamkeit ist eine Währung, mit der man nur in ganz spezifischen Kontexten etwas anfangen kann. Marginalisierte Menschen, wie behinderte Menschen oder Opfer von Gewalt, finden nicht in diesen Kontexten statt. Auch wenn das Narrativ von Opferschaft als lukratives Mittel der Selbstdarstellung weiterhin viele Vertreter_innen findet. Opferfeindlichkeit ist einfach eine der Alltagsgewalten, der sich sehr viele Menschen bis heute nicht bewusst sind.
Bis sie selbst zum Opfer werden.

Über psychische Krankheiten reden

Wenn man möchte, dass sich viele Menschen für das Leid anderer Menschen interessieren, dann muss ein Bezug hergestellt werden. Man muss eine Geschichte aus einem Leben erzählen, das wie jedes andere auch sein könnte. Sonst können sich Menschen nicht reinfühlen. Nicht annehmen: Das könnte auch ich sein.
Deshalb beginnt fast jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit, und weil die meisten Menschen Krankheit als temporären Zustand erleben, endet auch jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit. Oder mindestens der zuversichtlichen Aussicht darauf.
Leonies Geschichte beginnt mit Krankheit und endet damit. Das gefällt mir sehr gut, denn das sind die Geschichten über psychische Krankheit, die so gut wie nie gehört werden. Egal, wie oft wir Betroffenen sie der Öffentlichkeit vermitteln. Es wird von vielen Redaktionen einfach als zu deprimierend eingeschätzt. Nicht sexy. Nicht uplifting. Nicht oder nur schwer vereinbar mit kommerziellen Interessen.

Unheilbare, tödliche psychische Krankheiten sind eine Realität, mit der sich die meisten Menschen nicht abfinden wollen. Auch Leonies Eltern nicht, die mit diesem Podcast schon das zweite Mal die Geschichte ihrer Tochter benutzen, um ihre für viele Menschen absolut nachvollziehbar inakzeptable Erfahrung in die Öffentlichkeit zu bringen. [1] Sie können sich darauf verlassen, dass die Gesellschaft behinderte, unheilbar kranke Menschen verhindern will und Mitleid mit diesen Eltern hat. Und dass eben jene Gesellschaft psychische Krankheiten überwiegend als individuelles Kampfgeschehen begreift, das man „quick and dirty“ mit nur genug Willen und Kraft beenden kann.

Anorexia nervosa, die Magersucht, an der Leonie bereits als Kind erkrankt (nachdem sie eine Kindheit mit Erstickungsgefahr durchs Essen erlebt hat), ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Laut Prof. Manfred Fichter von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee sterben 10 bis 15 Prozent der an Magersucht erkrankten Menschen. 7 Prozent der erkrankten Magersüchtigen sterben durch Suizid. Die durchschnittliche Zeit der Erkrankung liegt bei 15 Jahren. [2]
Das ist schlimm. Traurig. Bitter.
Was noch bitterer ist: die durchschnittliche Wartezeit für einen Klinikplatz zur Behandlung einer psychischen Krankheit außerhalb psychiatrischer Notfallversorgung. Vor allem, wenn der körperliche Zustand einer medizinischen Mitbehandlung und Überwachung bedarf. Und erst recht, wenn zusätzlich noch eine Behinderung oder weitere Erkrankungen wie eine stoffgebundene Sucht oder eine (komplexe) Traumafolgestörung dazu kommen und eine entsprechend spezialisierte Behandlung erforderlich ist. Wie bei Leonie.

Dieser Komplex – die bittere Krankheits- und Behandlungsrealität – wird in dieser Podcastreihe nicht beleuchtet, und das ist meiner Meinung nach desinformierend. Denn das Bild von Leonies Lage, aber auch das ihrer Eltern und aller Helfer_innen, Betreuer_innen und Psychotherapeut_innen, wird dadurch massiv verzerrt dargestellt.

Die Aussagen der Eltern, die durchgehend ihr eigenes Leiden unter Leonies Krankheit, Verhalten und Re.Agieren beschreiben, kommunizieren im Kern immer auch, niemand habe ihr geholfen, niemand habe ihnen geholfen, obwohl das doch möglich gewesen wäre. Mit genug Kompetenz. Und Strenge gegenüber Leonie vielleicht. Oder Autorität. Oder Zwang, wenn nötig. Tatsächlich aber darf niemandem geholfen werden, die_r es nicht will, und nicht jede Hilfe bedeutet ein Heilungsversprechen. Mal ganz davon abgesehen, dass niemand von Ärzt_innen, Pfleger_innen und Sozialarbeiter_innen in Krankenhäusern behandelt werden kann, die aufgrund des demographischen Wandels und des Wirtschaftlichkeitszwangs im deutschen Gesundheitswesen einfach gar nicht zur Verfügung stehen.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen jeder psychiatrischen, psychologischen oder auch pädagogischen Hilfe- und Therapiemaßnahme gehört immer auch, dass sie nicht hilft oder den Zustand sogar verschlimmern kann. Wie bei Medikamenten gilt: Alles, was wirkt, kann wirken. Auch im unerwünschten Sinne.
Das ist ein absolut grundlegendes Faktum über Maßnahmen dieser Art. Jede_r Behandler_in, jede_r Helfer_in muss das wissen und den Patient_innen, Betreuten, Begleiteten und deren Angehörigen mitteilen. Befremdlich, dass die Ärztin, die uns Hörende als Host durch diesen Fall führt, das nicht vermittelt.

Dass die Eltern offenbar bis heute glauben, sie wurden um eine geheilte Tochter betrogen, kann man in diesem Zusammenhang sogar verstehen. Die (psychotherapeutische) Versorgung und Unterstützung von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen ist nämlich noch viel schlechter und erfordert manchmal eine Psychodiagnose, die man sich als Beamte_r (als Lehrer_in oder Polizist_in zum Beispiel) nicht ohne Sorge um negative Konsequenzen geben lassen kann.
Akzeptieren zu müssen, dass das eigene Kind möglicherweise unheilbar krank ist und ein Leben mit Behinderung(en) führen muss, ist für manche Menschen unfassbar schwer. Und wenn man dabei nicht unterstützt wird, kann eine Vermeidungshaltung und die Anschuldigung Dritter eine naheliegend logische Entwicklung sein.

Schwierig, problematisch, ja im Grunde tragisch wird es, wenn Dritte solche Anschuldigungen benutzen, um eine eigene Geschichte zu erzählen.

Teil 2 – „eine Geschichte, alles zu erklären“

Am Ende der zweiten Folge passiert ein Sprung, den ich auch beim zweiten und dritten Mal Anhören nicht verstehe.
Bis dahin erfahren wir, dass Leonies Zustand immer schlechter wird. Und wir erfahren, dass ihr Vater, nachdem sie absolut unfähig zur Selbstbestimmung im Krankenhaus ist und keine rechtliche Betreuung mehr hat, ihre Sachen aus ihrer Unterkunft holt. Dabei findet er einen USB-Stick, auf dem ein Video gespeichert ist. Laut der Moderation zeigt das Video, wie Leonie getauft wird. An einem offenbar schönen Tag, an einem schönen Ort, umgeben von offenbar wohlgesonnenen Menschen. Obwohl aus den im Podcast abgespielten O-Tönen keinerlei Bedrohung oder soziale Beziehung der Leute zu einander ersichtlich ist, sagt die Sprecherin zu dräuender Musik, dieses Video mache dem Journalist_innen-Team klar, dass es in Leonies Fall um ein Netzwerk ginge. Das ist angesichts dessen, was wir hören, eine irritierende Schlussfolgerung.

Mit dieser Passage endet für mich nicht nur die erste Folge des Podcastes, sondern auch mein Wille, an eine ergebnisoffene, investigative und umfassend recherchierte Arbeit dieses Teams zu glauben. Denn welches Netzwerk kann nur hinter einer Taufe stecken? Die christliche Kirche. Ein globales, ideologisch verbundenes Netzwerk, das als Organ einer Weltreligion einen allgemein legitimierten Platz in der menschlichen Kulturgeschichte einnimmt.
Der Eindruck, der hier zu erwecken versucht wird, ist, dass diese (in Leonies Leben zweite) Taufe, dieses Ereignis, das ausschließlich religiösen Zwecken dient und in der Regel mit einer standesamtlich wie sozial anerkannten Gemeindezugehörigkeit einhergeht, in irgendeiner Weise aufgezwungen wurde. Von Leuten, die Leonies Leiden entweder nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten. Also von Leuten, die gar nicht das Beste für sie wollten, sondern im besten Falle religiöses Brauchtum, im schlechtesten Fall, dass sie leidet.

Die trotz gemeinschaftlicher Verbindung letztlich doch individuelle und in der Regel selbstbestimmte religiöse Widmung und Auseinandersetzung mit sich selbst in schweren Lebensphasen wird hier als gefährlich kommuniziert. Ob es Leonie gutgetan hat, sich ein zweites Mal taufen zu lassen, ob sie es gewollt hat, weil es ihr emotionale Kraft gegeben hat, erfahren wir nicht. Wir hören jedoch erneut ihren Vater, der sein Entsetzen über seine Annahme äußert, Leonie sei zu diesem Zeitpunkt auch körperlich nicht versorgt worden. Was niemand außer Leonie und ihren Begleiter_innen wissen kann.
Zuhörende werden mit dieser Darstellung in die Idee manipuliert, die freikirchliche Gemeinde, die Leonie damals Unterkunft und soziale Gemeinschaft gab, hätte lieber für sie gebetet und Unsinn geglaubt, als sie medizinischer Behandlung zuzuführen.

Diese Erzählung – „Ideologisch überzeugte Hokuspokus-Therapeut_innen und Helfer_innen enthalten kranken Menschen echte Hilfe vor“ – sehe ich seit über 20 Jahren in Veröffentlichungen, die ihrerseits wissenschaftlich widerlegte Aussagen über die „Fälschbarkeit von Erinnerungen“ und verschwörerisch anmutende Theorien über die Unterwanderung von Medizin und Forschung durch (feministische) Akteur_innen verbreiten.
FMS, ick hör dir trapsen.
Und tatsächlich. Im Interview mit podcast.de sagt Khesrau Behroz, Mitgründer von Undone und Produzent des Podcast „Geteiltes Leid“: „Auf die Protagonisten kamen wir durch Beratungsstellen, die sich um Opfer schädlicher Therapien und deren Angehörige kümmern. Eine davon ist False Memory Deutschland e. V..“[3]

Alles, was nun in „Geteiltes Leid“ erzählerisch skizziert und argumentiert wird, folgt der Argumentation und Logik der „False Memory-Erzählung“.
Einschließlich des extrem emotionalisierenden Schlagwortes „satanic panic“, der im Titel der dritten Folge steht. Ein Begriff, der – wie immer, wenn die Protagonist_innen oder die Meinung der Redaktion davon beeinflusst ist – in der Folge nicht umfassend und inhaltlich unzureichend erläutert wird, was dazu führt, dass ein weiteres Mal das Gesamtbild verzerrt, also ein weiteres Mal desinformiert wird. Eine Dynamik, die ebenfalls seit jeher zur Debattenführung von False Memory um Rituelle Gewalt gehört und als Strohmann-Strategie[4] bekannt ist.

Der Begriff „satanic panic“ wurde in den 80er Jahren im US-amerikanischen Sprachraum verwendet, um eine teilweise auch religiös gefärbte Massenhysterie der US-Gesellschaft zu beschreiben, nachdem ein Buch mit dem Titel „Michelle remembers“ erschienen war. Das Buch handelte von einer Frau, die berichtete, mittels Hypnose an verschüttete Erinnerungen an satanistischen Missbrauch gekommen zu sein. [5]
Die davon ausgelöste Debatte beeinflusste massiv auch die öffentliche Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren, das klären sollte, ob Betreiber_innen und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool ihre Schutzbefohlenen missbraucht und in satanistisch anmutenden Szenarien gequält haben. [6]
Es gab ein für diese Zeit, in der das Privat-Fernsehen gerade erst etabliert wurde und der Kampf um die Einschaltquoten praktisch entfesselt tobte, unfassbares Medieninteresse und eine Berichterstattung, die sich zügellos in Mutmaßungen und moralischer Raserei erging.

Anfang der 80er Jahre gab es praktisch keine Standards für die polizeiliche Vernehmung bzw. Befragung von Kindern. So kam es sowohl zu wiederholten als auch suggestiven Befragungen, die zu Falschaussagen der Kinder führten. Diese Falschaussagen und deren schiere Anzahl führten zu dem Eindruck eines begründeten Verdachtes, in dessen Folge es zu dem Verfahren gegen die Schulleitung und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool kam.
Auslöser der polizeilichen Befragungen der Vorschulkinder war die Meldung einer Mutter, ihr entfremdeter Ehemann und ein Lehrer (Enkel der Schulleitung) hätten ihr Kind missbraucht. Die Mutter hatte ihr Kind entsprechend suggestiv zu Bauchschmerzen befragt.
Das Verfahren lief in Etappen bis 1990, als letztlich sämtliche Vorwürfe fallengelassen wurden.

Die im Podcast „Geteiltes Leid“ genannte Sendung mit Geraldo Rivera lief 1988 und war eine der meistgesehenen Talk-Show-Sendungen ihrer Zeit. Ein kommerzieller Traum für den Sender. [7] Ein kommerzieller Traum, den sich sowohl vorher als auch nachher viele Sender erfüllen wollten. Obwohl bereits damals offensichtlich wurde, dass mit der Erzählung von rituell mordenden Satanist_innen, die Kinder sexuell missbrauchen, auch die Zahl von Anzeigen und Falschaussagen im ganzen Land stieg.
Mit einer „Panik über oder vor Satanist_innen“ hat das, was der Begriff „satanic panic“ beschreibt, weniger zu tun als mit einem kulturellen Wandel der US-Gesellschaft, der bestimmte moralische Grundwerte in Frage zu stellen schien und bekämpft werden sollte. Der Begriff, der soziologisch gesehen zutreffender für dieses Phänomen ist, lautet: „moral panic“ [8] und beschreibt die gesellschaftlich kontrollierende Wirkung dieser und ähnlicher Erzählungen.

Menschen eine irrationale, weil von Panik verzerrte Annahme, also gewissermaßen eine wahnhafte Überzeugung nahezulegen, wenn sie ideologisch motivierte oder legitimierte und sexualisierte Gewalt in jedwedem Kontext für möglich halten, ist DIE Strategie von False Memory seit Gründung der ersten Gruppe. Verrückt, also krank, verantwortungslos und egoistisch motiviert muss sein, wer glaubt, dass Inzest und andere Formen sexualisierter Gewalt ein regelhaftes Geschehen in praktisch jeder Gesellschaft sind. Das ist eine implizierte Folgerung dieser Gruppe, mit deren Ideologie und orchestrierten Strategien sich zuerst Jennifer Freyd, die Tochter des Gründer-Ehepaares, herumschlagen musste[9] und bis heute in gewissem Grad jedes einzelne Opfer sexualisierter Gewalt in jedem nur möglichen Zusammenhang. Diese Strategien lassen sich mit dem Akronym DARVO nachvollziehen: Deny (Leugnen), Attack (Attackieren) and Reverse Victim and Offender (Täter-Opfer-Umkehr).

Für einen investigativen Podcast, der „die Mechanismen hinter Verschwörungsideologien sichtbar zu machen und einen Beitrag zur politischen Aufklärung zu leisten“ zum Ziel hat, ist die Protagonisten- und Geschichten-Akquise aus diesem Umfeld das Ende für den eigenen Anspruch. Denn unter False Memory kommen Menschen unter der Prämisse zusammen, dass sexualisierte Gewalt sehr selten und regelhaft von Psychotherapeut_innen eingeredet sei, um unschuldigen Individuen zu schaden. Was in Bezug auf die Realität von sexualisierter Gewalt nicht stimmt und nicht objektiv belegbar ist in Bezug auf die Psychotherapeut_innen.
Das schließt False Memory und damit assoziierte Protagonist_innen für jegliche Zusammenarbeit, die Üb.Erlebenden von sexualisierter Gewalt und/oder Menschen mit psychischer Erkrankung nach Gewalterfahrungen nicht schaden soll, aus.

Ich stelle mir im Hinblick auf die Realität von sexuellem Missbrauch und einer Psycho- bzw. Traumatherapie, die inzwischen ganz anders arbeitet als in den 70er und 80er Jahren, auch die Frage, warum man sich für das Ziel der Aufklärung über Verschwörungstheorien und ihre Folgen nicht mit QAnon, Chemtrails oder Impfgegnern befasst hat. Die Recherche dazu stelle ich mir viel einfacher vor, weil sie viel weniger Risiko bietet, dass Einzelpersonen in ihrem persönlichen Leid zur Schau gestellt und letztlich ausgenutzt werden.

Aber vielleicht geht es bei der Wahl dieses Themenkomplexes ja tatsächlich um Menschen, die an schlechte Therapeut_innen geraten und so Opfer von Falschbehandlung geworden sind.
Diese Geschichten passieren und ihre Protagonist_innen lügen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber die Begründung dieser Geschichten mit einem einge.schworenen Netzwerk aus verschwörungsgläubigen (also irrationalen) Einzelpersonen mit Verbindungen bis „ganz nach oben“ und wissenschaftlich als falsch nachgewiesenen Annahmen[10], [11] über die Folgen und Auswirkungen von Psychotrauma muss einer Redaktion als einer Verschwörungstheorie nahekommend auffallen. Und in ihrer Folge ebenfalls als etwas erkennbar sein, das den Betroffenen nicht hilft.

Schrödingers Journalismus – investigativ und unfähig, das Naheliegende zu sehen

So ist der Verlauf der Podcastserie für mich wie ein Autounfall, bei dem ich nicht weghören kann. Man versucht, sich als Patientin für ein Erstgespräch getarnt bei der Psychotherapeutin von Leonie einzuschleichen, um sie zu etwas zu befragen, worüber sie überhaupt nicht sprechen darf, weil sie einer Schweigepflicht unterliegt.
Eine Zeit- und Ressourcenverschwendung, unter der die Journalist_innen nicht leiden – dafür aber die Patient_innen, die gerade in Not sind und ein Erstgespräch brauchen.

Man spricht mit einer Psychotherapeutin, die selbst für mich als halbwegs informierten Laien erkennbar nicht korrekt informiert ist über die ganz basalen Grundlagen der aktuellen Traumaforschung – und dazu noch irritierend überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns und Wirkens als Therapeutin und Ärztin. Aber man meldet sie offenbar nicht bei der Kammer, wie es die Eltern von Leonie damals bei einer anderen Behandlerin von Leonie ganz richtig gemacht haben. Wie es jede_r machen kann, wenn sie_r an eine_n Behandler_in gerät, an dessen_deren Kompetenz und Handlungsweise Zweifel bestehen. Für solche Situationen gibt es Strukturen. Verantwortliche. Handlungsoptionen für Patient_innen. Niemand muss in so einem Fall schweigen oder wird von irgendwem davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Ressourcen dazu habe ich in den Quellnachweisen dieses Betrages zusammengetragen.[12] Das journalistische Rechercheteam, das neben Politik und Wissenschaft auch die Zivilgesellschaft zur Verantwortungsübernahme aufrufen will, hätte diese Informationen ebenfalls teilen können.

Doch nein, man kreiselt sich immer weiter hinein in die ebenfalls kaum haltbare Erzählung von Unklarheit und fehlenden Belegen für Rituelle Gewalt.
So wird gesagt, die Polizei habe keinerlei Kenntnis über Fälle von Ritueller Gewalt. Auch das ist eine desinformierende, weil unvollständige Aussage.
Denn: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst keinerlei religiöse oder politische Motive für Straftaten. Es gibt eine Abteilung im Bundeskriminalamt, die „Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“ beobachtet, doch die konzentriert sich auf Islamismus und keine andere Religion oder Weltanschauung. [13]
Wenn also Journalist_innen die Polizei fragen, ob sie Fälle von Ritueller Gewalt kennen, dann antwortet diese: „Nein.“, weil Rituelle Gewalt kein erfasstes Kriterium für die Polizei ist. Mord im Namen einer Religion ist Mord, ideologisch motivierte Vergewaltigung ist Vergewaltigung.

Abgesehen davon gibt es allgemein bekannte Fälle Ritueller Gewalt. Eine einfache Google-Suche zu folgenden Fällen bzw. Gruppierungen hilft: Colonia Dignidad, Kwa Sizabantu, Niederbonner Schwestern, Zeugen Jehovas, Scientology, Orde der Transformanten.

Warum Fälle wie diese nicht als Rituelle Gewalt verstanden werden, kann anhand dieses Podcasts ganz gut illustriert werden:
Zum Einen bewegt man sich, wie gesagt, im Kontext eines Strohmann-Arguments.
Man will einfach, dass Rituelle Gewalt als von Satanisten ausgehend verstanden wird. Immer wieder wird in einen (von False Memory oder „Zweiflern“) selbst geschaffenen und selbst aufrechterhaltenen Diskursraum getragen, „die da“ (die unfähigen Hokuspokus-Therapeut_innen, die religiös wahnhaften Christenpriester und wer nicht noch alles) würden an satanistische Eliten glauben, die ihre sadistischen Phantasien an wehrlosen Kindern ausleben und alle Schichten der Gesellschaft damit beeinflussen – genauer gesagt: verrückt machen.

Während „die da“, welche forschend über Rituelle Gewalt sprechen, die jedwede ideologisch geprägte Weltanschauung zugrunde liegen haben kann und zunehmend als „Thema“ zur Vertuschung oder „inhaltliche Gestaltung“ von organisierter Gewalt verstanden wird. Weshalb es immer wieder auch die sprachliche Weiterentwicklung zur schärferen Abgrenzung dieser zu anderen Formen von Gewalt geben wird. So funktionieren Wissensentwicklung und Diskurs. Wer es genauer weiß, spricht nicht in einfachen Schlagworten. Und schon gar nicht in so übertrieben vereinfachten Worten, wie es für ein Strohmann-Argument notwendig ist.

Eine umfassende Entwicklung der Definition des Begriffs „Rituelle Gewalt“ ist öffentlich zugänglich einsehbar und zeigt, wie sich über die Jahre hinweg mehr und mehr Trennschärfe ergeben hat.[14]
Es ist desinformierend, in einem Podcast zu behaupten, es gäbe keine eindeutige Definition. Und in meinen Augen einfach unverschämt, Menschen um Begriffsklärung und Erläuterung der eigenen Arbeitsgrundlage zu bitten und ihnen dann „Schlagwort-Slalom“ vorzuwerfen.
Das passiert in Folge 3, nachdem Eva Lauer von Lüpke, Vorsitzende der Emanuel-Stiftung und Unterstützerin von Leonie. Lüpke wurde vom Podcast-Team zu einem allgemeinen Gespräch über ihre Stiftung eingeladen und hat offenbar viel Zeit und Mühe aufgebracht, so unmissverständlich wie möglich Definitionen und allgemein missverständliche Schlagworte zu klären. Eine Aufgabe, die im Hinblick auf eine über 45 Jahre andauernde Begriffsentwicklung mit erheblichem Anspruch einhergeht.

Das Verhalten des Podcast-Teams erscheint mir spätestens dann nur noch dreist, als Olga Herschel, die Journalistin, die uns als Sprecherin durch diesen Podcast führt, sagt: „Alles, wirklich alles an Ritueller Gewalt scheint heikel zu sein und dadurch bleibt vieles im Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke sehr schwammig. Aber es gibt einen Fall von Ritueller Gewalt, der ist sehr konkret und den hat Eva Lauer von Lüpke aus nächster Nähe erlebt: Leonie.“
Plötzlich haben sich also die Klarheiten gedreht. Leonie ist also doch ganz konkret Rituelle Gewalt geschehen und die, die es wissen muss, schließlich leitet sie eine Stiftung, die sich unter anderem für Opfer Ritueller Gewalt einsetzt, spricht schwammig.
Interessante Wendung.

Nach dem Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke spricht Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Zum zweiten Mal bekommt das Team sinngemäß vermittelt: „Hey, Leute, ‚satanistischer Missbrauch‘ – damit sind wir hier überhaupt nicht befasst. Niemand hier redet von dem, was ihr unterstellt. Es gibt gar nicht so viel Unklarheit, wie ihr annehmt. Hier, diese Zahlen konnten wir erarbeiten, das ist unser Stand der Auseinandersetzung, das ist unsere Datenlage.“
Und wieder wird einer klar erläuternden und daher wenig missverständlichen Interviewpartnerin „Schlagwort-Slalom“ vorgeworfen, weil diese nicht sagt, was das Team hören will, um die Argumentationslinie, der sie inhaltlich folgt, zu bestätigen. Hier sind wir schon weit von seriösem Journalismus entfernt.

Wer dieser Argumentationslinie zuletzt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefolgt ist und anschließend als mutiger Gegenpol dargestellt wurde, ist Jan Böhmermann mit einer Folge der Sendung „ZDF Royale“. Seine vom Podcast-Team sogenannte „Kritik“ an der Erzählung über Rituelle Gewalt wurde nach mehreren Beschwerden beim Fernsehrat vom ZDF depubliziert. Eine außergewöhnliche Situation, denn so schnell wird von einem Sender nichts depubliziert. Da müssen dann schon extreme Mängel zu finden sein.
In dieser Sendung jedoch, die als Satire-Sendung bekannt ist, wurde nicht, wie für Satire üblich, nach oben getreten. Also sich über Menschen oder Umstände lustig gemacht, die politisch oder gesellschaftlich verantwortlich sind für Dinge, die schieflaufen. Tatsächlich wurden Gewaltbetroffene und ihre Erfahrungen herabgewürdigt und sich über die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber als Einzelperson lustig gemacht. Eine Person, deren Einfluss auf Deutschland kaum zu vergleichen ist mit dem eines_r Politiker_in oder ähnlichen Verantwortungsträger_innen.

Eine Fernsehsendung, deren Witz nur dann funktioniert, wenn man annimmt, dass Menschen mit Traumafolgestörungen und/oder spezifischen Gewalterfahrungen lügen oder ihre Krankheit und die Überzeugung, bestimmte Gewalterfahrungen gemacht zu haben, von jemandem wie Michaela Huber eingeredet bekommen, ist keine Satire. Das ist nicht einmal Kritik. Das ist opferfeindlich und abwertend gegenüber Menschen mit psychischer Krankheit und gegenüber Michaela Huber möglicherweise auch üble Nachrede oder Verleumdung.[15]

Auch wenn – und darüber muss es einen gesellschaftlichen Konsens geben – es nötig ist, das Thema auch kritisch in der Öffentlichkeit zu besprechen, um Falschbehandlung und Falschanzeige oder Falschverdächtigungen zu verhindern oder aufzudecken – so wie es das ZDF Royale gemacht hat, ist es einfach nicht in Ordnung. Denn egal, wie man es dreht und wendet – es wird nie witzig oder gesellschaftlich anständig sein, darüber zu lachen, dass Menschen Gewalt erfahren haben. Sei es, weil sie ihnen tatsächlich passiert ist oder sei es, weil ein_e Therapeut_in sie davon überzeugt hat. In beiden Fällen ist den Menschen etwas passiert, das nicht in Ordnung war und ein soziales Umfeld erfordert, das diese Erfahrung ernst nimmt, in ihrer Bedeutung begreift und angemessen reagiert. „Hihi haha, Satan-Kostüm, guckt mal, die komische Frau und der Quatsch, den sie erzählt“, ist kein angemessener Umgang. Eine solche Sendung zu depublizieren und auch im Nachhinein nicht noch einmal neu produziert zu veröffentlichen, ist unter der Prämisse, nicht zu schaden oder zur Herabwürdigung von Menschengruppen beizutragen, nur richtig und hat mit umfassender Diskursverhinderung, wie es das Podcast-Team von Undone in Interviews und in der dritten Folge vermitteln, nichts zu tun.

Dass ein Rechtspsychologe wie Andreas Mokros den Schutz von Opfern durch Verhinderung solcher Sendungen erschreckend findet und eine universitäre Verantwortungsposition inne hat, finde ich nun wiederum erschreckend.
Jemand, der etwas für Menschen wie mich tun und erreichen möchte, sollte mir nicht vermitteln, ich müsse es aushalten, dass ganz Deutschland darüber lacht, was mir passiert ist oder passiert sein könnte. Die Konsequenz eines solchen Umgangs mit meinen Gewalterfahrungen – wie gesagt, entweder durch Therapeut_innen oder organisierte Straftäter_innen – ist eine Demütigung aufgrund meiner Erfahrung und meiner Erkrankung. Für mich ist das eine weitere Gewalterfahrung und in letzter Konsequenz auch offene Diskriminierung.

Bedauerlich ist zudem, dass mit ihm und seinem Beitrag die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu einem Streit verkommt, dessen Ziel nicht das Schaffen oder Erweitern des Wissensstandes zu ideologisch oder weltanschaulich motivierter Gewalt und ihren Folgen zu sein scheint, sondern – ja, was eigentlich?

Die intersektionale Forschung, also die Zusammenarbeit verschiedener Professionen zu einem gemeinsamen Thema, könnte enorm bereichernd sein und Betroffenen tatsächlich helfen. Warum ist es in der deutschen Wissenschaft so viel leichter, einander zu diskreditieren und in der Fachlichkeit in Frage zu stellen, als zusammenzuarbeiten? Vor allem, wenn es doch allen „nur um die Sache geht“?
Der Gedanke, der mir in Bezug darauf sehr naheliegend erscheint, ist, dass es eben nicht „nur um sie Sache geht“. Wäre dem so, würde meiner Ansicht nach über nicht über Rituelle Gewalt diskutiert oder darüber, dass andere Forschende den Herrn Mokros für einen „wadenbeißerischen Bösewicht“ halten, sondern über die Möglichkeiten und Grenzen unabhängiger Forschung zu Gewalt, die so selten von Täter_innen selbst angezeigt wird, dass es ganz zwangsläufig immer wieder zu „Aussage gegen Aussage-Situationen“ kommt und damit zu einer außerordentlich herausfordernden Zugangs- und Interpretationslage. Keine Seite wird schnell zu eindeutigen Ergebnissen kommen, solange sie sich im Streit mit der anderen befindet. Aber immer wird es Menschen geben, die davon profitieren, dass es noch unzureichend beantwortete Forschungsfragen und einen extrem schwierigen Zugang zum Forschungsfeld gibt: Menschen, die Gewalt ausüben und Menschen, die Täter_innen vor der Strafverfolgung schützen wollen.

Teil 3 – „und die Nebelkerze brennt“

Im Folgenden macht der Podcast inhaltlich einen breiten Bogen.
Er macht Aussagen über Studien- und Forschungsbetriebsarchitektur, die eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit kaum in ihrer Validität einschätzen kann, und ordnet sie zum nächsten emotionalisierenden Schlagwort zu, das diesmal jedoch von der UKASK kommt: „Memory Wars“.
Für mich ein irritierender Sprung, ging es bei den „Memory Wars“ doch um die Frage, ob und wenn ja, wie sehr Erinnerungen an traumatische Erfahrungen verdrängt werden können. Ob Verdrängung überhaupt ein Ding ist. Was eine Erinnerung ist. Wie man sich unter welchen Umständen erinnert. Was eine Erinnerung von einer Überzeugung unterscheidet.
Das wissenschaftliche Veröffentlichungs-Pingpong der 90er Jahre hat nicht darüber diskutiert, ob es Rituelle Gewalt gibt oder nicht, sondern ob man sich als Opfer in welcher Form und in welcher Zeitspanne wie konkret und bewusst erinnert.

Zu sagen: „Sowas kann doch keiner verdrängen oder vergessen!“, ist eine der Attacken, die False Memory von jeher fährt, nachdem Vertreter_innen dieser Bewegung sexualisierte Gewalt lange geleugnet hatten, indem sie äußerten: „Würde es sowas geben, gäbe es ja Beweise.“
Heute ist allgemein bekannt, dass es das gibt. Selbst in „Geteiltes Leid“ wird eingeräumt: „Natürlich gibt es organisierte Gewalt an Kindern, Menschenhandel und Ausbeutung. Das ist alles vielfach dokumentiert. Und es gibt Fälle, in denen organisierte Gewalt in einer Sekte stattfindet. Und ja, viele Opfer organisierter oder sexualisierter Gewalt berichten auch von Einschüchterungen, von Manipulationen. Das ist ein Grund, warum sich Betroffene lange nicht trauen, sich Hilfe zu holen.“ Heute kann sich wirklich niemand mehr in die Öffentlichkeit stellen und die Leugnung (Denial) über sexualisierte Gewalt aufrechterhalten.
Aber attackieren (Attack), wer Erfahrungen teilt, ohne objektive Beweise anzubringen, oder Menschen glaubt, die Erinnerungen oder Überzeugungen teilen, ohne Beweise dafür einzufordern oder auch nur dazu forscht, um vorliegende Hinweise zu untersuchen – das funktioniert noch heute. False Memory muss das auch machen, sonst würde die Argumentation aus der Opferrolle heraus (Reverse Victim and Offender) nicht funktionieren.

An diesem Punkt in der Serie wünscht man sich mehr Klarheit in all dem Nebelkerzenrauch.
Nachdem man nun vieles gehört hat, zu dem man selbst als nicht-wissenschaftliche_r Zuhörer_in kaum eine fundierte Meinung, ja, nicht einmal einen Einblick in die Arbeitsrealitäten haben kann – da ist man versucht, der Abgrenzung des Teams zu folgen. „Was es aber nicht gibt: Brutalste Folter und Morde, die unsichtbar im Untergrund passieren … “ – Ein Ausschluss, der bei einem Format mit journalistischem Anspruch irritiert. Etwas komplett ausschließen, das ist vollkommen unjournalistisch. Vielmehr ist es journalistisch, dort etwas zu finden, wo andere sagen, da sei nichts. Deshalb ein kleiner Realitätscheck: Guantánamo Bay, Colonia Dignidad, die Mafia, kalter Krieg – Zweifelsfrei gibt es Folter und Morde in Zusammenhängen, die dem Großteil der allgemeinen Bevölkerung verborgen sind. Das ist, was der Begriff „im Untergrund“ an dieser Stelle bedeutet.
„… und an die die Opfer jahrzehntelang keine Erinnerungen haben, weil ihre Persönlichkeiten zersplittert und programmiert sind.“
So ausgedrückt – ja. Kann ich zustimmen. Die „Zersplitterung“ einer Persönlichkeit ist nicht möglich, da die Persönlichkeit eines Menschen das Ergebnis seiner Interaktion und Kommunikation mit dessen Umwelt ist und kein fester Gegenstand, an dem mal hier, mal da was absplittern kann, wenn jemand draufschlägt. Dieses Bild von Persönlichkeit ist massiv überholt und führt zu falschen Annahmen über die Leistungsfähig- und Fertigkeiten der menschlichen Psyche und dem folgend ihre (neuro)biologischen Grundlagen.

Entsprechend redet heute kein wissenschaftlich fundiert arbeitender Mensch mehr von „verschütteten Erinnerungen, die in einer Therapie hervorgeholt werden“, sondern davon, wie ganz normale Prozesse der Reiz- und Informationsverarbeitung dafür sorgen, dass man sich sowohl banaler als auch ganz massiver Dinge teilweise oder auch ganz nicht (ich-)bewusst sein kann. „Sich der eigenen Erfahrungen (ich-)bewusst sein“ über Dinge oder (biografische) Erfahrungen ist etwas anderes, als „sich an Dinge erinnern“. Das eine kann erreicht werden mittels Datenauf- und -übernahme – das andere durch Erfahren bzw. erfahrungsbedingtes und kontextualisiertes Lernen.
Wenn mir jemand einredet, ich hätte Gewalt erlebt, kann ich dieses mir eingeredete Wissen jederzeit abrufen und wiedergeben.
Wenn ich Gewalt jedoch erfahren habe, gibt es bedingt dadurch, wie im Moment der Gewalterfahrung das Gehirn funktioniert, schwer vorhersehbare Grenzen der Reiz- und Informationsverarbeitung.[16] Das, was man im Nachhinein dann über die Erfahrung sagen kann, ist zwangsläufig lücken- und fehlerhaft und in manchen Fällen auch als ich-fremd erlebt. Die betroffenen Menschen erleben sich selbst und werden oft auch von anderen Menschen als „nach dem Ereignis nicht mehr die_rselbe“ wahrgenommen.
Ein Umstand, der relativ gut erforschte (Schutz-)Reaktionen der Betroffenen, aber auch ihrer Angehörigen fördern kann. Wie zum Beispiel Vermeidungsverhalten.

Im Fall der DIS kann man von extrem gut eingeübter traumabedingter Vermeidung (die durch Dissoziation ermöglicht und aufrechterhalten wird) sowohl vor sozialem Umfeld, als auch vor sich selbst ausgehen.[17] Wer sich selbst nicht umfassend mit einer oder mehreren traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang bringen kann, entwickelt ein Selbstbild, das damit einfach nichts zu tun hat und im gegebenen sozialen Alltag und Miteinander so angepasst wie möglich funktionieren kann, um diese Vermeidung bzw. das eigene Selbstbild nicht aufgeben zu müssen.
Die eigene Funktionsfähigkeit um jeden (auch langfristig schädigenden) Preis zu erhalten, ist in diesem Zusammenhang gesund, normal und ein zum Niederknien großartiges Ding, zu dem Menschen fähig sind. Alle Menschen. Nicht nur Überlebende oder Menschen in schweren Krisen.

Dissoziation ist ein natürliches Phänomen. Kein Mensch würde ohne durch den Tag kommen – übrigens der Grund, weshalb Amelie unter der Aufforderung, sich „immer auf jede noch so kleine Stimme im Kopf“ zu konzentrieren, so enorm gelitten hat, wie sie in der vierten Folge „Geteiltes Leid“ schildert. Es ist für das menschliche Gehirn biologisch überhaupt nicht vorgesehen, alles immer zu jedem Zeitpunkt bewusst und präsent im Denken zu haben. Wir brauchen nicht so zu tun, als wäre Dissoziation ein von windigen Therapeut_innen ausgedachtes Spezialfeature oder eine besondere Begabung von Opfern sexualisierter Gewalt, die sie zu etwas ganz Besonderem macht, nämlich einem Menschen mit DIS oder assoziierter dissoziativer Störung.

vom Besonderen zum Absurden – eine gefährliche Abkürzung

Diese „Besonderisierung“ (dieses Othering) von Menschen mit DIS bietet einen extrem isolierenden Nährboden für alle möglichen von mir so genannten „Multimythen“, die letztlich bis heute dafür sorgen, dass die Allgemeinheit entweder annimmt, diese Störung sei mit dem Leben nicht vereinbar, oder aber denkt: „DIS – ja ha Sybil, Split, Satanistische Elite, Quatschtherapeuten und Trauma-Opferbonus“ und entsprechend mit Betroffenen umgeht.

Zu den klassischen Multimythen gehört in meinen Augen die Erzählung von Medikamenten, die bei allen Anteilen unterschiedlich wirken. Anteile mit unterschiedlichen Augenfarben, extreme Fähigkeiten bei allen möglichen Anteilen gleich, zu 100 % komplett autonome Doppel-Dreifach-Vierfachleben und die „absichtlich gemachte DIS“, auch „künstliche DIS“ genannt in Abgrenzung zu „natürlicher DIS“.
Jede meiner Recherchen in den vergangenen 20 Jahren zu diesen und anderen Multimythen, von denen einige auch in den ersten Auflagen von Michaela Hubers Buch „Multiple Persönlichkeiten, Überlebende extremer Gewalt“ stehen, führten zu nichts. Keine Studien, nichtmal qualitative Befragungen, nur anekdotische Evidenz in den sozialen Medien und Veröffentlichungen von Betroffenen sowie eine praktisch quellenlose Beschreibung der Idee der „planvollen Spaltung“ von Gaby Breitenbach[18] habe ich bisher dazu gefunden – und das ist mir zu wenig.

Um diese kritische Haltung einzunehmen, brauche ich nicht zu negieren, dass die DIS eine valide und unterforschte Erkrankung ist, oder dass es für Täter_innen außerordentlich praktisch sein kann, es mit Menschen zu tun zu haben, die es gewohnt sind, Opfer zu sein und sich entsprechend leicht fügen oder sogar „aus freiem Willen“ für Gewalt zur Verfügung stellen.
Zu dieser kritischen Haltung komme ich, weil ich ein Mensch bin, wie andere Menschen mit einer anderen Diagnose auch. Wer heute in Epileptiker_innen noch jemanden mit direktem Draht zu G’tt sehen würde, würde zuverlässig vor dieser und ähnlichen längst überholten Fehlannahmen geschützt werden. Und zwar nicht nur von Professor Doktor_innen und den spezialisiertesten Fachärzt_innen, die es gibt, sondern auch von der Mehrheit der Menschen. Wer jedoch auch heute noch eine DIS-Diagnose bekommt, steht diesbezüglich praktisch allein auf weiter Flur. Wie allein, das wird in der vierten Folge des Podcasts gut illustriert.

Teil 4 – „Die Helfer_innen und die Hilfe“

Eine Diagnose ist etwas, das Beobachtungen von fachspezifisch geschulten Menschen zusammenfasst. Sie sehen etwas, erkennen etwas und gleichen ihre Beobachtungen ab.
Damit in Medizin und Psychologie Klarheit darüber besteht, welche Beobachtungen wie eingeordnet werden können und in jedem Land auf der Welt die gleiche Einordnung und Behandlung möglich ist, gibt es standardisierte Verzeichnisse. Diese Verzeichnisse sind das „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) und das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM).
Die World Health Organisation (WHO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat Aufgaben, deren Ergebnisse auf vielen Ebenen dazu führen sollen, dass überall auf der Welt das Recht jedes Menschen auf Gesundheit und medizinische Versorgung umgesetzt werden kann. Im Zuge dieser Aufgaben ist die WHO an der stetigen Aktualisierung des ICD beteiligt.

Eine Diagnose kommuniziert also eine Beschreibung des Bildes, das sich jemand von jemand anderem gemacht hat. Sie ist kein Messinstrument. Sie ist kein Werkzeug zur Bestätigung oder Bewertung individueller Lebenserfahrungen eines Menschen. Eine Diagnose kann nicht bestellt oder geliefert werden. Diagnostik hingegen kann beeinflusst werden, denn Menschen planen sie und führen sie durch.
Im Podcast „Geteiltes Leid“ geht man der Idee nach, dass Psychotherapeut_innen und Mediziner_innen von Verschwörungstheorien beeinflusst sind und deshalb nicht nur eine falsche Diagnose an schwer erkrankte Menschen vergeben, sondern diese Menschen auch noch so beeinflussen, dass diese die verschwörungsbedingten Überzeugungen ihrer Behandler_innen bestätigen. Ein Geschehen, das man ironischerweise als Rituelle Gewalt einordnen könnte.

The wheels on the bus go round and round and round and round

Beim Hören entsteht der Eindruck, die Beeinflussung durch den Verschwörungsglauben an satanistische Eliten wäre das Hauptproblem für falsche Behandlung und alleinige Grundlage für die Vergabe einer DIS-Diagnose. Würde man nicht daran glauben, dann würde man die Diagnose nicht vergeben und auch keine schädigende Behandlung machen.
Diese bis zum Schluss nicht falsifizierte Vorannahme der vierten und letzten Folge der Serie, wird deutlich im Gespräch zwischen der Sprecherin und Journalistin Olga Herschel, die in 5 Jahren an 3 verschiedenen Standpunkten als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, und ihrem Interviewpartner Stefan Röpke, der seit 22 Jahren Facharzt ist und an der Charité forscht.
Man kann sich aufgrund der Vorstellung seiner Person nicht erschließen, wie viele Patient_innen er pro Tag sieht, ob und wenn ja, wie er in Diagnostik und Behandlung eingebunden ist. Ja, nicht einmal, woran genau er in Bezug auf Traumafolgestörungen forscht. Sein Expertenprofil auf der Webseite der Charité zeigt lediglich, dass eines seiner größten Themen die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (BPS) ist.[19]

Die Diagnose der BPS hat viele Überschneidungsbereiche mit einer DIS-Diagnose. So können zum Beispiel auch Menschen mit BPS teils schwere dissoziative Symptome, Identitätsstörungen und suizidale Krisen haben. Suchterkrankungen und selbstverletzendes Verhalten unterschiedlicher Ausgestaltung sind keine Seltenheit in der Gruppe der Menschen mit dieser Störung, und viele von ihnen haben traumatische Erfahrungen in ihrer Biografie. Im Vordergrund steht jedoch häufig eine Affektregulationsstörung, die das soziale Miteinander mit anderen Menschen erheblich beeinflusst und zu wiederkehrenden Bindungskrisen durch Angst vor dem Verlassenwerden führt.[20]

Für mich erklärt sich mit diesem Hintergrundwissen zu Röpkes Expertise schnell, weshalb er noch nie eine DIS-Diagnose vergeben hat. Wer einen Hammer hat, sieht auch in einer Schraube einen Nagel und kriegt sie mit genug Kraft auch an die vorgesehene Stelle.
Ein verbreitetes Phänomen, das auch unter dem Stichwort „confirmation bias“ bekannt ist und nichts damit zu tun hat, ob man von einer Verschwörungserzählung überzeugt ist oder nicht.
Es ist eine natürliche Tendenz, sich selbst in dem zu versichern, was man kennt und entsprechend überwiegend den Fokus auf das zu legen, was man eindeutig erkennt. Man erkennt am sichersten, was man am häufigsten gesehen hat. Was man am häufigsten gesehen hat, hat man am häufigsten angesehen. Was man dabei alles nicht gesehen hat, hat man auch nie gesehen.

In einem Podcast, der zur Verantwortungsübernahme mahnt, muss man meiner Ansicht nach der Verantwortung nachkommen, diese Tendenz und die Folgen von selektiver Wahrnehmung auch im eigenen Projekt zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Das ist meiner Meinung nach nicht passiert.

der echte Teufelskreis

So verpasst das Podcast-Team im Abschnitt über die Dresdner Privatklinik „Waldschlösschen“, Amelies Behandlungserfahrung und die Aussagen von Martina Rudolf, der Leiterin der Klinik, das tatsächliche Hauptproblem – den für so manche Menschen mit DIS wahren Teufelskreis – zu erkennen: die ganz allgemein und für alle Menschen gleich unzureichende und entsprechend häufig auch mangelhafte psychotherapeutische, psychiatrische, medizinische, pädagogische und sozialarbeiterische Versorgung in Deutschland und sämtliche Konsequenzen für Patient_innen mit jedweder Diagnose daraus.

In diesem Abschnitt können wir anhand von Amelies Behandlungserfahrung sehr gut nachvollziehen, wie schädlich es ist, wenn eine ambulant gestellte Diagnose und die sich daraus ergebenden Behandlungsansätze im stationären Rahmen nicht umfassend überprüft, sondern offenbar einfach übernommen wird.
Zahlen kann ich für diese Praxis leider nicht anbringen, daher muss an dieser Stelle die anekdotische Evidenz ausreichen. Jeder, egal, ob psychisch oder physisch chronisch kranke Mensch, den ich kenne, hat zu einem oder mehreren Zeitpunkten im Leben eine Fehldiagnose in der Akte stehen gehabt, die noch mindestens eine weitere behandelnde Person ohne validierende Diagnostik einfach übernommen hat. Ein Grund dafür: „Husch husch – Zeit ist Geld.“ In Deutschland das typische Grundrauschen jedes medizinischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungsgeschehens.
Damit, dass jemand bestimmte Diagnosen stellen will, weil sie das eigene Weltbild bestätigen, wie im Podcast über die DIS und Rituelle Gewalt unterstellt, hat das nichts zu tun.

Am Ende des letzten Teils schrieb ich, dass man als Mensch, der diese Diagnose bekommen hat, allein auf weiter Flur ist. Und dass das ein Problem ist.
An Amelies Geschichte kann man sehr gut aufzeigen, inwiefern das so ist.
Da ist zum einen der Umstand, dass vor der DIS für die meisten Betroffenen viele andere Diagnosen, Klinikaufenthalte, Therapien und Hilfemaßnahmen kommen, die unterschiedlich hilfreich (heilend) oder zerstörerisch (verletzend) wirken und in jedem Fall mit dem Stigma und der Diskriminierung von psychischer Krankheit bzw. Behinderung einhergehen.
Viele Betroffene verlieren im Lauf ihrer „Psychokarriere“ nicht nur zeitweise ihre individuelle Freiheit, Würde und Selbstbestimmung (etwa durch Zwangsbehandlungen oder den Umstand, dass es gar nicht genug Einrichtungen mit passendem Behandlungskonzept gibt, sodass eine selbstbestimmte Wahl der Behandlungsart unmöglich ist), sondern auch den Kontakt zur eigenen Familie, den Anschluss an Schule, Arbeit und Freund_innen.
Je länger die Phase der psychischen Krankheit andauert, desto wahrscheinlicher ist eine solche Entwicklung. Und davor haben so gut wie alle Menschen Angst. Ob sie nun wissen, dass etwa 76 % der obdachlosen Menschen „auch psychisch krank sind“[21] oder nicht. Es ist absolut klar, dass, wer nicht gesund im Sinne von arbeitsmarktgerecht funktionstüchtig ist, ein echtes Problem hat und sich um Hilfe bemühen muss.
Ob welche da ist oder nicht. Und auch: Ob sie hilft oder nicht. Bevor man gar nichts macht und man für jemanden gehalten wird, die_r krank sein will, nehmen sehr viele Menschen auch Angebote an, die nicht für sie geeignet oder für Menschen mit ihrer Diagnose unerprobt sind. In so mancher Krisenphase ist „zu wenig oder nicht ganz richtig“ schnell mal „immerhin etwas und nicht ganz falsch“. Die Folgen solcher Kompromisse können verheerend sein und die Entscheidung darüber kann von niemandem in allen möglichen Konsequenzen vorhergesehen werden.

Eingegangen werden müssen diese Kompromisse dennoch. Für komplex traumatisierte Menschen mit mehreren assoziierten Erkrankungen gibt es de facto keine andere Wahl, denn „Traumatherapie“ ist kein geschützter Begriff. Als Psychotherapeut_in und Heilpraktiker_in für Psychotherapie kann man praktisch alles „Traumatherapie“ nennen, was dabei helfen soll, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Der Fort- und Weiterbildungsmarkt zur Thematik ist voll mit allen möglichen Akteur_innen, die viele verschiedene Methoden anbieten oder weiterentwickeln. Manche davon, wie zum Beispiel EMDR, sind umfassend erforscht, während anderen, wie der „(traumafokussierte) Familienaufstellung“, ganz klar ein Personenkult und damit verbunden eine esoterisch-autoritäre Weltanschauung zugrunde liegt.

Als Patient_in mit Traumafolgestörung ist eine umfassende Psychoedukation wichtig, um überhaupt zu verstehen, worum es bei der eigenen Erkrankung geht. Nur so gibt es eine Chance, Kompetenzen im Umgang damit zu entwickeln und sich vor Betrug und wirkungslosen Behandlungen zu schützen.
Auch um diesen ganz basalen Punkt der Aufklärung ist ein Abgleich mit der Realität wichtig. Man muss sich fragen: Wann und wozu erhalten Menschen eine Diagnose und wie wird sie ihnen erklärt? Sind Behandler_innen – egal ob sie medizinisch, psychiatrisch oder psychotherapeutisch arbeiten – immer in der Lage, ihre Patient_innen aufzuklären? Gibt es wirklich immer die Zeit und die Ruhe und die angemessenen Umstände, um sich auf jede_n einzelne_n Patient_in einzulassen? Auch die, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen? Die Leichte Sprache brauchen? Die gehörlos, taub oder taub-blind sind? Die temporär oder dauerhaft Probleme mit dem Gedächtnis haben? Die mental instabil oder sogar dekompensiert sind?

Gerade in Bezug auf Notfallbehandlungen können meiner Meinung nach die wenigsten Patient_innen davon ausgehen, eine Diagnose zu erhalten, die tatsächlich auch etwas mit ihnen zu tun hat. Viel eher werden hier schnelle und durchaus auch fachfremde Sichtdiagnosen gemacht und die Spezifizierung, wenn nötig auch Richtigstellung und Patient_innenaufklärung, den (weiter)behandelnden Kolleg_innen überlassen. Ob die Patient_innen einen Behandlungsplatz zur Weiterbehandlung haben oder nicht. Und ob die_r weiterbehandelnde Kolleg_in die Ressourcen dafür hat oder nicht.

Der hochproblematische „Doktor Google“ ist nicht der ständige Mitbehandler vieler Patient_innen geworden, weil diese hypochondrisch sind oder ihre Pathologie zelebrieren, sondern weil das Internet mit seinen massenhaften Informationen verfügbarer ist als ein_e kompetente_r Behandler_in mit ausreichend Zeit und angemessen spezifischem Wissen, um die Informationen, mit denen Patient_innen kommen, fachlich richtig einzuordnen.
Es ist die Folge eines strukturellen Problems im deutschen Gesundheitswesen, das alle Patient_innen und (Weiter)Behandler_innen gleich betrifft. Es sind jedoch marginalisierte Personengruppen ((darunter chronisch (psychisch) erkrankte Menschen)), die den größten Schaden davontragen. Denn sie sind es, die mit Diagnose A bei Behandler_in A sind, aber die Notaufnahme mit Diagnose B oder C oder D verlassen und damit zur Weiterbehandlung zu Behandler_in B müssen, weil Behandler_in A, Krankheit B, C oder D nicht behandeln kann. Es liegt an Behandler_in B, ob nun Krankheit A, B, C oder D behandelt wird und ob die_r Patient_in umfassend und für sie_ihn nachvollziehbar aufgeklärt werden kann.
Und ob Behandler_in B überhaupt weiter von der_dem Patient_in aufgesucht wird. Vielleicht ist die Praxis nicht barrierefrei. Vielleicht ist die Praxis zu weit weg. Vielleicht muss die Behandlung bei Behandler_in B anteilig selbst gezahlt werden. Vielleicht ist es Teil der Erkrankung, Termine nicht pünktlich wahrnehmen zu können oder sie gänzlich zu meiden, weil sie mit unerträglichen Inhalten konfrontieren könnten. Vielleicht ist eine Assistenz oder Betreuung notwendig für den Termin, das Budget der Fachleistungsstunden aber bereits ausgeschöpft. Oder Assistenz/Betreuung beeinflusst die_n Patient_in mit negativen Kommentaren oder anderem unangemessenem Verhalten.

Verschwörungsindoktrinierte Behandler_innen sind nicht der Grund für Patient_innen (und ihre Angehörigen), die Antworten in Selbsttests, windigen Artikeln oder laieninformierter Selbstdiagnose suchen – das Gesundheits- und Abrechnungssystem besorgt das schon von ganz allein und fördert es zuweilen sogar noch mit unmoderierten Selbsthilfegruppen, die lediglich eine Selbstauskunft erfordern oder dem sozialen Notausgang „Sie sind die_r Experte_in für sich selbst“.
Patient_innen jeder wie auch immer gelagerten Erkrankung sollen und müssen es am Ende immer selbst am besten wissen. Auch dann, wenn sie das gar nicht können, weil ihnen das Fachwissen nicht angemessen zugänglich gemacht wird oder sie initial fehldiagnostiziert wurden, was sie als Patient_innen ohne die entsprechenden Kompetenzen überhaupt nicht wissen oder an sich selbst auch nicht in allen Fällen überprüfen können. Sie sind auf ihre Behandler_innen und deren Behandlung, aber auch ihre Behandlungsempfehlung angewiesen.

Bei einer Erkrankung wie der DIS bewegt man sich im Fachbereich der dissoziativen Störungen und der Traumafolgestörungen. Das macht die DIS jedoch nicht zu einem juristischen Beweis oder wissenschaftlich eindeutigen Nachweis für Gewaltbetroffenheit und schon gar nicht zu einem Beweis für eine bestimmte Form von Gewaltbetroffenheit.

Ein Trauma ist kein Ereignis. Es ist die Folge eines oder mehrerer Ereignisse.
Eine Traumafolgestörung entsteht durch die unzureichende Verarbeitung der Folgen eines oder mehrerer Ereignisse. Aufgrund der unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Einschränkung und Veränderung der Reiz- und Informationsverarbeitung während eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse, ist es unmöglich, spezifischen Gewalttaten spezifische Traumafolgestörungen zuzuordnen.
Man kann jedoch in Wahrscheinlichkeiten denken. Wenn beispielsweise ein Berufssoldat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach einem Einsatz entwickelt und diese Erkrankung bei Berufssoldaten allgemein als „Berufskrankheit“ eingeordnet wird, dann ist es zwar nicht wissenschaftlich oder juristisch gesichert, dass der Einsatz eines Berufssoldaten zu dessen PTBS geführt hat – als medizinische_r oder psychologische_r Behandler_in die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch als hoch einzuschätzen, wird dadurch nicht automatisch falsch. Eine Überprüfung im zur Verfügung stehenden Rahmen (also das Gespräch mit jenem Soldaten und wenn vorliegend dessen Krankenakte) geschieht im Zusammenhang mit der Diagnostik.

Diese für viele Menschen so komplizierten Feinheiten, die zu verstehen und nachzuvollziehen so viel Wissen um wissenschaftliches Denken und Ordnen, Kategorisieren und Bewerten erfordert, sind die Teile, die dem Podcast „Geteiltes Leid“ fehlen, um die Situation von Amelie im Waldschlösschen, aber auch von Leonie und Thomas, dem Sohn von Herrn Bartel, dessen Geschichte in der dritten Folge erzählt wird, wirklich umfassend zu verstehen. Vielleicht hätte Thomas etwas davon erzählt, doch wir werden das nie erfahren, denn das Podcast-Team hat nur dem nach eigener Aussage fälschlicherweise des „knallharten Missbrauchs“ beschuldigten Vater ermöglicht, sich persönlich zu äußern.

Amelie hingegen kann sich äußern. Und was sie über die Klinik „Waldschlösschen“ in Dresden sagt, stimmt: Jede_r in der DIS-Bubble kennt diese Klinik.
Warum? Weil sie, soweit ich informiert bin, die einzige Klinik in Deutschland ist, die eine eigene Station für Frauen mit DIS hat und nicht nur allgemein „auch dissoziative Störungen und Traumafolgestörungen“ behandelt. Die Konkurrenz ist rar. Die Wartezeit unfassbar lang. Für Kassenpatient_innen nur mit enormem Aufwand überhaupt finanzierbar.

Das Hilfeversprechen wirkt nicht nur auf Patient_innen, sondern auch Behandler_innen. Besonders, weil praktisch allen Behandler_innen von Menschen mit komplexem Krankheitsbild klar ist, dass die Krankenkasse aufhört, die Therapie zu bezahlen, bevor die Krankheit geheilt bzw. das Leiden erheblich verringert oder weg ist. Eine Intervalltherapie in einem teil- oder vollstationären Rahmen wird daher von ambulanten Psychotherapeut_innen häufig als begleitende oder ersetzende Behandlung angestrebt bzw. der ambulanten Behandlung hinzugefügt, um ihrem Arbeitsauftrag weitestgehend nah zu kommen.
Eine Überprüfung der Behandlungsqualität von an Patient_innen empfohlenen Kliniken ist wünschenswert, aber auch nur im bestimmten Rahmen für Behandler_innen leistbar.
Die Patient_innen sollen und müssen selbst entscheiden. Leider ganz egal, ob sie das auch können oder nicht.

Die meisten können – egal, ob es bei ihrer Behandlung um eine DIS geht oder nicht – erst vor Ort und nach einer gewissen Behandlungszeit wissen, ob die Behandlung wirkt oder nicht und ob sie ihnen hilft oder nicht. Und wenn sie merken, dass sie Quatsch mitmachen sollen und mit ihnen Dinge passieren, die ihnen falsch oder verfälschend erscheinen, dann haben sie nicht nur ein Problem, sondern gleich einen ganzen Haufen.
Denn an wen können sie sich in so einem Fall wenden? Wer kann ihnen ganz sicher sagen, was ihnen wirklich hilft und was nicht? Worauf sollen und worauf können sie sich verlassen? Wie erfolgversprechend ist das Kontaktieren des Qualitätsmanagements? Wie viel von ihrer Würde und ihrer Privatsphäre müssen sie opfern, um ihre Lage klarzumachen? Wer muss alles involviert werden, um eine Klinik erfolgreich wegen Falschbehandlung oder Betrug, Versorgungsmängeln oder der Desinformation von Patient_innen dranzukriegen? Wer glaubt ihnen? Wer nimmt sie ernst, obwohl sie psychisch krank sind?

Und überhaupt – was ist denn danach? Wo ist die Heilbehandlung denn realistisch noch zu erwarten, wenn die spezielle Spezialklinik nicht in Frage kommt? Wo gehen von Helfer_innen verletzte Menschen hin, wenn sie Hilfe brauchen?

Die wenigsten Patient_innen in Amelies damaliger Lage sind Therapeut_innen hörig, die ihnen Verschwörungsstuss einreden. Die meisten kämpfen um ihr Leben und tun, was nötig ist: Mitmachen, bis ihnen kein (angenommener oder realer) Schaden mehr entsteht, wenn sie damit aufhören. Das ist eine Dynamik, die nicht speziell für das Waldschlösschen steht, aber im Podcast wird es so impliziert.

Außer Frage steht für mich, dass man über Handouts und andere Inhalte, die in einer Klinik vermittelt werden, auch kritisch sprechen können muss. Es ist äußerst problematisch, dass Patient_innen kein fundiertes Material zum Umgang mit ihrer Symptomatik gegeben wird. Das ist in meinen Augen ein erheblicher Mangel und bedarf mehr Erklärung als das, was wir dazu, gefiltert von der Podcast-Redaktion, von der Klinikleiterin erfahren.
Und es ist kaum zu fassen, dass Kliniken die Behandlung von Patient_innen deshalb finanziert bekommen, weil sie der Krankenkasse und anderen Kostenträgern gewissermaßen garantieren, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft oder nach höchstem fachlichen Standard zu behandeln, sich dies aber nicht durchgehend in Einzel- oder Gruppentherapien, der Unterbringung oder pflegerischen Versorgung zeigt. Würde das vorliegen, wäre dies in meinen Augen Betrug und ein Skandal – egal, ob es dabei um eine Klinik mit Schwerpunkt auf DIS geht oder nicht.
Eine Einordnung, die diesem Podcast nicht gelingt.

Und noch mehr Einordnungen passieren in diesem Podcast nicht.
Zum Beispiel die um den Komplex darum, ob es möglich ist, dass die WHO von einer nicht näher benannten Gruppe, die sich nicht im Rahmen der Satzung der WHO bewegte, getäuscht wurde, damit sie die Diagnose der DIS im ICD platziert und infolgedessen Rituelle Gewalt (als von satanistischen Eliten, die unbemerkt foltern und morden, ausgehend) als reales Geschehen anerkennt.

Für mich als Laien klingt genau das nach einem Element einer Verschwörungstheorie. Deshalb fütterte ich den VerschwörungsChecker[22] mit der Geschichte. Hier ist das Ergebnis:

Screenshot, das Ergebnis ist nahe an

Normalerweise bekomme ich ein besseres Bild von Zusammenhängen, wenn mir klar ist, was Quatsch ist und was nicht. Bei diesem Podcast hilft es mir nicht sonderlich, die einzelnen Abschnitte und Erzählungen so zu ordnen. Ich muss an die Bemerkung von Aurelia Bazekovic, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, zu diesem Podcast denken: „Lost in Amalgam“.[23]

Das Podcast-Team vermittelt, die WHO sei unfähig zur Analyse, Verifizierung und Falsifizierung wissenschaftlicher Daten, und wer sich auf ihre Veröffentlichung, also den ICD-11-Katalog, beziehe, würde Falschbehandlung gewissermaßen aus Überzeugung durchführen. Was diese Unterstellung für sämtliche anderen Diagnosen im ICD und entsprechend für Behandler_innen jeglicher Professionen bedeuten würde, bleibt den Zuhörenden und ihrer Vorstellung überlassen. Meiner Meinung nach ein grober Fehler und eine ungeheuerliche Unterstellung gegenüber allen Behandler_innen weltweit, da die WHO global agiert.

So einen großen Bezugspunkt medizinischen Konsenses anzugreifen und frühere Fehlannahmen wie die, dass auch Homosexualität lange von der WHO als Krankheit verstanden wurde, heranzuziehen, führt dazu, dass Patient_innen und Behandler_innen verunsichert werden. Wer unsicher ist, gibt bestimmte Grundhaltungen tendenziell schneller auf. Die Grundhaltung, um die es hier geht, ist die, wem man was unter welchen Bedingungen und warum glaubt.

Die Verpflichtung zu helfen

Eine Gesellschaft, die Gewalt an Menschen in unterschiedlichsten Formen für real, die Opfer von Gewalt für Individuen mit ganz eigenen Reaktionsfähig- und -fertigkeiten hält und die zwischenmenschliche Fürsorge auch in Form von medizinischer Behandlung für ein Grundrecht – so eine Gesellschaft kommt wohl kaum zu dem Schluss, zu sagen: „Wir könnten uns über Ausmaß und Gestaltung der Ursachen irren, deshalb glauben wir niemanden und haben entsprechend auch keine Grundlage zu helfen, wenn nötig.“
Letztlich ist doch aber das ein Kernstück des hippokratischen Eides und dessen Pendants in anderen helfenden Berufen: die Verpflichtung, zu helfen.

Aus dieser Verpflichtung ergeben sich unzählig viele Fragen und Ansätze darüber, was Hilfe eigentlich ist. Wer wie helfen kann und wer nicht. Was genau wem wann und warum hilft und was nicht.
Die Bundesregierung hat sich mit der Einrichtung des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM, derzeit besetzt von Kerstin Claus) und der Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) für einen pragmatischen Weg der Klärung und des Erkenntnisgewinns entschieden. Die staatliche Anerkennung der Realität aller Formen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie ihrer individuellen Folgen für die Betroffenen ist damit implizit erfolgt. Ein unvergleichlicher Meilenstein.

Die Anerkennung von offenen Fragen zum Themenkomplex „sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ und bisher wenig oder nur unzureichend beantworteten Fragen ist damit jedoch auch passiert. Daher wurden eindeutige Aufgaben und Ziele formuliert.
Die UKASK soll:

  • […] Tatsachen offenlegen, Verantwortlichkeiten identifizieren und Wege zur Anerkennung des Unrechts aufzeigen.
  • Sie soll einen geeigneten Rahmen bieten, um Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend sowie Zeitzeug*innen anzuhören und somit die Möglichkeit schaffen, auch verjährtes Unrecht mitzuteilen.
  • Daraus sollen Schlüsse zur besseren Versorgung heute erwachsener Betroffener sowie zur Prävention gezogen werden.
  • Sie soll Wege der Anerkennung des Unrechts und Leids durch Politik und Gesellschaft aufzeigen, sowie modellhaft Eckpunkte der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch entwickeln und empfehlen.
  • Sie soll institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitungsinitiativen anregen, Forschungsfragen zu relevanten Themen der Aufarbeitung identifizieren, Forschungsaufträge vergeben oder deren Vergabe anregen.
  • Sie soll regelmäßig öffentlich über ihre Tätigkeiten und Erkenntnisse informieren[24]

Die UKASK generell, aber speziell auch Silke Gahleitner, deren Thema Rituelle Gewalt in dem Zusammenhang ist, hat nicht den Auftrag, Vorfälle zu verfolgen, bei denen Ärzt_innen von Journalist_innen unterstellt wird, sie würden ihren Patient_innen die eigene Weltanschauung einreden und in der Folge falsch behandeln. Also Fälle wie jenem in der Schweiz rund um den Arzt Matthias Kollmann, der im Podcast unvollständig und damit desinformierend erwähnt wird.
Die UKASK soll sich mit Tatsachen befassen. Mediale Berichterstattung, die nicht primär den Erkenntnisgewinn um Rituelle Gewalt, sondern eine Debatte um die Frage von möglicher Falschbehandlung psychisch kranker Menschen zum Ziel hat, ist für die Arbeit der UKASK zum Thema Rituelle Gewalt nicht brauchbar. Gahleitners Distanzierung ist entsprechend überhaupt nicht „bemerkenswert“, sondern vielmehr logische Folge ihres Auftrages.

Bemerkenswert für Hörer_innen sollte meiner Ansicht nach sein, wie systematisch die Erzählung des Podcastes versucht, das Bild einer passiven UBSKM Kerstin Claus zu zeichnen, die dem Diktat von Betroffenenberichten unterworfen sei und deshalb dem Familienministerium nicht einfach vorgeben könne, dass Rituelle Gewalt durch Satanist_innen wahrscheinlich eine Verschwörungserzählung ist, denn wissenschaftlich lässt sie sich nicht belegen. Als wäre, dem Familienministerium zu sagen, was es machen soll, die Aufgabe der UBSKM. Was sie nicht ist. [25]

Auch dieses Interview mit einer Vertreterin einer für Betroffene von sexualisierter Gewalt wichtigen Institution bzw. Instanz bringt diesen Podcast inhaltlich überhaupt nicht weiter und wirkt seinem eigenen Anspruch als demokratiestärkend entgegen. Denn auch hier wird am Vertrauen in Institutionen, auf die man sich im Bedarfsfall verlassen können will, manipuliert – und wieder wird Unsicherheit bei den Zuhörer_innen in Kauf genommen.

Diese Unsicherheit wird zur Rampe in die letzten Passagen dieses Podcasts.
Da wird der Themenmixer nochmal ganz tief in das Sujet der Podcastreihe geschoben und abgedrückt, sodass man als Hörer_in nur allzu bereit ist, unkritisch hinzunehmen, was nachkommend noch erwähnt wird. Zum Beispiel die unbelegbare Behauptung, die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber habe die Verschwörungserzählung über Satanist_innen nach Deutschland gebracht. Oder die Aussage, ein nicht näher benanntes oder definiertes „Rituelle Gewalt Netzwerk“ hätte durch sein Wirken erheblich dazu beigetragen, dass QAnon und andere Verschwörungserzählungen in Deutschland überhaupt greifen konnten.

Komplett erwartbar ist das Ende von „Geteiltes Leid“ eines, das die ganz großen Gefühle wecken soll. Allem voran: Mitleid. Obwohl allgemein bekannt ist, dass man damit niemandem hilft.
Ein Impuls, die Zivilgesellschaft dahingehend zu aktivieren, die eigene Haltung, die eigene Meinung und Bewertung des Themas kritisch prüfend vorzunehmen – der wird nur in eine Richtung gesetzt. Und zwar gegen Opfer sexualisierter Gewalt und ihre Helfer_innen.

Mein Fazit

Ich halte diesen Podcast für eine verpasste Möglichkeit, ein relevantes Thema umfassend und für die Zivilgesellschaft verständlich aufzubereiten.
Mit Protagonist_innen wie Amelie und der Zeit, die das Podcast-Team in die Recherche investieren konnte, hätte ein Podcast entstehen können, der ein echtes Problem ganz grundsätzlich aufzeigt und in seinen Auswirkungen allgemein nachvollziehbar macht.

Stattdessen blieb man in dem bereits als solchem bekannten Strohmannargument, nämlich „Therapeut_innen/Helfer_innen glauben an Satanisten, die Kinder quälen und nennen das Rituelle Gewalt, um überall Opferbonus abzugreifen und schaden allen damit“, verfangen und vermischte alle Aspekte, die es berührt. Dabei ist eine ableistische Abwertung behinderter und (chronisch) kranker Menschen und umfassende Desinformation passiert.

Meiner Meinung nach hat das Podcast-Team von Undone mit „Geteiltes Leid“ eine Geschichte erzählt, die dazu dient, Opfern sexualisierter Gewalt und (chronisch) psychisch kranken Menschen die Glaubwürdigkeit und die Legitimität ihrer Selbstbestimmung in Frage zu stellen. Aber auch, um Behandler_innen und Helfer_innen verschiedener Professionen zu diskreditieren und allgemeines Misstrauen in Institutionen mit Versorgungs- und wissenschaftlichem Auftrag zu schüren.

Die Reihe begann mit etwas, das Laien überhaupt nicht beurteilen können und auch nicht können müssen, nämlich allen Fragen rund um die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung. Es entsteht der Eindruck, dass zum einen nur verschwörungsgläubige Therapeut_innen Falschdiagnosen und unwirksame bzw. schädigende Behandlungen machen, und zum anderen, dass die DIS deshalb keine valide Diagnose sei. Ein Eindruck, der in diesem Podcast zu keinem Zeitpunkt berichtigt wird.

Ebenfalls fehlt eine Angabe dazu, wie viele Psychotherapeut_innen der Glaube an Verschwörungstheorien allgemein und den an satanistische Eliten, die Kinder quälen, im Speziellen überhaupt beträfe. Ohne diese Informationen als faktischen Bezugspunkt, der Hörer_innen ermöglichen würde, eine Vorstellung vom Umfang des Problems zu entwickeln, wurde dann noch eingebracht, verschwörungsgläubige Therapeut_innen/Helfer_innen würden Institutionen unterwandern und damit der ganzen Welt schaden. Immerhin hätten sie es mit ihrer Erzählung bis in die WHO geschafft. Ein weiterer verstörender, allgemein verunsichernder Blick auf mögliche Mängel in Strukturen und Institutionen, die zweifellos real bestehen können, im Gesamten jedoch für die Mehrheit der Menschen nicht oder weit weniger schädlich oder gefährlich sind als in „Geteiltes Leid“ impliziert.

Inmitten dieses zuweilen nur schwer zu entwirrenden Gemischs fanden sich alte Bekannte der False-Memory-Rhetorik: die emotionalisierenden Schlagworte „satanic panic“, „memory wars“ und „Scheinerinnerungen“. Von denen nur einer – und zwar von einer Betroffenen – im richtigen Zusammenhang verwendet wurde: Amelie, der ich für ihren großen Mut und ihre Offenheit an dieser Stelle meinen tiefen Respekt und Dank ausspreche.

Meiner Ansicht nach führt die permanente Vermischung von Annahmen und unvollständig vermittelten Tatsachen dazu, dass die Hörer_innen, die nicht sonderlich tief oder lange mit der Thematik befasst sind, am Ende kaum mehr klar und eindeutig einordnen können, was sie da eigentlich für eine Geschichte gehört haben. Und das bei einem Podcast, der uns doch „investigativ recherchiert“ zeigen wollte, dass es ein krasses Problem gibt. Was von den vielen aufgebrachten Problemen nun genau das Problem, in welchem Ausmaß, für wen eigentlich genau ist, das wird nicht klar.

Das Problem für mich an dieser Podcastserie: Eine Er_Lebensrealität wie meine ist für Journalisten wie von diesem Podcast-Team von „Geteiltes Leid“ nicht mehr als eine krasse Story darüber, was so manche Leute für real halten. Für Showleute wie Jan Böhmermann nichts weiter als eine Witzvorlage. Für False Memory Deutschland e. V. ein traditionell benutztes Ziel in einem längst verlorenen Kampf und ein stets und ständig zu komplexer Fall für Wissenschaft und anders fachlich orientierte Hilfelandschaft.
An uns, den Menschen, die mit der Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung leben, haben alle ein Ding. Ein Thema, einen Konflikt, ein komplett eigenes, zuweilen fachliches, doch immer auch eigennütziges Interesse.

Unsere Stimmen fehlen in dieser Auseinandersetzung.

Text als PDF

Quellen:

[1] Rituelle Gewalt und Scheinerinnerungen: Wenn die Therapie destabilisiert | Y-Kollektiv https://youtu.be/o8AD5hz3s0Q?si=OcCSVPadRXkhC9Iw
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirbt-400121.html
[3] https://www.podcast.de/podcast-news/verschwoerung-und-missbrauch-khesrau-behroz-im-interview-zum-neuen-undone-podcast-geteiltes-leid
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Strohmann-Argument
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Satanic_panic
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/McMartin_preschool_trial
[7] https://gizmodo.com/when-geraldo-rivera-took-on-satanism-and-a-very-confus-5829171
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Moral_panic
[9] http://dissoc.de/02-05.html
[10] Dallam, S. J. (2002). Crisis or Creation: A systematic examination of false memory claims. Journal of Child Sexual Abuse,9 (3/4), 9-36.
[11] Dalenberg, Constance & Brand, Bethany & Gleaves, David & Dorahy, Martin & Loewenstein, Richard & Cardeña, Etzel & Frewen, Paul & Carlson, Eve & Spiegel, David. (2012) Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Psychological bulletin. 138.550-88.10.1037/a0027447.
[12] FAQ der Ärztekammer zu Fragen über die Meldung eines Arztes oder einer Ärztin und umfassender Artikel von ProPsychotherapie e. V. mit Link zu einer Liste von Anlaufstellen zur Beratung und Klärung von Fällen vor einer Meldung oder Anzeige
[13] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/PMKreligioes/PMKreligioes_node.html
[14] https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/
[15] https://www.juraforum.de/lexikon/satire
[16] https://www.scinexx.de/news/biowissen/gefahr-gehirn-ist-sofort-in-alarmbereitschaft/
[17] Denial and Dissociation: 10 things to consider https://www.youtube.com/watch?v=z4-y8SFpW-Y
[18] Gaby Breitenbach, „Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt, Ware Mensch – die planvolle Spaltung der Persönlichkeit“, erschienen bei Asanger, 2012
[19] https://forschungsdatenbank.charite.de/experts/expertenprofil.xhtml?id=35605da015d548ec9d1a1103398b0d31&type=ps&lang=de
[20] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/krankheitsbild/
[21] https://pmc-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/articles/PMC8423293/?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq
[22] https://verschwoerungschecker.org
[23] https://www.sueddeutsche.de/medien/geteiltes-leid-podcast-undone-kritik-lux.CNtKhRb3gB3Nkm6NihKz1X?reduced=true
[24] https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/beauftragung/
[25] https://beauftragte-missbrauch.de/ueber-uns/aufgaben-und-aktivitaeten

weites Feld

„Stressmagen“ Das Wort poltert in meinem Kopfmund herum, als ich die Praxis meiner Hausärztin verlasse. Ich habe schon wieder eine Magenschleimhautentzündung, der Stress ist schuld. Und das Ibuprofen, obwohl ich es gar nicht mehr täglich und auch schon lange nicht mehr chronisch überdosiert nehme.
Mein Schmerzproblem bleibt. „Das ist ein weites Feld“, sagt meine Hausärztin, „Das ist zu unkonkret“ mein Partner. Das stresst mich, denn es fühlt sich an, als läge dieses weite, unkonkrete Feld zwischen uns. Als müsse ich akzeptieren, dass es ist, wie es ist und nie anders sein wird.

Seit einem halben Jahr habe ich die Webseite einer Schmerzambulanz in den Lesezeichen meines Browsers und genauso lange demotiviere ich mich selbst, mich dort vorzustellen.
Sehr viele Gewaltopfer leben mit chronischen Schmerzen; sehr viele Menschen mit Uterus durchleben die zyklischen hormonellen Veränderungen in ihrem Körper mit Schmerzphänomen; Stress ist ein Gift, dem viel zu viele Menschen jeden Tag über lange Zeit ihres Lebens ausgesetzt werden – m.eine (Er.)Lösung zu finden, wird sich in einem Aufwendigkeitsbereich bewegen, der nicht zu rechtfertigen ist. Ich bin in Traumatherapie, möchte meine Möglichkeiten Kinder zu gebären nicht verlieren und lebe nicht in einer Welt, in der ich irgendetwas ohne Stress machen kann.

Am nächsten Tag ziehe ich meine Bahnen im neuen Schwimmbad. Mein Magen tut weh, meine Oberschenkelknochen, meine Hüften, der untere Rücken tun weh, meine Muskulatur fühlt sich an, als versuche sie, sich von meiner Wirbelsäule abzulösen. Ich kämpfe mich ins High, werde warm und könnte heulen vor Selbstmitleid. Was ist das für eine beschissene Gesamtscheiße. Warum bin ich immer noch so trapped in Schmerz. Warum hört es nicht endlich auf.
Nach einer Stunde ist mir egal, dass mir alles weh tut. Alles ist wattiert, summt, ist lebendig und beweglich. Ich trinke einen Kaffee im Auto und höre dem frühen Vogelzwitschern zu. Mein Tag ist wieder ziemlich voll. Mit schönem, gewollten, mit sehr frei gewählten Projekten und Arbeiten. Lieben Kontakten, spannenden Themen, schaffbaren Aufgaben. Und keine 2 Millimeter dahinter eine grenzenlose Qual, die so diffus ist, so unkonkret, so viel NICHTS.

Jetzt versuchen wir ein anderes Schmerzmittel. Eine am Tag, immer um 10.
Es kommt mir vor, als würde ich eine Lüge schlucken, weil mir klar ist, dass mein Schmerz auch etwas mit Erinnerung zu tun hat. Aber wie genau, weiß ich nicht.
Auch das ist ein weites Feld.

Freeze, Fight, Flight … and then fawn on

Mir ist ein Ende eingefallen. Ob es das Ende eines Males war, keine Ahnung. Sowieso irrelevant, eigentlich. Vielleicht.

Es ist ein Danach und das ist das Besondere. Kein Mittendrin oder Irgendwo, ein direktes Hinterher, dessen Schlimmheit ein diffuses, subtiles Irgendwas ist. Der Blick von oben auf den harten Tüll am Bund der hellen Socken, dessen Muster wie Sonnenstrahlen vom Knöchel abstehen. Die kugelige Plastikdose mit Schraubverschluss, in der dragierte Kaugummifrüchte liegen. Die Erlaubnis, sich welche zu nehmen. Das Danke. Die schwere Hand, die meinen Schädel in sich zerquetschen könnte, aber nur zweimal draufpatscht, wie auf die Flanke eines Hundes. Das Liebsein. Während der Kaugummi im Kopf kracht. Während seine Säure auf offene Stellen trifft. Während sich der Geschmack der Gewalt mit dem Geschmack der Süßigkeit vermischt. Während die Welt in ihren Angeln schwankt. Kein Weinen, kein Ausspucken, kein „Kann ich jetzt gehen?“ Stattdessen dem Täter in die Schuhe helfen, eine Schleife binden und die Jacke holen. Die Tür aufhalten und lächeln. Lächeln, über seine Bemerkungen kichern, den zweiten Kaugummi in den Mund stecken, lächeln, lächeln, lächeln

Fawning ist noch nicht oft Thema als traumareaktives bzw. gewaltreaktives Verhalten. Dieses eine spezielle Liebsein. Das sich kümmern. Nicht mucken, mitmachen. Immer verfügbar sein. Keine Grenzen haben, alles hinnehmen, alles aufnehmen. Alles tragen. Vor allem die Verantwortung, die sonst niemand trägt. Das Mitdenken. Die Hilfs_Bereitschaft, die Hilfe_Anforderungen im Keim erstickt.
Es ist ein Selbst_Schutzverhalten. Es ermöglicht ein Sicherheitsgefühl durch (vermeintlich) überschaubare Selbstwirksamkeit. Vermittelt das Gefühl (wieder) etwas unter zu Kontrolle zu haben oder haben zu können, wenn man nur an alles denkt.
Manche Kinder verbringen die Hälfte ihres Alltages in Misshandlungsfamilien mit dem Beschwichtigen, dem Versorgen, dem Helfen … der Fürsorge ihrer Eltern, damit sie sich nicht oder wenigstens weniger um die eigene Sicherheit sorgen müssen. Während sie selbst nicht (genug) von ihnen versorgt werden.

Wenn man als Mädchen eingeordnet dauernd lächelt, wird man belohnt. Mit Nichtangriff. Was nicht das Gleiche ist wie Nichtübergriff.
Wenn man als Mädchen eingeordnet immer lieb hilft, wird man belohnt. Mit Zugang. Was nicht das Gleiche ist wie Teilhabe.
Fawning ist die Strategie, in die traditionell Mädchen hineinerzogen werden, um sie zu schützen, weil sie ebenso traditionell nicht ermächtigt werden und also ohne jedes eigene Zutun geschützt sind.
Jungen, die immer lieb sind; die immer helfen, die immer da sind; werden in diesem Verhalten oft nicht als schutzsuchend erkannt, weil sie häufig schon nicht als schutzbedürftig erkannt werden. Denn Jungen sind ja keine Mädchen. Jungen, die helfen, sind einfach nett. Manchmal auch viel zu nett für diese Welt.

In meiner Erinnerung von diesem Ende geht es also auch ums Überleben. Und trotzdem beschäftigt mich seitdem das Gefühl des Mitgemachthabens. Weil es so kooperativ wirkt. So ver_bindend.

Ich weiß, dass ich daraus kein Einverständnis ableiten kann. Keine Zustimmung. Und erst recht keinen Willen oder Wunsch.

Aber. Es ist auch nicht die Abwehr, die ich selbst, hier und heute, empfinde.

Autismus, Trauma, Kommunikation #9

Gestern war #AutisticPrideDay und vorgestern hatten wir eine Therapiesitzung.
In mir hallte nach, dass die Therapeutin sagte, sie hätte sich ganz fest vorgenommen immer mitzudenken, dass wir eine autistische Jugendliche waren. Damit im Hinterkopf schrieb ich gestern in einem (hier von Schreibfehlern bereinigten) Thread (Link zum Thread) bei Twitter:

„Kurz nach der Autismus-Diagnose haben wir verstanden, dass unsere Wahrnehmung von sensorischen Eindrücken immer wieder zu Traumatisierungen geführt hat, die niemand sah, verstand, nachvollziehen konnte und die bis heute kaum besprechbar sind – außer mit anderen Autist_innen.
Wie es ist, immer Angst haben zu müssen, dass man von einem Geräusch zerfetzt, von einem Geruch praktisch bewusstlos geschlagen, von Farben blind geblendet wird, weil man nie weiß, wann wie wo es passiert und wie schlimm auf dieser Skala von „Hm ok“ bis „sich dem Tod nah fühlen“ es wird, das verstehen ansonsten nur noch Leute, die chronisch krank oder chronisch misshandelt wurden wirklich richtig, als die Belastung, die Verwundung, die es darstellt.
Gestern – 6 Jahre nach der Autismus-Diagnose und 19 Jahre nach der DIS-Diagnose – habe ich begriffen, dass ich ein autistisches Kind war, das Gewalt erlebt hat, UND eine Umwelt, die – egal wie lieb und traumasensibel! – nicht nicht traumatisierend hat sein können.“

Ich erinnerte mich an die Krise im Herbst/Winter 2015, die von dieser Erkenntnis ausgelöst worden war. Von der Ent_Täuschung, dessen was unserem Ausstieg und auch einem Großteil der Therapie- und Lebensmotivation zugrunde lag: Die Idee, es gäbe einen Ort des Grauens außerhalb von uns, den wir nur verlassen müssten, um ein lebenswertes, unbelastetes Leben führen zu können.

Die Idee, wir müssten im Grunde nur unser Verhalten ändern – unsere Kommunikation verbessern, unsere Therapie besser machen – um unsere Traumatisierungen abzuarbeiten, die uns dann weder weiter belasten noch uns je wieder passieren.
Die Idee, unsere Belastung wäre etwas, das uns mal passiert ist, aber heute nicht mehr.

Obendrauf kam damals noch ein Gefühl des ungesehen und betrogen worden seins. Von Therapeut_innen, die uns oft und auch erfolgreich (und in ihrem Kontext auch richtig) vermittelt haben, dass wir keine Schuld haben. Dass aus uns heraus nichts kommt, was die Belastung, die Traumatisierung „gemacht hat“, sondern aus dem Verhalten der Täter_innen und manchmal auch einfach ungünstige Zufälle.

Ich dachte damals über Suizid nach, weil ich die Traumawahrheiten bestätigt gefühlt habe, die mir gegenüber oft als blanker Unsinn abgetan wurden, selbst wenn man sich uns achtsam, traumasensibel und fürsorglich gewidmet hat: „Es hört nie auf.“ und „Die Menschen, die Welt und mein eigenes am Leben sein, sind mir feindlich gesonnen.“

Ich habe mich damals nicht bereit gefühlt für einen Kampf um mich, der beinhaltet, nicht nur gegen altes und dissoziiertes vorzugehen, sondern irgendwie auch gegen mich selbst, obwohl mir zu dem Zeitpunkt schon völlig klar war, dass das überhaupt nicht geht. Sensorische Probleme sind keine Innens mit gegensätzlicher Meinung oder eine unwillkürliche Fight-Flight-Freeze-Reaktion – sie sind das Ergebnis von neurodiverser Verkabelung. An sich sind sie nicht einmal Probleme, sondern schlicht, das was in diesem Körper, mit diesem Gehirn, in dieser Lebensumgebung nun einmal so ist. Die Probleme entstehen, wenn die Umwelt nicht dazu passt. Und die meisten Dinge, die für mich zu Problemen führen sind einfach nicht zu ändern. Die muss ich über mich ergehen lassen, auch dann, wenn ich mich dabei psychisch komplett auflöse, weil mich der Schmerz zerreißt oder die Überreizung zerfetzt.

Heute merke ich, dass es uns guttut zu hören, dass unser Umfeld das mitdenkt. Auch wenn es sie vielleicht manchmal nervt, sie nicht alles gleich auch empfinden und vielleicht manchmal auch heimlich denken, dass wir uns manchmal nur anstellen oder übertreiben. Eine Komponente, die ein Trauma zu einem Trauma macht – und ein Trauma zu einem Komplextrauma werden lassen kann – fällt damit weg: Dass man allein damit ist und bleibt. Dass man keinen Landeplatz für Trost hat. Für bedingungslose Unterstützung im Umgang damit.

Diese Funktion hat damals der Begleitermensch übernommen. Dann nach und nach unsere Gemögten und der Partner.

Jetzt auch unsere Therapeutin.
Das macht nichts gut oder weg. Aber okay genug, um weiter für und um die Verbindung mit ihnen, der Welt und dem eigenen am Leben sein zu kämpfen und es sich so angenehm wie möglich zu gestalten.

Und was, wenn..?

Ganz oder gar nicht, das ist etwas, was uns häufig als problematische Haltung eingeordnet wird. Oft, weil man denkt, wir würden traumalogisch urteilen, manchmal weil man selbst mehr als zwei Optionen zu sehen glaubt und uns diese Alternativen vorschlagen möchte.

Ja, wir sind ein rigider Mensch. Sehr scharf, sehr klar, sehr starr in unseren Entscheidungen. Einmal etwas angenommen, wird es schwierig etwas davon wieder aufzulösen. Das gilt im Positiven wie im Negativen. Wir sind konsequenter als viele andere Menschen und hartnäckiger. Damit sind wir aber auch nerviger und verursachen mehr Umstände als viele andere Menschen.
Wenn wir wissen, was wir wollen, dann tun wir alles, was nötig ist, um es zu erreichen. Auch, wenn wir eigentlich nicht mehr können. Auch, wenn es vielleicht für alle anderen Menschen als zum Scheitern verurteilt erscheint. Wir ziehen durch, weil wir uns durchzuziehen vorgenommen haben.

Wir haben uns vorgenommen zu leben, also sind wir ausgestiegen, haben angefangen zu essen, zu trinken, uns zu versorgen. Obwohl es weh getan hat, obwohl es schlimm war und manchmal noch heute ist. Wir ziehen das durch mit allen Konsequenzen. Das war eine Entscheidung und damit in unserem Empfinden keine Wahl mehr. Wir hätten wählen können, ob wir uns entscheiden oder nicht, aber einmal entschieden ist ent_schieden, also vereint auf die eine Linie.

Fehlannahmen sind für uns schwierig, aber lösbar. Wir treffen unsere Entscheidungen in der Regel basierend auf Fakten und Erfahrungswerten. Stimmen die Fakten nicht oder sind unvollständig, fällt es leicht, die darauf beruhenden Entscheidungen zu widerrufen und zu neuen Einsichten zu gelangen.
Was aber bei Dingen, die eine Folge unserer Entscheidungen sind und selbst eine Entscheidung abverlangen?

Wir können bei unserer Entscheidung für das Leben bleiben, sind aber dennoch mit den Entscheidungen über unsere Lebensqualität konfrontiert. Ist unsere Lebensqualität nicht gut, müssen wir unsere Entscheidung für das Leben neu überdenken, was wir nicht mehr wollen. Wir wollen nicht mehr infrage stellen, ob wir leben wollen, können, dürfen, sollten. Und doch müssen wir auch diesen Strang immer mitdenken. Denn entweder wir denken vollständig über Dinge nach oder nicht. Wie tragisch wäre ein halb durchdachter Suizid, wie grauenhaft ein halb erfülltes Leben?

Unsere Neurologin regte mich, in Bezug auf unser Therapie~ding~, dazu an, auch daran zu denken, dass die von uns gewollte Traumaverarbeitung als Therapieziel vielleicht nicht erreichbar ist. Ein Gedanke, den wir von Beginn der Therapie an vermeiden, um so wenig Raum wie möglich dafür entstehen zu lassen, dass das, was wir da tun sinnlos, falsch, zum Nachteil von anderen belasteten Menschen und der Therapeutin sein könnte. Wir wissen, dass, sobald wir dem Raum geben, der Fall in Altes sofort folgt. Traumawahrheiten wie „Du kannst nichts dagegen tun“, „Es wird nie aufhören“, „Was hast du gedacht – hast du gedacht, du könntest irgendwas bestimmen/kontrollieren.“ und Ähnliches senken unsere Therapiearbeitsmoral, lassen uns Kraft verlieren und am Ende auch Lebensqualität. Es wird schwierig nach innen zu motivieren und unmöglich innere Bünde aufrechtzuerhalten, die komplett auf Hoffnung und Vertrauen in die Möglichkeit der Zielwerdung beruhen.

Seit wir mit der DIS diagnostiziert sind, haben wir als Therapieziel, das Erfahrene zu verarbeiten. Seit 18 Jahren trägt uns diese Entscheidung und seitdem nehmen wir es als Auftrag an uns als Patient_in an. Wir müssen wollen, wir müssen therapiearbeitsfähig sein, wir müssen unsere Vermeidungsstrategien erkennen und auflösen, denn das ist unser Ziel. Traumaverarbeitung, um klarzukommen, um ein insgesamt befriedigendes, erfülltes, selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Weil in den letzten Jahren vor allem die Vorarbeiten für dieses Ziel im Vordergrund standen, war nie Thema, ob es überhaupt wirklich erreichbar ist. Was wenn nicht? Was machen wir dann? Sind wir bereit unser Leben lang, mit unverarbeitetem Trauma zu leben? Mit Flashbacks, mit Alpträumen, mit dissoziativen Brüchen, mit biografischer Amnesie, mit all dem psychosomatischen Kladderadatsch? Als wir uns für das Leben entschieden haben, haben wir uns nicht für so ein Leben entschieden, sondern für eines, das wir uns gut gestaltet haben würden. Eins ohne Trauma als alles bestimmende Größe.

Ich bin nicht bereit für so ein Leben. Für irgendeine funktionale Vermeidungsstrategie. Für dunkle Geheimnisse oder unberührbare Themenzonen haben wir nicht Kraft, nicht dauerhaft, nicht den Rest unseres Lebens.
Ja, „der Rest unseres Lebens“ ist wieder eine sehr absolute Aussage. Ja, wer weiß, was in 10 Jahren ist blablabla – aber die 10 Jahre müssen erstmal gelebt werden. Irgendwie muss man ja aushalten, zu leben ohne Aussicht auf eine Veränderung oder natürliche Auflösung der Schwierigkeiten. Ich bin nicht bereit, mich durch 10 scheiß Jahre zu quälen, nur weil danach eventuell vielleicht irgendetwas passiert, das alles anders macht als jetzt.
Wir sind Mitte 30, wir haben noch so viel mehr Zeit für ein geiles Leben mit ordentlich aufgeräumter Traumascheiße auf dem Dachboden, wie um alles in der Welt könnte ich mich damit ok kriegen, das nicht zu erreichen? Und wozu? Und für wen?

Ich würde damit sagen: „Ja, gut, gibt halt keine oder nicht die richtigen Therapieformen oder -mittel, dass ich das hinkriege“ und die Hände in den Schoß legen, weil ich halt kein_e Therapieform- und mittel-Ausdenker_in bin, sondern irgendwelche Leute, die bei ihren Formungen nicht an autistische traumatisierte Menschen denken.
Und wie zum Henker soll mich das kaltlassen. Warum um alles in der Welt soll ich das ok finden und mich halt damit abfinden, dass es ist wie es ist, kann man nix machen, muss man halt leiden.
DAS IST DOCH DER GLEICHE SCHEIß WIE FRÜHER UND OB ICH DAFÜR 18 JAHRE PSYCHOTHERAPIE GEMACHT HAB WILL ICH WISSEN

Atmung

Nein, es ist keine Option. Kann es nicht sein.
Wir haben uns für etwas anderes entschieden und vielleicht schützt uns, unsere Rigidität an dieser Stelle vor etwas, das uns das Leben kurz erleichtert, weil es uns einen Kampf abnimmt, aber auf lange Sicht nicht dazu beiträgt überhaupt für sich einzutreten, sich um sich zu kümmern und also an der eigenen Lebensqualität mitzuwirken.

traumabasierte „Entscheidungen“ erkennen und was helfen könnte

Es gibt traumareaktives Verhalten, das man selbst als Entscheidung wahrnimmt.
Man glaubt, man würde sehr rational bewerten, würde das einzig Mögliche Richtige tun; in eine Zukunft handeln, die besser wäre als ~alles~ jetzt. Und dann bleibt man bei Menschen, die eine_n nicht gut behandeln, verlässt von jetzt auf gleich eine Arbeitsstelle, Freund_innen, die Stadt, das eigene Leben. Oder man geht invasiver vor als nötig, wendet körperliche, seelische, psychische, ökonomische, strukturelle Gewalt an und lügt, um die eigene Ohnmacht, Angst, „Schwäche“ so weit von sich zu weisen bis man sie nicht mehr fühlt.

Dieses Verhalten dient der Stress- und Emotionsregulation. Alle Menschen kennen dieses Verhalten von sich, nicht alle haben dazu auch eine komplexe Traumafolgestörung, die es ihnen erschwert, es auch als solches zu erkennen und zu verändern.
Traumareaktive/traumabasierte Entscheidungen werden oft gefällt, um unaushaltbare Gefühle zu beenden vermeiden. Emotionale Betäubung zu  unterbrechen, bedrängende Ohnmachtsgefühle, Verwirrung, Unsicherheit, die an Todesangst erinnert, zu stoppen verdrängen. Häufig werden auch Probleme, die sich durch das Fehlen eigener Werte und Meinungen oder der Angst, diese zu vertreten, ergeben, mit  solchen Entscheidungen gelöst aufgeschoben.
Nicht jede traumabasierte Entscheidung ist deshalb irrational oder falsch – aber sie ist nicht wirklich selbstbestimmt, nicht so frei, wie nicht traumatisierte Menschen entscheiden können und in der Regel dient sie der Kompensation von Problemen – nicht der Lösung.

Traumabasierte Entscheidungen bestätigen so gut wie immer auch Traumawahrheiten. Also die Wahrheiten, Einsichten, Ideen, die man brauchte, um der erlittenen Traumatisierung Sinn und Kontext zu bieten. „Mir wurde XY angetan, weil ich … bin.“, „Alle [Berufsbezeichnung/Geschlecht/äußerliche Eigenschaft/sonstige Zugehörigkeit des_der Täter_in] sind abstoßende Arschlöcher“, „X ist tödlich/Y ist lebensgefährlich“, „Ich habs nicht anders verdient, weil ich …“
Traumawahrheiten sind keine Lügen. Sie sind nur nicht so umfassend, belastbar richtig, wie man sie wahrnimmt – und so manche Traumawahrheit ist als Legitimationsgrund für Gewaltausübung sehr tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Etwa: „Leute, die X tun, sind selber schuld, wenn dann Y [etwas Schlimmes, Traumatisierendes] passiert.“

Woran erkennt man eine Traumawahrheit?
Sie dreht sich immer (irgendwann in der Argumentationskette) um Leben und Tod, um 100 % richtig/wahr und 100 % falsch/gelogen, um Top oder Flop. Es gibt kein Dazwischen, kein „Moment mal kurz…“, keine Optionen für Gleichzeitigkeit. Sie sorgt dafür, dass man an sich selbst einen anderen Maßstab anlegt als an andere Menschen.
Und was viele Traumawahrheiten noch auszeichnet, ist der Zirkelschluss. Also eine logische Kette, die immer wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückfindet und sich damit selbst bestätigt. Das ist die Eigenschaft, die viele Traumareinszenierungen anstößt und auch diesen Erfahrungen wiederum Kontext und Logik gibt.

Was kann man tun, wenn man merkt, dass man sich in einer Situation befindet, die zu traumabasierter Entscheidung führen könnte?
Was mir gut hilft ist, zu prüfen, wie erwachsen meine Gefühle und Einschätzungen zu einer Situation gerade sind und wie erwachsen ich mich fühle in Bezug auf das Entscheiden selbst.
Für mich ist ein Marker für „Ich fühle mich erwachsen“, dass ich mich traue, in Betracht zu ziehen, gar keine Entscheidung zu treffen und mir Zeit dafür zu erbitten oder sie mir zuzugestehen. Ich weiß, dass mein erwachsen sein, mein überlegt und rational sein, im vorderen Teil meines Gehirns steckt und dass dort tendenziell Sendepause ist, wenn ich Zeitdruck habe. Also sorge ich für so viel Zeit, wie ich aushalten und vor anderen auch verantworten kann. Das kann ein Zeitraum von 5 Minuten sein, es können aber auch Wochen und Monate sein. Je länger ich mir, uns, Zeit für eine Entscheidung gebe, desto breiter wird das Spektrum dessen, was die Entscheidung für mich, für uns, bedeutet. Aus einer 1 oder 0-Entscheidung wird so eine 1 oder 2 oder 3 oder 4 oder auch gar nix-Entscheidung und dies wiederum erfordert auch mehr Überlegung (Erwachsenheit) von mir und festigt mich in der Situation.
Denn was das Kindliche, Jugendliche, Traumatisierte in mir sehr gut kann, sind 1 oder 0-Entscheidungen. Also die klassische Traumamechanik. Alles, was schnell gehen muss, um das Überleben zu sichern. Die Dinge, mit denen ich heute konfrontiert bin, sind aber Entscheidungen des Lebens. Gestaltungsfragen, wenn man so will. Wenn ich uns mehr Zeit gebe, können sie diesen Unterschied manchmal miterleben, was hilft, wenn es darum geht noch mehr zwischen früher und heute zu unterscheiden.

Was mir auch hilft ist, ist zu prüfen, ob ich Angst vor den Konsequenzen meiner Entscheidungen habe.
Das ist ziemlich tricky, weil oft auch extrem konfrontativ, aber manchmal muss man da durch, weil es nur so weitergeht. Eine Situation kann zum Beispiel sein, dass man sich überlegt eine Beziehungsperson zu verlassen, weil man nicht (mehr) zufrieden ist mit der Beziehung. Dann kann es sein, dass man vor allem kindliche Panik vor dem Beziehungsabbruch spürt – aber auch die erwachsene Überforderung (die Todesängste triggert) vor einem Leben ohne irgendeine Beziehungsperson im Leben.
Und dann hilft es vielleicht zu gucken: Habe ich wirklich keine andere Beziehungsperson in meinem Leben? Wofür genau brauche ich eigentlich eine Beziehungsperson in meinem Leben? Sterbe ich, wenn da keine_r ist oder ist es nicht vielleicht eher so, dass ich aus mir heraus keine Selbstfürsorge oder -versorgung oder Lebensziele und -sinn aufrechterhalten kann/will/werde, weil noch nie alleine gemacht? Das sind schmerzende Fragen und vielleicht geht man mit Antworten aus dem Prozess, die niemand wissen darf, weil es so peinlich ist – aber was sich daraus ergibt, hilft eine reflektierte, informierte Entscheidung zu treffen.

In Bezug auf die kindliche Panik, die man in so einer Situation vielleicht fühlt, nur eine Sache: Man hilft Kindern nicht, wenn man ihnen gibt, was sie wollen, weil sie Todesangst haben – man hilft ihnen, wenn man ihnen die Todesangst nimmt, indem man für Sicherheit sorgt. Und man ist nicht in einer sicheren Situation, wenn sie Todesangst auslöst.

Überforderungsgefühle von erwachsenen Menschen werden selten benannt. Meistens, weil sie mit Schwäche und Unfähigkeit verbunden werden und deshalb auch mit Minderwertigkeit. Überforderung ist aber nichts weiter als ein Marker dafür, dass etwas fehlt. Vielleicht braucht es Fähigkeiten, vielleicht Werkzeug, vielleicht Unterstützung, vielleicht eine Änderung der Aufgabe – alles Dinge, die übrigens in Bezug auf schwierige Erfahrungen den Unterschied zwischen Trauma und „belastendes Lebensereignis“ ausmachen. Überforderung ist das Stück vor Trauma, das zu spüren im Alltag für mich enorm an Wichtigkeit gewonnen hat. Reguliere ich meine Überforderung, reguliere ich das traumatisierende Potenzial von neuen Erfahrungen, neuen Aufgaben, plötzlich eintretenden Sondersituationen.
Auch hier ist es natürlich wichtig wieder zu gucken, was ich wirklich selbst regulieren kann, aber in Bezug auf wichtige, große Entscheidungen, die ich für mich selbst treffe, ist es einfach wichtig, dass ich mir klarmache, dass ich mit Überforderung etwas machen kann und ihr nicht so hilflos ausgeliefert bin wie in früheren traumatisierenden Situationen.

Was möglicherweise noch helfen könnte, ist eine Liste zu haben, auf die man sich in Bezug auf das eigene Leben geeinigt hat. Oder eine Liste mit Dingen, die einem_einer einfallen, wenn man sich fragt, was man im Leben möchte, was man vom Leben möchte oder woraus das eigene Leben bestehen soll. Wichtig dabei: Nicht als „Irgendwann mal in der Zukunft, möchte ich…“ gedacht oder formuliert, sondern ganz konkret, jetzt und hier.
Bei uns steht drauf, dass wir leben wollen, dass dieses Leben nicht mehr wehtun soll und dass wir uns so in unserem Leben auskennen (können) wollen, dass wir darüber erzählen können. Das sind Punkte, die wir uns erarbeitet haben und die wir als Messlatte für alles herannehmen.
Das heißt nicht, dass wir jeden Schmerz vermeiden und auch nicht, dass wir uns zum Beispiel gegen das Schweigen über unser Leben entschieden haben, aber es bedeutet, dass wir uns zum Beispiel auf jeden Fall von Menschen trennen, die uns (wiederholt) verletzen oder unseren Schmerz am Leben nicht ernst nehmen oder erleichtern helfen und auch, dass wir so lange weiter Traumatherapie machen, bis wir uns für uns genug und sicher im eigenen Leben auskennen (und uns das auch nicht gegenseitig erschweren oder verunmöglichen) bzw. so lange wir es aushalten, daran zu arbeiten.

Was noch helfen könnte, ist sich mit jemandem zu beraten, die_r nicht von der Entscheidung betroffen ist. Am besten mit jemand, die_r Traumalogik kennt, versteht, enttarnen kann. Es nutzt überhaupt nichts, wenn mir in einer Situation, in der in mir nur noch traumalogisches Denken passiert und meine Entscheidung eigentlich eine Reaktion ist, eine andere Person mir ihr (untraumatisiertes) Bauchgefühl zur Situation mitteilt. Ja, das kann auch mal passen, aber das hilft mir nicht, von der Reaktion zur informierten, erwachsenen Entscheidung zu kommen.
Ich brauche dann jemanden, die_r mich fragt, was ich fühle, was ich denke, welchen Druck ich spüre und mir anträgt zu prüfen, ob und wenn ja in welchen Aspekten, diese Gefühle wirklich heutig und der Situation angemessen sind. Jemand, die_r emotionale Distanz zu meinem Problem einhält und mir so zeigt, dass das überhaupt möglich ist.

Und, wenn eine andere Person involviert ist, kann es helfen, mit dieser Person über diese Entscheidung zu sprechen.
Manchmal entstehen Dynamiken zwischen Leuten, in denen man sich gegenseitig in Reiz-Reaktions-Dynamiken bringt, die nur mit Konfrontation zu stoppen sind. Und damit meine ich nicht „stoppen, wie einen Zug“, sondern, wie in „innehalten und mal aussprechen, was man gerade denkt und möchte oder will oder eben nicht mehr möchte“. Manchmal merkt man dann, dass man eigentlich die ganze Zeit (traumabasiert) reagiert und gar nicht wirklich macht, was man eigentlich möchte.

Das ist alles nicht einfach, aber machbar. Es ist möglich im üblichen Alltag Entscheidungen zu treffen und Dinge zu verändern. Indem man Entscheidungen trifft, die sich auf die realen konkreten HierHeuteJetzt-Umstände und Fakten beziehen, trifft man eine Entscheidung, die der Heilung oder, anders formuliert, Weiterentwicklung nach dem Trauma, mehr Raum gibt und so direkt dazu beiträgt.

die Besteck-Theorien

Dieser Text ist als Audiopodcast der Selbsthilfereihe „Was helfen könnte“ auf vielesein.de erschienen.

Einige be.hinderte Menschen in der Community verwenden die Redewendung: „Ich habe keine Löffel für Tätigkeit XY“ oder „Mir fehlen heute die Löffel dafür“. Damit beziehen sie sich auf die „Spoon-Theory“ von Christine Miserandino, in der Löffel als eine Art Energie-Einheit betrachtet werden. Ein Löffel gleich eine Tätigkeit oder vielleicht auch zwei Tätigkeiten oder zwei Löffel für eine Tätigkeit. Manche teilen noch ein in kleine und große Löffel, doch halten wir an dieser Stelle fest: Es geht um die individuellen Energieressourcen, mit denen man morgens aufwacht und die zur Verfügung stehen, um den Tag zu schaffen.

Viele chronisch erkrankte Menschen leben mit Fatigue, also einer Erschöpfung, die bei vielen von ihnen auch nicht durch mehr Schlaf oder einen längeren Urlaub aufhört. Ihr Leben erfordert also kontinuierliches Energiemanagement und die ständige Prüfung, wie viele Spoons, also wie viele Energie-Einheiten in etwa noch verfügbar sind.

Ich habe kurz nach unserer Autismusdiagnose von dieser Theorie erfahren und hielt sie erst für ein praktisches Tool, um meine Ressourcen greifbarer zu machen. Doch zwei Dinge erwiesen sich für mich als problematisch. Erstens: Die meisten Menschen kennen weder diese Theorie noch Erschöpfungszustände, wie ich sie oft erlebe.
Erschöpfung ist auch nicht gleich Erschöpfung. Die chronische Fatigue von zum Beispiel Menschen mit MECFS ist eine andere als meine, die sich durch die Verschränkungen von Autismus und chronischer Traumafolgestörung ergeben. Und erst recht andere als die von Menschen, die Vollzeit lohnarbeiten, um sowohl davor als auch danach noch unbezahlt hauszuarbeiten.

Das zweite Problem war und ist für mich, dass ich durch meine, tja erschwerte? wenig ausgeprägte? von mir nicht eindeutig genug interpretierbare? Tiefenwahrnehmung des Körpers im Grunde kein Konzept darüber habe, wie viel oder wenig ich mich körperlich belasten kann oder sollte. Für die allgemeine Bestimmung meiner Erschöpfung bin ich auf für andere Menschen extreme Signale angewiesen: Motorische Ausfälle (unsicherer oder versteifter Gang, Dinge fallen mir aus der Hand, ich kann keine Schleifen mehr binden oder Knöpfe zu machen), dissoziative Krampfanfälle, Unfähigkeit Gehörtes zu verstehen und zu verarbeiten, extreme Wahrnehmung von Geräuschen, Ausfall des Sichtfeldes, das Gefühl, dass es entlang meiner Knochen summt, das Gefühl meine Haut würde brennen. Sowas.
Das Problem dabei ist, dass es extreme Signale sind, die auf extreme Erschöpfung und extreme Stresslevel deuten. Sie dienen also nur dazu mir zu sagen: „Du bist erschöpft. Du bist gestresst.“ aber nicht, wie viel Energie da mal war oder wie viel noch da ist. Und sie sagen mir auch nichts über meine psychische oder geistige Erschöpfung oder ihren Anteil an der von mir als körperlich interpretierten Erschöpfung.

Ich merke durchaus auch, wann ich einen guten Tag habe und wann nicht, doch auch das leite ich über das Level des Schmerzes ab, mit dem ich morgens aufwache und dem Level der Schmerzhaftigkeit der Morgentoilette. Eigentlich sollte ich morgens (bzw. generell) aber nie Schmerzen haben, sondern mich neutral mit Tendenz fühlen. Jedenfalls ist das meine Vorstellung davon, was man braucht oder zumindest als Erfahrungswissen über eigene Befindlichkeiten haben sollte, um die eigenen Energiereserven einschätzen zu können.

Also, die Spoons waren es nicht.

Dann habe ich von der „Fork-Theory“ gehört und da kamen wir der Sache schon näher.
Die Fork-Theory hat sich der Ehemann von Jenrose ausgedacht. Im Englischen gibt es die Phrase: „Stick a fork in me, I’m done“ mit der man ausdrückt, dass man mit etwas fertig ist. Nun kann man sich vorstellen, wie oft man den Stich einer Gabel ertragen kann und was es bedeutet, wenn der Stich von einer Heugabel, einer Fonduegabel oder einem Kunststoffgöffel kommt.

Dass mir die Welt und das Leben darin weh tut, ist etwas, das ich sage und empfinde, seit ich denken kann.
Nicht, weil es immer ultra schlimm ist und mein Leben nur aus Elend und Not besteht, sondern weil es so ist. Egal wie entspannt ich bin, egal wie schön alles ist, unter allem liegt immer eine diffuse Decke von Schmerz, die nicht zu lokalisieren und auch nicht näher zu beschreiben ist. Und alles was zusätzlich auf mich zukommt – und sei es, dass ich morgens aufwache und das Licht eines fantastischen Tages, der nur auf mich wartet um mich mit Nektar und Vogelgesang zu liebkosen, wahrnehme – trägt etwas zu diesem Schmerzteppich bei.

Ich habe eine Weile darüber nachgedacht, ob ich wirklich jeden Reiz, jeden Stressor in mich stechende Gabeln übersetzen möchte. Denn nicht jeder für mich aversive Reiz ist auch für andere Menschen als möglicherweise aversiv glaubhaft oder wenigstens nachvollziehbar. Und nicht alles, was mir weh tut, ist für mich ausschließlich unangenehm. Sex und Sport zum Beispiel. Oder die Hunde streicheln. Oder die ballerscharfe Knoblauchcreme mit krachenden Chips essen.
Im Kontext der Vermittlung meiner Belastung hingegen ist diese Übersetzung nützlich, weil sich jede_r schon einmal mit einer Gabel gestochen hat und/oder auch gestochen wurde. Es ist damit vielleicht nicht immer passend in Bezug auf ganz konkrete Eindrücke und Wahrnehmungen, aber auf eine allgemeine Beschreibung der Lage. Zum Beispiel so: „Ich habe gerade 6 Gabeln in mir, ich kann nicht noch mit ins Kino.“ oder „Der Arbeitstag bedeutete heute 4 Gabelstiche und eine ist noch drin, lass mich die erst rausnehmen/die Stelle versorgen, dann können wir einkaufen gehen.“

Das vermittelte Bild ist vielleicht total krass für viele, die das Schmerzerleben von Stressoren nicht teilen, aber ich merke viel Kongruenz.
Außerdem ist es so vielleicht auch leichter für Außenstehende zu verstehen, warum man in manchen Momenten sehr große Schwierigkeiten hat, auf Kraftquellen oder Energiereserven zuzugreifen. Wenn man weiß, dass jemand gerade eine Heugabel im Oberschenkel hat oder hatte, dann würde man von der Person nicht erwarten, joggen zu gehen oder sich am Sonnenschein zu erfreuen. Heilung und Regeneration braucht individuell viel Zeit und dieses Konzept ist manchmal leichter über ein Bild der körperlichen Verletzung zu kommunizieren, weil diese Erfahrung universeller ist, als die von Stress- und Reizverarbeitung. Das ist auch traurig, aber das ist nun einmal gerade der Stand in unserer ableistischen Gesellschaft.

2019 hat Terry Masson der Spoon-Theory noch die „Knife-Theory“ hinzugefügt.
Das Messer im Besteckkasten wird hier als das letzte verfügbare Mittel betrachtet.
Es ist hocheffizient, aber enorm energieaufwendig zu nutzen. Mit einem Messer ist praktisch alles zu schaffen – vor allem durch entweder (unumkehrbare) Zerstörung oder (hihi) einschneidende Veränderungen.

Auf so ein metaphorisches Messer zurückgreifen zu müssen, weil man wirklich am Ende ist, bedeutet nach außen hin für viele behinderte Menschen eine verlängerte oder auch überhaupt erst möglich gemachte Phase der Funktionalität, auf Kosten der Möglichkeiten für längerfristige Funktionalität.

Als Beispiel kann ich hier unsere Zeit der Ausbildung anführen, als wir noch nicht überwiegend zu Hause gearbeitet haben.
Am Montag hatte ich genug Energie, um gut zur Schule zu kommen und bis 10 halb 11 einigermaßen mitkommen zu können. Das waren anderthalb bis 2 Unterrichtblöcke und eine Pause mit Raumwechsel. Dann bin ich auf den letzten Energieschlucken nach Hause gekommen und musste ausruhen bis abends, um noch ein bisschen nachzuarbeiten und zu bloggen, zu schreiben, mit Freund_innen zu sprechen oder zu kochen. Am Dienstag habe ich dann vielleicht genauso lange durchgehalten, konnte dann abends aber nur noch zwischen kochen oder bloggen entscheiden. Mittwoch hatte ich dann schon in der Straßenbahn Sorge, ob ich die erste Stunde überhaupt schaffe und hatte Geld für ein Taxi nach Hause dabei. Ab mittags lag ich mit Chips und Brause im Bett – ohne irgendwas anderes als mich berieseln zu lassen, zu können. Donnerstag hab ich mich dafür fertig gemacht und gedacht, ich reiße mich gut zusammen, während ich mich, metaphorisch gesprochen, mit den letzten verfügbaren Messern zerschnetzelt habe. Ich habe kaum noch etwas mitgekriegt, geschweige denn prozessiert, was in der Schule passiert ist und wie ich jeweils immer wieder nach Hause kam, ob ich NakNak* wirklich richtig gut versorgt habe, was, wann wie viel ich gegessen und getrunken habe, ob ich meine Medis genommen habe, ob ich Termine wahrnahm, ob mich irgendjemand um irgendwas gebeten hat – blank. Keine Ahnung. Freitags das gleiche von vorn. Nur mit Schmerzen, die durch nichts irgendwie zu erleichtern waren. Und in der Regel ebenfalls kompletter Amnesie für den Tag, oft genug auch noch für das ganze Wochenende danach.
Das erste Ausbildungsjahr hat mich wirklich so extrem überfordert, dass die Spaltung zum schulfunktionalen Alltagssystem, aus der Schulzeit in Kindheit und Jugend, endlich richtig Sinn ergab. Hier also die Verschränkung mit der DIS: Es geht um toxischen Stress, der nicht reguliert werden kann und das Gefühl von Lebensbedrohung auslöst, der nicht ausgewichen werden kann. Und, um den Bogen zum Besteckkasten zurückzuschlagen, auch mit unterschiedlichen Anpassungsstrategien begegnet wird.

Ich, Hannah, ehemals „die Rosenblätter“, bin definitiv eine Gabelstich-Reaktion mit stabiler Löffelstrategie.
Mein Energiemanagement ist effizient, wenn es darum geht, soziale Kommunikation zu schaffen und deshalb eher ineffizient in Bezug auf meine Arbeit oder Hobbys. Das Energiemanagement des Schulsystems basiert komplett auf der Messerstrategie. Es ist kaum etwas für soziale Bindung da oder für die Verarbeitung im Sinne einer „Ver-Ich-lichung“ dessen, was um sie herum passiert. Im Grunde hacken sie sich mit einer Machete durch den Reizdschungel und sind ansonsten unverbunden mit dem, was das eigentlich bedeutet.
Für uns relevant zu wissen, weil wir über dieses Konzept besser überlegen können, wie wir Kontakt etablieren und neue Strategien ermöglichen können. Außerdem ist es relevant, weil wir so nicht mit falschen Vorstellungen an sie herantreten. Wir müssen annehmen, dass sie so etwas, auf den ersten Blick vielleicht erst einmal ineffizientes, wie einen Löffel nicht etablieren können, weil ein ganz anderes Prozessempfinden vorliegt, aber auch ganz andere Erwartungen an die eigene Selbstwirksamkeit. Außerdem dürfen wir nicht voraussetzen, dass sie selbst spüren, was ihr Energieverbrauch für uns bedeutet.

Ähnliche Auseinandersetzungsprozesse wünsche ich mir auch im Außen. Nicht nur bei mir, bei uns, sondern auch für alle anderen Menschen, die immer oder auch nur zeitweise sehr darauf angewiesen sind, dass man ihre Belastung, ihre Erschöpfung gut genug nachvollziehen kann, um ihnen nicht ständig und immer mehr abzuverlangen, als sie eigentlich wirklich gut, ohne selbst schaden zu nehmen, können und schaffen.

May the Besteck-Theory become your new tool!

die Banalität der Ursache

Jede Lawine beginnt mit einer Schneeflocke und egal, wie krass die Auswirkungen der Schneemassen im Tal sind, so ist es doch immer diese eine Flocke, mit der alles begann. Wann immer schwierige Dinge geschehen, ist man versucht ihren Anfängen eine besondere Bedeutung zuzuschreiben. Wir kennen das aus der Berichterstattung über Gewalt, aber auch über Naturkatastrophen oder Unfälle. Womit es begann, ist wichtig und in der ersten Zeit der Überforderung, der akuten Not vielleicht sogar das wichtigste von allem.
Es sei denn, man kennt es.

Gewöhnung ist nicht das gleiche wie Abstumpfung. Gewöhnung ist Kenntnis. Ist Orientierung. Gewöhnung bedeutet Erfahrungswissen und deshalb Sicherheit, Klarheit, Eindeutigkeit. Kurze Wege. Effizientes Handeln. Den Blick weg von der Ursache hin zur Wirkung und dem Umgang damit.

Die Ursache schwieriger Erfahrungen als banal zu bezeichnen, wurde mir in den letzten Jahren oft als Zeichen einer emotionalen Kälte ausgelegt. Als Traumafolge, als Dissoziation meiner Gefühle, als Vermeidung der Wahrnehmung innerer Abgründe.
Tatsächlich weiß ich im  Moment nicht genau, was ich empfinde. Das ist in Ordnung. Es ist im Moment nicht relevant, ich brauche diese Information nicht. Weder für mich, noch braucht sie mein Umfeld, um mit mir zurechtzukommen.

Relevant ist, dass ich nicht vergesse, dass die Ursache dessen, was passiert ist, banal ist.
Es hat nichts mit ihr zu tun, es hat nichts mit mir zu tun. Es hat vielleicht mit dem Jetzt zu tun, vielleicht mit dem Gestern vor 5 Jahren. Es ist nichts Besonderes. Es ist banal.
Nicht egal. Nicht irrelevant. Nicht ohne Aus.Wirkung.en. Aber banal.
Und deshalb nicht zu vereinzeln, nicht auf einen einzigen kleinen Punkt von der Größe einer Schneeflocke zu bringen.

Das ist das Dilemma der komplex traumatisierten Menschen.
Es ist immer banal, aber nie ist es möglich eine Komplexitätsreduktion vorzunehmen. Es ist einfach nie der eine Schlag zu viel, der eine Kommentar ganz besonders oder das eine Moment der Ohnmacht, was die Verletzung insgesamt ausmacht. Die Dinge passieren und sie können tausend Mal in all der Normalität, in der man an sie gewöhnt ist, passieren, aber man kann das tausendundeinste Mal nicht zu dem erklären, was das Trauma auslöst.

Als Person von der alle wissen, dass sie von Bindungsabbrüchen und speziell von therapeutischen Beziehungsthemen traumatisiert wurde, stehe ich gerade mit Menschen in Kontakt, die alle nach der Ursache suchen und sich bei mir dafür entschuldigen, dass sie ~das alles~ nicht verstehen oder nachvollziehen können.
Ich bin dran gewöhnt. Ich kenne ihre Versuche es zu verstehen, die „Schneeflockensuche“ sozusagen und weiß auch: Da ist nichts weiter zu finden als das, was man schon jetzt sieht – ein ganz banaler Lauf der Dinge zu meinem Ungunsten.
Ich bin es so gewohnt, dass ich nicht einmal näher erkläre, was ich mit „Lauf der Dinge“ meine, weil ich weiß, dass es sich im Kopf vieler Menschen zusammengesetzt wird mit: „Eins kam zum Anderen“ und auch diese Erfahrung des Missverstehens durch den Versuch mich zu verstehen, werde ich diesmal nicht machen. Es ist ineffizient. Nicht relevant für mich und nur deshalb möglicherweise relevant für andere, weil diese die Irrelevanz für mich nicht anerkennen können oder wollen.

Was jetzt für mich wichtig ist, ist dieses Geschehen nicht zur Ursache anderer Dinge werden zu lassen.

internationaler Kindertag

Heute ist internationaler Kindertag.
Ich habe darüber nachgedacht, wie man Kinder sieht. Und, wie man sich selbst als Kind sieht.

In dem außerordentlich guten Film „The Tale“ wird deutlich, welche Erzählung die erwachsene Person, die von ihrem Reitlehrer sexualisiert misshandelt wurde, von sich selbst in dieser ihrer Kindheit hatte.
Sie beginnt die Geschichte von sich als „reife junge Frau“, die gewollt (begehrt?) war und kann erst durch ein Foto von sich in dem Alter erkennen, wie jung sie noch war. Wie kind_lich.

Ich habe dieses Bild von mir nicht. Ich war nie jünger als 16 und nie anders als so beladen mit Alleinverantwortung, Pflichten und Anforderungen an „angemessenes Verhalten“, wie ich das heute bin. Kind waren und sind immer die anderen. Es gibt aus meinen Lebensjahren 16 bis 18 nur die Porträts, die man in meine Klapsakten gelegt hat, damit die Polizei mich finden kann, wenn ich „abgängig“ sein sollte. Da bin ich blass und habe rötliches Haar. Ich sehe weder so aus, wie ich mich gefühlt habe, noch jugendlich, geschweige denn kindlich.
Meine Kindlichkeit damals, kann ich heute am ehesten noch aus meiner Un_Reife ableiten. Aus der Unerfahrenheit im Leben nach der Gewalt in der Herkunftsfamilie. Es war ein neues Leben. Ich war dieses neue Leben.

Vor einiger Zeit haben wir uns mit der Therapeutin zusammen Fotos aus unserer Einsmensch-Kindheit angeschaut. Die Therapeutin sagte, man könne schon in den Babyfotos sehen, dass wir das sind. Für mich ist das ein unaushaltbarer Gedanke. Dieses Baby soll ich geworden sein, ich soll dieses Baby gewesen sein. Nein, nein, das kann nicht sein – das würde ja bedeuten, dass ich irgendwann mal global abhängig war und sich gefälligst mal richtig anzustrengen ein völliges Quatschkonzept ist, vor dem man logischerweise überfordert zusammenbrechen muss. Dass ich mal weder sprechen, noch laufen, noch kauen konnte, noch für Dinge verantwortlich war, weil man mir keine Macht über Dinge zusprach. Das würde ja bedeuten, dass es mal eine Zeit in meinem Leben gab, in dem ich nicht an allem (selber) schuld war, nicht krank, durchgeknallt und der Gesellschaft tendenziell eher unzumutbar.

Ich glaube, dass man immer das eigene Kind ist und alle Menschen immer die Kinder ihrer Zeit bleiben, was ihren Blick auf andere Kinder beeinflusst. Dass ich mich selbst als Jugendliche geboren erlebe, bedeutet, dass ich eine Offenheit für Kinder habe, die ihnen viel Raum lässt, sie selbst zu sein. Ich sehe nicht mich in ihnen, sondern sie. Und dafür brauche ich keine spezielle Spezialhaltung und pädagogisches Fachwissen oder irgendeinen esoterischen Dreh, nach dem sich meine Seele für ihre Seele öffnet und trallalala. Es ist mir einfach eigen und macht es mir sehr leicht, respektvoll und achtsam mit Kindern zu sein.
Und das, obwohl ich so eine bekloppte Irre bin. So eine gefährliche „psychisch kranke“ Person. So jemand, „bei der_m man ja nie sicher sein kann“. So jemand, „wo man ganz genau gucken muss“.

Ah Mist – in die Falle getappt – nicht „obwohl“.
Weil.