Der Begriff kam bei der Lesung auf. Am Ende. Ob vor oder nach der Frage danach, was denn meiner Meinung nach die Alternative sei – „Jemandem sagen, er soll springen, oder wie?“ – das weiß ich nicht mehr.
Was ich weiß und meine ist, dass diese Frage eine Waffe ist. Eine rhetorische Waffe. Benutzt bei einem Angriff, zur Verteidigung.
Ich lese oft die Kapitel „alle finden schlimm, was mir passiert“ und „die Einsicht“ vor. Sie drücken für mich am besten aus, worum es beim Thema Diagnose, Kontrolle und institutionelle Hilfekontexte geht – nämlich darum, dass es sich um Gewalt handelt, die gewollt ist und Aus.Wirkungen hat.
Niemand will, dass sich jemand das Leben nimmt, also zwingen wir einander dazu zu leben und damit wir gar nicht erst merken, was für ein übergriffiger, gewaltvoller Akt das ist, zementieren wir diesen Übergriff in unser Wertesystem. Bauen Institutionen, konstruieren Strafe und Pflicht um Ansprüche, die nie hinterfragt werden sollen. Wir sollen Angst davor haben, dass sich jemand suizidiert. Angst vor dem sozialen Tod, wenn wir zulassen, dass Menschen selbst gehen. Wir erzählen uns Geschichten darüber, wie froh Überlebende einer Depression über ihr Leben sind, wie dankbar für ihre Rettung vor dem Suizid, damit wir denken, dass wir das Beste, weil Richtigste getan haben.
Und weil die Toten nicht mehr sprechen können. Die Suizident_innen keine Stimme mehr haben.
Über sie wird gesagt, sie seien zu krank gewesen für eine richtige Entscheidung. Sie wären nicht in der Lage gewesen zu denken und zu entscheiden, wie ein normaler, gesunder Mensch und deshalb sei ihre Entscheidung falsch gewesen. Unsinnig. Krank. Absolut gestört.
Selbst im Tod ist der Mensch also nicht sicher vor Ableismus. Vor Gewalt.
Bitte – wie schrecklich ist das?
Warum ist unsere Angst, dass die Menschen in unserem Leben kein für sie lebenswertes Leben führen, nicht genauso groß wie vor ihrem Suizid? Warum kostet es uns allen nicht den Schlaf, das Herz, das Wohlgefühl, dass es so so so viele Menschen auf dieser Welt gibt, die absolut keinen Einfluss darauf haben (können, dürfen, sollen), wie sie leben?
Viele Überlebende eines Suizidversuches sagen, wie ich schon als 14 jährige_r, dass sie leben wollen – aber nicht so. Dass es so wie es ist, unaushaltbar ist. Dass sie die Dinge, die sich ändern müssten, nicht ändern können. Und die Menschen, die sie ändern könnten, sie nicht ändern wollen.
Nach dem gescheiterten oder verhinderten Suizidversuch kommen viele in die Phase der Hilfe, auch der Zwangshilfe. In der Phase werden Ressourcen aufgebaut, soziale Netze gestrickt, Zukunftsversprechen entwickelt und manchmal auch mit Medikamenten unterstützt. Wenn das denn alles funktioniert. Wenn nicht gerade Personalmangel ist. Die zuständige Kasse überhaupt bezahlt. Wenn man überhaupt ein_e weiße_r Überlebende_r in Deutschland ist und Rechte auf diese Behandlung geltend machen kann.
Suizid ist für alle – Hilfe, die hilfreich ist, nicht. Auch das muss man sich klarmachen. Auch das gehört zu den Gewalten, in denen wir einander Gesellschaft machen.
Hilfe ist ein Privileg, deshalb soll man sie gefälligst auch annehmen.
Wer das nicht tut, wird für die Gewalt der Zwangshilfe alleinverantwortlich gemacht. Dann sprechen andere darüber, was der Suizidversuch eigentlich bedeutet hat. Wie man welche Geste in Wahrheit einordnen muss. Und natürlich kommt dabei oft heraus, dass, wer sich dabei erwischen oder finden lässt, doch um die Hilfe gebeten hat. Wer es nicht schafft, wollte es also eigentlich auch gar nicht schaffen. Gut, dass dann jemand da war … oder?
Ich versuche bei meinen Lesungen möglichst wenig mit meiner eigenen Geschichte zu argumentieren. Beim Thema Zwang und Gewalt im Kontext der Hilfe geht es einfach nicht um mich. Es ging schon damals, als mir Hilfe aufgezwungen wurde, nicht um mich. Ich bin nicht die Person, die darüber bestimmt hat, wie mit mir umgegangen wurde und ich würde es in vergleichbarer Situation erneut nicht sein.
In Situationen des Zwangs und also der Gewalt geht es nie um ihre Opfer. Es geht um die Bedürfnisse der agierenden Instanz. Das ist bei Zwangsmaßnahmen zur Lebensrettung genauso wie bei Vergewaltigung, Raub, Mord, Steuerhinterziehung. Gewalt ist Täter_innensache. Immer.
Diesen Umstand zu negieren, legitimiert die Unfreiheit der Opfer. In jedem Fall.
Egal, wie gut gemeint. Wie nicht in böser Absicht getan. Wie her die Ziele auch sein mögen – wer sagt, dass Hilfe auch mal aufgezwungen werden muss, ermächtigt sich selbst und entmächtigt jemand anderen. Das ist ein Kernmerkmal von Gewalt.
Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, ist eins der Ziele, das ich mit „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“ verfolge. Ich will mit dem Buch nicht ausdrücken, wie böse dieser Arzt oder jene Psychologin mal zu mir war – ich will den Kern des Dramas dieser Erfahrungen aufblättern. Eine Idee davon geben, was für ein Leben mir damals ständig gerettet wurde. Klarmachen, dass die, die mir die Handgelenke zugenäht und den Magen ausgepumpt haben, nicht diejenigen waren, die mich aus dem organisierten Verbrechen gerettet haben. Und dass es auch nicht die organisierte Intensiventspannung nach Gongschlag eingehüllt in Lavendelduft war, die mir in irgendeiner Weise dazu verholfen hat, meine Perspektive als autistische und komplex traumatisierte Person in einer nicht-autistischen Welt zu validieren, zu normalisieren und zu verkörpern.
Das Leben, das mir damals mit so viel Gewalt zu retten versucht worden war, war unfassbar grauenhaft. Ich hatte keinen Anlass zur Dankbarkeit. Und wäre ich gestorben, so wäre das inzwischen auch längst vergangen und überhaupt nicht mehr wichtig. So wie es auch jetzt eher theoretisch als praktisch wichtig ist, wie viele Menschen gerade jetzt, in diesem Moment, genauso ausgebeutet und verletzt werden, wie ich damals. Und nichts anderes mehr wollen als zu sterben. Weil sich niemand für ihre Lebensqualität interessiert. Weil niemand da ist und was ändert oder ändern hilft.
Es ist nicht an mir, mir Alternativen zu Gewalt zu überlegen. Ich übe sie nicht aus.
Zumindest speziell diese Art der Gewalt, die mit dem Begriff der „Zwangshilfe“ benannt wird.
Ich werde niemals in meinem Leben jemanden dazu zwingen, sich nicht das Leben zu nehmen. Ich werde immer fragen, was sich ändern soll. Immer versuchen, Unterstützung beim Ändern von Dingen zu sein, die unaushaltbar sind. Immer für alle da sein, die es nicht allein durch- und aushalten wollen, können, sollen. Aber ich werde niemals von anderen Menschen erwarten, dass sie aushalten und ertragen, woran ich zerbrochen bin. Niemals.
*
Dass ich daran zerbrochen bin – das kam gerade einfach aus mir rausgeschrieben.
Großes krasses Wort. Zerbrochen. Klingt nach tot, kaputt und unwiederbringlich. Was gut passt zu meinem Gefühl für das, was ich empfinde, wenn es um Vertrauen in Helfer*innen und helfende Instanzen geht. Um alle, die es gut meinen und alles tun würden, um zu helfen.
Es hat sich in den vergangenen Jahren verändert, dieses Gefühl.
Es hindert mich nicht mehr sehr daran, offen mit meiner Therapeutin zu sprechen. Unterstützung anzufragen oder zu erbitten, wenn ich sie brauche. Ich kann inzwischen mit Behandler_innen und Helfenden sprechen, ohne mich leer und taub zu fühlen. Kann ihre Perspektive sehen, begreifen und in ihren Kontexten akzeptieren. Und manchmal schon ist es mir gelungen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um Hilfen neu zu denken, umzusetzen und gewaltvolle Strukturen aufzulösen.
Was offen bleibt, ist jedoch meine Wunde aus diesen Kontexten.
Es gab nie und wird vermutlich auch nie irgendeine Wieder_Gutmachung geben. Oder gar Entschädigung. Zu begreifen, was mir angetan wurde, ist vielleicht das Einzige, was ich selbst irgendwie herstellen und weitergeben kann. Auf, dass es anderen nicht mehr passiert. Und wenn doch, dann nicht gleichsam unentschuldigt, unverantwortet, allgemein legitimiert.
Ich bin nicht bereit Helfergewalt zu decken und mich dem Druck zur Komplizenschaft zu beugen.
Meine Traumatisierung durch Helfer_innen und Behandler_innen wird häufig individualisiert und ableistisch abgewehrt. Man tritt mir oft mit der Idee gegenüber, ich hätte damals nur irgendetwas missverstanden oder aus meiner frühkindlichen/autistischen Irre heraus irgendeine Fürsorge für mich nicht wahrgenommen. Es wird oft überhört, dass dem nicht so ist. Diese so zerreißende Ebene überhaupt nicht verstanden. Wie es ist zu merken, dass man mit aller Liebe verletzt oder aus größster, wärmster, innigster Fürsorge heraus jeder Selbstbestimmung beraubt wird – das ist ein Kern meiner Helfertraumatisierung. Das ist der ganze irre widersinnige Moloch dessen, was eine komplexe Traumatisierung ausmacht.
Das ist, worum es bei Zwangshilfe und ihren Folgen geht.
Für mich. Die_r sie mehrfach üb.erlebt hat.