Angst – Eine Anregung zur Auseinandersetzung nach komplexer Traumatisierung

Cover des E-Books „Angst, Eine Anregung zur Auseinandersetzung nach komplexer Traumatisierung“, schwarz weiß - Abrisskante einer strukturierten Folie ähnlich wie Gaffa-TapeAngst als Konstante

Wer in globaler Unsicherheit lebt und auf.wächst, erlebt Angst nicht nur als belastende Ausnahme.
Unter solchen Lebensumständen ist sie immer da.
Sie gehört immer dazu. Zum Leben. Zum Selbst.

Diese Art von Angst und die Beziehung zur Angst, die sich daraus ergeben kann, ist oft nicht hinterfragt oder bewusst wahrgenommen. Man hat einfach immer diese eine kontinuierliche Schicht in sich und den eigenen Entscheidungen, Empfindungen, Ideen und täglichen Handlungen, die wie unnachgiebiges Gummi wirkt.
Manchmal erscheint es, als würden dadurch alle Gefahren einfach abprallen – manchmal, als würde sie eine.n nie (zu weit) gehen lassen.
Manchmal verwechselt man sogar Angst mit Intuition. Also einer Fähigkeit, die sich aus schnellen Rückschlüssen und In-Beziehung-setzen von verschiedenen Informationen sowie Projektion ergibt. Man glaubt, es das Beste, das einzig Richtige Angst zu haben.

Im Leben vieler bereits in der Kindheit komplex traumatisierter Menschen ist Angst als Konstante erlernt. Und zwar nicht in Ergänzung oder in Abgrenzung zu Sicherheitsgefühlen oder Gefühlen von Geborgenheit, sondern an ihrer statt oder vor allem anderen.
Wer erst Angst erfährt und dann Sicherheit, erlernt Angst als Ausgangsmoment. Als das Normal, das verändert wird durch Sicherheit. Wer erst Sicherheit erfährt, erlernt Angst als Ausnahme. Was zuerst und am häufigsten da ist, gewinnt gewissermaßen den Status des normalen Allgemeinzustandes bei Menschen. Ausnahmen bleiben so lange Ausnahmen, bis sie normal und als solches integriert sind. Also als tatsächlich auch sich selbst und dem Leben in dieser Welt zugehörig wahrgenommen und eingeordnet werden kann.

Angst als funktionsrelevante Konstante bei Menschen, die sich als Viele erleben

Menschen, die sich als Viele erleben, sind häufig in gewisser Weise abhängig davon, Angst zu haben. Ihre Identitätsstruktur ist in vielen Aspekten biologisch abhängig von hohen Cortisolwerten, bestimmte Persönlichkeitszustände stellen sich ohne Angst in einem bestimmten Grad gar nicht erst ein. Viele exekutive Funktionen erfordern einen biologischen Jumpstart, den nicht gleichermaßen angstvoll aufgewachsene Menschen als profunde Panikattacke einordnen würden.
Das sind Aspekte, derer sich Betroffene oft erst bewusst werden können, wenn sich ihre äußeren – permanent angsteinflößenden – Lebensumstände verändert haben. Zu diesen Veränderungen gehören stabile Wohnverhältnisse, stabile soziale Bezüge und persönliche Freiräume, die die individuelle Selbstentfaltung sowie den Selbstausdruck ermöglichen.

Diese Veränderungen zu wollen, kann Angst auslösen. Solche Veränderungen zu wünschen, kann Angst auslösen. Veränderungen wie diese können dazu führen, dass Angst als einziger Selbstbezug bestehen bleibt, weil es keinerlei alternative Verarbeitungskompetenzen gibt. Übersetzt kann das bedeuten: Wenn sich so basale Dinge verändern, kann es sein, dass es kein Innen/keinen Anteil/keine Innenperson gibt, die diese Veränderungen anders als mit Panik beantworten kann.

Angst als zuverlässige Ressource

Die Angst muss in dem Fall als Ressource angenommen werden, weil die betroffene Person nichts anderes verfügbar hat. Es ist dem Menschen häufig ganz faktisch nicht möglich, auf etwas anderes zurückzugreifen. Der Anteil/das Innen/die Innenperson, die diese Zeit der Veränderungen er.trägt muss wertgeschätzt, akzeptiert und als kompetent genug begleitet werden, zu neuen Sicherheiten zu finden als die, dass die Angst (und damit auch sie selbst) da ist.

Die Annahme, Angst sei ausschließlich schrecklich und belastend, muss dafür überprüft werden.

Folgende Fragen könnten dabei hilfreich sein:
Was wäre, hätte ich gerade keine Angst?
Wäre ich da?
Wäre das sicher?

Wie würde ich die Situation einordnen, würde sie mir keine Angst machen?
Wer wäre ich in dieser oder ähnlichen Situationen, wenn ich keine Angst hätte?

Was ermöglicht mir die Angst?
Was erlaubt mir meine Angst?

Angst als versicherndes Element

Viele Menschen, die in ständiger Angst aufgewachsen sind und damit auch weite Teile ihres Erwachsenenlebens damit aufgebaut und ausgestaltet haben, benutzen ihre Angst unbewusst (im Sinne von unabsichtlich) auch als Werkzeug, weil sie nach komplexer Traumatisierung häufig traumalogisch planen. Das betrifft sowohl Menschen, die sich als Viele erleben, als auch Menschen, die ein weitgehend kongruentes Selbst- und Umwelterleben haben und komplex traumatisiert sind.
Viele dieser Menschen haben gewissermaßen lieber Angst als etwas anderes, weil sie in Angst für sich selbst vorhersehbarer funktionieren und sich dadurch ein Gefühl von Kontrolle (und Selbst_Versicherung) herstellen können. Sie fühlen sich erst sicher, wenn sie Angst haben, weil sie dann wissen, was sie wie tun müssen, um zu überleben.

In manchen Hilfe- und Helferbeziehungen müssen Klient_innen/Patient_innen Angst haben und (überzeugend belastend) kommunizieren, weil sie sonst kein verbindliches Beziehungsangebot bekommen. Wer sich erst in Angst sicher fühlt, wird in solchen Beziehungen darin bestärkt, Angst als bestimmendes Element des Selbst- und Umweltempfindens aufrechtzuerhalten – um mögliche Ängste vor Beziehungsabbruch, Ängste vor (positiven) Veränderungen (und damit einhergehender Konfrontation mit eigenen Kompetenzdefiziten) zu vermeiden oder weiterhin verdrängt (dissoziiert) zu lassen.

Solche Dynamiken wirken in der Regel konträr zu vereinbarten Behandlungszielen bzw. Hilfeplänen und müssen entsprechend gründlich aufgearbeitet werden, wenn sie sich entwickelt haben.
Aufgrund der kapitalistischen Grundstrukturen vieler Hilfe- und Behandlungsangebote findet eine solche Aufarbeitung jedoch selten statt und es kommt häufig zum befürchteten Beziehungsabbruch durch vorzeitige Beendigung der Behandlung/Maßnahme.
Erneut kann in so einem Fall eine traumalogisch existenzielle Angst bestätigt werden und in späteren Hilfe- und Behandlungsbeziehungen verstärkt wirken. Und zwar einerseits als versichernd („Es macht mir Angst – also bin ich sicher“) als auch behindernd („Ich habe Angst, dass es sich wiederholt – ich lasse so wenig wie möglich Veränderung zu.“)

Angst als Teil des Lebens akzeptieren und integrieren

Es kann hilfreich sein, dem eigenen komplex traumatisierten Empfinden von Angst anerkennend zu begegnen. Angst ist wie alle anderen Primäraffekte (Freude, Trauer, Ärger, Überraschung und Ekel) überlebenswichtig und Teil jeder einzelnen alltäglichen Interaktion und Kommunikation.
Es gibt keinen Grund zur Annahme, es gäbe so etwas wie ein angstfreies Leben außer einem falschen Verständnis von Angst sowie dem Leben selbst.

Wer komplex traumatisiert ist, hat Angst oft als Kernelement der eigenen Lebendigkeit im Selbstbild, weil das eigene Überleben selten bis nie als grundlegend gesichert wahrgenommen werden konnte. In dieser Zeit der (so empfundenen) Lebensbedrohung war es nicht möglich, sich die eigene Angst als hilfreich, unterstützend, schützend, funktionell systemrelevant bewusst zu machen und sie gezielt zu beachten oder so zu modulieren, dass sie andere Primäraffekte unterstützt oder verstärkt.

In einer Lebenssituation, in der andere Grundemotionen auch oder vermehrt oder in neuen, ungewohnten Kontexten zu fühlen und zu modulieren geübt werden können, ist Angst für viele Betroffene ein stabiler Ausgangspunkt. Auch wenn es von Außenstehenden vielleicht erst einmal nicht nachvollziehbar ist oder sogar kontraproduktiv erscheint.
Mit der Angst im Selbst, der Angst im Bauch, im Nacken, im Rücken … haben Gewaltüberlebende manchmal eine Art „unsichtbare_n Begleiter_in“, den einfach loszulassen mit Gefühlen von existenzieller Bedrohung einhergehen kann. Nicht zuletzt, weil sie als Teil des Selbst, der mit ihnen die Gewalt überlebt hat, empfunden wird. Diesen Umstand zu akzeptieren, kann die gleiche Arbeit erforderlich machen, wie sie zur Traumaverarbeitung nötig ist.

 

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