ein Fisch unter Elefanten – mein Prozess der Annahme der Autismusdiagnose

Am Dienstag war Autism-Awareness-Day und meine sozialen Medien ziemlich voll mit Posts über das Telefon als Barriere, das Puzzleteil als Symbol, das bitte nicht mehr benutzt werden soll und vielen Erklärungen zu Meltdowns und Stimming.
Ich habe an dem Tag das aktuelle Heft „autismus verstehen“ gelesen.
In dem Heft gibt es aber auch einen Text zum Prozess der Annahme und Akzeptanz nach der Autismusdiagnose. Petra Lachinger beschreibt ihn dort als den fünf Phasen der Trauer ähnlich. Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression, Annahme – am Ende ein lebenslanges Ding, das mal mehr, mal weniger beschäftigt.

Ich habe meine eigene Akzeptanz reflektiert und dabei bemerkt, dass mein Annahmeprozess genauso traumalogisch wie mein Verdachtsprozess und mein Umgang heute damit ist. Und dass das vielleicht anders wäre, hätte unsere Gesellschaft ganz allgemein mehr Autismus-Awareness.

Mein Verdacht autistisch zu sein, hatte sich entwickelt, weil ich mich als Ursache eines Problems wahrgenommen habe, das offenbar nur ich überhaupt hatte.
Die Traumalogik dieses Komplexes ist für mich ganz offensichtlich: Ich muss schuld sein, dass ich ein Problem wahrnehme. – Ich stelle mir das Problem selbst her, weil mit mir etwas nicht stimmt. – Ich strenge mich nicht genug an, um es zu verhindern, weil ich leiden will. – Ich will den Schmerz ja offensichtlich, warum rede ich mir dann ein, ich wolle ihn nicht …

Ich habe nicht einen Moment darüber nachgedacht, ob meine Therapeutin vielleicht irgendetwas falsch macht. Sie war von den Menschen, die mit mir gearbeitet haben, weder die Erste, die sowohl fachlich als auch menschlich gut mit mir gearbeitet hat, noch die Erste, die gut mit mir gearbeitet und trotzdem nicht richtig verstanden hat.
Ich hatte es nur zwei Mal mit wirklich schlechten Psychotherapeut_innen zu tun. Der eine hat sexualisierte Gewalt an mir ausgeübt, die andere hat mich emotional gewaltvoll behandelt. Das war beides schlimm und alles – hat aber am Ende in Bezug auf mein Selbstbild nichts großartig irritiert. Mit Gewalt umzugehen, war ich so gewohnt, dass ich mir damals schnell erklären konnte, warum sie passiert war. Ich bin halt scheiße – was soll auch anderes passieren. So ist es richtig – so funktioniert die Welt. Wenn es anders läuft, ist was im Busch.

Wenn zwei Personen alles so richtig wie möglich machen, aber doch nichts Richtiges dabei herauskommt, ist es wahrscheinlich, dass sie das Falsche tun. Da mir die Therapie grundsätzlich half, war es also logisch anzunehmen, ich müsste nur eine Kleinigkeit lernen, um den letzten Schritt zu schaffen.

Als ich anfing, mich in den Diagnostikprozess zu begeben, kämpfte ich mir der Überzeugung, dass ich jahrelang die Ressourcen und Kräfte von Menschen verschwendet habe, die sich sehr um mich und mein Weiter.Leben bemüht haben. Undankbar kam ich mir vor. Dreist, anmaßend. Und so, als ob ich mich nun einer so grundlegenden Beschissenheit meiner Selbst stellte, die ich selber, obwohl ich schon um sie wusste, einfach nie wirklich in Umfang und Bedeutung begriffen hatte. Ich war absolut bereit dazu zu hören: Du kannst es einfach nicht und wirst es nie können.
Heute frage ich mich, ob das vielleicht ein Aspekt von Leugnung ist.
In Wahrheit bin ich nicht autistisch (oder anders anders als die anderen Menschen) – in Wahrheit bin ich so scheiße unfähig, wie ich mich selbst (sicherheitshalber, traumagewohnheitsmäßig) finde.
Denn gleichzeitig hatte ich mich wissenschaftlich kritisch belesen und mich letztlich aufgrund der genetischen Komponente (eines meiner Geschwister ist ebenfalls hochbegabt und autistisch) für die Abklärung entschieden.
Logisch war mir klar, dass es genetisch und auf Grundlage meiner Probleme viel wahrscheinlicher war tatsächlich autistisch zu sein, als grundsätzlich unfähig. Aber die Leugnung dieser logischen Klarheit, hat mir ermöglicht, einen emotionalen Abstand herzustellen, der mir Sicherheit gab.

Ganz sicher war es auch ein Aspekt von Vermeidung, denn mir war schon klar, was diese Diagnose zusätzlich für mich auch bedeutet. Was es im Rückblick auf mein Leben und meine Arbeit in therapeutischen Kontexten bedeuten würde.
Es war so viel leichter für mich, mich als Problem anzunehmen und dafür zu beschämen, als mal ganz grob und diffus in die Richtung zu denken, dass die Gesellschaft, dieses Stückchen Welt um mich herum, mich einfach 30 Jahre lang genau so im Stich gelassen hat, wie ich es – heimlich, versteckt, unterdrückt, negiert, verleugnet, beschämt, bestraft – gefühlt habe. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Gewalt, sondern auch in Bezug auf mich als Individuum.
Dass mein Gefühl richtig war, hat mich direkt nach der Diagnosestellung dekompensieren lassen. Denn damit umzugehen, überstieg meine Lebenskompetenzen. Ich habe nicht gedacht: Ich bin so geil, habs ja gleich gewusst – alles Dilettanten! Oder: Oh yeah, ich bin schlau – jetzt kommt meine Rache an allen, die mir nicht gerecht geworden sind.

Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe vor allem gefühlt und davon viel zu viel gleichzeitig, unbenennbar und existenziell bedrohlich.
Mein Leben nach der Gewalt war praktisch komplett um die Psychotherapie herum aufgebaut, weil mir von allen Seiten vermittelt worden war, dass nur so eine lebenswerte Zukunft für mich überhaupt denkbar sei. Und dann verstand ich, dass diese eine letzte stabilisierende Säule – dieses einzige Ding, das mir trotz allem nicht-ganz-Verstehen meiner Therapeutin auch geholfen hat – nicht wirklich funktionieren kann, weil ich dafür nicht passe. Obwohl ich mich so anstrengte. Obwohl ich wirklich alles immer so aktiv bearbeitete, wie ich konnte.

Es folgte meine letzte schwere Depression mit akuter Suizidalität und meine letzte gewaltvolle Psychiatrieerfahrung. Die mit mehr Bewusstsein für Autismus und autistische Menschen vermutlich gar nicht so gewaltvoll geworden wäre.
Genauso wie der tagesklinische Aufenthalt danach. Der Klinik-Gau, der mich bis heute rasend wütend macht, weil ich Verletzungen wie diese einfach nicht mehr traumalogisch abhaken kann – und will.
Und auch nicht sollte. Niemand sollte nach so einer Klinikerfahrung nach Hause gehen und denken: Ja, ich bin da halt nicht richtig gewesen – ich bin halt immer überall falsch. Ich darf auch nicht von anderen erwarten, dass sie sich auf mich einstellen – was denk ich denn, wer ich bin?

Die psychologische Begleitung, die ich nach der Diagnose hatte, war letztlich, was mir geholfen hat, Schritte aus meiner Traumabubble zu schaffen. Ich konnte schrittweise so auseinanderschälen, wie ich das benötigte, wo mein autistisches Er_Leben Anpassungen von meiner Umwelt erforderte und welche Themen besser traumatherapeutisch aufzugreifen sind.
Das war meine Phase der Verhandlung und damit auch eine Phase der aktiven Interaktion mit meinen Diagnosen und den auch identitätsstiftenden Aspekten davon. Es fiel mir zunehmend leichter, mich nicht als mehr oder weniger skurrilen Traumarest zu begreifen, der in allen Bereichen des Lebens struggelt, weil das Trauma alles beschädigt hat und neu aufgebaut und ausentwickelt werden muss. Ich konnte mich auch davon lösen anzunehmen, dass ausschließlich die traumasensible Interaktion mit mir hilfreich und gut für mich wäre und alles andere nur deshalb nicht funktionieren würde, weil ich ja so beschädigt traumatisiert bin.

Ich begann jede Situation, die schwierig für mich war als eine Art Handel oder Austausch zu betrachten. Also als etwas, das nicht primär etwas mit mir, meiner Persönlichkeit oder meinem Sein zu tun hat, sondern als etwas, das prinzipiell erst einmal gemacht werden muss/soll/kann/darf und deshalb immer erstmal okay ist. Egal, was ich dabei wie un.gewollt kommuniziere oder auch nicht.
In meinem Fall ging es dabei vorrangig darum, meine existenziellen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Also genau die Basics, die die meisten Leute gar nicht groß als herausfordernd erleben – und deshalb nur bei ganz kaputten, kranken, unfähigen Leuten überhaupt als herausfordernd annehmen – in Routinen einzubetten, die ich mag. Die mir gefallen. Die mir Kraft geben. Und sie dann auf Traumareste hin zu prüfen.
Dass in dem Prozess herauskam, dass der Großteil meiner Alltagsbelastung und Hauptauslöser für dissoziative Symptome in sensorischer Überreizung und dauerhaft abgezwungener Überforderung begründet war, hat mich damals erst einmal sehr gestärkt. Okay, ich bin kein Traumarest, der zu nichts weiter fähig ist – ich habe einfach nie gelernt, mich an meine eigene Wahrnehmung von etwas anzupassen. Wenn ich das tue, gehts mir so viel besser und ich kann so viel mehr machen.

Im Traumakontext ging es bei diesem Prozess immer darum, Traumalogik aufzudecken. Also das Innen zu finden, das noch traumareaktiv agiert, es zu orientieren und dann einen Handlungsweg aufzubauen, der alternativ ist.
Mein tagtägliches Alltagstrauma als unerkannt autistisches Kind war aber nicht so kleinteilig. Es war keine Abfolge wiederkehrender Monotraumata, die jeweils ein Innen hervorgebracht hat bzw. einen Trigger, den man entschärfen muss, um dann zu gucken: Okay, wie kriegen wir das bewusster hin? Wie können wir uns orientiert halten und die Sache erledigen (wie die meisten anderen Menschen auch)?

Niemals war in dieser Auseinandersetzung die Frage, ob und wenn ja, wann und wie ich überhaupt die Chance habe, nicht durch Überreizung oder soziale Überforderung schon dissoziiert zu sein. Nie war die für alle so ganz normale Alltagsumgebung, als nur mit unfassbarem Kraftaufwand kompensierbare Belastung mitgedacht.

Ich lebe in einem Umfeld, das nie gehört, gerochen, gesehen, gespürt, geschlussfolgert, angenommen, überlegt, interagiert und kommuniziert hat wie ich – aber in jeder Situation, zu jeder Zeit und um jeden Preis auf meiner Seite von mir verlangt zu können, was es selbst kann. Schon als Kind bin ich als Fisch unter Elefanten aufgewachsen, denen nie in den Sinn kam, dass ich jeden Tag – ganz unabhängig davon, ob sie mich misshandelt haben oder nicht! – mit Todesangst wegen ganz realem Sauerstoffmangel umgehen musste.
Das ist ein Leben, das einfach nicht verletzungsfrei sein kann. Und das auch nicht allein dadurch veränderbar ist, dass ich darum weiß und mir mehr Inseln (Teiche? 😅) schaffe, in denen ich ganz ich sein kann und von anderen Menschen deshalb weder beschämt noch pathologisiert werde.

Heute, 9 Jahre nach der Diagnosestellung, habe ich meinen Autismus noch nicht vollständig angenommen, weil er mir selbst noch nicht vollständig in allen Aspekten immer bewusst ist. Ich denke nach wie vor erst, dass ich ein unfähiges Stück Scheiße bin und gehe erst dann in die Prüfung, wenn mir diese negative Selbstverortung als belastend auffällt. Und selbst diese Prüfung mache ich nicht in der Annahme, ich sei ein Fisch unter Elefanten – also eine Person, die sich an Dinge anpassen muss, an die sie sich nie vollständig anpassen kann – sondern wie eine komplizierte Rechenaufgabe voller Annahmen, unsicherer Intuition und konstant auf Traumalogik durchleuchtete Impulse. Denn ich weiß einfach nicht, wie Elefanten ticken. Nicht wirklich. Und deshalb weiß ich nicht, worin sie sich von mir unterscheiden. Ich weiß eigentlich immer nur, was sie von mir als abweichend wahrnehmen und wahlweise witzig, nervig, störend, peinlich, abstoßend oder bedrohlich empfinden. Das kann aber an meinem Autismus liegen, an meiner Traumafolgestörung oder anderen Eigenschaften von mir und den Kontexten, in denen wir uns bewegen.
Bis ich weiß, dass etwas von meinen Belastungen auch Autismusbedingt ist, vergeht oft sehr viel Zeit und frustrierendes Herumprobieren an mir selbst.

Mein nicht-autistisches Umfeld spanne ich damit nur selten ein. Es ist mir einfach zu belastend und manchmal auch zu verletzend.
Auch das ist Teil des Annahmeprozesses. Ich muss nicht nur akzeptieren können, dass ich so bin, wie ich bin und was es für mich bedeutet, so zu sein, wie ich bin. Ich muss auch die Realität akzeptieren, dass nicht-autistische Menschen einfach nie die Quelle für Miteinander, Selbst- und Umweltverständnis sein können, die ich brauche und mir oft wünsche.

Meine Vorstellung von mir als „vom Trauma geheilte Person“ musste ich nach der Diagnose auch revidieren. Die selbstbestimmte Frau, die ihr Trauma überwunden, das Leben anpackt, sich against all odds verwirklicht und ihren Weg in den Sonnenuntergang geht, war schon immer eine Trope, die ich ehrlich gesagt eher als lesbische Fantasie interessant fand. You know – Xena 😅
Ich bin aber keine Frau. Ich weiß noch gar nicht, wann ich wirklich bin und immer um mich kämpfen will ich auch nicht müssen. Aber selbstbestimmt möchte ich sein. Und das ist als autistischer Mensch unter überwiegend nicht-autistischen Menschen nicht das gleiche wie für nicht-autistische Menschen. So etwas als gesetzt annehmen zu müssen, ist einfach nicht fair. Ich will das nicht annehmen.
Muss es aber doch in manchen Bereichen, weil man sich im Angesicht unbewusster Mehrheiten nicht um alle Veränderungen gleichzeitig kümmern kann.

Für mich ist es viel, gelegentlich mal solch einen Text zu schreiben oder bei einer Lesung oder einem Vortrag darüber zu sprechen. Aber damit das allgemeine Bewusstsein zu steigern oder gar die Welt zu verändern, erscheint mir utopisch und anmaßend. Ich betrachte es eher als eine Art Teichrandgestaltung. Als Elefantenfesten Strand sozusagen. Wer möchte, soll können.

Es wäre schön, würden Elefanten das auch für mich tun.
Aber zur Annahme meiner Diagnose.n gehört auch die Annahme der Realität, in der sie entstanden sind und eine Funktion erfüllen.

Zwangshilfe

Der Begriff kam bei der Lesung auf. Am Ende. Ob vor oder nach der Frage danach, was denn meiner Meinung nach die Alternative sei – „Jemandem sagen, er soll springen, oder wie?“ – das weiß ich nicht mehr.
Was ich weiß und meine ist, dass diese Frage eine Waffe ist. Eine rhetorische Waffe. Benutzt bei einem Angriff, zur Verteidigung.

Ich lese oft die Kapitel „alle finden schlimm, was mir passiert“ und „die Einsicht“ vor. Sie drücken für mich am besten aus, worum es beim Thema Diagnose, Kontrolle und institutionelle Hilfekontexte geht – nämlich darum, dass es sich um Gewalt handelt, die gewollt ist und Aus.Wirkungen hat.
Niemand will, dass sich jemand das Leben nimmt, also zwingen wir einander dazu zu leben und damit wir gar nicht erst merken, was für ein übergriffiger, gewaltvoller Akt das ist, zementieren wir diesen Übergriff in unser Wertesystem. Bauen Institutionen, konstruieren Strafe und Pflicht um Ansprüche, die nie hinterfragt werden sollen. Wir sollen Angst davor haben, dass sich jemand suizidiert. Angst vor dem sozialen Tod, wenn wir zulassen, dass Menschen selbst gehen. Wir erzählen uns Geschichten darüber, wie froh Überlebende einer Depression über ihr Leben sind, wie dankbar für ihre Rettung vor dem Suizid, damit wir denken, dass wir das Beste, weil Richtigste getan haben.
Und weil die Toten nicht mehr sprechen können. Die Suizident_innen keine Stimme mehr haben.
Über sie wird gesagt, sie seien zu krank gewesen für eine richtige Entscheidung. Sie wären nicht in der Lage gewesen zu denken und zu entscheiden, wie ein normaler, gesunder Mensch und deshalb sei ihre Entscheidung falsch gewesen. Unsinnig. Krank. Absolut gestört.
Selbst im Tod ist der Mensch also nicht sicher vor Ableismus. Vor Gewalt.
Bitte – wie schrecklich ist das?

Warum ist unsere Angst, dass die Menschen in unserem Leben kein für sie lebenswertes Leben führen, nicht genauso groß wie vor ihrem Suizid? Warum kostet es uns allen nicht den Schlaf, das Herz, das Wohlgefühl, dass es so so so viele Menschen auf dieser Welt gibt, die absolut keinen Einfluss darauf haben (können, dürfen, sollen), wie sie leben?

Viele Überlebende eines Suizidversuches sagen, wie ich schon als 14 jährige_r, dass sie leben wollen – aber nicht so. Dass es so wie es ist, unaushaltbar ist. Dass sie die Dinge, die sich ändern müssten, nicht ändern können. Und die Menschen, die sie ändern könnten, sie nicht ändern wollen.
Nach dem gescheiterten oder verhinderten Suizidversuch kommen viele in die Phase der Hilfe, auch der Zwangshilfe. In der Phase werden Ressourcen aufgebaut, soziale Netze gestrickt, Zukunftsversprechen entwickelt und manchmal auch mit Medikamenten unterstützt. Wenn das denn alles funktioniert. Wenn nicht gerade Personalmangel ist. Die zuständige Kasse überhaupt bezahlt. Wenn man überhaupt ein_e weiße_r Überlebende_r in Deutschland ist und Rechte auf diese Behandlung geltend machen kann.

Suizid ist für alle – Hilfe, die hilfreich ist, nicht. Auch das muss man sich klarmachen. Auch das gehört zu den Gewalten, in denen wir einander Gesellschaft machen.
Hilfe ist ein Privileg, deshalb soll man sie gefälligst auch annehmen.
Wer das nicht tut, wird für die Gewalt der Zwangshilfe alleinverantwortlich gemacht. Dann sprechen andere darüber, was der Suizidversuch eigentlich bedeutet hat. Wie man welche Geste in Wahrheit einordnen muss. Und natürlich kommt dabei oft heraus, dass, wer sich dabei erwischen oder finden lässt, doch um die Hilfe gebeten hat. Wer es nicht schafft, wollte es also eigentlich auch gar nicht schaffen. Gut, dass dann jemand da war … oder?

Ich versuche bei meinen Lesungen möglichst wenig mit meiner eigenen Geschichte zu argumentieren. Beim Thema Zwang und Gewalt im Kontext der Hilfe geht es einfach nicht um mich. Es ging schon damals, als mir Hilfe aufgezwungen wurde, nicht um mich. Ich bin nicht die Person, die darüber bestimmt hat, wie mit mir umgegangen wurde und ich würde es in vergleichbarer Situation erneut nicht sein.
In Situationen des Zwangs und also der Gewalt geht es nie um ihre Opfer. Es geht um die Bedürfnisse der agierenden Instanz. Das ist bei Zwangsmaßnahmen zur Lebensrettung genauso wie bei Vergewaltigung, Raub, Mord, Steuerhinterziehung. Gewalt ist Täter_innensache. Immer.

Diesen Umstand zu negieren, legitimiert die Unfreiheit der Opfer. In jedem Fall.
Egal, wie gut gemeint. Wie nicht in böser Absicht getan. Wie her die Ziele auch sein mögen – wer sagt, dass Hilfe auch mal aufgezwungen werden muss, ermächtigt sich selbst und entmächtigt jemand anderen. Das ist ein Kernmerkmal von Gewalt.

Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, ist eins der Ziele, das ich mit „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“ verfolge. Ich will mit dem Buch nicht ausdrücken, wie böse dieser Arzt oder jene Psychologin mal zu mir war – ich will den Kern des Dramas dieser Erfahrungen aufblättern. Eine Idee davon geben, was für ein Leben mir damals ständig gerettet wurde. Klarmachen, dass die, die mir die Handgelenke zugenäht und den Magen ausgepumpt haben, nicht diejenigen waren, die mich aus dem organisierten Verbrechen gerettet haben. Und dass es auch nicht die organisierte Intensiventspannung nach Gongschlag eingehüllt in Lavendelduft war, die mir in irgendeiner Weise dazu verholfen hat, meine Perspektive als autistische und komplex traumatisierte Person in einer nicht-autistischen Welt zu validieren, zu normalisieren und zu verkörpern.
Das Leben, das mir damals mit so viel Gewalt zu retten versucht worden war, war unfassbar grauenhaft. Ich hatte keinen Anlass zur Dankbarkeit. Und wäre ich gestorben, so wäre das inzwischen auch längst vergangen und überhaupt nicht mehr wichtig. So wie es auch jetzt eher theoretisch als praktisch wichtig ist, wie viele Menschen gerade jetzt, in diesem Moment, genauso ausgebeutet und verletzt werden, wie ich damals. Und nichts anderes mehr wollen als zu sterben. Weil sich niemand für ihre Lebensqualität interessiert. Weil niemand da ist und was ändert oder ändern hilft.

Es ist nicht an mir, mir Alternativen zu Gewalt zu überlegen. Ich übe sie nicht aus.
Zumindest speziell diese Art der Gewalt, die mit dem Begriff der „Zwangshilfe“ benannt wird.

Ich werde niemals in meinem Leben jemanden dazu zwingen, sich nicht das Leben zu nehmen. Ich werde immer fragen, was sich ändern soll. Immer versuchen, Unterstützung beim Ändern von Dingen zu sein, die unaushaltbar sind. Immer für alle da sein, die es nicht allein durch- und aushalten wollen, können, sollen. Aber ich werde niemals von anderen Menschen erwarten, dass sie aushalten und ertragen, woran ich zerbrochen bin. Niemals.

*

Dass ich daran zerbrochen bin – das kam gerade einfach aus mir rausgeschrieben.
Großes krasses Wort. Zerbrochen. Klingt nach tot, kaputt und unwiederbringlich. Was gut passt zu meinem Gefühl für das, was ich empfinde, wenn es um Vertrauen in Helfer*innen und helfende Instanzen geht. Um alle, die es gut meinen und alles tun würden, um zu helfen.
Es hat sich in den vergangenen Jahren verändert, dieses Gefühl.
Es hindert mich nicht mehr sehr daran, offen mit meiner Therapeutin zu sprechen. Unterstützung anzufragen oder zu erbitten, wenn ich sie brauche. Ich kann inzwischen mit Behandler_innen und Helfenden sprechen, ohne mich leer und taub zu fühlen. Kann ihre Perspektive sehen, begreifen und in ihren Kontexten akzeptieren. Und manchmal schon ist es mir gelungen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um Hilfen neu zu denken, umzusetzen und gewaltvolle Strukturen aufzulösen.

Was offen bleibt, ist jedoch meine Wunde aus diesen Kontexten.
Es gab nie und wird vermutlich auch nie irgendeine Wieder_Gutmachung geben. Oder gar Entschädigung. Zu begreifen, was mir angetan wurde, ist vielleicht das Einzige, was ich selbst irgendwie herstellen und weitergeben kann. Auf, dass es anderen nicht mehr passiert. Und wenn doch, dann nicht gleichsam unentschuldigt, unverantwortet, allgemein legitimiert.

Ich bin nicht bereit Helfergewalt zu decken und mich dem Druck zur Komplizenschaft zu beugen.
Meine Traumatisierung durch Helfer_innen und Behandler_innen wird häufig individualisiert und ableistisch abgewehrt. Man tritt mir oft mit der Idee gegenüber, ich hätte damals nur irgendetwas missverstanden oder aus meiner frühkindlichen/autistischen Irre heraus irgendeine Fürsorge für mich nicht wahrgenommen. Es wird oft überhört, dass dem nicht so ist. Diese so zerreißende Ebene überhaupt nicht verstanden. Wie es ist zu merken, dass man mit aller Liebe verletzt oder aus größster, wärmster, innigster Fürsorge heraus jeder Selbstbestimmung beraubt wird – das ist ein Kern meiner Helfertraumatisierung. Das ist der ganze irre widersinnige Moloch dessen, was eine komplexe Traumatisierung ausmacht.
Das ist, worum es bei Zwangshilfe und ihren Folgen geht.
Für mich. Die_r sie mehrfach üb.erlebt hat.

Lesung aus „Worum es geht – Autismus, Trauma und Gewalt“ in Bielefeld

Wir laden herzlich zur Lesung aus unserem zweiten Buch „Worum es geht – Autismus, Trauma und Gewalt“ ein.

Die Lesung findet am 18. Mai, um 15 Uhr im Filmhaus Bielefeld statt.
Die Anmeldung und alle Informationen zur Örtlichkeit findest du auf der Veranstaltungswebseite.

Zur Veranstaltungswebseite hier klicken

Wir freuen uns auf euch!