der Podcast „Geteiltes Leid“, eine Besprechung in 4 Teilen

Transparenzhinweis: Dieser Text entstand unbeauftragt. Finanziell ermöglicht haben ihn Steady-Unterstützer_innen. Die im Podcast und diesem Text erwähnte Emanuel Stiftung hat sich 2019 mit einem kleinen Beitrag an der Realisierung meines ersten Buches „aufgeschrieben“ beteiligt.

„Der Podcast ‚Geteiltes Leid‘ entstand im Rahmen des Projekts ‚Hast du schon gehört‘, welches durch das Programm ‚Demokratie im Netz‘ der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert und vom Bundesarbeitskreis Arbeit und Leben umgesetzt wurde. Mit diesem Projekt setzt Arbeit und Leben ein klares Zeichen gegen Desinformation und für eine stärkere Demokratie.“

Ich musste lachen. Denn da saß ich nun nach einigen Tagen mit E-Mails und Gesprächen über diesen Podcast und der Desinformation, die damit verbreitet wird, und las diesen Abschnitt auf der Projektwebseite. Nachdem ich die vierteilige Podcastserie gehört habe, erscheint mir kaum erreicht, was man sich mit dem Projekt vorgenommen hat. „Kritisches Hinterfragen“, „ein eindrucksvolles Beispiel für investigativen Journalismus“, „die Politik auffordern, Verantwortung zu übernehmen“ – das habe ich nicht gehört. Aber dramatische Geschichten. Viele Annahmen und unvollständige Andeutungen. Viel Vermischtes. Und das alles ohne eine Perspektive der Menschen, um die es letztlich geht.

Teil 1 – „Der Fall Leonie“

In den ersten beiden Episoden wird die Kranken- und Leidensgeschichte von Leonie (Pseudonym) erzählt. Es wird aus ihrer Krankenakte vorgelesen. Ihre Medikation und andere Details geteilt, die normalerweise besonders geschützte persönliche Informationen sind. Die man als Journalist_in nicht ohne weiteres öffentlich zitieren darf, auch wenn einem die Eltern die Unterlagen zur Verfügung gestellt haben.

Das alles passiert ohne Leonie. In meinen Augen der größte Makel an „Geteiltes Leid“.
Denn der Podcast entmenschlicht sie und verdeckt die Ausbeutung ihrer Geschichte. Sowohl dadurch, dass Hörende sich keinen eigenen Eindruck von ihrer Person machen können, als auch durch unkommentierte Aussagen ihrer Eltern. Zum Beispiel die von ihrem Vater in der ersten Folge: „Wenn die Leonie zu Hause war, dann war sie ein unheimlicher Zeitfresser.“, „Man konnte auch mit ihr praktisch kein Gespräch führen. Sie konnte ins Wohnzimmer kommen, sich aufs Sofa setzen und schlechte Laune verbreiten, alleine durch das, wie sie sitzt und welche Ausstrahlung sie hat. Wie ein Scheißhaufen von einem Hund.“ Es ist entsetzlich und verantwortungslos, dass eine solche Aussage überhaupt oder zumindest nicht einordnend ausgespielt wird. Man könnte oder sollte bereits hier den Podcast einfach ausschalten.

Die Erzählung von Leonies Krankengeschichte passiert nicht, um über psychische Krankheiten bei Kindern und Jugendlichen sowie die Auswirkungen auf ihre Familien zu sprechen. Selbst die lange Zeit der lebensbedrohlichen Behinderung eines Kindes und der strukturellen wie individuellen Kämpfe, Sorgen und Prozesse, die dadurch in der Familie entstehen, wird nur ansatzweise und gefiltert durch die Leidenserzählung der Mutter erahnbar. Etwa, als sie in Folge 4 über die wöchentlichen Besuche ihrer Tochter im Pflegeheim sagt: „Und das ist so, das ist der schlimmste Nachmittag in meiner Woche.“
Das Podcast-Team möchte vielmehr aufzeigen, dass Therapeut_innen an Verschwörungserzählungen glauben und ihre Patient_innen als Beweis dafür missbrauchen, um persönliche wie politische Ziele zu erreichen.

In allen Folgen wird Leonie, genauer gesagt ihre Kranken- und Leidensgeschichte, nun wiederum als Beweis dafür benutzt, dass eben jene Erzählung über missbräuchliche Therapeut_innen und einen vor diesem Unrecht und Leid der Opfer passiven Staat wahr ist. Das ist Objektifizierung.

Für mich besonders brisant daran: Leonie ist heute offenbar schwer beeinträchtigt. Die Beschreibung ihrer Eltern legt nahe, dass sie nicht oder nur eingeschränkt fähig ist, ihre Lage zu überschauen, zu gestalten und über sich selbst zu bestimmen. Es wird nicht offengelegt, wer sie rechtlich vertritt. Dass Eltern über ihre erwachsenen Kinder aber nicht ohne richterlichen Beschluss beziehungsweise ohne eine von den Kindern erteilte Vollmacht bestimmen dürfen, wissen viele Menschen nicht. Damit erscheint Zuhörenden wahrscheinlich auch legitim, dass Leonies Eltern und Journalist_innen ihre Geschichte erzählen. Der Gedanke ist möglicherweise: „Leonie kann das ja vielleicht gar nicht mehr – dann müssen es ja andere für sie machen.“

Weil es im Podcast nicht ausführlich begründet wird, frage ich mich: Kann Leonie aufgrund ihrer Behinderung nicht selbst im Podcast sprechen? Oder bedarf es Anstrengungen von Seiten der Journalist_innen, Eltern und anderen Menschen, ihr das zu ermöglichen? Anstrengungen, auf die von dieser Seite gern verzichtet wurde? Wenn das der Fall war, warum war das für alle Beteiligten in Ordnung?

Es gibt einen Unterschied zwischen einer Einwilligung und einem Einverständnis. Einen Willen kann auch jemand haben, die_r kein Verständnis von der Gesamtlage hat. Hat Leonie ein Verständnis von dem Bild, das ihre Eltern in der Öffentlichkeit von ihr vermitteln? Ist sicher, dass sie das so will? Fragen wie diese ergeben sich ganz natürlich, wenn man es mit psychisch schwer erkrankten oder intellektuell („geistig“) behinderten Menschen zu tun hat. Es erfordert eine umfassende Auseinandersetzung damit, was es bedeutet, über statt mit behinderten/(chronisch) kranken Menschen über ihre Er.Lebenserfahrungen in öffentlich zugänglichen Medien zu berichten. Das ist alles andere als trivial.

Entsprechend tauchte für mich bei diesem Podcast bereits in der ersten Folge die Frage auf, warum man sich für Leonies Geschichte entschieden hat, wenn Leonie selbst gar nicht zu Wort kommen kann oder will oder möchte. Oder soll? Direkt von etwas betroffene Menschen sind sogenannte „unzuverlässige Erzähler_innen“ – man muss ihre Aussagen stets einordnen. Warum wurde darauf verzichtet?

Später, in Folge 4, kommt eine Person, die Amelie genannt wird, zu Wort. Sie wurde ebenfalls mit der falschen Annahme konfrontiert, sie könnte Rituelle Gewalt erlebt haben und hätte eine dissoziative Identitätsstörung (DIS). Warum nicht diese Geschichte? Weil diese Person weniger schwer geschädigt wurde? Weil ihr Leid entsprechend geringer ausfällt – sie konnte sich ja wehren oder schützen? Brauchen Menschen wie Leonie so eine (diese?) Plattform, weil sie den schwersten Schaden haben? Woran soll das gemessen werden? Oder weil schwer geschädigt zu werden eine große Angst aller Menschen in einer ableistischen Gesellschaft wie unserer ist, wo Behinderung nach wie vor in vielen Lebensbereichen gleichbedeutend ist mit „unwert sein“?
Wie schnell man sich im Nachdenken über diese Fragen doch in einer Dynamik findet, die von ableistischer Opferfeindlichkeit und der Vermeidung der Anerkennung von Gewalt als immer leidauslösend gekennzeichnet ist. Bei einem Format, das die Demokratie stärken will, finde ich das bemerkenswert.

Ich komme nicht umhin, anzunehmen, dass man sich mit dieser Geschichte die Emotionalisierung der Debatte sichern wollte. Als sei eine Fehldiagnose, eine Behandlung durch missbräuchliche Psychotherapeut_innen oder ganz allgemein eine psychotherapeutische oder psychiatrische Falsch- oder Nichtbehandlung nicht schon schlimm genug.

Boulevard-journalistisch mag das lauter sein – menschlich, moralisch, ist es in meinen Augen nieder. Niemand, wirklich niemand, dem eine Betroffenheit zugesprochen wird, die sie_r nicht hat, von einer_einem Therapeut_in missbraucht wurde oder eine falsche Diagnose hat, hat etwas von einer emotionalisierten oder ableistischen Debatte darüber.
Die Aufmerksamkeit dient ausschließlich dem Medium und im Verlauf den Journalist_innen. Diese Art der Aufmerksamkeit ist eine Währung, mit der man nur in ganz spezifischen Kontexten etwas anfangen kann. Marginalisierte Menschen, wie behinderte Menschen oder Opfer von Gewalt, finden nicht in diesen Kontexten statt. Auch wenn das Narrativ von Opferschaft als lukratives Mittel der Selbstdarstellung weiterhin viele Vertreter_innen findet. Opferfeindlichkeit ist einfach eine der Alltagsgewalten, der sich sehr viele Menschen bis heute nicht bewusst sind.
Bis sie selbst zum Opfer werden.

Über psychische Krankheiten reden

Wenn man möchte, dass sich viele Menschen für das Leid anderer Menschen interessieren, dann muss ein Bezug hergestellt werden. Man muss eine Geschichte aus einem Leben erzählen, das wie jedes andere auch sein könnte. Sonst können sich Menschen nicht reinfühlen. Nicht annehmen: Das könnte auch ich sein.
Deshalb beginnt fast jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit, und weil die meisten Menschen Krankheit als temporären Zustand erleben, endet auch jede Geschichte über psychische Krankheit mit Gesundheit. Oder mindestens der zuversichtlichen Aussicht darauf.
Leonies Geschichte beginnt mit Krankheit und endet damit. Das gefällt mir sehr gut, denn das sind die Geschichten über psychische Krankheit, die so gut wie nie gehört werden. Egal, wie oft wir Betroffenen sie der Öffentlichkeit vermitteln. Es wird von vielen Redaktionen einfach als zu deprimierend eingeschätzt. Nicht sexy. Nicht uplifting. Nicht oder nur schwer vereinbar mit kommerziellen Interessen.

Unheilbare, tödliche psychische Krankheiten sind eine Realität, mit der sich die meisten Menschen nicht abfinden wollen. Auch Leonies Eltern nicht, die mit diesem Podcast schon das zweite Mal die Geschichte ihrer Tochter benutzen, um ihre für viele Menschen absolut nachvollziehbar inakzeptable Erfahrung in die Öffentlichkeit zu bringen. [1] Sie können sich darauf verlassen, dass die Gesellschaft behinderte, unheilbar kranke Menschen verhindern will und Mitleid mit diesen Eltern hat. Und dass eben jene Gesellschaft psychische Krankheiten überwiegend als individuelles Kampfgeschehen begreift, das man „quick and dirty“ mit nur genug Willen und Kraft beenden kann.

Anorexia nervosa, die Magersucht, an der Leonie bereits als Kind erkrankt (nachdem sie eine Kindheit mit Erstickungsgefahr durchs Essen erlebt hat), ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeitsrate. Laut Prof. Manfred Fichter von der Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee sterben 10 bis 15 Prozent der an Magersucht erkrankten Menschen. 7 Prozent der erkrankten Magersüchtigen sterben durch Suizid. Die durchschnittliche Zeit der Erkrankung liegt bei 15 Jahren. [2]
Das ist schlimm. Traurig. Bitter.
Was noch bitterer ist: die durchschnittliche Wartezeit für einen Klinikplatz zur Behandlung einer psychischen Krankheit außerhalb psychiatrischer Notfallversorgung. Vor allem, wenn der körperliche Zustand einer medizinischen Mitbehandlung und Überwachung bedarf. Und erst recht, wenn zusätzlich noch eine Behinderung oder weitere Erkrankungen wie eine stoffgebundene Sucht oder eine (komplexe) Traumafolgestörung dazu kommen und eine entsprechend spezialisierte Behandlung erforderlich ist. Wie bei Leonie.

Dieser Komplex – die bittere Krankheits- und Behandlungsrealität – wird in dieser Podcastreihe nicht beleuchtet, und das ist meiner Meinung nach desinformierend. Denn das Bild von Leonies Lage, aber auch das ihrer Eltern und aller Helfer_innen, Betreuer_innen und Psychotherapeut_innen, wird dadurch massiv verzerrt dargestellt.

Die Aussagen der Eltern, die durchgehend ihr eigenes Leiden unter Leonies Krankheit, Verhalten und Re.Agieren beschreiben, kommunizieren im Kern immer auch, niemand habe ihr geholfen, niemand habe ihnen geholfen, obwohl das doch möglich gewesen wäre. Mit genug Kompetenz. Und Strenge gegenüber Leonie vielleicht. Oder Autorität. Oder Zwang, wenn nötig. Tatsächlich aber darf niemandem geholfen werden, die_r es nicht will, und nicht jede Hilfe bedeutet ein Heilungsversprechen. Mal ganz davon abgesehen, dass niemand von Ärzt_innen, Pfleger_innen und Sozialarbeiter_innen in Krankenhäusern behandelt werden kann, die aufgrund des demographischen Wandels und des Wirtschaftlichkeitszwangs im deutschen Gesundheitswesen einfach gar nicht zur Verfügung stehen.

Zu den Risiken und Nebenwirkungen jeder psychiatrischen, psychologischen oder auch pädagogischen Hilfe- und Therapiemaßnahme gehört immer auch, dass sie nicht hilft oder den Zustand sogar verschlimmern kann. Wie bei Medikamenten gilt: Alles, was wirkt, kann wirken. Auch im unerwünschten Sinne.
Das ist ein absolut grundlegendes Faktum über Maßnahmen dieser Art. Jede_r Behandler_in, jede_r Helfer_in muss das wissen und den Patient_innen, Betreuten, Begleiteten und deren Angehörigen mitteilen. Befremdlich, dass die Ärztin, die uns Hörende als Host durch diesen Fall führt, das nicht vermittelt.

Dass die Eltern offenbar bis heute glauben, sie wurden um eine geheilte Tochter betrogen, kann man in diesem Zusammenhang sogar verstehen. Die (psychotherapeutische) Versorgung und Unterstützung von Angehörigen psychisch erkrankter Menschen ist nämlich noch viel schlechter und erfordert manchmal eine Psychodiagnose, die man sich als Beamte_r (als Lehrer_in oder Polizist_in zum Beispiel) nicht ohne Sorge um negative Konsequenzen geben lassen kann.
Akzeptieren zu müssen, dass das eigene Kind möglicherweise unheilbar krank ist und ein Leben mit Behinderung(en) führen muss, ist für manche Menschen unfassbar schwer. Und wenn man dabei nicht unterstützt wird, kann eine Vermeidungshaltung und die Anschuldigung Dritter eine naheliegend logische Entwicklung sein.

Schwierig, problematisch, ja im Grunde tragisch wird es, wenn Dritte solche Anschuldigungen benutzen, um eine eigene Geschichte zu erzählen.

Teil 2 – „eine Geschichte, alles zu erklären“

Am Ende der zweiten Folge passiert ein Sprung, den ich auch beim zweiten und dritten Mal Anhören nicht verstehe.
Bis dahin erfahren wir, dass Leonies Zustand immer schlechter wird. Und wir erfahren, dass ihr Vater, nachdem sie absolut unfähig zur Selbstbestimmung im Krankenhaus ist und keine rechtliche Betreuung mehr hat, ihre Sachen aus ihrer Unterkunft holt. Dabei findet er einen USB-Stick, auf dem ein Video gespeichert ist. Laut der Moderation zeigt das Video, wie Leonie getauft wird. An einem offenbar schönen Tag, an einem schönen Ort, umgeben von offenbar wohlgesonnenen Menschen. Obwohl aus den im Podcast abgespielten O-Tönen keinerlei Bedrohung oder soziale Beziehung der Leute zu einander ersichtlich ist, sagt die Sprecherin zu dräuender Musik, dieses Video mache dem Journalist_innen-Team klar, dass es in Leonies Fall um ein Netzwerk ginge. Das ist angesichts dessen, was wir hören, eine irritierende Schlussfolgerung.

Mit dieser Passage endet für mich nicht nur die erste Folge des Podcastes, sondern auch mein Wille, an eine ergebnisoffene, investigative und umfassend recherchierte Arbeit dieses Teams zu glauben. Denn welches Netzwerk kann nur hinter einer Taufe stecken? Die christliche Kirche. Ein globales, ideologisch verbundenes Netzwerk, das als Organ einer Weltreligion einen allgemein legitimierten Platz in der menschlichen Kulturgeschichte einnimmt.
Der Eindruck, der hier zu erwecken versucht wird, ist, dass diese (in Leonies Leben zweite) Taufe, dieses Ereignis, das ausschließlich religiösen Zwecken dient und in der Regel mit einer standesamtlich wie sozial anerkannten Gemeindezugehörigkeit einhergeht, in irgendeiner Weise aufgezwungen wurde. Von Leuten, die Leonies Leiden entweder nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten. Also von Leuten, die gar nicht das Beste für sie wollten, sondern im besten Falle religiöses Brauchtum, im schlechtesten Fall, dass sie leidet.

Die trotz gemeinschaftlicher Verbindung letztlich doch individuelle und in der Regel selbstbestimmte religiöse Widmung und Auseinandersetzung mit sich selbst in schweren Lebensphasen wird hier als gefährlich kommuniziert. Ob es Leonie gutgetan hat, sich ein zweites Mal taufen zu lassen, ob sie es gewollt hat, weil es ihr emotionale Kraft gegeben hat, erfahren wir nicht. Wir hören jedoch erneut ihren Vater, der sein Entsetzen über seine Annahme äußert, Leonie sei zu diesem Zeitpunkt auch körperlich nicht versorgt worden. Was niemand außer Leonie und ihren Begleiter_innen wissen kann.
Zuhörende werden mit dieser Darstellung in die Idee manipuliert, die freikirchliche Gemeinde, die Leonie damals Unterkunft und soziale Gemeinschaft gab, hätte lieber für sie gebetet und Unsinn geglaubt, als sie medizinischer Behandlung zuzuführen.

Diese Erzählung – „Ideologisch überzeugte Hokuspokus-Therapeut_innen und Helfer_innen enthalten kranken Menschen echte Hilfe vor“ – sehe ich seit über 20 Jahren in Veröffentlichungen, die ihrerseits wissenschaftlich widerlegte Aussagen über die „Fälschbarkeit von Erinnerungen“ und verschwörerisch anmutende Theorien über die Unterwanderung von Medizin und Forschung durch (feministische) Akteur_innen verbreiten.
FMS, ick hör dir trapsen.
Und tatsächlich. Im Interview mit podcast.de sagt Khesrau Behroz, Mitgründer von Undone und Produzent des Podcast „Geteiltes Leid“: „Auf die Protagonisten kamen wir durch Beratungsstellen, die sich um Opfer schädlicher Therapien und deren Angehörige kümmern. Eine davon ist False Memory Deutschland e. V..“[3]

Alles, was nun in „Geteiltes Leid“ erzählerisch skizziert und argumentiert wird, folgt der Argumentation und Logik der „False Memory-Erzählung“.
Einschließlich des extrem emotionalisierenden Schlagwortes „satanic panic“, der im Titel der dritten Folge steht. Ein Begriff, der – wie immer, wenn die Protagonist_innen oder die Meinung der Redaktion davon beeinflusst ist – in der Folge nicht umfassend und inhaltlich unzureichend erläutert wird, was dazu führt, dass ein weiteres Mal das Gesamtbild verzerrt, also ein weiteres Mal desinformiert wird. Eine Dynamik, die ebenfalls seit jeher zur Debattenführung von False Memory um Rituelle Gewalt gehört und als Strohmann-Strategie[4] bekannt ist.

Der Begriff „satanic panic“ wurde in den 80er Jahren im US-amerikanischen Sprachraum verwendet, um eine teilweise auch religiös gefärbte Massenhysterie der US-Gesellschaft zu beschreiben, nachdem ein Buch mit dem Titel „Michelle remembers“ erschienen war. Das Buch handelte von einer Frau, die berichtete, mittels Hypnose an verschüttete Erinnerungen an satanistischen Missbrauch gekommen zu sein. [5]
Die davon ausgelöste Debatte beeinflusste massiv auch die öffentliche Berichterstattung über ein Gerichtsverfahren, das klären sollte, ob Betreiber_innen und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool ihre Schutzbefohlenen missbraucht und in satanistisch anmutenden Szenarien gequält haben. [6]
Es gab ein für diese Zeit, in der das Privat-Fernsehen gerade erst etabliert wurde und der Kampf um die Einschaltquoten praktisch entfesselt tobte, unfassbares Medieninteresse und eine Berichterstattung, die sich zügellos in Mutmaßungen und moralischer Raserei erging.

Anfang der 80er Jahre gab es praktisch keine Standards für die polizeiliche Vernehmung bzw. Befragung von Kindern. So kam es sowohl zu wiederholten als auch suggestiven Befragungen, die zu Falschaussagen der Kinder führten. Diese Falschaussagen und deren schiere Anzahl führten zu dem Eindruck eines begründeten Verdachtes, in dessen Folge es zu dem Verfahren gegen die Schulleitung und Mitarbeiter_innen der McMartin Preschool kam.
Auslöser der polizeilichen Befragungen der Vorschulkinder war die Meldung einer Mutter, ihr entfremdeter Ehemann und ein Lehrer (Enkel der Schulleitung) hätten ihr Kind missbraucht. Die Mutter hatte ihr Kind entsprechend suggestiv zu Bauchschmerzen befragt.
Das Verfahren lief in Etappen bis 1990, als letztlich sämtliche Vorwürfe fallengelassen wurden.

Die im Podcast „Geteiltes Leid“ genannte Sendung mit Geraldo Rivera lief 1988 und war eine der meistgesehenen Talk-Show-Sendungen ihrer Zeit. Ein kommerzieller Traum für den Sender. [7] Ein kommerzieller Traum, den sich sowohl vorher als auch nachher viele Sender erfüllen wollten. Obwohl bereits damals offensichtlich wurde, dass mit der Erzählung von rituell mordenden Satanist_innen, die Kinder sexuell missbrauchen, auch die Zahl von Anzeigen und Falschaussagen im ganzen Land stieg.
Mit einer „Panik über oder vor Satanist_innen“ hat das, was der Begriff „satanic panic“ beschreibt, weniger zu tun als mit einem kulturellen Wandel der US-Gesellschaft, der bestimmte moralische Grundwerte in Frage zu stellen schien und bekämpft werden sollte. Der Begriff, der soziologisch gesehen zutreffender für dieses Phänomen ist, lautet: „moral panic“ [8] und beschreibt die gesellschaftlich kontrollierende Wirkung dieser und ähnlicher Erzählungen.

Menschen eine irrationale, weil von Panik verzerrte Annahme, also gewissermaßen eine wahnhafte Überzeugung nahezulegen, wenn sie ideologisch motivierte oder legitimierte und sexualisierte Gewalt in jedwedem Kontext für möglich halten, ist DIE Strategie von False Memory seit Gründung der ersten Gruppe. Verrückt, also krank, verantwortungslos und egoistisch motiviert muss sein, wer glaubt, dass Inzest und andere Formen sexualisierter Gewalt ein regelhaftes Geschehen in praktisch jeder Gesellschaft sind. Das ist eine implizierte Folgerung dieser Gruppe, mit deren Ideologie und orchestrierten Strategien sich zuerst Jennifer Freyd, die Tochter des Gründer-Ehepaares, herumschlagen musste[9] und bis heute in gewissem Grad jedes einzelne Opfer sexualisierter Gewalt in jedem nur möglichen Zusammenhang. Diese Strategien lassen sich mit dem Akronym DARVO nachvollziehen: Deny (Leugnen), Attack (Attackieren) and Reverse Victim and Offender (Täter-Opfer-Umkehr).

Für einen investigativen Podcast, der „die Mechanismen hinter Verschwörungsideologien sichtbar zu machen und einen Beitrag zur politischen Aufklärung zu leisten“ zum Ziel hat, ist die Protagonisten- und Geschichten-Akquise aus diesem Umfeld das Ende für den eigenen Anspruch. Denn unter False Memory kommen Menschen unter der Prämisse zusammen, dass sexualisierte Gewalt sehr selten und regelhaft von Psychotherapeut_innen eingeredet sei, um unschuldigen Individuen zu schaden. Was in Bezug auf die Realität von sexualisierter Gewalt nicht stimmt und nicht objektiv belegbar ist in Bezug auf die Psychotherapeut_innen.
Das schließt False Memory und damit assoziierte Protagonist_innen für jegliche Zusammenarbeit, die Üb.Erlebenden von sexualisierter Gewalt und/oder Menschen mit psychischer Erkrankung nach Gewalterfahrungen nicht schaden soll, aus.

Ich stelle mir im Hinblick auf die Realität von sexuellem Missbrauch und einer Psycho- bzw. Traumatherapie, die inzwischen ganz anders arbeitet als in den 70er und 80er Jahren, auch die Frage, warum man sich für das Ziel der Aufklärung über Verschwörungstheorien und ihre Folgen nicht mit QAnon, Chemtrails oder Impfgegnern befasst hat. Die Recherche dazu stelle ich mir viel einfacher vor, weil sie viel weniger Risiko bietet, dass Einzelpersonen in ihrem persönlichen Leid zur Schau gestellt und letztlich ausgenutzt werden.

Aber vielleicht geht es bei der Wahl dieses Themenkomplexes ja tatsächlich um Menschen, die an schlechte Therapeut_innen geraten und so Opfer von Falschbehandlung geworden sind.
Diese Geschichten passieren und ihre Protagonist_innen lügen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Aber die Begründung dieser Geschichten mit einem einge.schworenen Netzwerk aus verschwörungsgläubigen (also irrationalen) Einzelpersonen mit Verbindungen bis „ganz nach oben“ und wissenschaftlich als falsch nachgewiesenen Annahmen[10], [11] über die Folgen und Auswirkungen von Psychotrauma muss einer Redaktion als einer Verschwörungstheorie nahekommend auffallen. Und in ihrer Folge ebenfalls als etwas erkennbar sein, das den Betroffenen nicht hilft.

Schrödingers Journalismus – investigativ und unfähig, das Naheliegende zu sehen

So ist der Verlauf der Podcastserie für mich wie ein Autounfall, bei dem ich nicht weghören kann. Man versucht, sich als Patientin für ein Erstgespräch getarnt bei der Psychotherapeutin von Leonie einzuschleichen, um sie zu etwas zu befragen, worüber sie überhaupt nicht sprechen darf, weil sie einer Schweigepflicht unterliegt.
Eine Zeit- und Ressourcenverschwendung, unter der die Journalist_innen nicht leiden – dafür aber die Patient_innen, die gerade in Not sind und ein Erstgespräch brauchen.

Man spricht mit einer Psychotherapeutin, die selbst für mich als halbwegs informierten Laien erkennbar nicht korrekt informiert ist über die ganz basalen Grundlagen der aktuellen Traumaforschung – und dazu noch irritierend überzeugt von der Richtigkeit ihres Handelns und Wirkens als Therapeutin und Ärztin. Aber man meldet sie offenbar nicht bei der Kammer, wie es die Eltern von Leonie damals bei einer anderen Behandlerin von Leonie ganz richtig gemacht haben. Wie es jede_r machen kann, wenn sie_r an eine_n Behandler_in gerät, an dessen_deren Kompetenz und Handlungsweise Zweifel bestehen. Für solche Situationen gibt es Strukturen. Verantwortliche. Handlungsoptionen für Patient_innen. Niemand muss in so einem Fall schweigen oder wird von irgendwem davon abgehalten, Anzeige zu erstatten. Ressourcen dazu habe ich in den Quellnachweisen dieses Betrages zusammengetragen.[12] Das journalistische Rechercheteam, das neben Politik und Wissenschaft auch die Zivilgesellschaft zur Verantwortungsübernahme aufrufen will, hätte diese Informationen ebenfalls teilen können.

Doch nein, man kreiselt sich immer weiter hinein in die ebenfalls kaum haltbare Erzählung von Unklarheit und fehlenden Belegen für Rituelle Gewalt.
So wird gesagt, die Polizei habe keinerlei Kenntnis über Fälle von Ritueller Gewalt. Auch das ist eine desinformierende, weil unvollständige Aussage.
Denn: Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erfasst keinerlei religiöse oder politische Motive für Straftaten. Es gibt eine Abteilung im Bundeskriminalamt, die „Politisch motivierte Kriminalität – religiöse Ideologie“ beobachtet, doch die konzentriert sich auf Islamismus und keine andere Religion oder Weltanschauung. [13]
Wenn also Journalist_innen die Polizei fragen, ob sie Fälle von Ritueller Gewalt kennen, dann antwortet diese: „Nein.“, weil Rituelle Gewalt kein erfasstes Kriterium für die Polizei ist. Mord im Namen einer Religion ist Mord, ideologisch motivierte Vergewaltigung ist Vergewaltigung.

Abgesehen davon gibt es allgemein bekannte Fälle Ritueller Gewalt. Eine einfache Google-Suche zu folgenden Fällen bzw. Gruppierungen hilft: Colonia Dignidad, Kwa Sizabantu, Niederbonner Schwestern, Zeugen Jehovas, Scientology, Orde der Transformanten.

Warum Fälle wie diese nicht als Rituelle Gewalt verstanden werden, kann anhand dieses Podcasts ganz gut illustriert werden:
Zum Einen bewegt man sich, wie gesagt, im Kontext eines Strohmann-Arguments.
Man will einfach, dass Rituelle Gewalt als von Satanisten ausgehend verstanden wird. Immer wieder wird in einen (von False Memory oder „Zweiflern“) selbst geschaffenen und selbst aufrechterhaltenen Diskursraum getragen, „die da“ (die unfähigen Hokuspokus-Therapeut_innen, die religiös wahnhaften Christenpriester und wer nicht noch alles) würden an satanistische Eliten glauben, die ihre sadistischen Phantasien an wehrlosen Kindern ausleben und alle Schichten der Gesellschaft damit beeinflussen – genauer gesagt: verrückt machen.

Während „die da“, welche forschend über Rituelle Gewalt sprechen, die jedwede ideologisch geprägte Weltanschauung zugrunde liegen haben kann und zunehmend als „Thema“ zur Vertuschung oder „inhaltliche Gestaltung“ von organisierter Gewalt verstanden wird. Weshalb es immer wieder auch die sprachliche Weiterentwicklung zur schärferen Abgrenzung dieser zu anderen Formen von Gewalt geben wird. So funktionieren Wissensentwicklung und Diskurs. Wer es genauer weiß, spricht nicht in einfachen Schlagworten. Und schon gar nicht in so übertrieben vereinfachten Worten, wie es für ein Strohmann-Argument notwendig ist.

Eine umfassende Entwicklung der Definition des Begriffs „Rituelle Gewalt“ ist öffentlich zugänglich einsehbar und zeigt, wie sich über die Jahre hinweg mehr und mehr Trennschärfe ergeben hat.[14]
Es ist desinformierend, in einem Podcast zu behaupten, es gäbe keine eindeutige Definition. Und in meinen Augen einfach unverschämt, Menschen um Begriffsklärung und Erläuterung der eigenen Arbeitsgrundlage zu bitten und ihnen dann „Schlagwort-Slalom“ vorzuwerfen.
Das passiert in Folge 3, nachdem Eva Lauer von Lüpke, Vorsitzende der Emanuel-Stiftung und Unterstützerin von Leonie. Lüpke wurde vom Podcast-Team zu einem allgemeinen Gespräch über ihre Stiftung eingeladen und hat offenbar viel Zeit und Mühe aufgebracht, so unmissverständlich wie möglich Definitionen und allgemein missverständliche Schlagworte zu klären. Eine Aufgabe, die im Hinblick auf eine über 45 Jahre andauernde Begriffsentwicklung mit erheblichem Anspruch einhergeht.

Das Verhalten des Podcast-Teams erscheint mir spätestens dann nur noch dreist, als Olga Herschel, die Journalistin, die uns als Sprecherin durch diesen Podcast führt, sagt: „Alles, wirklich alles an Ritueller Gewalt scheint heikel zu sein und dadurch bleibt vieles im Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke sehr schwammig. Aber es gibt einen Fall von Ritueller Gewalt, der ist sehr konkret und den hat Eva Lauer von Lüpke aus nächster Nähe erlebt: Leonie.“
Plötzlich haben sich also die Klarheiten gedreht. Leonie ist also doch ganz konkret Rituelle Gewalt geschehen und die, die es wissen muss, schließlich leitet sie eine Stiftung, die sich unter anderem für Opfer Ritueller Gewalt einsetzt, spricht schwammig.
Interessante Wendung.

Nach dem Gespräch mit Eva Lauer von Lüpke spricht Silke Gahleitner, Professorin für klinische Psychologie und Sozialarbeit, ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK).
Zum zweiten Mal bekommt das Team sinngemäß vermittelt: „Hey, Leute, ‚satanistischer Missbrauch‘ – damit sind wir hier überhaupt nicht befasst. Niemand hier redet von dem, was ihr unterstellt. Es gibt gar nicht so viel Unklarheit, wie ihr annehmt. Hier, diese Zahlen konnten wir erarbeiten, das ist unser Stand der Auseinandersetzung, das ist unsere Datenlage.“
Und wieder wird einer klar erläuternden und daher wenig missverständlichen Interviewpartnerin „Schlagwort-Slalom“ vorgeworfen, weil diese nicht sagt, was das Team hören will, um die Argumentationslinie, der sie inhaltlich folgt, zu bestätigen. Hier sind wir schon weit von seriösem Journalismus entfernt.

Wer dieser Argumentationslinie zuletzt im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gefolgt ist und anschließend als mutiger Gegenpol dargestellt wurde, ist Jan Böhmermann mit einer Folge der Sendung „ZDF Royale“. Seine vom Podcast-Team sogenannte „Kritik“ an der Erzählung über Rituelle Gewalt wurde nach mehreren Beschwerden beim Fernsehrat vom ZDF depubliziert. Eine außergewöhnliche Situation, denn so schnell wird von einem Sender nichts depubliziert. Da müssen dann schon extreme Mängel zu finden sein.
In dieser Sendung jedoch, die als Satire-Sendung bekannt ist, wurde nicht, wie für Satire üblich, nach oben getreten. Also sich über Menschen oder Umstände lustig gemacht, die politisch oder gesellschaftlich verantwortlich sind für Dinge, die schieflaufen. Tatsächlich wurden Gewaltbetroffene und ihre Erfahrungen herabgewürdigt und sich über die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber als Einzelperson lustig gemacht. Eine Person, deren Einfluss auf Deutschland kaum zu vergleichen ist mit dem eines_r Politiker_in oder ähnlichen Verantwortungsträger_innen.

Eine Fernsehsendung, deren Witz nur dann funktioniert, wenn man annimmt, dass Menschen mit Traumafolgestörungen und/oder spezifischen Gewalterfahrungen lügen oder ihre Krankheit und die Überzeugung, bestimmte Gewalterfahrungen gemacht zu haben, von jemandem wie Michaela Huber eingeredet bekommen, ist keine Satire. Das ist nicht einmal Kritik. Das ist opferfeindlich und abwertend gegenüber Menschen mit psychischer Krankheit und gegenüber Michaela Huber möglicherweise auch üble Nachrede oder Verleumdung.[15]

Auch wenn – und darüber muss es einen gesellschaftlichen Konsens geben – es nötig ist, das Thema auch kritisch in der Öffentlichkeit zu besprechen, um Falschbehandlung und Falschanzeige oder Falschverdächtigungen zu verhindern oder aufzudecken – so wie es das ZDF Royale gemacht hat, ist es einfach nicht in Ordnung. Denn egal, wie man es dreht und wendet – es wird nie witzig oder gesellschaftlich anständig sein, darüber zu lachen, dass Menschen Gewalt erfahren haben. Sei es, weil sie ihnen tatsächlich passiert ist oder sei es, weil ein_e Therapeut_in sie davon überzeugt hat. In beiden Fällen ist den Menschen etwas passiert, das nicht in Ordnung war und ein soziales Umfeld erfordert, das diese Erfahrung ernst nimmt, in ihrer Bedeutung begreift und angemessen reagiert. „Hihi haha, Satan-Kostüm, guckt mal, die komische Frau und der Quatsch, den sie erzählt“, ist kein angemessener Umgang. Eine solche Sendung zu depublizieren und auch im Nachhinein nicht noch einmal neu produziert zu veröffentlichen, ist unter der Prämisse, nicht zu schaden oder zur Herabwürdigung von Menschengruppen beizutragen, nur richtig und hat mit umfassender Diskursverhinderung, wie es das Podcast-Team von Undone in Interviews und in der dritten Folge vermitteln, nichts zu tun.

Dass ein Rechtspsychologe wie Andreas Mokros den Schutz von Opfern durch Verhinderung solcher Sendungen erschreckend findet und eine universitäre Verantwortungsposition inne hat, finde ich nun wiederum erschreckend.
Jemand, der etwas für Menschen wie mich tun und erreichen möchte, sollte mir nicht vermitteln, ich müsse es aushalten, dass ganz Deutschland darüber lacht, was mir passiert ist oder passiert sein könnte. Die Konsequenz eines solchen Umgangs mit meinen Gewalterfahrungen – wie gesagt, entweder durch Therapeut_innen oder organisierte Straftäter_innen – ist eine Demütigung aufgrund meiner Erfahrung und meiner Erkrankung. Für mich ist das eine weitere Gewalterfahrung und in letzter Konsequenz auch offene Diskriminierung.

Bedauerlich ist zudem, dass mit ihm und seinem Beitrag die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema zu einem Streit verkommt, dessen Ziel nicht das Schaffen oder Erweitern des Wissensstandes zu ideologisch oder weltanschaulich motivierter Gewalt und ihren Folgen zu sein scheint, sondern – ja, was eigentlich?

Die intersektionale Forschung, also die Zusammenarbeit verschiedener Professionen zu einem gemeinsamen Thema, könnte enorm bereichernd sein und Betroffenen tatsächlich helfen. Warum ist es in der deutschen Wissenschaft so viel leichter, einander zu diskreditieren und in der Fachlichkeit in Frage zu stellen, als zusammenzuarbeiten? Vor allem, wenn es doch allen „nur um die Sache geht“?
Der Gedanke, der mir in Bezug darauf sehr naheliegend erscheint, ist, dass es eben nicht „nur um sie Sache geht“. Wäre dem so, würde meiner Ansicht nach über nicht über Rituelle Gewalt diskutiert oder darüber, dass andere Forschende den Herrn Mokros für einen „wadenbeißerischen Bösewicht“ halten, sondern über die Möglichkeiten und Grenzen unabhängiger Forschung zu Gewalt, die so selten von Täter_innen selbst angezeigt wird, dass es ganz zwangsläufig immer wieder zu „Aussage gegen Aussage-Situationen“ kommt und damit zu einer außerordentlich herausfordernden Zugangs- und Interpretationslage. Keine Seite wird schnell zu eindeutigen Ergebnissen kommen, solange sie sich im Streit mit der anderen befindet. Aber immer wird es Menschen geben, die davon profitieren, dass es noch unzureichend beantwortete Forschungsfragen und einen extrem schwierigen Zugang zum Forschungsfeld gibt: Menschen, die Gewalt ausüben und Menschen, die Täter_innen vor der Strafverfolgung schützen wollen.

Teil 3 – „und die Nebelkerze brennt“

Im Folgenden macht der Podcast inhaltlich einen breiten Bogen.
Er macht Aussagen über Studien- und Forschungsbetriebsarchitektur, die eine nicht-wissenschaftliche Öffentlichkeit kaum in ihrer Validität einschätzen kann, und ordnet sie zum nächsten emotionalisierenden Schlagwort zu, das diesmal jedoch von der UKASK kommt: „Memory Wars“.
Für mich ein irritierender Sprung, ging es bei den „Memory Wars“ doch um die Frage, ob und wenn ja, wie sehr Erinnerungen an traumatische Erfahrungen verdrängt werden können. Ob Verdrängung überhaupt ein Ding ist. Was eine Erinnerung ist. Wie man sich unter welchen Umständen erinnert. Was eine Erinnerung von einer Überzeugung unterscheidet.
Das wissenschaftliche Veröffentlichungs-Pingpong der 90er Jahre hat nicht darüber diskutiert, ob es Rituelle Gewalt gibt oder nicht, sondern ob man sich als Opfer in welcher Form und in welcher Zeitspanne wie konkret und bewusst erinnert.

Zu sagen: „Sowas kann doch keiner verdrängen oder vergessen!“, ist eine der Attacken, die False Memory von jeher fährt, nachdem Vertreter_innen dieser Bewegung sexualisierte Gewalt lange geleugnet hatten, indem sie äußerten: „Würde es sowas geben, gäbe es ja Beweise.“
Heute ist allgemein bekannt, dass es das gibt. Selbst in „Geteiltes Leid“ wird eingeräumt: „Natürlich gibt es organisierte Gewalt an Kindern, Menschenhandel und Ausbeutung. Das ist alles vielfach dokumentiert. Und es gibt Fälle, in denen organisierte Gewalt in einer Sekte stattfindet. Und ja, viele Opfer organisierter oder sexualisierter Gewalt berichten auch von Einschüchterungen, von Manipulationen. Das ist ein Grund, warum sich Betroffene lange nicht trauen, sich Hilfe zu holen.“ Heute kann sich wirklich niemand mehr in die Öffentlichkeit stellen und die Leugnung (Denial) über sexualisierte Gewalt aufrechterhalten.
Aber attackieren (Attack), wer Erfahrungen teilt, ohne objektive Beweise anzubringen, oder Menschen glaubt, die Erinnerungen oder Überzeugungen teilen, ohne Beweise dafür einzufordern oder auch nur dazu forscht, um vorliegende Hinweise zu untersuchen – das funktioniert noch heute. False Memory muss das auch machen, sonst würde die Argumentation aus der Opferrolle heraus (Reverse Victim and Offender) nicht funktionieren.

An diesem Punkt in der Serie wünscht man sich mehr Klarheit in all dem Nebelkerzenrauch.
Nachdem man nun vieles gehört hat, zu dem man selbst als nicht-wissenschaftliche_r Zuhörer_in kaum eine fundierte Meinung, ja, nicht einmal einen Einblick in die Arbeitsrealitäten haben kann – da ist man versucht, der Abgrenzung des Teams zu folgen. „Was es aber nicht gibt: Brutalste Folter und Morde, die unsichtbar im Untergrund passieren … “ – Ein Ausschluss, der bei einem Format mit journalistischem Anspruch irritiert. Etwas komplett ausschließen, das ist vollkommen unjournalistisch. Vielmehr ist es journalistisch, dort etwas zu finden, wo andere sagen, da sei nichts. Deshalb ein kleiner Realitätscheck: Guantánamo Bay, Colonia Dignidad, die Mafia, kalter Krieg – Zweifelsfrei gibt es Folter und Morde in Zusammenhängen, die dem Großteil der allgemeinen Bevölkerung verborgen sind. Das ist, was der Begriff „im Untergrund“ an dieser Stelle bedeutet.
„… und an die die Opfer jahrzehntelang keine Erinnerungen haben, weil ihre Persönlichkeiten zersplittert und programmiert sind.“
So ausgedrückt – ja. Kann ich zustimmen. Die „Zersplitterung“ einer Persönlichkeit ist nicht möglich, da die Persönlichkeit eines Menschen das Ergebnis seiner Interaktion und Kommunikation mit dessen Umwelt ist und kein fester Gegenstand, an dem mal hier, mal da was absplittern kann, wenn jemand draufschlägt. Dieses Bild von Persönlichkeit ist massiv überholt und führt zu falschen Annahmen über die Leistungsfähig- und Fertigkeiten der menschlichen Psyche und dem folgend ihre (neuro)biologischen Grundlagen.

Entsprechend redet heute kein wissenschaftlich fundiert arbeitender Mensch mehr von „verschütteten Erinnerungen, die in einer Therapie hervorgeholt werden“, sondern davon, wie ganz normale Prozesse der Reiz- und Informationsverarbeitung dafür sorgen, dass man sich sowohl banaler als auch ganz massiver Dinge teilweise oder auch ganz nicht (ich-)bewusst sein kann. „Sich der eigenen Erfahrungen (ich-)bewusst sein“ über Dinge oder (biografische) Erfahrungen ist etwas anderes, als „sich an Dinge erinnern“. Das eine kann erreicht werden mittels Datenauf- und -übernahme – das andere durch Erfahren bzw. erfahrungsbedingtes und kontextualisiertes Lernen.
Wenn mir jemand einredet, ich hätte Gewalt erlebt, kann ich dieses mir eingeredete Wissen jederzeit abrufen und wiedergeben.
Wenn ich Gewalt jedoch erfahren habe, gibt es bedingt dadurch, wie im Moment der Gewalterfahrung das Gehirn funktioniert, schwer vorhersehbare Grenzen der Reiz- und Informationsverarbeitung.[16] Das, was man im Nachhinein dann über die Erfahrung sagen kann, ist zwangsläufig lücken- und fehlerhaft und in manchen Fällen auch als ich-fremd erlebt. Die betroffenen Menschen erleben sich selbst und werden oft auch von anderen Menschen als „nach dem Ereignis nicht mehr die_rselbe“ wahrgenommen.
Ein Umstand, der relativ gut erforschte (Schutz-)Reaktionen der Betroffenen, aber auch ihrer Angehörigen fördern kann. Wie zum Beispiel Vermeidungsverhalten.

Im Fall der DIS kann man von extrem gut eingeübter traumabedingter Vermeidung (die durch Dissoziation ermöglicht und aufrechterhalten wird) sowohl vor sozialem Umfeld, als auch vor sich selbst ausgehen.[17] Wer sich selbst nicht umfassend mit einer oder mehreren traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang bringen kann, entwickelt ein Selbstbild, das damit einfach nichts zu tun hat und im gegebenen sozialen Alltag und Miteinander so angepasst wie möglich funktionieren kann, um diese Vermeidung bzw. das eigene Selbstbild nicht aufgeben zu müssen.
Die eigene Funktionsfähigkeit um jeden (auch langfristig schädigenden) Preis zu erhalten, ist in diesem Zusammenhang gesund, normal und ein zum Niederknien großartiges Ding, zu dem Menschen fähig sind. Alle Menschen. Nicht nur Überlebende oder Menschen in schweren Krisen.

Dissoziation ist ein natürliches Phänomen. Kein Mensch würde ohne durch den Tag kommen – übrigens der Grund, weshalb Amelie unter der Aufforderung, sich „immer auf jede noch so kleine Stimme im Kopf“ zu konzentrieren, so enorm gelitten hat, wie sie in der vierten Folge „Geteiltes Leid“ schildert. Es ist für das menschliche Gehirn biologisch überhaupt nicht vorgesehen, alles immer zu jedem Zeitpunkt bewusst und präsent im Denken zu haben. Wir brauchen nicht so zu tun, als wäre Dissoziation ein von windigen Therapeut_innen ausgedachtes Spezialfeature oder eine besondere Begabung von Opfern sexualisierter Gewalt, die sie zu etwas ganz Besonderem macht, nämlich einem Menschen mit DIS oder assoziierter dissoziativer Störung.

vom Besonderen zum Absurden – eine gefährliche Abkürzung

Diese „Besonderisierung“ (dieses Othering) von Menschen mit DIS bietet einen extrem isolierenden Nährboden für alle möglichen von mir so genannten „Multimythen“, die letztlich bis heute dafür sorgen, dass die Allgemeinheit entweder annimmt, diese Störung sei mit dem Leben nicht vereinbar, oder aber denkt: „DIS – ja ha Sybil, Split, Satanistische Elite, Quatschtherapeuten und Trauma-Opferbonus“ und entsprechend mit Betroffenen umgeht.

Zu den klassischen Multimythen gehört in meinen Augen die Erzählung von Medikamenten, die bei allen Anteilen unterschiedlich wirken. Anteile mit unterschiedlichen Augenfarben, extreme Fähigkeiten bei allen möglichen Anteilen gleich, zu 100 % komplett autonome Doppel-Dreifach-Vierfachleben und die „absichtlich gemachte DIS“, auch „künstliche DIS“ genannt in Abgrenzung zu „natürlicher DIS“.
Jede meiner Recherchen in den vergangenen 20 Jahren zu diesen und anderen Multimythen, von denen einige auch in den ersten Auflagen von Michaela Hubers Buch „Multiple Persönlichkeiten, Überlebende extremer Gewalt“ stehen, führten zu nichts. Keine Studien, nichtmal qualitative Befragungen, nur anekdotische Evidenz in den sozialen Medien und Veröffentlichungen von Betroffenen sowie eine praktisch quellenlose Beschreibung der Idee der „planvollen Spaltung“ von Gaby Breitenbach[18] habe ich bisher dazu gefunden – und das ist mir zu wenig.

Um diese kritische Haltung einzunehmen, brauche ich nicht zu negieren, dass die DIS eine valide und unterforschte Erkrankung ist, oder dass es für Täter_innen außerordentlich praktisch sein kann, es mit Menschen zu tun zu haben, die es gewohnt sind, Opfer zu sein und sich entsprechend leicht fügen oder sogar „aus freiem Willen“ für Gewalt zur Verfügung stellen.
Zu dieser kritischen Haltung komme ich, weil ich ein Mensch bin, wie andere Menschen mit einer anderen Diagnose auch. Wer heute in Epileptiker_innen noch jemanden mit direktem Draht zu G’tt sehen würde, würde zuverlässig vor dieser und ähnlichen längst überholten Fehlannahmen geschützt werden. Und zwar nicht nur von Professor Doktor_innen und den spezialisiertesten Fachärzt_innen, die es gibt, sondern auch von der Mehrheit der Menschen. Wer jedoch auch heute noch eine DIS-Diagnose bekommt, steht diesbezüglich praktisch allein auf weiter Flur. Wie allein, das wird in der vierten Folge des Podcasts gut illustriert.

Teil 4 – „Die Helfer_innen und die Hilfe“

Eine Diagnose ist etwas, das Beobachtungen von fachspezifisch geschulten Menschen zusammenfasst. Sie sehen etwas, erkennen etwas und gleichen ihre Beobachtungen ab.
Damit in Medizin und Psychologie Klarheit darüber besteht, welche Beobachtungen wie eingeordnet werden können und in jedem Land auf der Welt die gleiche Einordnung und Behandlung möglich ist, gibt es standardisierte Verzeichnisse. Diese Verzeichnisse sind das „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ (ICD) und das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM).
Die World Health Organisation (WHO) ist eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen. Sie hat Aufgaben, deren Ergebnisse auf vielen Ebenen dazu führen sollen, dass überall auf der Welt das Recht jedes Menschen auf Gesundheit und medizinische Versorgung umgesetzt werden kann. Im Zuge dieser Aufgaben ist die WHO an der stetigen Aktualisierung des ICD beteiligt.

Eine Diagnose kommuniziert also eine Beschreibung des Bildes, das sich jemand von jemand anderem gemacht hat. Sie ist kein Messinstrument. Sie ist kein Werkzeug zur Bestätigung oder Bewertung individueller Lebenserfahrungen eines Menschen. Eine Diagnose kann nicht bestellt oder geliefert werden. Diagnostik hingegen kann beeinflusst werden, denn Menschen planen sie und führen sie durch.
Im Podcast „Geteiltes Leid“ geht man der Idee nach, dass Psychotherapeut_innen und Mediziner_innen von Verschwörungstheorien beeinflusst sind und deshalb nicht nur eine falsche Diagnose an schwer erkrankte Menschen vergeben, sondern diese Menschen auch noch so beeinflussen, dass diese die verschwörungsbedingten Überzeugungen ihrer Behandler_innen bestätigen. Ein Geschehen, das man ironischerweise als Rituelle Gewalt einordnen könnte.

The wheels on the bus go round and round and round and round

Beim Hören entsteht der Eindruck, die Beeinflussung durch den Verschwörungsglauben an satanistische Eliten wäre das Hauptproblem für falsche Behandlung und alleinige Grundlage für die Vergabe einer DIS-Diagnose. Würde man nicht daran glauben, dann würde man die Diagnose nicht vergeben und auch keine schädigende Behandlung machen.
Diese bis zum Schluss nicht falsifizierte Vorannahme der vierten und letzten Folge der Serie, wird deutlich im Gespräch zwischen der Sprecherin und Journalistin Olga Herschel, die in 5 Jahren an 3 verschiedenen Standpunkten als Ärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gearbeitet hat, und ihrem Interviewpartner Stefan Röpke, der seit 22 Jahren Facharzt ist und an der Charité forscht.
Man kann sich aufgrund der Vorstellung seiner Person nicht erschließen, wie viele Patient_innen er pro Tag sieht, ob und wenn ja, wie er in Diagnostik und Behandlung eingebunden ist. Ja, nicht einmal, woran genau er in Bezug auf Traumafolgestörungen forscht. Sein Expertenprofil auf der Webseite der Charité zeigt lediglich, dass eines seiner größten Themen die „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (BPS) ist.[19]

Die Diagnose der BPS hat viele Überschneidungsbereiche mit einer DIS-Diagnose. So können zum Beispiel auch Menschen mit BPS teils schwere dissoziative Symptome, Identitätsstörungen und suizidale Krisen haben. Suchterkrankungen und selbstverletzendes Verhalten unterschiedlicher Ausgestaltung sind keine Seltenheit in der Gruppe der Menschen mit dieser Störung, und viele von ihnen haben traumatische Erfahrungen in ihrer Biografie. Im Vordergrund steht jedoch häufig eine Affektregulationsstörung, die das soziale Miteinander mit anderen Menschen erheblich beeinflusst und zu wiederkehrenden Bindungskrisen durch Angst vor dem Verlassenwerden führt.[20]

Für mich erklärt sich mit diesem Hintergrundwissen zu Röpkes Expertise schnell, weshalb er noch nie eine DIS-Diagnose vergeben hat. Wer einen Hammer hat, sieht auch in einer Schraube einen Nagel und kriegt sie mit genug Kraft auch an die vorgesehene Stelle.
Ein verbreitetes Phänomen, das auch unter dem Stichwort „confirmation bias“ bekannt ist und nichts damit zu tun hat, ob man von einer Verschwörungserzählung überzeugt ist oder nicht.
Es ist eine natürliche Tendenz, sich selbst in dem zu versichern, was man kennt und entsprechend überwiegend den Fokus auf das zu legen, was man eindeutig erkennt. Man erkennt am sichersten, was man am häufigsten gesehen hat. Was man am häufigsten gesehen hat, hat man am häufigsten angesehen. Was man dabei alles nicht gesehen hat, hat man auch nie gesehen.

In einem Podcast, der zur Verantwortungsübernahme mahnt, muss man meiner Ansicht nach der Verantwortung nachkommen, diese Tendenz und die Folgen von selektiver Wahrnehmung auch im eigenen Projekt zu erkennen und entsprechend gegenzusteuern. Das ist meiner Meinung nach nicht passiert.

der echte Teufelskreis

So verpasst das Podcast-Team im Abschnitt über die Dresdner Privatklinik „Waldschlösschen“, Amelies Behandlungserfahrung und die Aussagen von Martina Rudolf, der Leiterin der Klinik, das tatsächliche Hauptproblem – den für so manche Menschen mit DIS wahren Teufelskreis – zu erkennen: die ganz allgemein und für alle Menschen gleich unzureichende und entsprechend häufig auch mangelhafte psychotherapeutische, psychiatrische, medizinische, pädagogische und sozialarbeiterische Versorgung in Deutschland und sämtliche Konsequenzen für Patient_innen mit jedweder Diagnose daraus.

In diesem Abschnitt können wir anhand von Amelies Behandlungserfahrung sehr gut nachvollziehen, wie schädlich es ist, wenn eine ambulant gestellte Diagnose und die sich daraus ergebenden Behandlungsansätze im stationären Rahmen nicht umfassend überprüft, sondern offenbar einfach übernommen wird.
Zahlen kann ich für diese Praxis leider nicht anbringen, daher muss an dieser Stelle die anekdotische Evidenz ausreichen. Jeder, egal, ob psychisch oder physisch chronisch kranke Mensch, den ich kenne, hat zu einem oder mehreren Zeitpunkten im Leben eine Fehldiagnose in der Akte stehen gehabt, die noch mindestens eine weitere behandelnde Person ohne validierende Diagnostik einfach übernommen hat. Ein Grund dafür: „Husch husch – Zeit ist Geld.“ In Deutschland das typische Grundrauschen jedes medizinischen, psychotherapeutischen oder psychiatrischen Behandlungsgeschehens.
Damit, dass jemand bestimmte Diagnosen stellen will, weil sie das eigene Weltbild bestätigen, wie im Podcast über die DIS und Rituelle Gewalt unterstellt, hat das nichts zu tun.

Am Ende des letzten Teils schrieb ich, dass man als Mensch, der diese Diagnose bekommen hat, allein auf weiter Flur ist. Und dass das ein Problem ist.
An Amelies Geschichte kann man sehr gut aufzeigen, inwiefern das so ist.
Da ist zum einen der Umstand, dass vor der DIS für die meisten Betroffenen viele andere Diagnosen, Klinikaufenthalte, Therapien und Hilfemaßnahmen kommen, die unterschiedlich hilfreich (heilend) oder zerstörerisch (verletzend) wirken und in jedem Fall mit dem Stigma und der Diskriminierung von psychischer Krankheit bzw. Behinderung einhergehen.
Viele Betroffene verlieren im Lauf ihrer „Psychokarriere“ nicht nur zeitweise ihre individuelle Freiheit, Würde und Selbstbestimmung (etwa durch Zwangsbehandlungen oder den Umstand, dass es gar nicht genug Einrichtungen mit passendem Behandlungskonzept gibt, sodass eine selbstbestimmte Wahl der Behandlungsart unmöglich ist), sondern auch den Kontakt zur eigenen Familie, den Anschluss an Schule, Arbeit und Freund_innen.
Je länger die Phase der psychischen Krankheit andauert, desto wahrscheinlicher ist eine solche Entwicklung. Und davor haben so gut wie alle Menschen Angst. Ob sie nun wissen, dass etwa 76 % der obdachlosen Menschen „auch psychisch krank sind“[21] oder nicht. Es ist absolut klar, dass, wer nicht gesund im Sinne von arbeitsmarktgerecht funktionstüchtig ist, ein echtes Problem hat und sich um Hilfe bemühen muss.
Ob welche da ist oder nicht. Und auch: Ob sie hilft oder nicht. Bevor man gar nichts macht und man für jemanden gehalten wird, die_r krank sein will, nehmen sehr viele Menschen auch Angebote an, die nicht für sie geeignet oder für Menschen mit ihrer Diagnose unerprobt sind. In so mancher Krisenphase ist „zu wenig oder nicht ganz richtig“ schnell mal „immerhin etwas und nicht ganz falsch“. Die Folgen solcher Kompromisse können verheerend sein und die Entscheidung darüber kann von niemandem in allen möglichen Konsequenzen vorhergesehen werden.

Eingegangen werden müssen diese Kompromisse dennoch. Für komplex traumatisierte Menschen mit mehreren assoziierten Erkrankungen gibt es de facto keine andere Wahl, denn „Traumatherapie“ ist kein geschützter Begriff. Als Psychotherapeut_in und Heilpraktiker_in für Psychotherapie kann man praktisch alles „Traumatherapie“ nennen, was dabei helfen soll, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Der Fort- und Weiterbildungsmarkt zur Thematik ist voll mit allen möglichen Akteur_innen, die viele verschiedene Methoden anbieten oder weiterentwickeln. Manche davon, wie zum Beispiel EMDR, sind umfassend erforscht, während anderen, wie der „(traumafokussierte) Familienaufstellung“, ganz klar ein Personenkult und damit verbunden eine esoterisch-autoritäre Weltanschauung zugrunde liegt.

Als Patient_in mit Traumafolgestörung ist eine umfassende Psychoedukation wichtig, um überhaupt zu verstehen, worum es bei der eigenen Erkrankung geht. Nur so gibt es eine Chance, Kompetenzen im Umgang damit zu entwickeln und sich vor Betrug und wirkungslosen Behandlungen zu schützen.
Auch um diesen ganz basalen Punkt der Aufklärung ist ein Abgleich mit der Realität wichtig. Man muss sich fragen: Wann und wozu erhalten Menschen eine Diagnose und wie wird sie ihnen erklärt? Sind Behandler_innen – egal ob sie medizinisch, psychiatrisch oder psychotherapeutisch arbeiten – immer in der Lage, ihre Patient_innen aufzuklären? Gibt es wirklich immer die Zeit und die Ruhe und die angemessenen Umstände, um sich auf jede_n einzelne_n Patient_in einzulassen? Auch die, die kein oder nur wenig Deutsch sprechen? Die Leichte Sprache brauchen? Die gehörlos, taub oder taub-blind sind? Die temporär oder dauerhaft Probleme mit dem Gedächtnis haben? Die mental instabil oder sogar dekompensiert sind?

Gerade in Bezug auf Notfallbehandlungen können meiner Meinung nach die wenigsten Patient_innen davon ausgehen, eine Diagnose zu erhalten, die tatsächlich auch etwas mit ihnen zu tun hat. Viel eher werden hier schnelle und durchaus auch fachfremde Sichtdiagnosen gemacht und die Spezifizierung, wenn nötig auch Richtigstellung und Patient_innenaufklärung, den (weiter)behandelnden Kolleg_innen überlassen. Ob die Patient_innen einen Behandlungsplatz zur Weiterbehandlung haben oder nicht. Und ob die_r weiterbehandelnde Kolleg_in die Ressourcen dafür hat oder nicht.

Der hochproblematische „Doktor Google“ ist nicht der ständige Mitbehandler vieler Patient_innen geworden, weil diese hypochondrisch sind oder ihre Pathologie zelebrieren, sondern weil das Internet mit seinen massenhaften Informationen verfügbarer ist als ein_e kompetente_r Behandler_in mit ausreichend Zeit und angemessen spezifischem Wissen, um die Informationen, mit denen Patient_innen kommen, fachlich richtig einzuordnen.
Es ist die Folge eines strukturellen Problems im deutschen Gesundheitswesen, das alle Patient_innen und (Weiter)Behandler_innen gleich betrifft. Es sind jedoch marginalisierte Personengruppen ((darunter chronisch (psychisch) erkrankte Menschen)), die den größten Schaden davontragen. Denn sie sind es, die mit Diagnose A bei Behandler_in A sind, aber die Notaufnahme mit Diagnose B oder C oder D verlassen und damit zur Weiterbehandlung zu Behandler_in B müssen, weil Behandler_in A, Krankheit B, C oder D nicht behandeln kann. Es liegt an Behandler_in B, ob nun Krankheit A, B, C oder D behandelt wird und ob die_r Patient_in umfassend und für sie_ihn nachvollziehbar aufgeklärt werden kann.
Und ob Behandler_in B überhaupt weiter von der_dem Patient_in aufgesucht wird. Vielleicht ist die Praxis nicht barrierefrei. Vielleicht ist die Praxis zu weit weg. Vielleicht muss die Behandlung bei Behandler_in B anteilig selbst gezahlt werden. Vielleicht ist es Teil der Erkrankung, Termine nicht pünktlich wahrnehmen zu können oder sie gänzlich zu meiden, weil sie mit unerträglichen Inhalten konfrontieren könnten. Vielleicht ist eine Assistenz oder Betreuung notwendig für den Termin, das Budget der Fachleistungsstunden aber bereits ausgeschöpft. Oder Assistenz/Betreuung beeinflusst die_n Patient_in mit negativen Kommentaren oder anderem unangemessenem Verhalten.

Verschwörungsindoktrinierte Behandler_innen sind nicht der Grund für Patient_innen (und ihre Angehörigen), die Antworten in Selbsttests, windigen Artikeln oder laieninformierter Selbstdiagnose suchen – das Gesundheits- und Abrechnungssystem besorgt das schon von ganz allein und fördert es zuweilen sogar noch mit unmoderierten Selbsthilfegruppen, die lediglich eine Selbstauskunft erfordern oder dem sozialen Notausgang „Sie sind die_r Experte_in für sich selbst“.
Patient_innen jeder wie auch immer gelagerten Erkrankung sollen und müssen es am Ende immer selbst am besten wissen. Auch dann, wenn sie das gar nicht können, weil ihnen das Fachwissen nicht angemessen zugänglich gemacht wird oder sie initial fehldiagnostiziert wurden, was sie als Patient_innen ohne die entsprechenden Kompetenzen überhaupt nicht wissen oder an sich selbst auch nicht in allen Fällen überprüfen können. Sie sind auf ihre Behandler_innen und deren Behandlung, aber auch ihre Behandlungsempfehlung angewiesen.

Bei einer Erkrankung wie der DIS bewegt man sich im Fachbereich der dissoziativen Störungen und der Traumafolgestörungen. Das macht die DIS jedoch nicht zu einem juristischen Beweis oder wissenschaftlich eindeutigen Nachweis für Gewaltbetroffenheit und schon gar nicht zu einem Beweis für eine bestimmte Form von Gewaltbetroffenheit.

Ein Trauma ist kein Ereignis. Es ist die Folge eines oder mehrerer Ereignisse.
Eine Traumafolgestörung entsteht durch die unzureichende Verarbeitung der Folgen eines oder mehrerer Ereignisse. Aufgrund der unvorhersehbaren und unkontrollierbaren Einschränkung und Veränderung der Reiz- und Informationsverarbeitung während eines oder mehrerer traumatischer Ereignisse, ist es unmöglich, spezifischen Gewalttaten spezifische Traumafolgestörungen zuzuordnen.
Man kann jedoch in Wahrscheinlichkeiten denken. Wenn beispielsweise ein Berufssoldat eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nach einem Einsatz entwickelt und diese Erkrankung bei Berufssoldaten allgemein als „Berufskrankheit“ eingeordnet wird, dann ist es zwar nicht wissenschaftlich oder juristisch gesichert, dass der Einsatz eines Berufssoldaten zu dessen PTBS geführt hat – als medizinische_r oder psychologische_r Behandler_in die Wahrscheinlichkeit dafür jedoch als hoch einzuschätzen, wird dadurch nicht automatisch falsch. Eine Überprüfung im zur Verfügung stehenden Rahmen (also das Gespräch mit jenem Soldaten und wenn vorliegend dessen Krankenakte) geschieht im Zusammenhang mit der Diagnostik.

Diese für viele Menschen so komplizierten Feinheiten, die zu verstehen und nachzuvollziehen so viel Wissen um wissenschaftliches Denken und Ordnen, Kategorisieren und Bewerten erfordert, sind die Teile, die dem Podcast „Geteiltes Leid“ fehlen, um die Situation von Amelie im Waldschlösschen, aber auch von Leonie und Thomas, dem Sohn von Herrn Bartel, dessen Geschichte in der dritten Folge erzählt wird, wirklich umfassend zu verstehen. Vielleicht hätte Thomas etwas davon erzählt, doch wir werden das nie erfahren, denn das Podcast-Team hat nur dem nach eigener Aussage fälschlicherweise des „knallharten Missbrauchs“ beschuldigten Vater ermöglicht, sich persönlich zu äußern.

Amelie hingegen kann sich äußern. Und was sie über die Klinik „Waldschlösschen“ in Dresden sagt, stimmt: Jede_r in der DIS-Bubble kennt diese Klinik.
Warum? Weil sie, soweit ich informiert bin, die einzige Klinik in Deutschland ist, die eine eigene Station für Frauen mit DIS hat und nicht nur allgemein „auch dissoziative Störungen und Traumafolgestörungen“ behandelt. Die Konkurrenz ist rar. Die Wartezeit unfassbar lang. Für Kassenpatient_innen nur mit enormem Aufwand überhaupt finanzierbar.

Das Hilfeversprechen wirkt nicht nur auf Patient_innen, sondern auch Behandler_innen. Besonders, weil praktisch allen Behandler_innen von Menschen mit komplexem Krankheitsbild klar ist, dass die Krankenkasse aufhört, die Therapie zu bezahlen, bevor die Krankheit geheilt bzw. das Leiden erheblich verringert oder weg ist. Eine Intervalltherapie in einem teil- oder vollstationären Rahmen wird daher von ambulanten Psychotherapeut_innen häufig als begleitende oder ersetzende Behandlung angestrebt bzw. der ambulanten Behandlung hinzugefügt, um ihrem Arbeitsauftrag weitestgehend nah zu kommen.
Eine Überprüfung der Behandlungsqualität von an Patient_innen empfohlenen Kliniken ist wünschenswert, aber auch nur im bestimmten Rahmen für Behandler_innen leistbar.
Die Patient_innen sollen und müssen selbst entscheiden. Leider ganz egal, ob sie das auch können oder nicht.

Die meisten können – egal, ob es bei ihrer Behandlung um eine DIS geht oder nicht – erst vor Ort und nach einer gewissen Behandlungszeit wissen, ob die Behandlung wirkt oder nicht und ob sie ihnen hilft oder nicht. Und wenn sie merken, dass sie Quatsch mitmachen sollen und mit ihnen Dinge passieren, die ihnen falsch oder verfälschend erscheinen, dann haben sie nicht nur ein Problem, sondern gleich einen ganzen Haufen.
Denn an wen können sie sich in so einem Fall wenden? Wer kann ihnen ganz sicher sagen, was ihnen wirklich hilft und was nicht? Worauf sollen und worauf können sie sich verlassen? Wie erfolgversprechend ist das Kontaktieren des Qualitätsmanagements? Wie viel von ihrer Würde und ihrer Privatsphäre müssen sie opfern, um ihre Lage klarzumachen? Wer muss alles involviert werden, um eine Klinik erfolgreich wegen Falschbehandlung oder Betrug, Versorgungsmängeln oder der Desinformation von Patient_innen dranzukriegen? Wer glaubt ihnen? Wer nimmt sie ernst, obwohl sie psychisch krank sind?

Und überhaupt – was ist denn danach? Wo ist die Heilbehandlung denn realistisch noch zu erwarten, wenn die spezielle Spezialklinik nicht in Frage kommt? Wo gehen von Helfer_innen verletzte Menschen hin, wenn sie Hilfe brauchen?

Die wenigsten Patient_innen in Amelies damaliger Lage sind Therapeut_innen hörig, die ihnen Verschwörungsstuss einreden. Die meisten kämpfen um ihr Leben und tun, was nötig ist: Mitmachen, bis ihnen kein (angenommener oder realer) Schaden mehr entsteht, wenn sie damit aufhören. Das ist eine Dynamik, die nicht speziell für das Waldschlösschen steht, aber im Podcast wird es so impliziert.

Außer Frage steht für mich, dass man über Handouts und andere Inhalte, die in einer Klinik vermittelt werden, auch kritisch sprechen können muss. Es ist äußerst problematisch, dass Patient_innen kein fundiertes Material zum Umgang mit ihrer Symptomatik gegeben wird. Das ist in meinen Augen ein erheblicher Mangel und bedarf mehr Erklärung als das, was wir dazu, gefiltert von der Podcast-Redaktion, von der Klinikleiterin erfahren.
Und es ist kaum zu fassen, dass Kliniken die Behandlung von Patient_innen deshalb finanziert bekommen, weil sie der Krankenkasse und anderen Kostenträgern gewissermaßen garantieren, auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft oder nach höchstem fachlichen Standard zu behandeln, sich dies aber nicht durchgehend in Einzel- oder Gruppentherapien, der Unterbringung oder pflegerischen Versorgung zeigt. Würde das vorliegen, wäre dies in meinen Augen Betrug und ein Skandal – egal, ob es dabei um eine Klinik mit Schwerpunkt auf DIS geht oder nicht.
Eine Einordnung, die diesem Podcast nicht gelingt.

Und noch mehr Einordnungen passieren in diesem Podcast nicht.
Zum Beispiel die um den Komplex darum, ob es möglich ist, dass die WHO von einer nicht näher benannten Gruppe, die sich nicht im Rahmen der Satzung der WHO bewegte, getäuscht wurde, damit sie die Diagnose der DIS im ICD platziert und infolgedessen Rituelle Gewalt (als von satanistischen Eliten, die unbemerkt foltern und morden, ausgehend) als reales Geschehen anerkennt.

Für mich als Laien klingt genau das nach einem Element einer Verschwörungstheorie. Deshalb fütterte ich den VerschwörungsChecker[22] mit der Geschichte. Hier ist das Ergebnis:

Screenshot, das Ergebnis ist nahe an

Normalerweise bekomme ich ein besseres Bild von Zusammenhängen, wenn mir klar ist, was Quatsch ist und was nicht. Bei diesem Podcast hilft es mir nicht sonderlich, die einzelnen Abschnitte und Erzählungen so zu ordnen. Ich muss an die Bemerkung von Aurelia Bazekovic, Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung, zu diesem Podcast denken: „Lost in Amalgam“.[23]

Das Podcast-Team vermittelt, die WHO sei unfähig zur Analyse, Verifizierung und Falsifizierung wissenschaftlicher Daten, und wer sich auf ihre Veröffentlichung, also den ICD-11-Katalog, beziehe, würde Falschbehandlung gewissermaßen aus Überzeugung durchführen. Was diese Unterstellung für sämtliche anderen Diagnosen im ICD und entsprechend für Behandler_innen jeglicher Professionen bedeuten würde, bleibt den Zuhörenden und ihrer Vorstellung überlassen. Meiner Meinung nach ein grober Fehler und eine ungeheuerliche Unterstellung gegenüber allen Behandler_innen weltweit, da die WHO global agiert.

So einen großen Bezugspunkt medizinischen Konsenses anzugreifen und frühere Fehlannahmen wie die, dass auch Homosexualität lange von der WHO als Krankheit verstanden wurde, heranzuziehen, führt dazu, dass Patient_innen und Behandler_innen verunsichert werden. Wer unsicher ist, gibt bestimmte Grundhaltungen tendenziell schneller auf. Die Grundhaltung, um die es hier geht, ist die, wem man was unter welchen Bedingungen und warum glaubt.

Die Verpflichtung zu helfen

Eine Gesellschaft, die Gewalt an Menschen in unterschiedlichsten Formen für real, die Opfer von Gewalt für Individuen mit ganz eigenen Reaktionsfähig- und -fertigkeiten hält und die zwischenmenschliche Fürsorge auch in Form von medizinischer Behandlung für ein Grundrecht – so eine Gesellschaft kommt wohl kaum zu dem Schluss, zu sagen: „Wir könnten uns über Ausmaß und Gestaltung der Ursachen irren, deshalb glauben wir niemanden und haben entsprechend auch keine Grundlage zu helfen, wenn nötig.“
Letztlich ist doch aber das ein Kernstück des hippokratischen Eides und dessen Pendants in anderen helfenden Berufen: die Verpflichtung, zu helfen.

Aus dieser Verpflichtung ergeben sich unzählig viele Fragen und Ansätze darüber, was Hilfe eigentlich ist. Wer wie helfen kann und wer nicht. Was genau wem wann und warum hilft und was nicht.
Die Bundesregierung hat sich mit der Einrichtung des Amtes des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM, derzeit besetzt von Kerstin Claus) und der Einrichtung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) für einen pragmatischen Weg der Klärung und des Erkenntnisgewinns entschieden. Die staatliche Anerkennung der Realität aller Formen sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen sowie ihrer individuellen Folgen für die Betroffenen ist damit implizit erfolgt. Ein unvergleichlicher Meilenstein.

Die Anerkennung von offenen Fragen zum Themenkomplex „sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen“ und bisher wenig oder nur unzureichend beantworteten Fragen ist damit jedoch auch passiert. Daher wurden eindeutige Aufgaben und Ziele formuliert.
Die UKASK soll:

  • […] Tatsachen offenlegen, Verantwortlichkeiten identifizieren und Wege zur Anerkennung des Unrechts aufzeigen.
  • Sie soll einen geeigneten Rahmen bieten, um Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend sowie Zeitzeug*innen anzuhören und somit die Möglichkeit schaffen, auch verjährtes Unrecht mitzuteilen.
  • Daraus sollen Schlüsse zur besseren Versorgung heute erwachsener Betroffener sowie zur Prävention gezogen werden.
  • Sie soll Wege der Anerkennung des Unrechts und Leids durch Politik und Gesellschaft aufzeigen, sowie modellhaft Eckpunkte der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch entwickeln und empfehlen.
  • Sie soll institutionelle und gesellschaftliche Aufarbeitungsinitiativen anregen, Forschungsfragen zu relevanten Themen der Aufarbeitung identifizieren, Forschungsaufträge vergeben oder deren Vergabe anregen.
  • Sie soll regelmäßig öffentlich über ihre Tätigkeiten und Erkenntnisse informieren[24]

Die UKASK generell, aber speziell auch Silke Gahleitner, deren Thema Rituelle Gewalt in dem Zusammenhang ist, hat nicht den Auftrag, Vorfälle zu verfolgen, bei denen Ärzt_innen von Journalist_innen unterstellt wird, sie würden ihren Patient_innen die eigene Weltanschauung einreden und in der Folge falsch behandeln. Also Fälle wie jenem in der Schweiz rund um den Arzt Matthias Kollmann, der im Podcast unvollständig und damit desinformierend erwähnt wird.
Die UKASK soll sich mit Tatsachen befassen. Mediale Berichterstattung, die nicht primär den Erkenntnisgewinn um Rituelle Gewalt, sondern eine Debatte um die Frage von möglicher Falschbehandlung psychisch kranker Menschen zum Ziel hat, ist für die Arbeit der UKASK zum Thema Rituelle Gewalt nicht brauchbar. Gahleitners Distanzierung ist entsprechend überhaupt nicht „bemerkenswert“, sondern vielmehr logische Folge ihres Auftrages.

Bemerkenswert für Hörer_innen sollte meiner Ansicht nach sein, wie systematisch die Erzählung des Podcastes versucht, das Bild einer passiven UBSKM Kerstin Claus zu zeichnen, die dem Diktat von Betroffenenberichten unterworfen sei und deshalb dem Familienministerium nicht einfach vorgeben könne, dass Rituelle Gewalt durch Satanist_innen wahrscheinlich eine Verschwörungserzählung ist, denn wissenschaftlich lässt sie sich nicht belegen. Als wäre, dem Familienministerium zu sagen, was es machen soll, die Aufgabe der UBSKM. Was sie nicht ist. [25]

Auch dieses Interview mit einer Vertreterin einer für Betroffene von sexualisierter Gewalt wichtigen Institution bzw. Instanz bringt diesen Podcast inhaltlich überhaupt nicht weiter und wirkt seinem eigenen Anspruch als demokratiestärkend entgegen. Denn auch hier wird am Vertrauen in Institutionen, auf die man sich im Bedarfsfall verlassen können will, manipuliert – und wieder wird Unsicherheit bei den Zuhörer_innen in Kauf genommen.

Diese Unsicherheit wird zur Rampe in die letzten Passagen dieses Podcasts.
Da wird der Themenmixer nochmal ganz tief in das Sujet der Podcastreihe geschoben und abgedrückt, sodass man als Hörer_in nur allzu bereit ist, unkritisch hinzunehmen, was nachkommend noch erwähnt wird. Zum Beispiel die unbelegbare Behauptung, die Psychotherapeutin und Trauma-Expertin Michaela Huber habe die Verschwörungserzählung über Satanist_innen nach Deutschland gebracht. Oder die Aussage, ein nicht näher benanntes oder definiertes „Rituelle Gewalt Netzwerk“ hätte durch sein Wirken erheblich dazu beigetragen, dass QAnon und andere Verschwörungserzählungen in Deutschland überhaupt greifen konnten.

Komplett erwartbar ist das Ende von „Geteiltes Leid“ eines, das die ganz großen Gefühle wecken soll. Allem voran: Mitleid. Obwohl allgemein bekannt ist, dass man damit niemandem hilft.
Ein Impuls, die Zivilgesellschaft dahingehend zu aktivieren, die eigene Haltung, die eigene Meinung und Bewertung des Themas kritisch prüfend vorzunehmen – der wird nur in eine Richtung gesetzt. Und zwar gegen Opfer sexualisierter Gewalt und ihre Helfer_innen.

Mein Fazit

Ich halte diesen Podcast für eine verpasste Möglichkeit, ein relevantes Thema umfassend und für die Zivilgesellschaft verständlich aufzubereiten.
Mit Protagonist_innen wie Amelie und der Zeit, die das Podcast-Team in die Recherche investieren konnte, hätte ein Podcast entstehen können, der ein echtes Problem ganz grundsätzlich aufzeigt und in seinen Auswirkungen allgemein nachvollziehbar macht.

Stattdessen blieb man in dem bereits als solchem bekannten Strohmannargument, nämlich „Therapeut_innen/Helfer_innen glauben an Satanisten, die Kinder quälen und nennen das Rituelle Gewalt, um überall Opferbonus abzugreifen und schaden allen damit“, verfangen und vermischte alle Aspekte, die es berührt. Dabei ist eine ableistische Abwertung behinderter und (chronisch) kranker Menschen und umfassende Desinformation passiert.

Meiner Meinung nach hat das Podcast-Team von Undone mit „Geteiltes Leid“ eine Geschichte erzählt, die dazu dient, Opfern sexualisierter Gewalt und (chronisch) psychisch kranken Menschen die Glaubwürdigkeit und die Legitimität ihrer Selbstbestimmung in Frage zu stellen. Aber auch, um Behandler_innen und Helfer_innen verschiedener Professionen zu diskreditieren und allgemeines Misstrauen in Institutionen mit Versorgungs- und wissenschaftlichem Auftrag zu schüren.

Die Reihe begann mit etwas, das Laien überhaupt nicht beurteilen können und auch nicht können müssen, nämlich allen Fragen rund um die Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung. Es entsteht der Eindruck, dass zum einen nur verschwörungsgläubige Therapeut_innen Falschdiagnosen und unwirksame bzw. schädigende Behandlungen machen, und zum anderen, dass die DIS deshalb keine valide Diagnose sei. Ein Eindruck, der in diesem Podcast zu keinem Zeitpunkt berichtigt wird.

Ebenfalls fehlt eine Angabe dazu, wie viele Psychotherapeut_innen der Glaube an Verschwörungstheorien allgemein und den an satanistische Eliten, die Kinder quälen, im Speziellen überhaupt beträfe. Ohne diese Informationen als faktischen Bezugspunkt, der Hörer_innen ermöglichen würde, eine Vorstellung vom Umfang des Problems zu entwickeln, wurde dann noch eingebracht, verschwörungsgläubige Therapeut_innen/Helfer_innen würden Institutionen unterwandern und damit der ganzen Welt schaden. Immerhin hätten sie es mit ihrer Erzählung bis in die WHO geschafft. Ein weiterer verstörender, allgemein verunsichernder Blick auf mögliche Mängel in Strukturen und Institutionen, die zweifellos real bestehen können, im Gesamten jedoch für die Mehrheit der Menschen nicht oder weit weniger schädlich oder gefährlich sind als in „Geteiltes Leid“ impliziert.

Inmitten dieses zuweilen nur schwer zu entwirrenden Gemischs fanden sich alte Bekannte der False-Memory-Rhetorik: die emotionalisierenden Schlagworte „satanic panic“, „memory wars“ und „Scheinerinnerungen“. Von denen nur einer – und zwar von einer Betroffenen – im richtigen Zusammenhang verwendet wurde: Amelie, der ich für ihren großen Mut und ihre Offenheit an dieser Stelle meinen tiefen Respekt und Dank ausspreche.

Meiner Ansicht nach führt die permanente Vermischung von Annahmen und unvollständig vermittelten Tatsachen dazu, dass die Hörer_innen, die nicht sonderlich tief oder lange mit der Thematik befasst sind, am Ende kaum mehr klar und eindeutig einordnen können, was sie da eigentlich für eine Geschichte gehört haben. Und das bei einem Podcast, der uns doch „investigativ recherchiert“ zeigen wollte, dass es ein krasses Problem gibt. Was von den vielen aufgebrachten Problemen nun genau das Problem, in welchem Ausmaß, für wen eigentlich genau ist, das wird nicht klar.

Das Problem für mich an dieser Podcastserie: Eine Er_Lebensrealität wie meine ist für Journalisten wie von diesem Podcast-Team von „Geteiltes Leid“ nicht mehr als eine krasse Story darüber, was so manche Leute für real halten. Für Showleute wie Jan Böhmermann nichts weiter als eine Witzvorlage. Für False Memory Deutschland e. V. ein traditionell benutztes Ziel in einem längst verlorenen Kampf und ein stets und ständig zu komplexer Fall für Wissenschaft und anders fachlich orientierte Hilfelandschaft.
An uns, den Menschen, die mit der Diagnose der dissoziativen Identitätsstörung leben, haben alle ein Ding. Ein Thema, einen Konflikt, ein komplett eigenes, zuweilen fachliches, doch immer auch eigennütziges Interesse.

Unsere Stimmen fehlen in dieser Auseinandersetzung.

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Quellen:

[1] Rituelle Gewalt und Scheinerinnerungen: Wenn die Therapie destabilisiert | Y-Kollektiv https://youtu.be/o8AD5hz3s0Q?si=OcCSVPadRXkhC9Iw
[2] https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Anorexie-jeder-zehnte-Betroffene-stirbt-400121.html
[3] https://www.podcast.de/podcast-news/verschwoerung-und-missbrauch-khesrau-behroz-im-interview-zum-neuen-undone-podcast-geteiltes-leid
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Strohmann-Argument
[5] https://en.wikipedia.org/wiki/Satanic_panic
[6] https://en.wikipedia.org/wiki/McMartin_preschool_trial
[7] https://gizmodo.com/when-geraldo-rivera-took-on-satanism-and-a-very-confus-5829171
[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Moral_panic
[9] http://dissoc.de/02-05.html
[10] Dallam, S. J. (2002). Crisis or Creation: A systematic examination of false memory claims. Journal of Child Sexual Abuse,9 (3/4), 9-36.
[11] Dalenberg, Constance & Brand, Bethany & Gleaves, David & Dorahy, Martin & Loewenstein, Richard & Cardeña, Etzel & Frewen, Paul & Carlson, Eve & Spiegel, David. (2012) Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Evaluation of the Evidence for the Trauma and Fantasy Models of Dissociation. Psychological bulletin. 138.550-88.10.1037/a0027447.
[12] FAQ der Ärztekammer zu Fragen über die Meldung eines Arztes oder einer Ärztin und umfassender Artikel von ProPsychotherapie e. V. mit Link zu einer Liste von Anlaufstellen zur Beratung und Klärung von Fällen vor einer Meldung oder Anzeige
[13] https://www.bka.de/DE/UnsereAufgaben/Deliktsbereiche/PMK/PMKreligioes/PMKreligioes_node.html
[14] https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/
[15] https://www.juraforum.de/lexikon/satire
[16] https://www.scinexx.de/news/biowissen/gefahr-gehirn-ist-sofort-in-alarmbereitschaft/
[17] Denial and Dissociation: 10 things to consider https://www.youtube.com/watch?v=z4-y8SFpW-Y
[18] Gaby Breitenbach, „Innenansichten dissoziierter Welten extremer Gewalt, Ware Mensch – die planvolle Spaltung der Persönlichkeit“, erschienen bei Asanger, 2012
[19] https://forschungsdatenbank.charite.de/experts/expertenprofil.xhtml?id=35605da015d548ec9d1a1103398b0d31&type=ps&lang=de
[20] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/borderline-stoerung/krankheitsbild/
[21] https://pmc-ncbi-nlm-nih-gov.translate.goog/articles/PMC8423293/?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq
[22] https://verschwoerungschecker.org
[23] https://www.sueddeutsche.de/medien/geteiltes-leid-podcast-undone-kritik-lux.CNtKhRb3gB3Nkm6NihKz1X?reduced=true
[24] https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/beauftragung/
[25] https://beauftragte-missbrauch.de/ueber-uns/aufgaben-und-aktivitaeten

die Möglichkeit und das Machen

Was für eine Woche das war, begriff ich erst am Wochenende.
Da habe ich mit einer Freundin telefoniert und gemerkt, dass ich einen Knaller nach dem anderen in meinen Bericht der aktuellen Lage einbrachte.
Später fiel mir aber auch auf, dass ich jeden dieser Knaller komplett erinnere und kongruent empfinde.
So ist das also. Dieses stabil, gesichert und weniger dissoziativ sein.
Wie immer. Nur mehr.

Diese Woche fiel mir dann noch etwas auf.
Ich habe in der Auseinandersetzung mit meinen Psychiatrieerfahrungen einen Prozess angestoßen, der hätte sein können wie immer. Intellektuell. Analysierend. Ganz so, wie ich es immer brauchte, um mich damit sicher zu fühlen. Wenn man Ursache und Wirkung versteht, kann man sich schützen. Und ich, Hannah, die mal die Rosenblätter waren, die mal die Anderen waren, die Menschen und Leben in Klapse und Therapie gut können, brauchte auch nur das. „Wie war es dazu gekommen?“ – „Alles klar, dann ergibt das ja alles Sinn, dann mache ich mal dies und das …“
Jetzt kann ich die fühlen, die vor mir waren. Und manchmal mischen wir uns auch. Manchmal auch schon so sehr, dass es mich nicht einmal komisch befremdet.
Jetzt ist die Auseinandersetzung damit wie immer. Und mehr.

Jetzt merke ich, wie mein Anspruch des Bewusstmachenwollens von Helfer*innen- und speziell Psychiatriegewalt auch daraus entstanden ist, sie mir selbst bewusst zu machen. Und zu halten. Nicht nur für alle, die es (im Gegensatz zu mir) nicht verdient haben, so etwas zu erleben, sondern auch für alle, die es erlebt haben. Wie ich ich? ich.

Und ich merke, wie weit mich meine Intellektualisierung gebracht hat. Obwohl sie zu meinem Vermeidungsverhalten gehört und damit aus therapeutischer Sicht zu den Dingen, die meine komplexe posttraumatische Belastungsstörung aufrechterhält. Böse böse also. Irgendwie.
Andererseits musste ich intellektuell begreifen, was meine Diagnose ist. Es hat nicht gereicht zu glauben, ich hätte mich „abgespalten, um mit traumatischen Erfahrungen klarzukommen“. Ich musste wissen, was toxischer Stress ist und wie er sich auswirkt. Ich musste wissen, wie Gehirne üblicherweise funktionieren. Wie Lernen funktioniert. Was Angst ist. Was andere Emotionen sind. Ganz konkret. Was Macht ist. Was Gewalt ist. Warum alle Menschen dagegen sind und gleichzeitig viel dafür tun.
Ohne diese Auseinandersetzung, diese Forschungs- und Versteharbeit hätte ich nie erfahren, dass Intellektualisierung und die vorerst kognitive Erfassung von Umständen nicht ausschließlich traumabedingtes Vermeidungsverhalten sind. Wofür ich mich schämen sollte, weil sich manche Leute davon überfahren, bedroht, eingeschüchtert, abgewertet fühlen. Und weil es meine psychotherapeutische Behandlung unnötig in die Länge zieht. Nur für mein eigentlich irrelevantes und mit diesem Verhalten dreist und aus narzisstischer Motivation erschlichenes Wohlgefühl.

Ohne diese distanzierte Analyse und die Schemata, die ich dafür gebraucht habe, hätte ich nie welche für mein Verhalten und meine Gefühle entwickeln können. Ich wäre Quatscherzählungen übers Viele- und Menschsein, über Gewalt und Hilfe schutzlos ausgeliefert. Wäre enorm abhängig von meiner Psychotherapeutin oder anderen Be.Handler_innen. Würde so vieles von meinem Verhalten immer noch als etwas von meiner viel weniger veränderbaren Person behandeln.

Meine Birne macht wirklich vieles komplizierter, als es manchen Menschen erscheint. Und vielleicht auch umständlicher. Aber sie schützt mich auch. Und stärkt mich dabei, noch andere Schutz- und Kraftquellen zu entwickeln.
Und eine zu sein. Für mich.

Diese Auseinandersetzung ist anders. Wie immer und mehr.
Wie ich sie mache und wie die anderen in mir sie machen.
Sie haben Angst und ich nicht.
Sie haben detaillierte Erinnerungen und ich nicht.
Ich kann die Umstände als Struktur und Dynamik überblicken und analysieren, und sie nicht.
Sie waren komplett auf sich allein gestellt. Jetzt haben wir uns.
Und einen Partner. Und Freund_innen. Und Begleiter_innen.

Ich habe lange geglaubt, um an so einen Punkt zu kommen, müsse etwas mit mir passieren, das ich in keiner Weise beeinflussen kann. Irgendwie würden mir unvorstellbare, bisher unerreichbare Fähigkeiten wachsen. Wenn ich mich als würdig erwiesen habe. Wenn ich durch genug unangenehme Therapietermine durch bin. Wenn ich die richtigen Medis habe. Wenn ich gut genug bin.
Dann würden sie auftauchen wie Krokusse im Frühjahr und dann ginge es von ganz allein weiter in Richtung Heilung und Normalität.

Aber auch Krokusse kommen nicht beliebig aus der Erde geschossen. Da hat jemand mal eine Knolle in die Erde gedrückt. Da war Wetter und Klima. Da ist keine Maus drangegangen. Kein Rasenmäher drübergefahren. Da war Zeit und Ort und Raum und Möglichkeit. Und genug Leben drin, um sich selbst zu wollen und die nötige Arbeitskraft freizusetzen.
Das, was man vom Krokus sieht, ist das, was ihm das Überleben als Spezies sichert. Das, was ihm Kommunikation und Interaktion mit allem, was dafür nötig ist, sichert. Die Wurzeln sieht man nicht. Ihre ständige Arbeit lässt sich trotz vieler Kenntnisse über Pflanzen kaum insgesamt erfassen. Man wird nie erfahren, wie viel Wasser, wie viel von welchen Mineralien im Verlauf eines Tages, einer Woche, eines Jahres dieser eine Krokus wann genau wie wozu sammeln und wie genau umwandeln und einsetzen musste.
Wir werden vielleicht nie erfahren, ob sich die Knolle für ihr Leben entscheiden oder einfach nur dem Leben als Impuls hingeben musste. Aber wir können uns sicher sein, dass da sehr vieles sehr günstig zusammenkommen musste, das nicht allein von ihr beeinflussbar war. Wir können Glück dazu sagen. Und Lauf der Dinge.

Und müssen immer an beides denken.
An das Glück und die Arbeit.
An die Möglichkeit und das Machen.

„besser helfen“

Schnell zur Bewertung einer Situation zu kommen, ist überlebenswichtig. Niemand überlebt akute Bedrohungslagen durch Tiefenanalyse. Doch abstrakte Themen wie Helfen, Fürsorge, Miteinander sein können nur außerhalb von akuter Bedrohungslage konstruktiv bewegt werden.
Das ist Trauma 101: Wenn was brennt, trinken wir keinen Tee, sondern schütten ihn auf die Flammen. – Wenn der Brand gelöscht ist, trinken wir erstmal was, um uns zu erholen.
Wenn eins von beidem nicht oder nicht vollständig möglich ist, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit einer Traumatisierung, weil der natürliche Mechanismus der Stressreaktion bzw. -verarbeitung gestört wurde.

In der Interaktion zwischen Helfenden und (in der Kindheit) komplex traumatisierten Menschen entstehen manchmal reaktive Dynamiken.
Da ist die eine Seite mit komplex traumatisierten Menschen, die nach Triggern, die so unbewusst und subtil sind, dass sie überhaupt nicht eingeordnet werden können, in einem Bindungsschrei feststecken. Sie rufen nach Hilfe, setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um nicht allein zu sein. Sie fordern und wollen, wünschen und bitten. Sind bereit, einfach alles zu tun, um ihr Leben zu retten – denn so fühlt es sich an. Als ob ihr Leben in akuter Gefahr ist.

Und da ist die andere Seite mit Helfenden, die über die Dauer dieses „Geschreis“ verzweifeln, weil sie einfach weder die Ursache finden noch beheben können; weil nichts von dem, was sie machen, keine Ressource, die sie aufbringen, zu helfen scheint und die Belastung kein absehbares Ende hat. Und: Weil sich zu erholen nach 8-Stunden-Schicht mit unvorhersehbar nötiger Überstundenzahl und eigenen Alltagsthemen praktisch unmöglich ist. Diese Leute kommen Tag für Tag/Termin für Termin mit einer leeren Teetasse in ein brennendes Haus.
So stellt es sich jedenfalls dar.

Solche Konstellationen führen zu den Dynamiken von Helfergewalt, über die ich hier bereits oft geschrieben und in Workshops und Vorträgen gesprochen habe.
Für beide Seiten geht es um alles oder nichts – beide Seiten werden so aktiviert, dass sie schnelle Bewertungen vornehmen, um handlungsfähig zu bleiben oder wenigstens die Illusion/das Gefühl davon aufbauen zu können.

Helfende, die sich in so einem Moment fragen „Wie kann ich besser helfen?“ haben oft noch nicht realisiert, dass sie mit großer Wahrscheinlichkeit leider noch gar nicht helfen.
Weil sie noch gar nicht helfen können.
Die Grundlage für Hilfe in so einer Situation ist die Fähigkeit zu erkennen, dass weder das Haus brennt noch die_r Klient_in in akuter Lebensgefahr ist. Und jede Möglichkeit nutzen und anwenden zu können, um Erholungsphasen traumabewusst anzubahnen, zu begleiten und abzusichern und zu integrieren. Sowohl für sich selbst als auch die_n Klient_in.

Klient_innen im „Bindungsschrei-Loop“ bewerten ihre Situation traumalogisch.
„Niemand ist für mich da/Ich bin allein“, „Ich kann nichts machen“, „Nichts hilft“, „Es wird nie enden“ ⇾ „Und deshalb werde ich sterben.“ Der Trigger ist in ihrem Bewertungsprozess gewissermaßen eingebaut. Der erste Auslöser hatte vielleicht noch etwas mit der Beziehung zu den Helfer_innen zu tun oder mit einem äußeren Umstand. Doch nach einer Weile wird der Einordnungsversuch zum Trigger-Perpetuum-Mobile, weil jeder Gedankengang mit der Bewertung der Lage als akut bedrohlich endet und entsprechend traumareaktives Wahr.nehmen, Denken und Handeln aktiviert.

Kommt man als helfende Person nun dazu und sagt: „Hey, du siehst das alles ganz falsch …“ fügt man eventuell das nächste triggernde Element hinzu: Das Absprechen der eigenen Wahrnehmung/ Verunsicherung durch Umdeutung von Außen
Und die nächste Runde geht los bei der_m Klient_in – und damit auch für die helfende Person, wenn die komplex traumatisierte Person etwa noch selbst- und/oder fremdschädigende Bewältigungsstrategien hat.
Helfer_innen, die ihren Auftrag gegenüber komplex traumatisierten Menschen vordergründig darin sehen, sie von der Wunderbarkeit des Lebens, ihrer Person oder anderen Dingen zu überzeugen, können so jahrelang anhaltende Loops mit ihren Klient*innen erzeugen, ohne jemals geholfen zu haben. Obwohl sie immer da waren. Immer alles gegeben haben. Immer alles möglich gemacht haben.

Traumalogik ist brutal.
Aus meiner Innensicht als komplex traumatisierte Person beschreibe ich sie als genauso tief und umfassend beruhigend wie ängstigend. Es gibt kaum eine andere Keule, die mich so weit aus mir raus wie in mich hinein schlagen kann. Bin ich darin aktiviert, ist es bis heute mit gezielter Anstrengung verbunden, sie zu reflektieren, zu prüfen, zu hinterfragen, abzugleichen.
Nun ist es mit Traumalogik aber nicht so wie mit Alltagslogiken, die sich aus vielen kleinen Aspekten und Wahrscheinlichkeiten entlang sozialer Bedingungen, Tageszeiten, Zustandsoptionen einzelner Elemente zusammensetzen und mehr oder weniger orchestral funktionieren.
Traumalogik ist 1 oder 0 und egal welche Seite man wählt, wird die gesamte Selbst- und Umweltwahrnehmung verzerrt zu dem, was man als in der Kindheit komplex traumatisierter Mensch am sichersten und einfachsten einordnen kann: eine potenziell lebensbedrohliche Umgebung
Eine Umgebung, in der man sich auf nichts und niemanden verlassen kann. Eine Umgebung, in der nichts ist, wie es scheint. Eine Umgebung, in der man um jeden Preis (wenigstens das Gefühl von) Handlungsfähigkeit aufrechterhalten muss.

Und das alles, ohne dass man sich dessen selbst bewusst sein kann. Denn das bereits in der Kindheit komplex traumatisierte Gehirn hat dafür Strukturen angelegt, als es noch keine oder nur wenig ausentwickelte Einordnungsfähig- und -fertigkeiten gab.
„Am Anfang war das Wort“ trifft für diese Personengruppe also nicht zu. Sprechen ist Miteinander. Bewertung (1 oder 0) ist überleben. Überleben ist Leben. Leben gewinnt immer.

Etwas von so umfassender Relevanz wie Traumalogik ist extrem energieaufwändig.
Diese Energie wird an anderen Stellen eingespart.  Der Selbstfürsorge-Skill kann komplett abgeschnitten sein. Funktionen, über die man im Alltag nicht nachdenken muss, werden plötzlich unmöglich. Der Miteinander-Modus kann massiv zusammenschrumpfen. Zum Beispiel auf den Bindungsschrei.
An dem Punkt ist es unerlässlich als helfende Person zu begreifen, dass die_r Klient_in gewissermaßen durchgehend und mit aller Kraft sendet – ohne die Antworten vollständig und richtig empfangen und einordnen zu können. Das hat nichts mit der Beziehungsqualität zu tun, nichts mit dem Vertrauen und nichts mit der emotionalen Bewertung der Person.

Es kann etwas damit zu tun haben, dass die_r Klient_in:

  • eventuell noch nicht weiß, wie das ist, wenn jemand (angemessen) auf den Bindungsschrei antwortet und wiederum mit Angst reagiert bzw. getriggert wird von der Antwort
  • eventuell noch nicht geübt darin ist, sozial angemessen auf Reaktionen von außen hin zu handeln
  • eventuell eine ganz spezifische Antwort erwartet (und davon abweichende Antworten nicht übersetzen kann)
  • am Ende der Kraft ist und der Kollaps kurz bevorsteht (oder bereits passiert ist)
  • der Auslöser in realen, chronisch stressenden Lebensumständen liegt (keine sichere Unterkunft, Finanzlage, soziale Sicherheit, dauerhaft überfordernde Ansprüche)

Die Herausforderung in so einer Situation besteht also nicht nur darin, „richtig zu reagieren“, sondern auch noch darin, dass jedes Reagieren gleichzeitig richtig und gut – und belastend und triggernd (und dadurch schnell als „falsch und schlecht“ eingeordnet) sein kann. Oder dass der Auslöser etwas mit Umständen zu tun hat, die nicht „weggetröstet“ oder „wegentspannt“ werden können, sondern ganz konkrete Zusammenarbeit erfordert. Es also gar nicht um Miteinander, sondern um Füreinander geht.
„Besser helfen“ ist zu diesem Zeitpunkt ein unerreichbares Ziel.

*

Ich verstehe, dass Menschen, die auch ich in diesem Text als „Helfende“ benenne, in ihrem Handeln immer Hilfe verkörpert sehen – beziehungsweise den Auftrag haben, ihr Handeln immer nur im Zusammenhang mit Hilfe zu sehen. Niemand geht in eine Hilfeeinrichtung, um Blumenerde zu kaufen oder die Haare gemacht zu bekommen. Andererseits kann Blumenerde zu kaufen und das Haar gemacht zu haben eine große Hilfe sein. Was also Hilfe ist, ist nicht in jedem Fall davon definiert, was der Beruf oder das Berufsbild oder die Stellenausschreibung als solche vorsieht.
Deshalb gibt es ja so etwas wie den „klient_innenzentrierten Ansatz“.

Menschen mit DIS, also i. d. R. frühkindlich komplex traumatisierte Menschen, benötigen diesen Ansatz in jedem Kontext von Hilfe, Begleitung, Betreuung, Unterstützung, Assistenz insofern als dass ihre Fähig- und Fertigkeiten der Ausgangspunkt sein müssen.
Viele Menschen mit DIS haben ein enorm uneinheitliches und sich zuweilen auch (scheinbar) widersprechendes Fähig- und Fertigkeitenprofil. Die gleiche Person, die nach einer Meinungsverschiedenheit über Kaffee einen emotionalen Zusammenbruch erlebt, bei dem sie das Verhältnis aufkündigt, alle Absprachen fahren lässt und sich dann verletzt, weil sie sich fühlt, als hätte sie niemanden auf der Welt und ihr Leben so nicht aushalten kann – die gleiche Person kann keine 10 Minuten später zur Schule/Arbeit gehen und Leistung bringen. Kann andere Menschen versorgen. Kann der Mittelpunkt einer Party sein. Und beides ist gleichzeitig wahr.
Allerdings aufgrund unterschiedlicher Funktionsmodi.

Ein Konflikt mit anderen Menschen aktiviert das Bindungssystem. Schule oder Arbeit kann das Kampf- oder Fluchtsystem aktivieren. Dass die Person also auch direkt nach dem absoluten Crash zur Arbeit geht oder etwas tut, von dem sie unter anderen Umständen sagen würde, dass sie es nicht kann, bedeutet nicht, dass die Person „nicht weiß, was in ihr steckt“ oder lügt oder „es sich in der Krankenrolle bequem macht“. Sondern, dass sie es im mittleren Erregungslevel nicht kann – aber wenn sie bzw. ihr Körper sich in Lebensgefahr wähnt schon.
„Klient_innenzentriert“ zu begleiten würde in so einem Moment also bedeuten, dass man (gemeinsam) registriert, wahr.nimmt, sammelt (und in der Traumatherapie bespricht) wann ein_e Klient_in etwas „geschafft hat“ und in welchem Modus. So lassen sich wertvolle Informationen darüber generieren, was wie viel Kraft kostet. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Menschen, die sich in Lebensgefahr wähnen, weit über sich hinaus wachsen. Es kann aber eine wichtige Erkenntnis für ein Helfer_in-Klient_in-Team sein, wie viele Aktivitäten, die für die Mehrheit der Menschen zum normalen, mittelschweren Alltag gehören, von der_m Klient_in nur dann überhaupt möglich werden, wenn sie_r sich bedroht fühlt bzw. in einer Schutzreaktion steckt. Also im Überlebensmodus ist.

Meiner Erfahrung nach kommt man als Team kaum anders auch an den Punkt zu akzeptieren, dass Todesangst und Überlebenskampf auch in der Begleitung ohne Täter_innenkontakt und Gewalt oder chronisch traumatisierende Lebensumstände relevante Alltagsbestandteile sind.
Die_r Klient_in braucht diese Akzeptanz, um die eigene innere Mechanik begreifen zu können, um von einer Traumatherapie, wie sie in Deutschland überwiegend durchgeführt und kassenfinanziert wird, profitieren zu können.
Die_r Helfer_in braucht diese Akzeptanz, um sich selbst aus der Dynamik von Bindungstraumareaktion herausnehmen zu können und die gleichzeitige Wahrheit von (scheinbar) widersprüchlichen Verhaltensweisen annehmen zu können.

Die Zusammenarbeit muss also zu einem gewissen Maß immer darin bestehen, ein gemeinsames Wissen darüber zu haben, worauf – also auf welche Fähig- und Fertigkeiten – sich sowohl Klient_in als auch Helfer_in beziehen, wenn Handlungsvorschläge, Lösungsideen oder Anforderungen besprochen werden.

Wenn „Bindungsschrei-Loops“ etwas sind, das immer wieder passiert, es ist etwa eine Möglichkeit, die_n Klient_in in eine Umgebung zu bringen, in der immer „Schrei-Beantwortung“ gewährleistet ist. Zukunftsfähiger und Selbstbestimmung wahrend ist es jedoch, die_n Klient_in dazu zu befähigen, sich selbst zu regulieren und damit in die Lage zu versetzen, die Antworten, die auf „den ersten Pieps vor dem ausgewachsenen Schrei“ kommen, zu verstehen.
Das wiederum erfordert einen durch und durch stabilen Lebensraum. Immer vorhersehbare, nachvollziehbare Prozesse. Kenntnis und Sicherheit über alle Handlungsmöglichkeiten bei Abweichung. Klare Zuständigkeiten über Aufgaben, die mit der Sicherung und Gestaltung des Kontaktes und der Lebensumstände zu tun haben. Verbindlichkeit und Verantwortungsübernahme zu jedem Zeitpunkt.
Und das, während die Strukturen sind, wie sie sind: ein permanenter Trigger an Bindungstraumata, weil sie voller Bedingungen stecken, die nie sicher und für immer auch erfüllt werden können. Die Hilfe, die man also mal gewährt bekommt, bekommt man nie für immer.
Sie dennoch anzunehmen, sich einzulassen und auf ihre Wirkung zu vertrauen, ist ein unfassbar großer Ver/Zutrauensvorschuss. Den muss ein Mensch aufbringen, der unter Umständen nie zuvor im Leben die Erfahrung gemacht hat, dass so etwas überhaupt im Ansatz eine gute Idee sein könnte.
Auch dieser Umstand kann als empfindlicher Triggerpunkt während jedes einzelnen Kontaktes berührt werden. Egal, wie lange die Betreuung/Begleitung/Hilfe schon läuft. Egal, wie gut das Verhältnis ist. Egal, was für tolle, liebe, nette Menschen, die Helfenden sind. Und auch egal, wie gut die Hilfe prinzipiell ist. Hat sie Bedingungen, ist sie nicht zweifellos sicher.

„Besser helfen“ ist also auch unter den strukturellen Gegebenheiten nur mit einer Abwärtsbewertung erreichbar: Besser als nichts – was wiederum zu vielen weiteren ungünstigen Folgeannahmen und Haltungen führen kann.
Dabei ist das wichtigste doch das Helfen – die antragende, kompensierende Zuwendung zu anderen Menschen – das, worum es geht. Die Möglichkeit, die Realität, dass da eben nicht nichts und niemand ist.

Am Anfang jedes Lebens steht der Kontakt.
Dann kommt der Austausch.
Dann die Entwicklung.

Jeden einzelnen dieser Schritte muss man als Mensch im übertragenen Sinn kennen und können lernen. Bei Menschen, die sicher gebunden aufgewachsen sind, hat diese Phase früher und anders eingesetzt als bei Menschen, die ohne diese Sicherheit groß wurden – aber die Möglichkeit zum Kontakt besteht immer und bringt immer Potenzial mit sich, diesen Lernprozess durchzumachen.
Und das ist, was Hilfe generell wichtig und wertvoll macht.
Der Kontakt.

Autismus von Trauma unterscheiden

Die Thematik kommt an. Die Frage wird häufiger gestellt.
Neue Literatur wird veröffentlicht. Zuletzt ist das Buch „Autismus, Trauma und Bewältigung, Grundlagen für die psychotherapeutische Praxis“ von Brit Wilczeck dazu erschienen. Ich kann es uneingeschränkt empfehlen, da es ein umfassendes 101 zu Autismus, zu Trauma und Fragen der Therapie bietet.
Für mein eigenes Buch „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“, hätte ich das Buch gern gelesen, denn meiner Ansicht nach sind es neben persönlich falscher Motivation von Behandler_innen auch unhinterfragte Multimythen und falsche Vorstellungen von Autismus, die eine Unterscheidung bei vorliegender dissoziativer Identitätsstruktur (DIS) schwer machen.

Menschen mit DIS wird häufig eine ähnliche Individualität wie autistischen Menschen nachgesagt. Viele Betroffene fordern deshalb sogar ein, nicht mit anderen Vielen verglichen zu werden.
Für mich ergibt sich daraus ein Momentum, in dem Sachstände zu Wahrnehmungen verklärt werden. So kann keine eindeutige Position mehr eingenommen werden und jeglicher Abgleich wird unmöglich. So auch in der Frage: Was ist die DIS und was der Autismus?

Die Herausforderung der Unterscheidung von DIS und Autismus liegt meiner Meinung nach darin, diesen Abgleich, die Diagnostik, mit angemessenem Mittel und einer grundlegenden Reflexion persönlicher Annahmen vorzunehmen.

Es gibt viele Aspekte im Leben mit DIS, die ich meinem Leben mit komplexer posttraumatischer Belastungsstörung (kPTBS) zuordne. Denn nur im Zusammenhang damit wird meine dissoziative Symptomatik überhaupt sichtbar, nachvollziehbar und letztlich auch therapierbar.
Die DIS ist eine Anpassungsleistung, eine Kompensationsstrategie. Sie ist eine messbare Reaktion – keine Grundlage, auf deren Basis allerlei Empfinden und Verhalten passiert. Die gesamte „Krankheitsmechanik“ hat mit Stressverarbeitung und -kompensation zu tun. Es hat sich für mich nie als hilfreich herausgestellt, das Konzept von Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen anzulegen, um die DIS zu verstehen oder zu behandeln.

In Bezug auf meinen Autismus hingegen ist das Konzept einer Kompensationsstrategie unzureichend. Autismus ist keine Anpassungsleistung, sondern eine neurobiologische Grundlage. Die meisten Symptome sind im Kontakt und im Vergleich mit nicht autistischen Menschen sicht- und messbar. Das, was meinen Autismus zur Störung bzw. Belastung macht ist, dass ich ihn immer aktiv kompensieren, verstecken und unter Umständen erklären muss, um in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen.

Jemand, die_r aufgrund von falschen Vorstellungen glaubt, alle Menschen mit DIS und alle Menschen mit Autismus seien unvergleichbar verschieden, kann die Unterscheidung nicht korrekt vornehmen. Die Datengrundlage ist einfach nicht verlässlich. Jedes Ergebnis kann alles und nichts bedeuten. Jeder Hinweis kann alles und nichts bedeuten. Eine sichere Einschätzung und ein sicheres Ergebnis sind so nicht zu erwarten und in der Folge nichts wert. Die Individualisierungsfalle ist zugeschnappt. Keine Therapiemethode ist zweifelsfrei anwendbar, Medikation ohnehin nicht. Klinikbehandlungen werden undenkbar und die Frage, ob bestehender Leidensdruck überhaupt je gelindert oder behoben werden kann, bleibt immer bestehen.

In Bezug auf die Behandlung von Menschen mit DIS habe ich diese Falle schon oft zugehen sehen. Immer entstanden daraus re-traumatisierende (weil gewaltvolle) Beziehungserfahrungen mit Behandler_innen. Denn diese Unsicherheit betrifft nicht nur die Klient_innen, die sich oftmals bereits wegen ihrer Gewalterfahrungen und der davon bedingten Einsamkeit als one of a kind fühlen und in diesem Gefühl bestärkt werden, wenn sie erfahren, dass ihre Diagnose „umstritten“ oder selten oder besonders speziell sei, und/oder sie deshalb keine Behandlung oder sonstige Hilfestellung erhalten. Auch Behandler_innen haben nicht immer einen Umgang mit Unsicherheit, der ihren Patient_innen nicht schadet. Ich habe schon Therapeut_innen getroffen, die sich für allein verantwortlich gefühlt haben, Patient_innen zu behandeln, die „durch alle Raster rutschen (weil sie so individuell anders krank sind als alle anderen)“ oder weil „das Krankheitsbild ja so umstritten ist, dass man damit eigentlich nirgendwo ankommen kann (in Supervision, Fortbildung, Kliniken etc.).“
Besonders tragisch ist es, wenn es sich initial sogar um eine Fehldiagnose handelt.

Aufgrund von Annahmen wie: „Autismus ist extrem selten.“, „Autismus betrifft Jungen häufiger als Mädchen.“, „Autismus ist offensichtlich.“, „Autist_innen sind in sich gefangen/unfähig zur Kommunikation.“, wurde ich erst mit 30 als autistisch erkannt. Das Glück zur Diagnostik an jemanden geraten zu sein, der seine Verantwortung in Bezug auf sein nötiges Fachwissen so ernst genommen hat, ist unermesslich. Es war eine der wenigen Diagnostiken in meinem Leben, bei der ich das Gefühl hatte, jemand würde sich die Mühe machen, meine Persönlichkeitsstruktur, mein Verhalten und meine Schwierigkeiten mit den meisten anderen Menschen abzugleichen. – Und nicht nur mit denen, bei denen der Vergleich (aufgrund verschiedener Vorannahmen) angemessen erscheint.
Zudem war hilfreich, es mit jemandem zu tun gehabt zu haben, für den die DIS keine soziale Aussage hatte. Der also nicht dachte: „Ui – exotisch“ oder „Wow – Satanisten“ oder „[insert völlig schräges Medienprodukt, in dem Vielesein der Gag oder Grusel ist]“

In meinem Leben und in meiner therapeutischen Behandlung war die Unterscheidung von Traumafolgen und Autismus ausschließlich für die saubere Diagnostik wichtig.
Ich habe ein Er_Leben, das von diversen schwerwiegenden und komplexen inneren Konflikten flankiert und ohne gewisse Formen der Unterstützung bei der Einordnung, Verarbeitung und Integration nicht zu ertragen ist.
Geholfen haben mir immer die Therapeut_innen, welche die sozialen Implikationen der DIS meiner konkreten Lebensrealität nachrangig und ihre Vorurteile über Autismus wirklich gründlich als solche aufgearbeitet haben bzw. immer wieder mit Fachwissen konfrontieren. Und zwar nicht für mich oder meinetwegen, sondern weil das zur Grundlage der Behandlung gehört. Weil sie es gut und richtig machen wollen – und nicht weil sie richtig Recht haben wollen.

die Bewerbung

Spät am Abend sitze ich am Computer und schreibe eine Bewerbung. Kein neuer Job. Ein Assistenzhund.
Nun also doch. Vielleicht. Wenn.
Und wenn.

Es sind klassische Hundevermittlungsfragen, die der Verein stellt. Wer, wie, wo? Was sind die Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf das Tier? Und die Frage, wie meine Krankheit denn aussieht.
Es wühlt mich auf. Macht mich unsicher.
Ich schreibe auf wie ich wohne und das Bewusstsein um meinen Platzreichtum umspült mich mit Scham. Es geht mir so gut und ich will noch mehr. Meine Lebensumstände sind so stabil, so gesichert und gestützt und was will ich: etwas anderes.

Meine Krankheit ist chronisch, deshalb begreife ich sie als Behinderung.
Meine Traumafolgestörung ergibt sich aus psychischen wie physischen Anpassungen an für mich ungünstige Lebensumstände. Wieder spüre ich Scham und wie viel Anstrengung es mich kostet, trotzdem weiterzuschreiben. Ich weiß inzwischen sehr sicher, dass meine Symptomatik nicht unüberwindbar sein muss, um als solche anerkannt zu werden. Weiß, dass ich, um als Mensch mit Behinderung verstanden und anerkannt zu werden, nicht in Asche und Ohnmacht leben muss. Es darf mir gut gehen. Ich darf gut eingepackt in Fürsorge, Unterstützung und Freiheiten leben und gleichzeitig anerkennen, dass es Punkte gibt, die davon für mich ganz persönlich einfach nicht berührt sind.
Aber diese Punkte sind mir peinlich. Sie berühren Aspekte meines Seins und Erlebens, die schon mein ganzes Leben eine Rolle spielen und konstant Teil der konflikthaften Interaktion mit anderen Menschen sind.
Seit ein paar Wochen spulen sich diese Erfahrungen in einer ständigen Wiederholung in mir ab. Egal, was ich mache, ich nehme die innere Abwertung wahr und den Druck, den sie aufbaut. Nach 15 Jahren, in denen ich mich über meinen Hund daraus orientieren, versichern und beruhigen konnte, baut sich der Strudel wieder auf und ich gerate in die gleichen kommunikativen Momente der Ohnmacht und Starre wie vorher. Es kostet unfassbar viel Kraft, trotzdem weiterzumachen. Mich trotzdem zu ver- und umsorgen. Mich trotzdem zu behandeln, als wäre ich es wert. Mit anderen Menschen zu sprechen, als wäre ich es wert. Mir etwas vorzunehmen und zu versuchen, als sei es nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, bescheuert, abstoßend oder unsinnig, gerade, weil ich es tue. Mich nach Misserfolgen oder Fehlern nicht massiv zu verletzen oder meinen Suizid als unausweichlich notwendig einzuschätzen.

Ich weiß, was da los ist. Weiß, dass ich das in der Therapie zum Thema machen muss.
Es ist in dieser Lage keine Lösung, einen Assistenzhund zu haben. Aber ein Umgang. Ein anderer als Selbstverletzung, Vermeidung oder ein mentaler Zehnkampf jeden Tag, an dem es keine Momente der Regulierung, keine Augenblicke allgemeiner Okayheit gibt. Es ist ein Umgang, der mir in den letzten Jahren ermöglicht hat, hier herzukommen. In eine stabile fürsorgliche Partner_innenschaft, in eine Arbeitsstelle, die mich fördert und auf mein autistisches Erleben zugeschnitten ist. In ein therapeutisches Momentum, in dem für mich real annehmbar ist, dass ich an den Dingen arbeiten kann, die mich belasten. In eine Situation, in der ein Assistenzhund nicht nur gut arbeiten, sondern auch gut leben kann.

Diese Bewerbung ist nur ein erster Schritt für ein erstes Gespräch.
Dieses Mal habe ich nicht die Zeit für eine Selbstausbildung. Und dieses Mal möchte ich einen Hund, der weniger reizoffen ist, als Sookie es war. Ich brauche jetzt keinen Hund mehr, um zu lernen, wann Umstände wirklich aufregend und möglicherweise überfordernd sind. Heute brauche ich einen Hund, der mich in meinem Bedürfnis nach Beruhigung und Versicherung unterstützt. Ich denke also über eine andere Rasse nach und eine entsprechende Zucht.
Das ganze Vorhaben wird eine Zeit dauern. Jemand anderes wird die Ausbildung für mich übernehmen und ich die süßeste und härteste Zeit mit diesem Hund nicht miterleben.
Ich muss mir noch genau überlegen, ob ich das wirklich so möchte oder als etwas akzeptiere, das anders einfach nicht geht.

Aber nichts machen, weil ich unsicher bin, ist genau das, was ich jetzt nicht machen will.
Gerade jetzt ist es wichtig, mir keine Traumawahrheiten zu bestätigen.

ein Datum von vielen

Eigentlich hilft es mir nicht, andere von ihren Erfahrungen sexualisierter Gewalt sprechen zu hören. Meine erste Reaktion ist nie das erleichterte Aufatmen, das dem Gefühl nicht allein zu sein folgt. Im Gegenteil. Ich erstarre, wenn ich mir bewusst mache, wie sehr ich nicht allein bin. Wie sehr ich nicht sicher bin – andere sind es schließlich auch nicht. Nie.
Meine Themen werden nie kleiner, nur weil andere die gleichen haben. Vielmehr wächst es zu einem Riesenproblem, das die ganze Welt angeht, interessieren und zur Lösung motivieren sollte. Mein Gefühl, der Welt und ihrem Geschehen egal zu sein, verstärkt sich dadurch, dass einfach keine Lösung in Sicht ist.
Manchmal finde ich das dann allerdings entlastend. Wenn nicht nur ich egal bin, sondern auch noch viele andere – und damit vielleicht sogar alles, was mir wichtig ist – dann braucht mir ja gar nichts mehr wichtig zu sein.

Als ich am Montag in der Kinderwunschpraxis saß, spürte ich diesem Gedanken nach.
Ich überlegte, wie wichtig mir meine Scham im Moment ist. Wie wichtig wäre jetzt, wenn ich da reingehe – in diesen Behandlungsapparat, zu einer neuen Ärztin, der ich vorher schon gesagt hätte, dass ich schwere Gewalterfahrungen gemacht habe –, dass mein Körper so ist, wie der von tausenden anderen verletzten, misshandelten, vergewaltigten, ausgebeuteten Menschen. Eigentlich wäre die Scham unnötig. Nicht wegen der Professionalität und der berufsbedingten Desensibilisierung der Ärztin, sondern wegen der Kollektivität meines Überlebens. Der Normalität sexualisierter Gewalt und der sich daraus ergebenden Normalität ihrer Wunden und Narben.
Aber für mich ist sie wichtig. Es ist das einzige Gefühl, das ich zu meinem verletzten Genital- und Intimbereich wirklich eindeutig wahrnehmen kann.

Scham ist kein Gefühl, das ohne andere Menschen entsteht. In gewisser Weise und Tragik, bin ich anderen Menschen nie so nah gewesen, wie denen, die mich verletzt haben. Ob ich vergewaltigt oder geschlagen wurde, machte dabei keinen Unterschied. Allein der Kontext der Gewalt hat die_n Täter_in(nen) und mich verbunden und in Teilen sogar verschmelzen lassen. Meine Scham ergibt sich daraus. Aus dem bis heute sichtbaren und wirksamen Kontext dieser Intimität. Ich war da, wo jemand war, dem mein Er_Leben nicht wichtig war. Jemand war mir so nah, dass sie_r meine Körpergrenzen überwunden hat. Die allgemeine Erwartung und die eher akzeptierte Lebenserfahrung ist aber von mehr Abstand geprägt. Diese Erwartung enttäusche ich und daraus entsteht die Scham, die ich gegenüber einer Gynäkologin oder jemandem empfinde, mit der_m ich Sex habe.

Meine Scham signalisiert mir aber auch, dass meine Erfahrungen und auch meine Körperlichkeit trotz ihrer allgemeinen Unnötigkeit, für mich als Individuum relevant sind.
Für mich ist das ein wichtiger Bezug zu meinem Körper als etwas, das mit anderen Menschen zu tun hat. Ich erlebe mich so oft getrennt von anderen, dass ich sehr bewusste kognitive Kompensationsleistungen aufbringen muss, um dieses Erleben nicht (wieder) zu meiner Lebensrealität zu machen. Ich muss mir immer wieder klarmachen, dass ich mich verhalten, interagieren und kommunizieren kann und selbst, wenn ich das nicht mache, kommunikative Signale für andere Menschen aussende. In Wahrheit bin ich immer mit irgendwas irgendwie im Kontakt, auch wenn ich das noch nicht verstanden, bemerkt oder gefühlt habe oder aktiv interagiere. Und immer bedeutet das etwas. Immer spielt Nähe, Intimität eine Rolle.

Sexualisierte Gewalt bedeutet für mich entsprechend auch aufgedrängte Intimität.
In diesem Kontext wollte mir jemand so nah kommen. So nah, dass meine Integrität dabei verletzt, bzw. zerstört wurde und einzig meine Existenz als Stoff in Zeit und Raum Relevanz hatte. Ich war egal und ich war absolut relevant dafür, denn es war nun mal mein Körper und nicht der von jemand anderem.
Entsprechend sind meine Narben heute auch Marker für mich, dass mir mal jemand so nah war. Dass ich also nicht immer komplett verkapselt aus der Ferne, nur mal so ein bisschen, in der Peripherie anderer Menschen passiert bin.
Für mich ist das manchmal ein gutes Gefühl, denn das ist der Beweis für meine Existenz inmitten vieler anderer Existenzen.
Und es ist ein ebenfalls schambehaftetes Gefühl, denn allein schon, dass ich hier von „Nähe“ im Kontext von sexualisierter Gewalt schreibe, entspricht nicht den Erwartungen, die allgemein an Opfer und Überlebende von Gewalt gerichtet werden.
Von mir wird Scham darüber erwartet, dass die Gewalt passiert ist – aber nicht darüber, dass mir im Zuge dessen jemand so nah war, dass es meine globale Integrität verletzt und manchmal auch zerstört hat. Man möchte mir so gern sagen, dass es nicht meine Schuld war, damit man nicht hören muss, dass mich aber eigentlich der Umstand der Verletzung, der Zerstörung umtreibt. Dass nicht heil, intakt, ganz zu sein, der eigentlich viel größere Erwartungscrash mit anderen Menschen ist. Die Scham, mit der ich lebe, ist dadurch oft viel ungesehener. Und viel unverstandener.
Und mischt sich in die allgemeinen Schamgefühle, die ich zu meiner Existenz als behinderte Person habe, weil ich in einer ableistischen Gesellschaft lebe. Aber das ist nur ein Seitenarm.

In der Kinderwunschpraxis fiel es mir leicht, mich von all dem zu distanzieren.
Es ist ein wissenschaftlicher Betrieb. Es zählen Daten und Fakten. Mein sozialer Status ist irrelevant, meine psychisch bedingten Eigenschaften sind Daten inmitten von Daten.
Wir hatten ein informatives Gespräch, einen überraschend fast schmerzhaften Ultraschall, eine Blutuntersuchung und ein insgesamt gutes Gefühl. Es kommen noch einige Termine auf uns zu, aber was mir früher passiert ist, wird keine Rolle dabei spielen.
Es ist ein Datum unter vielen.

Prozess

Der Lauf der Dinge.
Eine Bewegung. Prozess aus Prozessen für Prozesse, mit bei an in und um Prozesse herum. Ich könnte ihn „das Leben“ nennen, doch dieses Wort erscheint mir oft zu aufgeladen. Das Leben geht weiter – der Lauf der Dinge mäandert und hat das Leben in sich. Er wandelt, schlängelt, drückt, zieht, trägt, hält, wiegt, entwickelt und vergeht. Und mehr. Es ist immer mehr.

Als wir uns für das Leben entschieden, entschieden wir uns auch für die Hingabe zum Lauf der Dinge. Ich finde oft Trost in der Vorstellung, dass meine Existenz wie eine kleine Luftblase in diesem großen, universellen Strom fließt. Egal, wie einsam ich mich fühle – ich weiß, dass ich ins Universum gehöre. In die große weltliche Gemeinschaft all dessen, was lebt.
Aber Sookie lebt jetzt nicht mehr. Ihre Reise im großen Strom hat sie an einen Punkt getragen, den ich noch nicht erreicht habe – obwohl wir beide einander so nah waren. Ab jetzt ist nichts von dem, womit ich mich in der Welt bewege, womit ich sie erfahre und einschätze, anwendbar, wenn es um Sookie geht. Und das verunsichert mich.

In den letzten Wochen hatte ich oft Gedanken und Fragen, die nicht sicher zu beantworten sind. So etwas ist für mich immer sehr ungünstig, weil ich nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Nach einem Weg für eine Antwort zu suchen. Über mögliche Lösungen aus den Konflikten, die dabei entstehen, auszusteigen oder sie zu befrieden.
Und jeden Tag gibt es Dinge, die ich zum ersten Mal ohne Sookie mache. Jeden Tag werde ich daran erinnert, dass ich diese Fragen noch nicht sicher beantwortet habe. Weil sie nicht zu beantworten sind. Jeden Moment bewege ich mich in einem Zweig des Laufs der Dinge, der ganz grundsätzlich neu ist. Fremd. Verunsichernd. Während alles unbeirrt weiterströmt, weil auch dieser Prozess, der gerade mit mir passiert, dazugehört.

Ich bringe gerade viel Kraft dafür auf, in dieser meiner Transformation niemanden zu stören. Die Menschen, mit denen ich heute überwiegend zu tun habe, kennen mich nicht ohne den Boden unter den Füßen, den Sookies Anwesenheit mir gegeben hat. Sie sollen nicht merken, wie viel größer, wie viel unsicherer, wie viel anstrengender jeder meiner Schritte jetzt ist. Sie sollen nicht wissen, dass ich sie nicht als meinen Boden, meine erste feste Basis im Leben empfinde, sondern eher wie günstig liegende Trittsteine. Haltestangen. Lose Taue, deren Enden mich unvorhergesehen streifen und aus schierem Glück in der Lage sind, mich dann und wann in Kontakt zu bringen.

Ich versuche mich nicht mit Arbeit zu betäuben. Und auch nicht mit dem ständigen Input aus Podcasts, wissenschaftlichen Artikeln und Instagram-Reels, der mich üblicherweise im Kontakttraining hält. Das fällt mir im Moment sogar ganz leicht, denn es gibt gerade nicht viel, das hängenbleibt, umfassend verarbeitet wird oder mich mit dem Gefühl von tieferem Sinn erfüllt.
Ich bin sehr verlangsamt in der Reizverarbeitung, muss länger als sonst darüber nachdenken, wie ich fühle oder welche Gedanken ich in bestimmten Situationen hatte. Sehr ungünstig in einer Fahrschulstunde. Problematisch für eine Partnerschaft. Unpraktisch in der ersten Woche am neuen Arbeitsplatz. Nachteilig für Gruppenprojekte, den Podcast, meine Ehrenämter. Gefährlich für meinen Schutzmantel aus So-tun-als-ob.

 

in Sachen „Weitermachen nach (re)traumatisierenden Klinikerfahrungen“

Nach dem letzten Text hat mich jemand gefragt, wie wir „das mit der Verarbeitung der Klinikerfahrung“ gemacht haben.
Die Person beschrieb, dass es für sie nicht händelbar sei, Traumawahrheiten bestätigt zu bekommen und das Gefühl zu haben, sich nicht schützen zu können. Etwas, das wir schon von vielen Betroffenen gehört haben.

Ich musste eine Weile darüber nachdenken, ob das auch meine Ausgangslage beim Klinik-GAU war.
War ich verletzlich oder nicht doch durch die Verletzungen (Traumatisierungen, die mich krank gemacht haben) schon sehr empfindsam, fragil, wenig belastbar und dadurch gewissermaßen doppelt verletzlich?
Für mich war es letzteres. Und darin befindet sich schon der Sitz einer meiner Traumawahrheiten: Wenn ich eine wehe Stelle habe, wird mich jemand genau dort wieder verletzen. Sie wird gesucht und gefunden werden. Sie wird benutzt werden, um mich unter Druck zu setzen. Sie wird benutzt werden, um mich zu demütigen. Sie wird nicht versorgt. Sie wird nicht beschützt. Es ist sicherer, sie nicht zu erwähnen oder zu zeigen.
So passiert es mir natürlich schnell Behandler_innen mit früheren Täter_innen zu verwechseln oder ihr Handeln als gezielt und planvoll verletzend anzunehmen – für mich ist die Ähnlichkeit einfach enorm. Es erfordert sehr viel Kraft und noch viel mehr Mut, einfach mal anzunehmen, dass diese Situation keine der Gewaltsituationen ist, die ich so gewohnt bin, dass ich sie sofort annehme.
Nun kann ich also entscheiden: „Okay, ich bin Opfer gewesen, ich sehe schnell mal was, was in Wahrheit nicht da ist. Wenn ich mich von anderen Menschen verletzt fühle, ist das schnell mal eine Verwechslung oder Unterstellung, die mich schützen oder beruhigen soll, das ist eben Teil der Traumafolge …“ Ich kann also die Verantwortung für die Situation übernehmen und die Menschen in meiner Umgebung davon befreien, irgendwas damit zu tun zu haben. Denn ich bin ja der Wirrkopf und niemand kann etwas für meine W.Irre in der Situation.

In institutionellen und professionalisierten Kontexten sehe ich das aber anders.
Wenn das Verhalten von Behandler_innen und Betreuenden dem Verhalten von Täter_innen so sehr ähnelt, ist das ein Problem für beide Seiten. Vor allem, wenn es als solches einfach verschwiegen werden soll oder aus strukturellen Gründen nicht verändert werden kann. Dann braucht es die Verantwortungsübernahme der Behandler_innen und Therapeut_innen dafür zu sorgen, dass sie alternativ handeln können und auch eine gewisse Offenheit und Ehrlichkeit bei der Vermittlung des eigenen Handelns an die Patient_innen. Denn nur so können diese ihre Wahrnehmung und Einordnung der Situation korrekt vornehmen und das Erlebte einordnen.
Oh – aber Vorsicht beim Anbringen so einer Ansicht.
Als Patient_in ist man nicht in der Position, den Behandler_innen zu sagen, dass sie Mist machen, wenn es um Mist geht, den sie nicht beeinflussen können, weil sie ihn machen wollen oder sollen. Vielleicht weil „das Team“ (die große Eminenz, die jede Verantwortung auf Station diffus werden lässt) ihn sehen will, vielleicht weil die_r Ober- oder Chefärzt_in ihn sehen will oder vielleicht einfach weil man nur für Mist bezahlt wird.
Hinzu kommt, dass in Klinikkontexten mit großer Selbstverständlichkeit eine Rollenzuweisung passiert, die behandlungssuchende Menschen ihrer Einflussmöglichkeiten generell beraubt: sie werden zu Patient_innen. Gewissermaßen zu pathologischer Masse, mit der gewisse Umgänge und Behandlungen gemacht werden. Dabei sind die Patient_innen in doppelter Hinsicht Auftraggebende und die Behandler_innen Arbeits.Leistende. Wir gehen dahin, um etwas zu bekommen, das uns und unserer Krankenkasse zugesichert wird, weil wir es allein nicht schaffen. Es ist überhaupt nichts falsch, krank, anmaßend daran, das auch bekommen zu wollen. Gar nichts.
Aber Patient_innen wird dieser Wunsch oft als Forderung oder auch persönlicher Angriff unterstellt. Und daraus entstehen Verstrickungen, Re_Inszenierungen und auch massive Verletzungen der allgemeinen Integrität. Alles nur, damit die Verantwortung allein bei den Patient_innen und nicht eben nicht auch bei den Behandelnden und Betreuenden bleibt. Was die machen, geht Patient_innen nichts an. Geschlossene Gesellschaft. Zum Wohle aller.

*

Ich musste auch darüber nachdenken, ob ich die Erfahrung, den Klinik-GAU, überhaupt verarbeitet habe.
Und muss sagen: Nein, habe ich nicht. Und so, wie ich das gerne hätte, werde ich sie vermutlich auch nie verarbeiten können.
Eine Erkenntnis, die so bitter ist, wie die, um jede andere Gewaltwahrheit meiner Kindheit, Jugend und frühen Erwachsenenzeit. Es wird keinen Täter*in_Opfer-Ausgleich geben. Keine Mediation. Keine Wieder_Gutmachung. Keine Entschädigung. Gar nichts. Es ist passiert und niemand bedauert es.
Außer, dass ich nicht darüber schweige, in welchem Haus das war, wenn mich jemand fragt und welche Personalie in Verantwortung war, wenn es relevant ist, kann ich in der Sache überhaupt nichts weiter tun als sie zu er.tragen. Meine Gefühlsstürme spüren, den Auslösern nachempfinden, die Erfahrung so weit wie möglich zu objektivieren und immer darauf achten, dass ich meine Erfahrung von denen anderer abgrenze.
Ich muss darauf achten, mir nicht zu viele Klinikstories anzuhören, weil ich sonst von dem Meltdown oder schlimmeren Momenten des Kontrollverlusts in anderen Kliniken wie Fixierungen, den Missbrauch durch einen Pfleger oder soziale Schikanen in der Psychiatrie träume. Ich muss darauf achten, meine innere Brandrede an die damalige Therapeutin, die seit dem Klinik-GAU läuft, nicht in meine Argumentation für gute Traumatherapie-Richtlinien zu mischen. Wenn Behandler_innen mit mir sprechen, weil sie meine Arbeit interessant finden, verbiete ich mir, die aufkommenden Gefühle von Stolz, Gehörtwerden und Freude über den Kontakt zu bewerten. Ich nehme sie wahr und ordne sie weg wie ein Verwaltungsfachangestellter die Abrechnung. Nicht, dass ich wirklich irgendwann glaube, ich wäre irgendwie besonders oder in irgendeiner Weise gut in dem, was ich mache. Ich will diese Täterinnenperspektive über mich nicht bestätigen.
Der Schaden durch diese Erfahrung ist heute also dauerhaft schmerzlich schwelender Teil meines Lebens und entsprechend schwer überhaupt einzugrenzen.

Aber ich hatte vorher auch schon einen Schaden, der nie behoben werden, sondern gleichsam mehr oder weniger immer in Sanierung befindlich sein wird. Also was solls.
Vermutlich kommt man einfach nicht ohne Dellen durchs Leben. So entschmerze ich mir das manchmal, um meine Wahlmöglichkeiten bewusst zu halten. Denn auch wenn es total zynisch klingt, ist es so, dass man sich für den Schmerz entscheiden kann, wenn man sich für Vermeidung als okay und den Rest des Lebens als Option öffnet.

Ich dachte lange, ich dürfte im Leben nicht mehr vermeiden, weil ich das in Bezug auf viele traumabezogene Dinge bereits tue. Irgendwie hat sich bei mir die Überzeugung eingeschlichen, Vermeidung sei genauso schlecht wie meine PTBS-Symptomatik selbst. Vielleicht sogar eigentlich Teil der Krankheit, weil ich in der Therapie ja genau das Gegenteil tue und von mir erwartet wird. Ich soll mich widmen, ich muss mich konfrontieren, ich darf Trigger, Erinnerungen, traumabezogene Gefühle und Gedanken wahrzunehmen, nie mehr vermeiden – sonst funktioniert die Therapie nicht.
So stimmt das aber gar nicht. Jedenfalls nicht für mich.
Meine Therapieerfahrung ist, dass ich ohne bewusst zugelassene Vermeidungsstrategien überhaupt keine Kraft habe, um das zu verarbeiten, was ich mich traue, nicht mehr zu vermeiden.

In Bezug auf re.traumatisierende Klinikerfahrungen funktioniert das in etwa so:
Um mir von Behandler_innen und Pflegenden mitfühlend und verstehend anhören zu können, wie überarbeitet, überfordert, überlastet und strukturell niedergeworfen sie sind, muss ich vermeiden, an die Angewiesenheit von Patient_innen und meine Erfahrungen zu denken.
Um nicht in das Gefühl zu rutschen, mich selbst im Stich zu lassen, wenn ich „solchen Leuten“ gegenüber Mitgefühl und Solidarität ausdrücke, muss ich ganz bewusst wegschieben, dass es „solche Leute“ waren, die mich überlastet und strukturell ermächtigt, legitimiert, zuweilen gewissermaßen dazu beauftragt, verletzt haben. Wir können diesen Prozess auch gerne „Abgrenzung“ nennen, ich selbst nenne es aber „Vermeidung“, weil ich mich gegen meinen Schmerz und für die mitfühlende Fürsorge anderer entscheide. Ich bin lieber fürsorglich zu anderen als mir selbst, weil ich sonst meinen Schmerz fühlen müsste.
It’s a classic dance in the Vermeidungstanzdisco.

Und total okay für mich.
Ich habe nach dem Klinik-Gau beschlossen, erst dann wieder eine Klinik für Psychotherapie, Psychosomatik oder Psychiatrie als Hilfe in Betracht zu ziehen, wenn dieses Versorgungssystem so reformiert wurde, dass es in sich nicht mehr gewaltvoll ist.
Not so Fun Fact – aber wir sind ja bei Ähnlichkeiten: Das ist so ziemlich der gleiche Beschluss, den wir über unsere Herkunftsfamilie auch gefasst haben. Wir gehen wieder zurück, wenn sie sicher keine Gewalt mehr an uns ausüben.

Das ist kein „Nie“ – das würde viel zu viel Druck aufbauen und auch kein: Ich muss ganz allein irgendwas schaffen oder machen, damit das wieder geht. Es hängt nicht allein von mir ab, sondern bezieht beide Seiten mit ein.
Das kann ich gut er.tragen und halten, weil es mir auch Kraft dafür übrig lässt, mich um alternative Bedarfsbefriedigung zu kümmern.

Ich war immer sehr auf Kliniken und die Leute dort angewiesen, weil mich in meiner Jugend niemand haben bzw. behalten wollte. Als ich ein_e junge_r Erwachsene_r war, war die Klinik der einzige Ansatzpunkt für geschützte Tagesstruktur, Diagnoseverständnis und – verstörend eigentlich – Gemeinschaft. Ich war so allein in diesem Lebensabschnitt, dass Kliniken mehr Zuhause waren als meine eigene Wohnung und Behandler_innen mehr Familienersatz als zugegeben. Meine Angewiesenheit war so umfassend, dass ich mich den strukturellen und sozialen Gewalten dort praktisch rückhaltlos hingeworfen habe. Mit allen Konsequenzen.
Zum Beispiel der, dass ich nicht dachte, eine ambulante Therapie allein würde je für mich reichen, damit es mir besser geht. Oder der, dass ich Angst vor den Herausforderungen der Normalität was berufliche Bildung oder Arbeit bekam, weil ich dann ja nicht mehr im Intervall in die Klinik gehen könnte (und entsprechend allein und überfordert mit mir selbst und meiner Symptomatik bleiben würde, wenn der Funktionsmodus aus ist). Oder der, dass ich mich nicht getraut habe die Medikation abzusetzen, obwohl sie mich auch wesentlich daran gehindert hat, Fortschritte zu machen.
Das war so ein unfassbar hoher Preis, den ich für ein bisschen Bessergefühl, für einige stabile Stunden und hilfreiche Gesprächskontakte auf mich genommen habe. Heute würde ich den nicht mehr zahlen.
Und ich muss es auch nicht mehr. Zum Glück.

Ich konnte über das Bloggen und Twittern so viel mehr Kontakt und Austausch herstellen. Zusammen mit NakNak* hat das mein Gefühl der Einsamkeit gelöst. Durch ihre Ausbildung zur Assistenzhündin konnte ich lernen, dass viele der Dinge, die mich täglich belasten und ängstigen, beeinflussbar sind. Und zwar ganz direkt von mir. Ich muss es nur machen – und dafür sorgen, dass ich es auch durchgehend machen kann. So entstanden ganz konkrete Handlungsaufträge an mich, die über „fühlen sie mal rein, wer was dazu sagt“ und „16 Uhr Mandalas ausmalen zu Panflötenmusik“ hinausging und überhaupt ganz davon unbeeinflusst sind, ob und wie sehr ich gerade mit welchen Symptomen kämpfe.
Für mich ist das heute immer noch essenziell klar zu haben: Nichts von den Dingen, die ich benötige oder will, ist davon abhängig, ob ich Patient_in bin oder nicht, welche Diagnose ich habe oder nicht oder ob ich sie aufgrund eines Merkmals von mir verdient habe oder nicht. Dass ich das früher dachte, hat mich maximal dafür prädestiniert, meine Grenzen für Behandler_innen und Betreuende zu missachten und teils auch übergehen zu lassen. Und trotzdem war das weder meine Schuld noch Verantwortung.
Ich darf diese Situationen als man made trauma einordnen und für mich bearbeiten.

Es hilft mir auch, diese Arbeit schon zu anderen Traumatisierungen gemacht zu haben und dabei von einer Therapeut_in unterstützt zu werden, die mir das auch lässt, obwohl sie als Behandler_in ganz eigene Themen dazu haben könnte.

Und es hilft mir zu merken, wie lange ich inzwischen schon ohne Klinikanbindung zurechtkomme.
Und wie schnell ich WTF denke, wenn mir andere Viele von massiven Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten und gewaltvollen Verstrickungen mit Behandler_innen erzählen. Wenn ich früher anderen so etwas erzählt habe, hat nie jemand WTF dazu gesagt und mich daran erinnert, dass ich Menschenrechte habe und mit einem Auftrag, dem nachzukommen sich eine Klinik verpflichtet hat, dahingekommen bin. Nie.
Das kann ich heute für andere machen und mache das auch. Es tut mir gut, wenn ich in Austausch und Diskussion über Alternativen gehen kann. Es gefällt mir, zusammen mit anderen an theoretischen Grundlagen für Reformen und Richtlinien mitdenken zu dürfen.

Dass ich nicht hinnehmen muss, dass das für immer für so viele Patient_innen, Behandler_innen und Betreuende weitergeht, sondern aktiv Dinge versuchen und machen kann, gibt mir die Kraft, es eben so lange unverarbeitet zu lassen, wie nötig.
Manchmal ist einfach so: Wenn du es nicht loslassen kannst, musst es halt tragen.
Hauptsache, du bleibst nicht stehen. Es wird niemand kommen und es dir abnehmen.

Wut und Traumawahrheit

„Wut hat etwas mit den eigenen Grenzen zu tun“.
Noch eine Woche später hänge ich daran fest wie im Knäuel dicker, zähklebriger Seile. Einfarbig. Im Halbdunkel zunehmender Erkenntnis. Ich habe Angst.
Das kenne ich nämlich. Wut als Auslöser. Nachdenken über Wut als Einstieg in kreiselnde Kaskaden aus Traumashit und Kontrollverlust, an dessen Ende nur Erschöpfung und Dissoziation stehen.
Dabei kann ich gut wütend sein. Allein. Für mich. Ich kann sie fühlen, ich kann sie einordnen. Alles kein Problem – solang es um mich geht und ich das Problem bin. Dann nämlich kenne ich mich aus, weiß, was zu tun ist, fühle mich halbwegs kongruent.

Wut als Reaktion auf die Berührung, Irritation, Verletzung eigener Grenzen – das ist schwierig.
Schon Grenzen zu haben, ist wirklich schwierig für mich. Nicht mehr so viel wie früher, aber es gibt noch genug Momente im Verlauf einer Woche, im Zuge von sozialen Kontakten, körperlicher oder geistiger Umtriebigkeit, in denen ich es zum Kotzen finde, dass ich nicht einfach alles immer gleichzeitig kann. Einfach immer verfügbar sein und mitmachen, das ist der Modus, den ich, den wir, auch heute noch ständig anstreben. Obwohl wir ihn noch nie erreicht haben und vermutlich, sehr wahrscheinlich, auch nicht erreichen werden.
Menschen sind begrenzt. Das macht Grenzverletzungen so schlimm und zuweilen auch traumatisch. Wenn der äußere Rand von etwas verletzt wird, verliert, was auch immer dahinter ist, an Schutz. Keinen vollumfänglichen Schutz zu haben, ist ein Problem. Ein unter Umständen lebensbedrohliches Problem.

Die Gewalt, in der ich aufgewachsen bin und auch die Gewalt, in der ich heute als autistischer Mensch, noch immer lebe, verzerrt mein Verhältnis zur Wahrnehmung dieser Bedrohung und auch meine Bewertung dieses Problems.
Das ist die Abzweigung zu Themen wie Narzissmus, Ideen von Omnipotenz, aber auch gnadenloser Selbstzerstörung aus Selbsthass. Denn viele Täter_innen vermitteln ihren Opfern, dass ihre Grenzen ein Problem sind. Ein Anlass, ein Grund, eine Rechtfertigung, eine Eigenschaft, die es zu verlieren gilt. Und vor allem Kinder, deren Eltern die Täter_innen sind, haben keine andere Möglichkeit, als das zu glauben. Sie übernehmen die Perspektive des Außen auf sich und versuchen eine Kongruenz herzustellen. Nicht weil sie Opfer sind oder noch nicht sehr schlau, sondern weil sich so Identität und Selbstbild entwickeln. So machen Menschen das. Ohne Feedback vom Rand ihrer Selbst, gibt es keine Kenntnis darüber. Und ohne Kenntnis keine Meinung, kein Wert – keinen Ansatz für eine eigene Haltung oder eigene Wünsche an sich. Ohne berührte, gespürte, erklärte und verstandene Grenzen gibt es also auch keine Möglichkeit des Wissens darüber. Und ohne Wissen darum gibt es weniger Selbstverständnis, was dann wiederum zu einem Problem wird, wenn man in soziale Interaktion und Kommunikation geht. Dann ist es nämlich ganz praktisch, eine Idee von sich zu haben, um eine Idee von anderen Menschen zu bekommen und sich ihnen grenz-wahrend, verständnisvoll und konfliktarm zu nähern.

Ich gehöre zu den Menschen, denen oft vermittelt wurde, Dinge zu können.
Meine Hochbegabung gepaart mit meinem (Überlebens)Willen, die Dinge richtig zu machen, hat mich für viele Menschen älter und reifer, allgemein kompetenter wirken lassen, als ich war. Ich wurde sehr oft extrem überfordert, habe sehr oft sehr viel zu wenig Unterstützung, Anleitung oder Führung beim Erlernen neuer Dinge, beim Lösen von Problemen und dem Prozessieren von Selbst_Erfahrungen bekommen. Das war in meiner Kindheit, Jugend, jungen Erwachsenenzeit für viele Menschen – Betreuer_innen, Behandler_innen, Freund_innen wie Täter_innen gleich – einfach ein sehr kongruenter Umgang mit mir.
Selbstverständlich war Wut als Reaktion auf Grenzverletzungen wie diese dann immer ein massives Problem. Und hatte aus Sicht der Menschen um mich herum, immer nur mit mir selbst zu tun. Wurde als Ausdruck von Undankbarkeit vor dem Geschenk der Aufmerksamkeit, die man „den Reiferen“ / „den Cleveren“/ „den Verständigeren, mit denen man so gut reden kann, weil sie alles so tiefgreifend verstehen“ gibt, angenommen und entsprechend bestraft. In der Traumaklinik genauso wie in der Wald- und Wiesenklapse. In meiner Familie* genauso wie in meiner Familie°. In meinem Freundeskreis genauso wie in fremden Kontexten.

Es ist eine elendige Situation, wenn man so leben muss. Wissend, dass man eben nicht alles immer kann. Aber doch muss, weil es der einzige Weg, der einzige Anlass für andere Menschen ist, mit einem_einer in Kontakt zu gehen. Ob nun gewaltvoll oder nicht. Die Kontaktbedürfnisse verschwinden ja nicht, nur weil Kontakt auch gefährlich sein kann. Sie nehmen vielleicht ab oder richten sich auf ungefährliche Dinge, aber da bleiben sie und müssen befriedigt werden.

Wie umfassend, wie zuweilen sogar quälend weit über die eigenen Grenzen der Kontakt mit anderen Menschen für mich ist, habe ich erst nach der Autismusdiagnose und der Aufarbeitung des Klinik-GAU wirklich verstanden. Da gab es so eine Wutsituation ja auch. Und damit meine ich nicht den Meltdown im Büro der Oberärztin, sondern die Wochen davor. In denen ich, die_r sowieso massiv in der Krise war, mich noch dazu verpflichtet hatte, wenigstens annehmbare_r Patient_in zu sein. Mit zu wenig Ruhe, mit zu viel Menschenkontakt, zu viel Anpassung an Sozialperformances, die weder Sinn noch Nutzen für mich hatten und – klar, selbstverständlich, so ist mein Leben – so viel Kraft für Selbsterklärung, Wissensvermittlung und Barrierenkompensation.
Ich war die ganze Zeit in dem Modus, der mir schon als ganz kleines Kind das Leben gerettet und mir die Anpassung an lebensfeindliche Umfelder ermöglicht hat – und ich hatte das bemerkt. Und als Problem erkannt, denn niemand würde eine Klinik für Psychosomatik als allgemein lebensfeindlich einordnen. Da sollte es mir ja besser gehen, ich sollte behandelt werden, ich sollte Hilfe erhalten.
Dieser Widerspruch ist die berührte Grenze.
Ich brauche eindeutige Verhältnisse. Brauche Klarheit. Dann fühle ich mich sicher. An dem Aufenthalt war überhaupt nichts klar – außer, dass ich das Problem war. Und das kannte ich ja schon. Indem ich meine Behandlungszeit damit verbrachte, meine Grenzen niederzuschleifen und mich dafür zu hassen, wenn ich Widerstände von innen spürte (bzw. den Hass an den Innens zelebrierte, die ihren Widerstand auch nach außen hätten tragen können), stellte ich Kongruenz für mich her. Klarheit. Sicherheitsgefühle. Ich bewahrte andere Grenzen in mir. Kann ja nicht angehen, dass meine Traumawahrheiten über mich selbst falsch sind. Ich muss mich (meine Grenzen) verletzen. Es muss wehtun. Das gehört dazu. (Denn das Umfeld verletzt sie ja auch.)

Wut als Schutzreaktion anzunehmen, fällt mir also noch schwer, weil diese Perspektive viele Traumawahrheiten in Frage stellen würde.
Das Monster in mir wäre vielleicht keins. Das unwürdige Viech in mir vielleicht doch, was meine Therapeutin seit Jahren sieht. Selbst mein Selbsthass wäre nichts weiter als ein Schutzschild vor dem ableistischen Hass, den andere mir gegenüber ausgelebt haben.

Und wie soll ich dann weiterleben?

ein Fisch unter Elefanten – mein Prozess der Annahme der Autismusdiagnose

Am Dienstag war Autism-Awareness-Day und meine sozialen Medien ziemlich voll mit Posts über das Telefon als Barriere, das Puzzleteil als Symbol, das bitte nicht mehr benutzt werden soll und vielen Erklärungen zu Meltdowns und Stimming.
Ich habe an dem Tag das aktuelle Heft „autismus verstehen“ gelesen.
In dem Heft gibt es aber auch einen Text zum Prozess der Annahme und Akzeptanz nach der Autismusdiagnose. Petra Lachinger beschreibt ihn dort als den fünf Phasen der Trauer ähnlich. Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression, Annahme – am Ende ein lebenslanges Ding, das mal mehr, mal weniger beschäftigt.

Ich habe meine eigene Akzeptanz reflektiert und dabei bemerkt, dass mein Annahmeprozess genauso traumalogisch wie mein Verdachtsprozess und mein Umgang heute damit ist. Und dass das vielleicht anders wäre, hätte unsere Gesellschaft ganz allgemein mehr Autismus-Awareness.

Mein Verdacht autistisch zu sein, hatte sich entwickelt, weil ich mich als Ursache eines Problems wahrgenommen habe, das offenbar nur ich überhaupt hatte.
Die Traumalogik dieses Komplexes ist für mich ganz offensichtlich: Ich muss schuld sein, dass ich ein Problem wahrnehme. – Ich stelle mir das Problem selbst her, weil mit mir etwas nicht stimmt. – Ich strenge mich nicht genug an, um es zu verhindern, weil ich leiden will. – Ich will den Schmerz ja offensichtlich, warum rede ich mir dann ein, ich wolle ihn nicht …

Ich habe nicht einen Moment darüber nachgedacht, ob meine Therapeutin vielleicht irgendetwas falsch macht. Sie war von den Menschen, die mit mir gearbeitet haben, weder die Erste, die sowohl fachlich als auch menschlich gut mit mir gearbeitet hat, noch die Erste, die gut mit mir gearbeitet und trotzdem nicht richtig verstanden hat.
Ich hatte es nur zwei Mal mit wirklich schlechten Psychotherapeut_innen zu tun. Der eine hat sexualisierte Gewalt an mir ausgeübt, die andere hat mich emotional gewaltvoll behandelt. Das war beides schlimm und alles – hat aber am Ende in Bezug auf mein Selbstbild nichts großartig irritiert. Mit Gewalt umzugehen, war ich so gewohnt, dass ich mir damals schnell erklären konnte, warum sie passiert war. Ich bin halt scheiße – was soll auch anderes passieren. So ist es richtig – so funktioniert die Welt. Wenn es anders läuft, ist was im Busch.

Wenn zwei Personen alles so richtig wie möglich machen, aber doch nichts Richtiges dabei herauskommt, ist es wahrscheinlich, dass sie das Falsche tun. Da mir die Therapie grundsätzlich half, war es also logisch anzunehmen, ich müsste nur eine Kleinigkeit lernen, um den letzten Schritt zu schaffen.

Als ich anfing, mich in den Diagnostikprozess zu begeben, kämpfte ich mir der Überzeugung, dass ich jahrelang die Ressourcen und Kräfte von Menschen verschwendet habe, die sich sehr um mich und mein Weiter.Leben bemüht haben. Undankbar kam ich mir vor. Dreist, anmaßend. Und so, als ob ich mich nun einer so grundlegenden Beschissenheit meiner Selbst stellte, die ich selber, obwohl ich schon um sie wusste, einfach nie wirklich in Umfang und Bedeutung begriffen hatte. Ich war absolut bereit dazu zu hören: Du kannst es einfach nicht und wirst es nie können.
Heute frage ich mich, ob das vielleicht ein Aspekt von Leugnung ist.
In Wahrheit bin ich nicht autistisch (oder anders anders als die anderen Menschen) – in Wahrheit bin ich so scheiße unfähig, wie ich mich selbst (sicherheitshalber, traumagewohnheitsmäßig) finde.
Denn gleichzeitig hatte ich mich wissenschaftlich kritisch belesen und mich letztlich aufgrund der genetischen Komponente (eines meiner Geschwister ist ebenfalls hochbegabt und autistisch) für die Abklärung entschieden.
Logisch war mir klar, dass es genetisch und auf Grundlage meiner Probleme viel wahrscheinlicher war tatsächlich autistisch zu sein, als grundsätzlich unfähig. Aber die Leugnung dieser logischen Klarheit, hat mir ermöglicht, einen emotionalen Abstand herzustellen, der mir Sicherheit gab.

Ganz sicher war es auch ein Aspekt von Vermeidung, denn mir war schon klar, was diese Diagnose zusätzlich für mich auch bedeutet. Was es im Rückblick auf mein Leben und meine Arbeit in therapeutischen Kontexten bedeuten würde.
Es war so viel leichter für mich, mich als Problem anzunehmen und dafür zu beschämen, als mal ganz grob und diffus in die Richtung zu denken, dass die Gesellschaft, dieses Stückchen Welt um mich herum, mich einfach 30 Jahre lang genau so im Stich gelassen hat, wie ich es – heimlich, versteckt, unterdrückt, negiert, verleugnet, beschämt, bestraft – gefühlt habe. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Gewalt, sondern auch in Bezug auf mich als Individuum.
Dass mein Gefühl richtig war, hat mich direkt nach der Diagnosestellung dekompensieren lassen. Denn damit umzugehen, überstieg meine Lebenskompetenzen. Ich habe nicht gedacht: Ich bin so geil, habs ja gleich gewusst – alles Dilettanten! Oder: Oh yeah, ich bin schlau – jetzt kommt meine Rache an allen, die mir nicht gerecht geworden sind.

Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe vor allem gefühlt und davon viel zu viel gleichzeitig, unbenennbar und existenziell bedrohlich.
Mein Leben nach der Gewalt war praktisch komplett um die Psychotherapie herum aufgebaut, weil mir von allen Seiten vermittelt worden war, dass nur so eine lebenswerte Zukunft für mich überhaupt denkbar sei. Und dann verstand ich, dass diese eine letzte stabilisierende Säule – dieses einzige Ding, das mir trotz allem nicht-ganz-Verstehen meiner Therapeutin auch geholfen hat – nicht wirklich funktionieren kann, weil ich dafür nicht passe. Obwohl ich mich so anstrengte. Obwohl ich wirklich alles immer so aktiv bearbeitete, wie ich konnte.

Es folgte meine letzte schwere Depression mit akuter Suizidalität und meine letzte gewaltvolle Psychiatrieerfahrung. Die mit mehr Bewusstsein für Autismus und autistische Menschen vermutlich gar nicht so gewaltvoll geworden wäre.
Genauso wie der tagesklinische Aufenthalt danach. Der Klinik-Gau, der mich bis heute rasend wütend macht, weil ich Verletzungen wie diese einfach nicht mehr traumalogisch abhaken kann – und will.
Und auch nicht sollte. Niemand sollte nach so einer Klinikerfahrung nach Hause gehen und denken: Ja, ich bin da halt nicht richtig gewesen – ich bin halt immer überall falsch. Ich darf auch nicht von anderen erwarten, dass sie sich auf mich einstellen – was denk ich denn, wer ich bin?

Die psychologische Begleitung, die ich nach der Diagnose hatte, war letztlich, was mir geholfen hat, Schritte aus meiner Traumabubble zu schaffen. Ich konnte schrittweise so auseinanderschälen, wie ich das benötigte, wo mein autistisches Er_Leben Anpassungen von meiner Umwelt erforderte und welche Themen besser traumatherapeutisch aufzugreifen sind.
Das war meine Phase der Verhandlung und damit auch eine Phase der aktiven Interaktion mit meinen Diagnosen und den auch identitätsstiftenden Aspekten davon. Es fiel mir zunehmend leichter, mich nicht als mehr oder weniger skurrilen Traumarest zu begreifen, der in allen Bereichen des Lebens struggelt, weil das Trauma alles beschädigt hat und neu aufgebaut und ausentwickelt werden muss. Ich konnte mich auch davon lösen anzunehmen, dass ausschließlich die traumasensible Interaktion mit mir hilfreich und gut für mich wäre und alles andere nur deshalb nicht funktionieren würde, weil ich ja so beschädigt traumatisiert bin.

Ich begann jede Situation, die schwierig für mich war als eine Art Handel oder Austausch zu betrachten. Also als etwas, das nicht primär etwas mit mir, meiner Persönlichkeit oder meinem Sein zu tun hat, sondern als etwas, das prinzipiell erst einmal gemacht werden muss/soll/kann/darf und deshalb immer erstmal okay ist. Egal, was ich dabei wie un.gewollt kommuniziere oder auch nicht.
In meinem Fall ging es dabei vorrangig darum, meine existenziellen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Also genau die Basics, die die meisten Leute gar nicht groß als herausfordernd erleben – und deshalb nur bei ganz kaputten, kranken, unfähigen Leuten überhaupt als herausfordernd annehmen – in Routinen einzubetten, die ich mag. Die mir gefallen. Die mir Kraft geben. Und sie dann auf Traumareste hin zu prüfen.
Dass in dem Prozess herauskam, dass der Großteil meiner Alltagsbelastung und Hauptauslöser für dissoziative Symptome in sensorischer Überreizung und dauerhaft abgezwungener Überforderung begründet war, hat mich damals erst einmal sehr gestärkt. Okay, ich bin kein Traumarest, der zu nichts weiter fähig ist – ich habe einfach nie gelernt, mich an meine eigene Wahrnehmung von etwas anzupassen. Wenn ich das tue, gehts mir so viel besser und ich kann so viel mehr machen.

Im Traumakontext ging es bei diesem Prozess immer darum, Traumalogik aufzudecken. Also das Innen zu finden, das noch traumareaktiv agiert, es zu orientieren und dann einen Handlungsweg aufzubauen, der alternativ ist.
Mein tagtägliches Alltagstrauma als unerkannt autistisches Kind war aber nicht so kleinteilig. Es war keine Abfolge wiederkehrender Monotraumata, die jeweils ein Innen hervorgebracht hat bzw. einen Trigger, den man entschärfen muss, um dann zu gucken: Okay, wie kriegen wir das bewusster hin? Wie können wir uns orientiert halten und die Sache erledigen (wie die meisten anderen Menschen auch)?

Niemals war in dieser Auseinandersetzung die Frage, ob und wenn ja, wann und wie ich überhaupt die Chance habe, nicht durch Überreizung oder soziale Überforderung schon dissoziiert zu sein. Nie war die für alle so ganz normale Alltagsumgebung, als nur mit unfassbarem Kraftaufwand kompensierbare Belastung mitgedacht.

Ich lebe in einem Umfeld, das nie gehört, gerochen, gesehen, gespürt, geschlussfolgert, angenommen, überlegt, interagiert und kommuniziert hat wie ich – aber in jeder Situation, zu jeder Zeit und um jeden Preis auf meiner Seite von mir verlangt zu können, was es selbst kann. Schon als Kind bin ich als Fisch unter Elefanten aufgewachsen, denen nie in den Sinn kam, dass ich jeden Tag – ganz unabhängig davon, ob sie mich misshandelt haben oder nicht! – mit Todesangst wegen ganz realem Sauerstoffmangel umgehen musste.
Das ist ein Leben, das einfach nicht verletzungsfrei sein kann. Und das auch nicht allein dadurch veränderbar ist, dass ich darum weiß und mir mehr Inseln (Teiche? 😅) schaffe, in denen ich ganz ich sein kann und von anderen Menschen deshalb weder beschämt noch pathologisiert werde.

Heute, 9 Jahre nach der Diagnosestellung, habe ich meinen Autismus noch nicht vollständig angenommen, weil er mir selbst noch nicht vollständig in allen Aspekten immer bewusst ist. Ich denke nach wie vor erst, dass ich ein unfähiges Stück Scheiße bin und gehe erst dann in die Prüfung, wenn mir diese negative Selbstverortung als belastend auffällt. Und selbst diese Prüfung mache ich nicht in der Annahme, ich sei ein Fisch unter Elefanten – also eine Person, die sich an Dinge anpassen muss, an die sie sich nie vollständig anpassen kann – sondern wie eine komplizierte Rechenaufgabe voller Annahmen, unsicherer Intuition und konstant auf Traumalogik durchleuchtete Impulse. Denn ich weiß einfach nicht, wie Elefanten ticken. Nicht wirklich. Und deshalb weiß ich nicht, worin sie sich von mir unterscheiden. Ich weiß eigentlich immer nur, was sie von mir als abweichend wahrnehmen und wahlweise witzig, nervig, störend, peinlich, abstoßend oder bedrohlich empfinden. Das kann aber an meinem Autismus liegen, an meiner Traumafolgestörung oder anderen Eigenschaften von mir und den Kontexten, in denen wir uns bewegen.
Bis ich weiß, dass etwas von meinen Belastungen auch Autismusbedingt ist, vergeht oft sehr viel Zeit und frustrierendes Herumprobieren an mir selbst.

Mein nicht-autistisches Umfeld spanne ich damit nur selten ein. Es ist mir einfach zu belastend und manchmal auch zu verletzend.
Auch das ist Teil des Annahmeprozesses. Ich muss nicht nur akzeptieren können, dass ich so bin, wie ich bin und was es für mich bedeutet, so zu sein, wie ich bin. Ich muss auch die Realität akzeptieren, dass nicht-autistische Menschen einfach nie die Quelle für Miteinander, Selbst- und Umweltverständnis sein können, die ich brauche und mir oft wünsche.

Meine Vorstellung von mir als „vom Trauma geheilte Person“ musste ich nach der Diagnose auch revidieren. Die selbstbestimmte Frau, die ihr Trauma überwunden, das Leben anpackt, sich against all odds verwirklicht und ihren Weg in den Sonnenuntergang geht, war schon immer eine Trope, die ich ehrlich gesagt eher als lesbische Fantasie interessant fand. You know – Xena 😅
Ich bin aber keine Frau. Ich weiß noch gar nicht, wann ich wirklich bin und immer um mich kämpfen will ich auch nicht müssen. Aber selbstbestimmt möchte ich sein. Und das ist als autistischer Mensch unter überwiegend nicht-autistischen Menschen nicht das gleiche wie für nicht-autistische Menschen. So etwas als gesetzt annehmen zu müssen, ist einfach nicht fair. Ich will das nicht annehmen.
Muss es aber doch in manchen Bereichen, weil man sich im Angesicht unbewusster Mehrheiten nicht um alle Veränderungen gleichzeitig kümmern kann.

Für mich ist es viel, gelegentlich mal solch einen Text zu schreiben oder bei einer Lesung oder einem Vortrag darüber zu sprechen. Aber damit das allgemeine Bewusstsein zu steigern oder gar die Welt zu verändern, erscheint mir utopisch und anmaßend. Ich betrachte es eher als eine Art Teichrandgestaltung. Als Elefantenfesten Strand sozusagen. Wer möchte, soll können.

Es wäre schön, würden Elefanten das auch für mich tun.
Aber zur Annahme meiner Diagnose.n gehört auch die Annahme der Realität, in der sie entstanden sind und eine Funktion erfüllen.