der Notfall

Es war spät. Wir waren nach draußen gegangen, um im letzten Abendlicht eine Gute-Nacht-Runde „Flügelschlag“ zu spielen.
NakNak* kam auf mich zugestakt und stupste mich an. Der Rücken rund, das Gesicht starr, wie so oft in den letzten Wochen, die Hinterbeine in Schonposition.

Vor etwas über zwei Wochen hatte sie einen dicken Fuß, hinten rechts. Ein dicker Gewebeballen über dem, was bei uns Menschen die Zehengrundgelenke sind.
Damit waren wir mehrfach bei der Tierärztin, eine Ursache konnte nicht gefunden werden. Es war ein Hämatom, ja klar, sie ist einfach eine springende Rennmaus, wenn sie ihre 5 Minuten hat und die hat sie jeden Tag. Auch jetzt, mit 14 einhalb Jahren. Nach zwei Wochen Behandlung mit Heparin ist die Schwellung weg, ihr Fuß weiter unerklärlich krumpelig, ein Bobbel, der ihr die Beugung erschwert, geblieben.
Ich war nachmittags bei der Nachsorge. Wir haben ein Kontrollröntgen machen lassen, auch von ihrem Rücken, denn da war sie immer noch empfindlich. Aber außer Arthose war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Meine kleine warme Hundeomi hat einfach schlimme Körperstellen.

Und nun, einige Stunden später, also starke Schmerzzeichen. Kurz vor 10 am Abend. Auf dem Land. Zwei komplex traumatisierte Menschen, die auf (drohende) Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht reagieren, wie Maschinen – besonders, wenn es um etwas geht, was wehtun könnte. Eine alte Border Collie Mischlingshündin, die ihr Verhalten immer noch nicht an ihren körperlichen Verfall angepasst hat.

Ich habe für solche Momente keinen Notfallplan mehr.
Und das hat keinen anderen Grund als Scham. Ableistisch begründeten Selbsthass. Die Abwertung meiner Bedürfnisse vor dem Ziel der eigenen Normalisierung.
Als ich noch allein gelebt habe, hatte ich für alles eindeutige Notfallpläne, weil ich immer allein war und mir andere Menschen maximal als Assistenz, als Erfüllungshelfer_innen ins Leben holen musste. Ich brauchte mich nicht schämen, war nicht so schnell einzufangen in Fragen darum, was ich wann wie wo machen darf und was nicht, weil wie wirkt das denn? Als bekloppte Psycho-Uschi ist es einigermaßen leicht, sich Gutes zu tun und sei es noch so ~merkwürdig~. Und Bielefeld ist einfach eine besondere Stadt. Es wurde immer eher wertgeschätzt, wenn ich mich im Vornherein über Abläufe und Optionen informiert habe, vorausschauend organisierte, mich selbst um meine Assistenzbedarfe gekümmert habe und sagen konnte, was ich wie, wozu und wie sehr brauchte, wenn das nicht gereicht hat. Hilfe zu brauchen, ist dort nicht im Ansatz so stigmatisiert wie hier.

Jetzt lebe ich anders. Ich werde als Frau in einer hetero cis Beziehung gelesen. Als Person, die nervt, weil sie es genau wissen will. Als störend, weil mich Dinge stören, die schon immer so gemacht werden. Als unruhiger bis immer unzufriedener Mensch, weil ich optimiere, was für andere gar keiner Optimierung bedarf. Mein autistisches, komplex traumatisiertes Funktionieren war mein ganzes erwachsenes Leben lang nicht so ein Problem, so eine Behinderung wie in dieser Lebensphase und in dieser Lebensumgebung.
Und jetzt leben wir auch noch in einer Pandemie. Für mich als behinderte Person bedeutet das seit 3 Jahren permanenten Ausnahmezustand, weil sich die Menschen, die sich nicht auf den Schutz und die Unterstützung durch andere Menschen angewiesen fühlen, nicht an diese neue Situation anpassen wollen. Wie bockige Kinder verweigern sie sich jeder Maßnahme, jedem bisschen mehr als sich selbst zu helfen und machen es damit für alle unnötig schwer, Alltag zu gestalten, gesund zu bleiben, produktiv zu sein, in die Zukunft planen zu können. Es ist zum Kotzen und meine Wut über so viel unverdientes Privileg zur Dummheit und Ignoranz ist grenzenlos.
Aber meine Wut ist irrelevant. Jemand wie ich wird immer als wütend gelesen. Jemand wie ich ist immer unzufrieden über irgendwas (belangloses). Und das macht etwas.

Es bestärkt meinen Selbsthass darüber angewiesen zu sein. Hilfe zu brauchen. Nicht immer alles zu können – wie andere Leute (die bewusst oder unbewusst verdrängen, dass auch sie angewiesen sind und nicht alles immer können).
Es rahmt meine Wut als persönlichen Makel. Als etwas, das nur ich allein lösen kann – und soll.
Es gibt mir das Gefühl, etwas Falsches zu tun, wenn ich mir Gutes tue. Wenn ich mich um mich kümmere, mir Pläne mache, mich absichere, ich mich an erste Stelle nehme, wenn klar ist, dass ich es bin, womit ich langfristig zurechtkommen muss.

Zum Beispiel, wenn es um die Versorgung von NakNak* geht. Auch die letzte mögliche Versorgung.
Ich will – muss – verhindern, dass sie in einer (fremden) Tierarztpraxis eingeschläfert wird. Ich weiß, dass man das nicht zu 100 % vermeiden kann. Wenn sie angefahren wurde oder an Gift verendet, ja, dann kann sie nicht sediert und nach Hause gebracht werden, wo wir sie in Ruhe einschläfern lassen können. Aber in den meisten anderen Fällen geht das. Da hängt es nur an der Einsicht und dem Wollen der ermächtigten und fähigen Menschen in der Situation, das zu ermöglichen. Und in der Regel sind diese Leute einfach routinedumm. Macht ma nich, machen wa nich, wolln wa nich – da könnt ja jede_r kommen.
Oder es gibt die Idee, dass in so einer Situation das Tier unnötig leiden würde, nur weil ich es gut haben will. Aber ein sterbendes, sediertes Tier leidet mehr unter mir, wenn ich nicht ganz bei ihm sein kann. Wenn unser Kontakt gestört wird von Formalgetue, von Desinfektionsgestank, von schlechtem Raumhallmanagement, von meiner Überanstrengung in der Kommunikation mit fremden Menschen, die mich nicht verstehen und entsprechend anstrengend, nervig, störend finden.
NakNak* hat mir in ihrem Leben so viel beigebracht und so viel ermöglicht – es ist nur angemessen, wenn ich ganz und gar bei ihr bin, wir es ruhig und gut haben. Wenn sie auf ihrer Decke liegen kann, wenn das ganze Rudel bei ihr ist, wenn ihr Sterben in so vielen Aspekten wie möglich ihrem Leben gleicht.
Es ist die einzige für mich barrierefreie Möglichkeit, ihr Gutes zu tun (weil ich mir Gutes tue).

Das wird oft missverstanden, wenn man über Barrierefreiheit spricht. Aber auch über Selbstfürsorge.
Viel zu viele Menschen denken, dass man Selbstfürsorge machen soll, um sich gut zu fühlen, obwohl nichts gut ist. Und ebenfalls viel zu viele Menschen denken, dass behinderte Menschen Barrierefreiheit fordern, damit sie Dinge machen können, obwohl sie behindert sind.
Dabei sind beide Dinge, Selbstfürsorge wie Barrierefreiheit, notwendige Grundlagen, um in die Lage versetzt zu werden, weder das eine noch das andere zu benötigen. Sie sind keine Lösung für Dinge, die eine Behinderung zu einer solchen machen.
Um es anders zu formulieren: Wo man Barrierefreiheit braucht, wurde Behinderung produziert. Wo man Selbstfürsorge braucht, gibt es nichts und niemanden, die_r sich um oder für dich sorgt.

In der Notfallsituation gestern Abend waren wir auf den Notdienst angewiesen. Den hatte die Tierklinik in der nächstgrößeren Stadt, etwas über 20 Kilometer von hier. Der Partner telefonierte mit der Praxis, ich beruhigte NakNak*, musste unterbrechen, um das Auto des Partners leerzuräumen. Er hatte nicht daran gedacht, dass ich noch mal ins Haus müsste. Mich um meine Grundversorgung kümmern wollen würde. Wie immer war ich es die, die Abläufe unterbricht, um ihren Tüddel zusammenzusuchen. Gehörschutz, Wasser, Ankergegenstand, Handy. Für mich ist das kein Tüddel, sondern die in mich hineingefressene Antizipation davon, wie es mir in einem nicht barrierefreien Umfeld gehen wird, wo mein Befinden für irrelevant erklärt ist.

Wir haben keinen Plan dafür gehabt, wie wir die Situation managen. Entsprechend konnten wir nur überrascht und überrollt werden von dem, was dann war. Zutritt nur mit FFP2 – der Partner hatte nur Papierlappen im Auto, ich hatte keine eingesteckt, um nicht noch mehr Zeit für meinen Tüddel einzunehmen – und nur eine Person pro Tier. Auch wenn ich also eine passende Maske gehabt hätte, hätte ich nicht reingekonnt. Ich brauche in solchen Momenten eine Assistenz, die hat man mit diesen Beschränkungen ausgeschlossen, man hat mich als behinderten Menschen strukturell diskriminiert. Und dank der ganzen Infektionsrealitätsverweigerer gibt es genau keinen Raum mehr, um irgendeine alternative Möglichkeit zu erfragen, ohne eine automatisierte Abwehr-Konfliktsituation zu provozieren.
Mein Partner, der erst seit 4 Jahren mit NakNak* das Leben teilt, der nicht weiß, was Hunde mit Schmerzen für eine Interaktion brauchen und das viel größere Infektionsrisiko hat, ging also in die Praxis. Wo kurz nach seinem Eintreten eine Reinigungskraft ohne Maske durch jeden Raum ging und schwer atmend arbeitete.
Während ich mit meinem Gehörschutz an der Hauptstraße stand und nicht mal einen Fitzel der Wut zeigen durfte, die in mir tobte.

Wir hatten Angst, dass sie einen Bandscheibenvorfall gehabt haben könnte. Das wäre eine Situation gewesen, in der wir nichts mehr tun könnten. Für eine Operation ist sie zu alt, wir hätten sie einschläfern lassen müssen. In einer fremden Klinik. Ohne mich dabei. Vielleicht.
Es ist nicht dazu gekommen, sie hat vermutlich so etwas wie einen Hexenschuss gehabt und brauchte nur eine Injektion.
Mein schweißgebadeter Partner und die immer noch hechelnde NakNak* im Auto bin ich erleichtert und taub zugleich. Ich sitze neben ihm, höre unserem Gespräch aktiv wie dissoziiert zu und beschließe, dass es das jetzt war.

Keine Kompromisse für einen falschen Frieden mehr.
Ich will meine Pläne. Ich mache meine Pläne.
Es ist kein Tüddel es ist Selbstschutz, weil mich keiner schützt.
Es ist meine Selbstfürsorge, weil ich mich nicht auf die bedarfsgerechte Sorge meiner Mitmenschen verlassen kann.
Ich bin behindert, aber nicht weniger. Ich habe Rechte, auch im Notfall.

Ich fürchte, dass mein Partner das in der Praxis nicht gut findet. Nicht unterstützt. Dass er das alles anders sieht und deshalb anders machen will. Vermutlich werden wir uns streiten. Vielleicht auch immer wieder.
Aber ich habe nichts von seiner Zustimmung außer Abhängigkeit und davon habe ich bereits genug.
Vielleicht finden wir eine gemeinsame Basis und tierärztliche Praxen, mit denen wir im Fall des Falls rechnen können.

Hoffentlich.
Wenn nicht, muss sich etwas ändern.
Viel.
Vielleicht alles.
Obwohl.