die schwere Decke in der Therapie

Kurz hatte ich doch Angst. Ging mit schnellen Schritten meinen Gedanken hinterher und prüfte sie auf Gefahren.

Ich hatte diese Erfahrung gemacht und wollte sie wiederholen. Das ist gefährlich. Auf so vielen Ebenen. Ich habe etwas gefühlt und ein Wollen entwickelt – schwierig. Und dann fand ich es auch noch gut und schön – hmm! Und als ob das nicht schon genug Sirenen aufschrillen lässt, folge ich meinem Wollen und bahne entsprechendes Handeln an – Katastrophe.
Doch alles blieb ruhig. Mein Körper nicht durchsichtig, mein Denken und Wollen weiterhin unsichtbar. Eine Bemerkung so klein und zart, dass ich sie erst überging.

Denn erst sammelte ich Mut. Über meine Scham hinweg. Entgegen der Sorge, mit 40 Kilo Mut in der Brust durch dünnes Eis zu brechen. Meine Therapeutin zu überfordern, mehr zu wollen als ich darf. Mit dem Wissen, dass das, was ich möchte, etwas ist, was die meisten Menschen nur deshalb nicht wollen, weil sie es einfach immer schon haben: Ich möchte sie hören können. Nicht als Geräuschmasse, als stückigen Eintopf, dessen Inhalt ich mir allein erarbeiten muss. Hoch konzentriert, während ich laufe, schwimme, in die Repetition meines Stimmings versunken. Danach, wenn ich nicht mehr zeitgerecht antworten kann und mit meinen emotionalen Reaktionen und Gedanken dazu allein bleibe.
Ich möchte sie hören können. Ihre Worte mit Reihenfolge. Verwoben zu Bedeutung, verbunden mit Kontexten, gesendet an mich als Teil davon. Möchte immer das Gefühl zu dem Gedanken haben: „Ich bin nicht allein (in diesem Gefühl, diesem Gedanken, dieser Erinnerung)“, weil ich sie vollständiger wahrnehmen kann. Weniger als Reizquelle, die ich mehr oder weniger diffus aufnehme und nur durch mein Wissen um die Welt zum Menschen denke; mehr als Individuum, das sich auf mich bezieht und mit mir in Kontakt geht. Mich erreichen kann und will.

Nach der Episode mit der toten Amsel in unserem Büro, hatten wir telefoniert. Ich lag unter der schweren Decke, R. hörte Musik auf den Noise Cancelling Kopfhörern über die wir auch telefonieren können. Es war Zufall. Und ohne diesen Zufall hätte ich nie erfahren, dass mein unsichtbares Verstehproblem so mysteriös gar nicht ist. Es ist eine Mischung aus Stressreaktionen auf Geräusche und allgemeiner sensorischer Sensibilität [1]. Total üblich unter autistischen Menschen.
Unter der schweren Decke kann ich mich entspannen, weil mein Körper aufhört, sich selbst zu suchen. Es werden mehr Verarbeitungskapazitäten für andere Kanäle frei. Zum Beispiel den auditiven Kanal. Dieses Prinzip habe ich in meinem Alltagsleben als erwachsener Mensch bereits an so vielen Stellen angewandt – doch immer mit meiner allgemeinen Beschissenheit Verquirktheit erklärt und aus Scham versteckt. Einfach, weil man das so nicht macht. Lektorieren und Bücher setzen mit absolut dichtem Gehörschutz, auf den Füßen sitzend, die schwere Decke auf dem Rücken. Duschen mit geschlossenen Augen. Kleidung anziehen ausschließlich im ruhigsten Zimmer der Wohnung. Man macht es nicht so, weil aus dem Nichts eine Hand, eine Faust, ein Fuß geflogen kommt. Jemand brüllt, an den Haaren zieht, zuschlägt. Man macht es nicht, weil man sonst verlassen wird. Von Mutti, die sich schämt, von Vati, zu dem eine Bindung überhaupt aufzubauen von unsichtbar verwirrenden Hürden geprägt ist. Man macht es nicht, weil niemand es so macht. Nirgendwo, wo andere sind.

Es war mein Gefühl von Randexistenz, das mir die Erlaubnis für meine ausgelebte Quirkness gab. 16 Jahre Hartz 4, niemand hat noch erwartet, dass ich irgendwie mal noch integriert werden würde. Arbeiten gehen würde. Mit jemandem zusammen leben würde. Jetzt kann ich meine Quirks in ihrer Funktion erkennen und sehen, dass ich in all den Jahren sehr wohl selbstfürsorglich mit mir war. Trotz Essstörung, trotz Sucht, trotz Selbstverletzung. Ohne diese vor den Augen anderer Menschen versteckten Verhaltensweisen hätte ich vielleicht genauso wenig überlebt wie ohne die Dissoziation. Denn ich nehme nicht wahr – ich nehme auf. Ohne diese stetige Verschiebung meiner Kapazitäten zur Reizverarbeitung würde ich weiter immer nur aufnehmen und einfügen, wie schon als Kind. Steuerung C und Steuerung V. Ohne Kontext. Ohne Bezug. Immer im Versuch so exakt wie möglich die vage verstandenen Lücken im Gespräch, im Moment des Handelns zu füllen. Immer wissend: „Es fehlt etwas. Aber ich weiß nicht was. Ich bin so allein. Aber die Verbindung kann ich mir nur herleiten. Nicht empfinden. Etwas fehlt, etwas ist nicht mit in der Gleichung für den letzten Klick.“

Meine Therapeutin konnte mich nicht sehen. Wie ich da so lag und an die Decke über meinem Bett schaute, während R. mit ihr sprach. Sie konnte es nicht sehen, nicht bewerten, nicht verhindern. Es war einfach so, wie es war und es war okay. Ich konnte sie nach 10 Jahren, die wir miteinander arbeiten, einfach hören. Einfach verstehen. Konnte einfach begreifen, was sie sagt und dass sie sagt, dass sie da ist. Und ich nicht mehr allein. Allein mit Erinnerungen an Gewalt, mit der Angst von früher, mit der Not, die immer noch empfunden wird.
Logisch, selbstverständlich, natürlich, klar! möchte ich das immer so haben. Total nachvollziehbar.
Aber.
Und.

Durch die lange Zeit zusammen hatte ich eigentlich mehr gewohnheitsmäßige Angst vor dem Beziehungsabbruch als wirklich freidrehende Panik von Kinderinnens, als ich ihr sagte, dass ich die schwere Decke in die Therapie einbauen möchte. Diesmal spielte viel mehr die Angst eine Rolle, ich könne durchsichtig für sie sein und sie würde etwas sehen, das ich nicht sehen kann, weil ich mit dieser Situation noch so neu bin. Mir kamen viele Erinnerungen an Situationen, in denen ich selig und froh um gute Gefühle war, meine direkte Umwelt sie mir jedoch als abstoßend, schlecht, abartig oder hinterlistig zurück rahmten.
In der Therapie ist das aber noch nie passiert. Vielleicht, weil meine Therapeutin meine mentale Durchsichtigkeit nicht ausnutzt. Vielleicht – vielleicht! – weil es so etwas wie mentale Durchsichtigkeit nicht gibt und die Menschen, die mich das haben glauben lassen, meine guten Gefühle zerstören wollten. Mit Unterstellungen, bösartigem Reframing, gaslighting, Urteilen entsprechend nicht-autistischer Normen und Werte.

Und dann habe ich mit einem Klick auf die Entertaste die Decke bestellt und zur Praxis schicken lassen.
Und dann haben wir den Einsatz der Decke einfach gemacht. Wie besprochen. Einfach so. Im mittleren Erregungsniveau, in einer Stunde wie immer. Fast immer. Noch nie.
Ich habe sie gehört, ich habe dazu Gefühle entwickelt, ich habe zum ersten Mal in der Therapie geweint.

 

[1] Kuiper MWM, Verhoeven EWM, Geurts HM. Stop Making Noise! Auditory Sensitivity in Adults with an Autism Spectrum Disorder Diagnosis: Physiological Habituation and Subjective Detection Thresholds. J Autism Dev Disord. 2019 May;49(5):2116-2128. doi: 10.1007/s10803-019-03890-9. PMID: 30680585; PMCID: PMC6483953.