der Notfall

Es war spät. Wir waren nach draußen gegangen, um im letzten Abendlicht eine Gute-Nacht-Runde „Flügelschlag“ zu spielen.
NakNak* kam auf mich zugestakt und stupste mich an. Der Rücken rund, das Gesicht starr, wie so oft in den letzten Wochen, die Hinterbeine in Schonposition.

Vor etwas über zwei Wochen hatte sie einen dicken Fuß, hinten rechts. Ein dicker Gewebeballen über dem, was bei uns Menschen die Zehengrundgelenke sind.
Damit waren wir mehrfach bei der Tierärztin, eine Ursache konnte nicht gefunden werden. Es war ein Hämatom, ja klar, sie ist einfach eine springende Rennmaus, wenn sie ihre 5 Minuten hat und die hat sie jeden Tag. Auch jetzt, mit 14 einhalb Jahren. Nach zwei Wochen Behandlung mit Heparin ist die Schwellung weg, ihr Fuß weiter unerklärlich krumpelig, ein Bobbel, der ihr die Beugung erschwert, geblieben.
Ich war nachmittags bei der Nachsorge. Wir haben ein Kontrollröntgen machen lassen, auch von ihrem Rücken, denn da war sie immer noch empfindlich. Aber außer Arthose war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Meine kleine warme Hundeomi hat einfach schlimme Körperstellen.

Und nun, einige Stunden später, also starke Schmerzzeichen. Kurz vor 10 am Abend. Auf dem Land. Zwei komplex traumatisierte Menschen, die auf (drohende) Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht reagieren, wie Maschinen – besonders, wenn es um etwas geht, was wehtun könnte. Eine alte Border Collie Mischlingshündin, die ihr Verhalten immer noch nicht an ihren körperlichen Verfall angepasst hat.

Ich habe für solche Momente keinen Notfallplan mehr.
Und das hat keinen anderen Grund als Scham. Ableistisch begründeten Selbsthass. Die Abwertung meiner Bedürfnisse vor dem Ziel der eigenen Normalisierung.
Als ich noch allein gelebt habe, hatte ich für alles eindeutige Notfallpläne, weil ich immer allein war und mir andere Menschen maximal als Assistenz, als Erfüllungshelfer_innen ins Leben holen musste. Ich brauchte mich nicht schämen, war nicht so schnell einzufangen in Fragen darum, was ich wann wie wo machen darf und was nicht, weil wie wirkt das denn? Als bekloppte Psycho-Uschi ist es einigermaßen leicht, sich Gutes zu tun und sei es noch so ~merkwürdig~. Und Bielefeld ist einfach eine besondere Stadt. Es wurde immer eher wertgeschätzt, wenn ich mich im Vornherein über Abläufe und Optionen informiert habe, vorausschauend organisierte, mich selbst um meine Assistenzbedarfe gekümmert habe und sagen konnte, was ich wie, wozu und wie sehr brauchte, wenn das nicht gereicht hat. Hilfe zu brauchen, ist dort nicht im Ansatz so stigmatisiert wie hier.

Jetzt lebe ich anders. Ich werde als Frau in einer hetero cis Beziehung gelesen. Als Person, die nervt, weil sie es genau wissen will. Als störend, weil mich Dinge stören, die schon immer so gemacht werden. Als unruhiger bis immer unzufriedener Mensch, weil ich optimiere, was für andere gar keiner Optimierung bedarf. Mein autistisches, komplex traumatisiertes Funktionieren war mein ganzes erwachsenes Leben lang nicht so ein Problem, so eine Behinderung wie in dieser Lebensphase und in dieser Lebensumgebung.
Und jetzt leben wir auch noch in einer Pandemie. Für mich als behinderte Person bedeutet das seit 3 Jahren permanenten Ausnahmezustand, weil sich die Menschen, die sich nicht auf den Schutz und die Unterstützung durch andere Menschen angewiesen fühlen, nicht an diese neue Situation anpassen wollen. Wie bockige Kinder verweigern sie sich jeder Maßnahme, jedem bisschen mehr als sich selbst zu helfen und machen es damit für alle unnötig schwer, Alltag zu gestalten, gesund zu bleiben, produktiv zu sein, in die Zukunft planen zu können. Es ist zum Kotzen und meine Wut über so viel unverdientes Privileg zur Dummheit und Ignoranz ist grenzenlos.
Aber meine Wut ist irrelevant. Jemand wie ich wird immer als wütend gelesen. Jemand wie ich ist immer unzufrieden über irgendwas (belangloses). Und das macht etwas.

Es bestärkt meinen Selbsthass darüber angewiesen zu sein. Hilfe zu brauchen. Nicht immer alles zu können – wie andere Leute (die bewusst oder unbewusst verdrängen, dass auch sie angewiesen sind und nicht alles immer können).
Es rahmt meine Wut als persönlichen Makel. Als etwas, das nur ich allein lösen kann – und soll.
Es gibt mir das Gefühl, etwas Falsches zu tun, wenn ich mir Gutes tue. Wenn ich mich um mich kümmere, mir Pläne mache, mich absichere, ich mich an erste Stelle nehme, wenn klar ist, dass ich es bin, womit ich langfristig zurechtkommen muss.

Zum Beispiel, wenn es um die Versorgung von NakNak* geht. Auch die letzte mögliche Versorgung.
Ich will – muss – verhindern, dass sie in einer (fremden) Tierarztpraxis eingeschläfert wird. Ich weiß, dass man das nicht zu 100 % vermeiden kann. Wenn sie angefahren wurde oder an Gift verendet, ja, dann kann sie nicht sediert und nach Hause gebracht werden, wo wir sie in Ruhe einschläfern lassen können. Aber in den meisten anderen Fällen geht das. Da hängt es nur an der Einsicht und dem Wollen der ermächtigten und fähigen Menschen in der Situation, das zu ermöglichen. Und in der Regel sind diese Leute einfach routinedumm. Macht ma nich, machen wa nich, wolln wa nich – da könnt ja jede_r kommen.
Oder es gibt die Idee, dass in so einer Situation das Tier unnötig leiden würde, nur weil ich es gut haben will. Aber ein sterbendes, sediertes Tier leidet mehr unter mir, wenn ich nicht ganz bei ihm sein kann. Wenn unser Kontakt gestört wird von Formalgetue, von Desinfektionsgestank, von schlechtem Raumhallmanagement, von meiner Überanstrengung in der Kommunikation mit fremden Menschen, die mich nicht verstehen und entsprechend anstrengend, nervig, störend finden.
NakNak* hat mir in ihrem Leben so viel beigebracht und so viel ermöglicht – es ist nur angemessen, wenn ich ganz und gar bei ihr bin, wir es ruhig und gut haben. Wenn sie auf ihrer Decke liegen kann, wenn das ganze Rudel bei ihr ist, wenn ihr Sterben in so vielen Aspekten wie möglich ihrem Leben gleicht.
Es ist die einzige für mich barrierefreie Möglichkeit, ihr Gutes zu tun (weil ich mir Gutes tue).

Das wird oft missverstanden, wenn man über Barrierefreiheit spricht. Aber auch über Selbstfürsorge.
Viel zu viele Menschen denken, dass man Selbstfürsorge machen soll, um sich gut zu fühlen, obwohl nichts gut ist. Und ebenfalls viel zu viele Menschen denken, dass behinderte Menschen Barrierefreiheit fordern, damit sie Dinge machen können, obwohl sie behindert sind.
Dabei sind beide Dinge, Selbstfürsorge wie Barrierefreiheit, notwendige Grundlagen, um in die Lage versetzt zu werden, weder das eine noch das andere zu benötigen. Sie sind keine Lösung für Dinge, die eine Behinderung zu einer solchen machen.
Um es anders zu formulieren: Wo man Barrierefreiheit braucht, wurde Behinderung produziert. Wo man Selbstfürsorge braucht, gibt es nichts und niemanden, die_r sich um oder für dich sorgt.

In der Notfallsituation gestern Abend waren wir auf den Notdienst angewiesen. Den hatte die Tierklinik in der nächstgrößeren Stadt, etwas über 20 Kilometer von hier. Der Partner telefonierte mit der Praxis, ich beruhigte NakNak*, musste unterbrechen, um das Auto des Partners leerzuräumen. Er hatte nicht daran gedacht, dass ich noch mal ins Haus müsste. Mich um meine Grundversorgung kümmern wollen würde. Wie immer war ich es die, die Abläufe unterbricht, um ihren Tüddel zusammenzusuchen. Gehörschutz, Wasser, Ankergegenstand, Handy. Für mich ist das kein Tüddel, sondern die in mich hineingefressene Antizipation davon, wie es mir in einem nicht barrierefreien Umfeld gehen wird, wo mein Befinden für irrelevant erklärt ist.

Wir haben keinen Plan dafür gehabt, wie wir die Situation managen. Entsprechend konnten wir nur überrascht und überrollt werden von dem, was dann war. Zutritt nur mit FFP2 – der Partner hatte nur Papierlappen im Auto, ich hatte keine eingesteckt, um nicht noch mehr Zeit für meinen Tüddel einzunehmen – und nur eine Person pro Tier. Auch wenn ich also eine passende Maske gehabt hätte, hätte ich nicht reingekonnt. Ich brauche in solchen Momenten eine Assistenz, die hat man mit diesen Beschränkungen ausgeschlossen, man hat mich als behinderten Menschen strukturell diskriminiert. Und dank der ganzen Infektionsrealitätsverweigerer gibt es genau keinen Raum mehr, um irgendeine alternative Möglichkeit zu erfragen, ohne eine automatisierte Abwehr-Konfliktsituation zu provozieren.
Mein Partner, der erst seit 4 Jahren mit NakNak* das Leben teilt, der nicht weiß, was Hunde mit Schmerzen für eine Interaktion brauchen und das viel größere Infektionsrisiko hat, ging also in die Praxis. Wo kurz nach seinem Eintreten eine Reinigungskraft ohne Maske durch jeden Raum ging und schwer atmend arbeitete.
Während ich mit meinem Gehörschutz an der Hauptstraße stand und nicht mal einen Fitzel der Wut zeigen durfte, die in mir tobte.

Wir hatten Angst, dass sie einen Bandscheibenvorfall gehabt haben könnte. Das wäre eine Situation gewesen, in der wir nichts mehr tun könnten. Für eine Operation ist sie zu alt, wir hätten sie einschläfern lassen müssen. In einer fremden Klinik. Ohne mich dabei. Vielleicht.
Es ist nicht dazu gekommen, sie hat vermutlich so etwas wie einen Hexenschuss gehabt und brauchte nur eine Injektion.
Mein schweißgebadeter Partner und die immer noch hechelnde NakNak* im Auto bin ich erleichtert und taub zugleich. Ich sitze neben ihm, höre unserem Gespräch aktiv wie dissoziiert zu und beschließe, dass es das jetzt war.

Keine Kompromisse für einen falschen Frieden mehr.
Ich will meine Pläne. Ich mache meine Pläne.
Es ist kein Tüddel es ist Selbstschutz, weil mich keiner schützt.
Es ist meine Selbstfürsorge, weil ich mich nicht auf die bedarfsgerechte Sorge meiner Mitmenschen verlassen kann.
Ich bin behindert, aber nicht weniger. Ich habe Rechte, auch im Notfall.

Ich fürchte, dass mein Partner das in der Praxis nicht gut findet. Nicht unterstützt. Dass er das alles anders sieht und deshalb anders machen will. Vermutlich werden wir uns streiten. Vielleicht auch immer wieder.
Aber ich habe nichts von seiner Zustimmung außer Abhängigkeit und davon habe ich bereits genug.
Vielleicht finden wir eine gemeinsame Basis und tierärztliche Praxen, mit denen wir im Fall des Falls rechnen können.

Hoffentlich.
Wenn nicht, muss sich etwas ändern.
Viel.
Vielleicht alles.
Obwohl.

Nachklapp: #rC3 – Barrierefreiheit – Quo vadis?

Kennt ihr die Erkrankung Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronic Fatigue Syndrome? Oder den kongenitalen Nystagmus? Details über Autismus oder die Gliedergürtelmuskeldystrophie? Wisst ihr, wie man mit einer dissoziativen Identitätsstörung lebt? Die Panelistinnen nehmen euch mit zu einem Ausflug in ihr Leben und besprechen dabei Unterschiede und Gemeinsamkeiten, ihre jeweilige Lebensqualität sowie ihre Bedürfnisse für eine echte Teilhabe am Leben.

Lieber P.

Bitte sag mir nie wieder, ich würde mich selbst behindert machen. Bitte sag mir nie wieder, ich würde mich selbst komisch machen.
Ich bitte dich nicht aus Gründen einer political correctness darum, sondern, weil mich diese dummen Worte von dir verletzen und dich zu einem Kontakt machen, der unerträglich ist.

Du verstehst wohl nicht, warum Menschen verletzende Dinge, wie auch das N-Wort nicht hören wollen. Weshalb sonst habe ich es an deiner Seite so oft gehört, wie noch nie neben anderen Menschen? ‚Politisch korrekt‘ ist wohl ein Witzchen für dich. Oder eine Randnotiz, an die man sich erinnert, wenn man mit den Betroffenen zu tun hat.
Eine Handlungsempfehlung. Keine Bitte darum, nicht gedemütigt, entwertet, verletzt zu werden. Kein Hinweis auf deine Privilegien als weißer Mann in unserer Gesellschaft.

Ich erinnere mich an deine Schilderung aus dem Buch eines Künstlers, dessen Beobachtung über die alltäglichen Anstrengungen und Kämpfe behinderter Menschen du so bemerkenswert findest. Und ich weiß, dass ich dir sagte, wie erbärmlich es ist, wenn Menschen, die sich nicht als behindert erleben, sich staunend daneben stellen, wie Menschen kämpfen können, um ihr tägliches Leben in irgendeiner Form zu gestalten.
Erbärmlich ist es, weil es so viel mehr Optionen gibt, den täglichen Kämpfen von Personen zu begegnen.
Weil es keine Wahl ist zu kämpfen, wenn man behindert ist und wird, sondern eine verdammt noch mal zwingende Notwendigkeit, sich selbst vor Verletzung, Unterdrückung und Ausbeutung zu schützen. Weil es sonst schlicht niemand tut. Kein Interesse da ist. Kein Bemerken passiert. Keine Anerkennung von einem Schmerz, der ist, auch, wenn er von niemandem sonst erlebt wird, geschieht.

Du und das Kunst-LK- Mädchen, ihr beide sitzt da mit eurem privilegiertem Leben hinter euch und sagt mir, ich würde mich selbst behindert machen, wenn ich offen aufzeige, dass Dinge für mich nicht sind, wie für euch.
Manchmal denke ich in solchen Momenten, ich würde irgendetwas falsch machen, wenn ich zeige: “Hallo – das hier ist ein Kampf für mich. Ich bin behindert. Ich versuche hier wie ihr zu partizipieren und kann doch nicht, was ihr könnt.“. Ich merke wohl, wie Menschen, wie du und dieses Mädchen, dieser Künstler, D. und wie sie alle in unserem Kurs sitzen, denken, ich würde immer nur über mich sprechen, wenn ich das Wort mit B sage.

Eine Behinderung im Leben zu haben, gilt als etwas Persönliches und nicht als etwas, das alle betrifft. Auch dann, wenn es nur eine Person ist, die damit lebt.
Nie bezieht ihr meinen Kampf auf euch, unseren Umgang miteinander, unsere gemeinsame Sprache, unsere jeweiligen Sozialisierungen, unsere spezifischen Lebenserfahrungen, den Kontext, die Räume, die Themen und die Arbeiten, die wir produzieren und begutachten, sondern immer auf mich.
Wenn ich Probleme habe, soll ich was sagen. Soll ich wissen, ich kann immer kommen.
Das Ding ist – einen Scheiß kann ich. Einen Scheiß lohnt es sich die Kraft dafür aufzubringen, ein Problem an euch heranzutragen, weil ihr vor jeder Unterstützungsüberlegung verlangt ein Problem zu verstehen, dass ihr selbst nie hattet, nie habt, nie haben werdet. Weil ihr von mir eine Barrierefreiheit in der Kommunikation verlangt, die ihr als übertrieben, political correctness-Spielerei, übermäßig raumeinnehmend benennen würdet, wenn ich sie von euch einfordere.

Als ich D. sagte, ich habe Krampfanfälle, hat er mich gefragt, was er dagegen tun soll.
Dabei war mein einleitender Satz: “Gibt es einen Ruheraum in der Schule? Gibt es einen Raum, in dem man sich in Ruhe aufhalten kann – das hilft mir beim Umgang mit den Krampfanfällen.”
Ich merke den Schlag ins Gesicht noch heute, wann immer ich mir die Rumpelkammer angucke, die er mir angeboten hat. Du weißt schon – der Raum, der immer vollgestellt ist mit den Bilderrahmen, den Kunstsachen zum Trocknen, dem lose hingeworfenem Werkzeug und dem Boden, der eben dann und wann mal gefegt wird. Was glaubst du, wie sich das auf meine Angst vor einem Krampfanfall in der Schule so auswirkt, wenn ich weiß: „Da muss ich rein, wenn ich merke, dass ich die Kontrolle über meinen Körper verliere.“? Hoch bis unters Dach, jemanden vorher noch bitten den Raum aufzuschließen, dann hinfallen. Vielleicht mit dem Gesicht auf eine vergessene Reißzwecke auf dem Boden oder mit einer Faust in die Glasplatte eines Bilderrahmens neben mir.

Er kommt sich hilflos vor, weil er aus meinen Worten viel mehr Mitverantwortung gedeutet hat, als da jemals drin war.
Er sagte mir, ich würde mich selbst komisch machen, wenn ich Menschen sage, dass ich nicht alles immer überall mitmachen kann, weil ich meine Behinderung mitdenken muss.
Heimlich hoffe ich auf einen Moment, in dem er mal ein alter Mann ist, der eine Inkontinenz immer mitdenken muss und selbst anfangen muss sich zu überlegen, was er wie wann wie oft und wie lange (spontan) mitmachen kann. Und natürlich wünsche ich ihm irgendein ignorantes Arschloch in seinem Leben, das ihm sagt, er würde sich selbst komisch machen, wenn er es schafft seine Scham zu überwinden und jemandem anvertraut, dass er da ein Problem mitbedenken muss, das er nicht beeinflussen kann.
Echt – ich hoffe, ihm wird irgendein peinliches, möglichst ungeeignetes Kleidungsstück für den Notfall angeboten. Und ich hoffe – einfach, weil ich auch nicht frei davon bin in Gedanken gewaltvoll und gemein zu sein – er pisst sich dann in die Hosen und das an einem gerade so irgendwie halbwegs passendem Ort.
Ich hoffe, ihm wird irgendwann klar, wie das für mich war nach einem Anfall im Schulklo zu liegen und zu wissen: “Keine einzige Person hier wird mir helfen. Keine Person hier wird das verstehen. Ich bin allein. Ich bin hilflos. Ich habe nichts unter Kontrolle.”.

Ich habe dir erzählt, dass ich seit der Autismusdiagnose merke, wie viele faule Kompromisse ich jeden Tag eingegangen bin.
Ich habe dir keine Bespiele gegeben, weil ich noch nicht so weit war. Inzwischen habe ich einige.

– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn mir Menschen sagen, ich würde Dinge fehlinterpretieren und Personen, deren Worte mich verletzen und demütigen würden sicher etwas anderes gemeint haben
– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn Menschen mir sagen, ich sei spitzfindig und viel zu differenziert
– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn Menschen mir sagen, mein Anspruch an respektvolles Miteinander sei zu hoch
– ich werde es mir nicht mehr annehmen, wenn Menschen nicht reflektieren, dass sie mich missverstehen und/oder schlicht ignorantes Verhalten an sich zu legitimieren versuchen mit Sätzen wie: “Ja aber früher hat man das immer so gesagt/gemacht/gedacht …” oder “Ja ja haha politisch korrekt müsste man ja sagen … aber naja – wir sind hier ja nicht so.”

Weißt du – was ist, wenn Menschen mich doch immer wieder verletzen und es schlicht nicht merken, weil es sie einen Scheiß interessieren darf, welche Wirkung ihre Worte haben (könnten)?
Gestern hast du mir gesagt, das sei ein gesellschaftliches Problem. Und nicht mitbedacht, dass jede Einzelperson ein Teil dieser Gesellschaft ist. Dass Gesellschaft immer genau dort beginnt, wo ein Mensch auf einen anderen trifft. Verdammt – es ist normal und im Grundgesetz für jede Person als Recht verankert, dass man nicht verletzt und gedemütigt wird. Auch dann, wenn die Person das nicht wollte. Mein Schmerz ist nicht über die Intension des Gegenübers zu definieren, sondern darüber, wie sehr er mich quält.

Ich weiß, “die Gesellschaft” mag das gern so tun. Deshalb haben wir so eine hohe Dunkelziffer von Menschen, die misshandelt werden. Weil immer alle sagen: “Er hat es ja nicht so gemeint.” Weil selbst viele Täter_innen sich sagen: “Oh – ups – das wollte ich nicht.” Und weil es noch immer hilfreich in Sachen juristischen Strafmaßes ist zu sagen, man hätte gedacht für die geschädigte Person würde die Tat nicht so schlimm sein.
Das nennt man übrigens Gewaltkultur und ist Kackscheiße, weil es den Opfern/den geschädigten/unterdrückten/minorisierten Personen sagt: “Dein Schmerz/dein Schaden ist egal, weil die Person, die dir wehgetan hat, diesen Schmerz nicht mitbedacht bzw. billigend in Kauf genommen hat.”

Nehmen wir an, es sei mein Autismus, der mich spitzfindig macht. Der mir nicht erlaubt über Details und einzelne Worte mit ihren spezifischen Bedeutungen hinwegsehen zu können. Nehmen wir an, mein Gehirn funktioniert so sinnbasiert, dass ich alle Schulkameras an dem Geräusch unterscheiden kann, das ihr Innenleben macht, wenn man die Einstellungen ändert. Nehmen wir an, meine Art auf Respekt und Gerechtigkeit zu achten, hätten etwas damit zu tun, dass ich in nicht ausbalancierten Situationen in Panik gerate, weil ich den Überblick und sämtliche Sicherheitsgefühle verliere und darüber in Erinnerungen an meine 21 Jahre andauernden Gewalterfahrungen getriggert werde.
Nehmen wir an, meine Interpretation der Situation hätten eine Basis, die die Mehrheit der Menschen um mich herum schlicht niemals hatte und niemals haben wird, weil Autismus eine neurologische Entwicklungsform zugrunde liegen hat.

Nehmen wir an, ich würde keine Wahl darüber treffen, was ich wann wie wahrnehmen würde.
Da würde jedes “Nu sei mal nicht so…” ein richtig großer Tritt in die Fresse sein, richtig?

Was ich wählen kann ist, wie sichtbar ich meine Wahrnehmung mache. Das heißt, von wem ich mich am Ende eventuell absichtlich ins Gesicht treten lassen würde, weil es schlicht so unterschiedliche Wahrnehmungsbefähigungen gibt.
Ich erwarte nicht, dass Menschen verstehen, was “es ist zu laut” für einen überbordend furchtbaren Schmerz für mich bedeuten kann. Ich erwarte nicht, dass Menschen Dinge für mich verändern, damit ich leichter und mit weniger Kraftaufwand am Leben teilhaben darf. Auch am gesellschaftlichen.
Aber ich erwarte, dass ich nicht auch noch dabei ausgelacht, in meiner Wahrnehmung und Einschätzungsfertigkeit in frage gestellt oder allgemein als “mich selbst behindert machend” bezeichnet werde, wenn ich versuche, das Leben für mich aushaltbarer/barrierenärmer/weniger einsam/respektvoller/generell lebenswerter zu gestalten.

Es sind nicht die Hilfsmittel, die man benutzt, die einen zu einer behinderten Person machen, lieber P.. Es ist die Behinderung durch Gesellschaft, Umwelt, Lauf der Dinge, die Personen behindern und/oder behindert machen.

Vielleicht kennst du aber auch das soziale Modell von Behinderungen nicht. Okay – kein Problem.
Wie gut, dass ich von Hartz 4 zu leben versuche, wie ein Großteil der schwerbehinderten Menschen in Deutschland, die in der Regel weit davon entfernt sind, sich dafür entschieden zu haben weder eine Berufsausbildung noch einen ordentlich bezahlten Job zu haben. Daran kann man es gut erklären.

Hartz 4 behindert mich, weil es nur dazu da ist, eine errechnete grundlegende Versorgung von Menschen ohne Einkommen sicherzustellen.
Und sonst nichts. Hartz 4 lässt einem Menschen keinen Raum sich einen so glatten Habitus anzueignen, wie ihn das Kunst-LK-Mädchen gestern schon an sich hatte. Oder wie ihn D. hat. Hartz 4 lässt nicht zu, dass man sich für eine Karriere so viele Fort-und Ausbildungen finanziert, wie man sie brauchen würde. Erst recht nicht, wenn es um Fort- und Ausbildungen geht, die Menschen mit Behinderungen/Behinderte mitdenken.
Man kommt darunter nicht vom Fleck. Hartz 4 ist nicht gemacht für eine Verweildauer über ein oder zwei Jahre hinaus. Die Realität sagt dagegen, dass die durchschnittliche Verweildauer inzwischen bei sieben Jahren ist. Und auch, dass die Schuldenlast von Hartz 4-Abhängigen mit jedem Jahr des Bezuges steigt.

Du erinnerst dich sicher an mein bitteres Jubiläum von 10 Jahren in Hartz 4.

Es ist kein Stock im Arsch oder unbegründete Angst, wenn ich mir jeden größeren und kostenrelevanten Schritt in meinem Leben 2, 3, 4, 5, 6 Mal überlege und dann doch verwerfe.
Hartz 4 ist eine Barriere. Strukturell gewollt. Gesellschaftlich benutzt, um sich selbst immer wieder darüber zu motivieren sich anzustrengen, mehr Leistung, mehr Geld, mehr Sicherheit selbst zu produzieren. Ich kann mich nicht entscheiden, davon einfach nicht mehr abhängig zu sein. Ich kann nicht mehr Leistung, mehr Geld, mehr Sicherheit produzieren. Ich kann es nicht, weil der Raum für Menschen wie mich, der das ermöglichen könnte, noch nicht erschaffen ist.

Weil es so viel leichter ist zu sagen, man müsse nur wollen und sich irgendein Negativbeispiel vor Augen halten.

Apropos Negativbeispiel.
Wo kommt eigentlich dein Denken her, meine Behinderung als irrelevant zu betrachten, sei Inklusion?
Seit ich dich als Menschen mit Fußspitzen in meinem Leben in meinem Artikel “Für mich bist du nicht behindert” beschrieb, denke ich darüber nach, was das eigentlich für ein Gedankendreh ist, weil es mich so sehr fasziniert, wie unbedingt bestimmte Sichtweisen immer und immer eine Bestätigung von sich selbst produzieren wollen.

Ich weiß nicht, ob es da, wie über so manche Medien transportiert, um Berührungsängste – also Ängste an sich – geht oder schlicht darum, die eigene Ignoranz zu legitimieren, aus Sorge dafür so verachtet zu werden, wie es angemessen sein würde.

Aber vielleicht schaue ich auch einfach selbst nochmal genau auf Ignoranz und Sichtbarkeit von behinderten Menschen beziehungsweise Behinderten. By the way ja – manche Menschen, und ich zähle mich dazu, nennen sich selbst “Behinderte” und inkludieren damit ihr Sein als ausgegrenzte und eben auf verschiedenen Ebenen behinderte Person in die Selbstbezeichnung. Das geht nicht allen Menschen so, deshalb mache ich so viele Wörter und spreche sowohl von Menschen mit Behinderungen, als auch von Behinderten. Das tut mir nicht weh. Im Gegenteil, es erfreut mich zu wissen, das beide Bezeichnungen dafür sorgen, dass ich selbst weniger ausgrenzend spreche.
Ich freue mich zu merken, dass ich meine Sprache so gestalten kann, dass weniger Menschen verletzt werden, während ich sie sichtbar zu machen versuche.

Es freut mich überhaupt Menschen mit meiner Sprache und über meine Handlungen im Alltag sichtbar zu machen.
Ich versuche mir immer wieder ins Bewusstsein zu rufen, was meine grundlegenden Annahmen über die Kontexte, in denen ich mich bewege, sind. Das tue ich nicht, weil ich ein blütenreiner Gutmensch bin, sondern, weil ich mich innerhalb der Kontexte, in denen ich mich bewege, auf möglichst barrierenarme Art bewegen will und zwar für alle Menschen, die ihn mit mir teilen.
Weil ich das gut finde. Weil es beruhigend ist. Weil ich weiß, wie wenig Stress das bedeutet und darüber, wie gering mein Risiko für einen Krampfanfall, Overload oder dissoziative Symptome wird.

Ich kann nur dann gute und zutreffende Annahmen über einen Kontext haben, wenn ich alles, was in diesem Kontext ist, sehe im Sinne von “bewusst habe”.  Ich kann nur dann ein Klima von Respekt, Rücksicht und Akzeptanz gestalten, wenn ich nicht verlange, dass bestimmte Dinge versteckt und unsichtbar sind.

Du hast mich gefragt, warum ich an dem Berufskolleg, in dem ich mich für eine Ausbildung bewerben möchte, zuerst gefragt habe, wie barrierenarm die Schule für mich ist. Es sei doch sinnvoller gewesen erst meine Arbeiten zu zeigen.
Noch heute frage ich mich ernsthaft, wie man davon ausgehen kann, es sei nicht relevant vor einer konkreten Planung eines so großen Schrittes zu prüfen, wie gut oder schlecht man eine Chance zu nutzen in der Lage sein wird. Was glaubst du, wie das für mich ist, in einem Raum mit >15 Personen zu sitzen, eine unübersichtlich schwammige Sprache dekodieren zu müssen, um neue Inhalte zu begreifen und daneben vielleicht noch zu wissen: “Okay, meine Assistenzhündin kann nicht hier sein – ich werde also erst kurz vor knapp (oder auch gar nicht) merken, wann ich einen Krampfanfall habe/ich werde allein mit Panikattacken/Flashbacks/dissoziativer Symptomatik/Overloads zurecht kommen müssen (und natürlich so, dass niemand sonst von den auch nach außen sichtbaren Aspekten meiner Behinderung belästigt wird)”.

Ich bin 29 Jahre alt und weiß glücklicherweise bereits, dass es zu meinen Menschenrechten gehört (aus)gebildet zu werden.
Ich weiß zum Glück, dass es mich nicht verunsichern muss, wenn Menschen wie du nicht begreifen, dass Bildung für mich etwas ist, das ich mir zu 100% ab- und zusichern lassen muss – und zwar von denen, die verpflichtet sind sie mir zukommen zu lassen, weil es ansonsten niemanden interessiert, ob und wenn ja, wie ich aus all den strukturellen Abhängigkeitsverhältnissen herauskomme.

Du weißt ja, dass ich nicht zu den Glücklichen gehöre, die eine liebevolle und engagierte Familie in ihrem Leben haben.
Seit ich 15 bin lebe ich in staatlicher Fürsorge und diese deckt das physische Überleben einer Person ab. Nicht auch noch die Entdeckung und Entfaltung von individuellem Potenzial. Und erst recht eröffnet sie nicht so simple Dinge, wie einen Landeplatz für die Momente, in denen man doch nochmal auf Rückenstärkung und bedingungslose Fürsprache angewiesen ist.
Frag mal das Kunst-LK-Mädchen, wer sie so unterstützt. Fragen wir im nächsten Kurs doch einfach mal die Teilnehmenden, warum sie es sich leisten können, dauernd zu fehlen.

Hast du dich eigentlich nie gefragt, warum ich nie fehle? Warum ich auch 5 Tage nach einem selbst verhinderten Suizidversuch in deiner Klasse stehe und alles Wissen, das du mit uns Schüler_innen teilst, aufsauge wie Wüstensand?

Einmal in der Woche kratze ich so schonungslos wie es andere Menschen sich wohl eher nicht antun würden, all meine Kraft zusammen und zerre meinen Arsch in diese Schule. Einmal in der Woche setze ich mich Menschenkontakten aus, die mich fordern bis überfordern. Einmal in der Woche öffne ich mich und versuche mich zurechtzufinden in einem Umfeld, das Lebensrealitäten wie meine weder kennt noch als normal und üblich wie die eigene betrachtet.

Einmal in der Woche verlasse ich meine Wohnung, meine Routine, meine Sicherheiten und berühre euren Kosmos, der nichts Besseres zu tun hat, als mich zu verletzen, neugierig, verwirrt, fragend und gleichzeitig ignorant vor meinem Abkämpfen um Teilhabe und Miteinander zu stehen und irgendwann – vielleicht, wenns dann in einem Gespräch um Menschen wie mich geht – daraus eine Anekdote für den nächsten Kurs, die nächste Unterhaltung über den Lauf der Dinge zu machen.

Einmal in der Woche habe ich 3 Stunden, in denen ich etwas haben darf, das mich befriedigt und satt macht: Ein Moment, in dem ich Dinge erfahren darf. Ein Moment, in dem ich Dinge auch mal nicht wissen darf und Fehler dazu gehören, ohne mich konkret zu bedrohen.
Ein Moment, in dem ich zum Teil einer physischen Gruppe werde.

Es ist so unfassbar traurig und ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, dass es für mich (und Menschen mit Behinderungen bzw. Behinderte allgemein) überhaupt so ein großes Ding ist, einmal in der Woche (für viele passiert es noch seltener!) unter Menschen zu kommen, die sie weder pflegen noch medizinisch/therapeutisch/bürokratisch behandeln.
Einmal in der Woche aus einer intrinsischen Motivation heraus Orte aufzusuchen, die ihnen zustehen, aber häufig genug verwehrt bleiben, weil sämtliche mögliche Barrieren schlicht nicht mitbedacht werden, von denen, die sie zur Verfügung stellen und/oder mitgestalten.

Und das, wo Deutschland doch so ein Vorreiter in Sachen Integration, Inklusion und Miteinander sein will.

Weißt du P. – du bist nur mein Lehrer. Das weiß ich. Es kann dir völlig egal sein, was wer aus dem Kurs mitnimmt und wer sich wie fühlt, während si_er da sitzt.
Ich weiß aber, dass du nicht so bist. Du bist einer dieser Menschen, die durchaus reflektieren können, wann sie etwas tun, das scheiße ist.
Du bist einer dieser wenigen Leute, mit denen ich gut gemeinsam in einem Raum sein kann.
Das ist eines dieser Dinge, die mich daran hindern mir das Leben zu nehmen.
Immer wieder sind es für mich aushaltbare Menschen, die mir versprechen mir etwas beizubringen, das mir wichtig ist und die Option immer immer immer lernen zu können.

Menschen mit meinen Gewalterfahrungen haben ein vier Mal höheres Risiko sich zu suizidieren.
Was glaubst du, wie lange würde das wohl dauern, bis jemand merkt, dass ich tot vom Dachsparren herunterhänge?

Richtig – mindestens eine Woche würde das dauern. Weil jede_r weiß, dass ich nie fehle. Weil alle Menschen, denen ich sage, dass ich traumatisiert, behindert und einsam bin, wissen, dass der Donnerstag der Tag ist, an dem ich die Welt berühre. Weil alle wissen, dass der Donnerstag der Tag ist, der mir so wichtig ist, weil ich dann zur Therapie gehe, in der Hoffnung das Geschehene zu verarbeiten und meine Versuche des Umgangs damit zu reflektieren und, weil ich mich zu dir in den Kurs setze, um zu lernen, wie ich die unglaubliche Schönheit und allumfassende Perfektion dieser Welt in Fotos festhalten kann, um sie zu teilen.

Menschen, denen bewusst ist, wie meine Einsamkeit zustande kommt und was alles damit zu tun hat, sagen mir nicht, ich sei selbst daran schuld, wenn ich so selten das Haus verlasse.
Menschen, die ein Bewusstsein darum haben, dass sie immer irgendwo hingehen und etwas tun, wenn sie das Haus verlassen, raten mir nicht “Einfach mal mehr unter Leute zu gehen”.

Menschen, die mich als die Behinderte sehen, die ich bin, fragen sich, wo ich denn eigentlich überhaupt wirklich gut und ohne einen großen Haufen fauler Kompromisse partizipieren könnte. Oder, wo ich mich willkommen und angenommen fühle. Manche fragen mich sogar, ob ich mich wohl gefühlt habe und was man verbessern könnte. Zu einem nächsten Mal, bei dem man mich gern wiedersehen würde. Weil es okay/bereichernd/schön/spannend/interessant war. Mit mir. Dabei. Mittendrin. Mit allem, was ich kann und nicht kann. Mit allem, was ich wahrnehme und wie ich es wahrnehme.

Lieber P., den ich wirklich sehr schätze, ich traue dir zu, dass du das auch kannst.
Ich traue dir zu, dass du verstehen kannst, wie groß und wie berechtigt meine Verletzung vor dem Hintergrund, den ich habe, ist.
Am Ende bitte ich dich erneut Rücksicht auf mich zu nehmen, nicht aus Gründen einer Korrektheit, die nur allzu oft verlacht wird, sondern, weil du mich nicht verletzen möchtest, wie du nicht von anderen Menschen verletzt werden möchtest.

Bis nächsten Donnerstag.
Mit vielen Grüßen,

Hannah

ein Montag, der drei Tage dauerte – 2

Bahn fahren ist ein logistisches Mammutunternehmen – nicht nur, weil es in ganz Deutschland ermöglicht werden will, sondern auch, weil ganz Deutschlands Bevölkerung diese Möglichkeit zu nutzen versucht.

Der Bahnhof ist eine gern genutzte Metapher für Prozesse und Bewegungen, die gleichzeitig und doch aufeinander abgestimmt passieren. Nirgendwo sonst kann man Dominoeffekte und Fehlerwege so gut vorhersehen, wie nachträglich erfassen.
Doch auch Zugverkehr passiert nicht kontextlos. In jedem Waggon werden individuelle Kosmen zusammen zu einem Universum unter der Nummer des Zuges, der sich durch ein Multiversum von Ziffern, Zahlen und Nummern bewegt, die sich alle wie ein Paralleluniversum verhalten.

Es ist beachtlich, dass Menschen solche Komplexe erschaffen können, wenngleich es vor dieser Beachtlichkeit eine wiederkehrend schmerzliche Erkenntnis ist, dass nicht alle beteiligten Menschen in der Lage sind, sich selbst und andere durch diesen Komplex zu begleiten. Ihn begreif- und nutzbar zu machen verstehen. Vielleicht auch anzuerkennen, dass auch das perfekteste System Lücken haben kann, durch das genau die Personen fallen, für die die Nutzung und die eigene Bewegung im Megamultiversum “Reisen mit dem Zug” voller Barrieren ist.

Ich bin eine Person, die massiv auf Transparenz und Nachvollziehbarkeit angewiesen ist. Ist diese nicht gegeben und zwar ganz subjektiv für mich allein, verliere ich die Orientierung und werde auf eine Art hilflos, die sich je länger und öfter sie angestoßen wird, ausbreitet und mich Stück für Stück handlungsunfähiger macht.
Ein Bahnhof mit all seinen Abläufen und Zugreisen über weite Strecken erfordern von mir entsprechend intensive Vorbereitungen und bedeuten ein hohes Maß Abhängigkeit von Bahnmitarbeiter_innen, Gleisdurchsagen und den Informationen auf den Anzeigetafeln.
Für mich sind Zugreisen etwas, das ich tue, wenn ich arbeiten kann.Rein  aus Spaß an der Freude bin ich noch nie in einen Zug gestiegen, denn die zu überwindenden Barrieren machen wir Angst, die Abhängigkeit macht mich ohnmächtig und so wie ich mich vorbereiten muss, bleibt auch die größte Aussicht auf den größten Spaß reichlich blass zurück.

Am Samstagabend ist mir passiert, wovor ich immer Angst habe, wenn ich mit der deutschen Bahn fahren muss. Ich saß im falschen Zug, landete 200 km entfernt von meinem Zielbahnhof und stand vor Servicepersonal, das zum Einen nicht in der Lage war mit mir zu kommunizieren und zum Anderen nicht befugt war, mir eine Alternative zu einer Fahrt von 6 einhalb Stunden (davon 4 Stunden Wartezeit am Bahnhof in der Nacht) aufzuzeigen.

Da stand ich nun mit meinem Ticket, der Sitzplatzreservierung, von der ich durch die Verspätung des ersten Zuges schon nichts hatte und meinem Notfallplan, mich immer in der Bahnhofsmission ausruhen zu können, meine Helfer_innen zu Hause anrufen zu können und immer auch Passanten ansprechen zu können.
Nach einer Reisezeit von 19.01 Uhr bis kurz vor Mitternacht, in der eine Verspätung von 25 Minuten, eine Wartezeit von anderthalb Stunden, ein Gleiswechsel und ein Zug, der geteilt wurde (was nicht über die Gleisdurchsage mitgeteilt wurde, sondern über eine Zugdurchsage, die von mir nicht mehr verarbeitet werden konnte) auch noch geschahen, war ich nicht mehr in der Lage ruhig und nachsichtig zu sein. Geschweige denn auch nur eine Zahl nach der anderen aufzunehmen und mit dem Geschehen in Kontext zu setzen.

Meine Helfer_in hat versucht uns über das Mobiltelefon zu unterstützen, doch am Servicepoint hatte man seine Vorgaben und die sind nicht auf menschliche Fehler ausgelegt. Weil ich keinen Mobilitätsservice in Anspruch genommen habe (dazu komme ich später), sondern einfach nur zwischen Tür und Angel einen Mitarbeiter im Vorbeigehen gefragt habe, ob ich in der richtigen Hälfte des geteilten Zuges sitze, war nicht nachzuweisen, dass der Fehler a) überhaupt geschehen ist und b) von einem Mitarbeiter der Bahn bzw. dem System der Bahn begangen wurde.
Weil ich gemacht habe, was alle machen und dabei Pech hatte, konnte niemand helfen, denn das ausgeklügelte System hat eben doch auch Lücken.
Die Servicemitarbeiter_in Frau Z. , die an diesem Samstagabend sicherlich schon mehrfach beschimpft oder beleidigt wurde, die auch mit ziemlicher Sicherheit bereits mehrfach versuchen musste Betrugsversuche zu klären – kurz: die aushalten musste, was Samstagnachts in einer Stadt wie Bremen so passiert, hatte in ihrer umfangreichen Telefonliste weder die Telefonnummer eines sozialen Dienstes, noch eine Hotline für den Ausgleich eines menschlichen Fehlers in dem großen Komplex der hinter dem Logo der deutschen Bahn steht.

Und ich – die den Krach in der Vorhalle, den Gestank der Geschäfte, die Anstrengung der Kommunikation und die Erschöpfung von 23 aktiven Wachstunden in jeder Faser von Körper, Geist und Seele spürte, stand da und sah sich weiteren 7 Stunden Krach, Gestank, Angst , Überforderung, Menschenkontakt, und weil ich nur noch 2€ besaß, auch keiner Möglichkeit sich dessen zu entziehen, gegenüber.
Bereits 3 Stunden vorher hatte ich einen Zusammenbruch mit einem ca. 10 Sekunden-Krampfanfall allein durchstehen und kompensieren müssen, weil zum Servicecenter oder zur Bahnhofsmission zu gehen bedeutet hätte, wieder durch den ganzen Bahnhof zu laufen, Schilder suchen, lesen und begreifen können zu müssen und dann wiederum mit Wörtern kommunizieren zu müssen.  Alles Dinge, die ich kann, wenn mal ein Zug ausfällt, oder mal eine Verspätung ist, oder mal eine Gleisänderung ist – aber nicht wenn ich nach einem vollen Tag so viel aufzufangen habe, wie an diesem Samstag.

Vielleicht bemerkt man schon an dem, was ich als Barriere für mich aufzeige, dass ich keine Mobilitätseinschränkungen im engeren Sinn habe. Mein Problem sind unvorhergesehene Überreizungen, die man aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit nicht einplanen kann.  Ich werde erst in dem Moment in meiner Mobilität eingeschränkt, wenn ich Menschen, Durchsagen und Krach über meine Fähigkeiten hinaus aufnehmen, begreifen und in meine Reaktionen integrieren muss.
Nach einer Zeit wie am Samstag kann ich etwas nicht mehr, was viele Menschen jeden Tag und auch in Stress- und Angstsituationen intuitiv und ohne Anstrengung einfach tun.

Deshalb verzichtete ich bisher auch auf die Nutzung des Mobilitätsservice den die deutsche Bahn und die Bahnhofsmission anbietet.
Es fällt mir schwer mit Fremden in Kontakt zu gehen und überanstrengt mich schnell. So habe ich in meiner subjektiven Kraftrechnung vielleicht eher einen Nachteil, weil die Kraft, die ich für mich und allein zum Aushalten des üblichen Geräusch- und Hektiklevels des Bahnhofes und der Fahrt an sich brauche, für den Kontakt vor dem Fahrtantritt und während den Zugwechseln draufgeht.

Mal abgesehen davon: Ich bin mit ICEs zwar nur selten pünktlich, komme aber nur sehr selten mit mehr als einer Stunde Verspätung an und muss ebenfalls eher selten länger als eine halbe Stunde auf einen Ausweichzug warten.
Fehler in Technik und Baustellenverspätungskompensation wurden also bisher auf ein vertretbares Belastungslevel gebracht – Fehler, die Menschen machen, weil sie eben Menschen sind, die auf Fehler und Außerplanmäßigkeiten reagieren, so wie es ihre individuellen Fähig- und Fertigkeiten ihnen ermöglichen, hingegen noch nicht, denn auch den Mobilitätsservice können nicht alle Personen an jedem Bahnhof zu jeder Tages- und Nachtzeit erwarten. Schon gar nicht spontan.

Am Servicepoint stehend fragte ich mich natürlich auch, warum ich eigentlich eine Bahncard habe, wenn sie mir außer vergünstigten Tickets (die ich kaufe, damit die Menschen, die mir die Fahrten ermöglichen, nicht so viel zahlen müssen) nichts bringt.
Die hübschen DB-Lounges sind nachts fast immer leer. Was logisch ist. Würde ich mir Tickets erster Klasse leisten können, könnte ich mir sicher(er) sein auch wirklich dann dort anzukommen, wo ich hinwill und wenn nicht, dann könnte ich sicher auch ein Hotelzimmer bezahlen. Bilde ich mir jedenfalls ein.
Warum darf man bei einer Verspätung über das übliche Maß hinaus nicht auch als Person zweiter Klasse dort sitzen? Warum gibt es nicht überall allgemeine Wartesäle, die vielleicht auch eine Tür zum Zumachen haben? Warum gibt es ruhige Räume nur in der Bahnhofsmission? Warum gibt es keine Coupons zur WC-Nutzung für Verspätungsbetroffene? Und was ist eigentlich aus den Kaffeecoupons geworden?
Warum gibt es offenbar keine Kompetenz der Servicemitarbeiter_innen auf Menschen mit Behinderungen zu reagieren? Wie kommt es, dass alternative Verbindungen von 6,5 Stunden mit solchen Wartezeiten als zumutbar zu präsentieren sind?

Und am Ende: Warum dürfen die Servicemitarbeiter_innen nicht einfach offen sagen, dass sie in unkonventionellen Fällen, keine unkonventionellen Lösungen kreieren dürfen? (Bis ich verstanden habe, dass mir die Mitarbeiter_innen das mit ihren leergelesenen Sätzen sagen wollten, hatte es einen Weinkrampf, viele Telefonate und ein aufgebrauchtes Internetdatenvolumen in meinem Handy gebraucht).
Es gab mir einen Stich zu merken, dass Frau Z. dachte, die Frauen*, die mit mir im Abteil saßen und sich verbunden genug gefühlt haben, um mitzuverfolgen, wie es mir am Bahnhof ergeht, wären da, weil sie mal sehen wollten, wie mies “die Bahn” mit “den Behinderten” umgeht.

Ich habe wirklich nicht mehr viel bemerkt, aber, dass ich in meinem Kämpfen um das Verstanden werden und Hilfe erhalten auch noch geothert wurde und sich auch hier das Stigma der Ideen, die Menschen von Behinderungen und den Menschen, die mit Behinderungen leben, haben, wirkte, traf mich so tief, dass es unübergehbar war.
Da war ich gerade zwei Tage auf einem Inklusionskongress und all die Zuversicht, die ich dort tanken durfte, wurde mir erneut in Frage gestellt.

Es gab keine Lösungsvorschläge außer die lange Reise.
Aber es gab eine Mitreisende, die sich solidarisch verhielt und fragte, ob ich ihr Gästebett benutzen möchte.

Ich habe wie alle Menschen – speziell jene, die als Mädchen aufwachsen – gelernt, nie mit Fremden mitzugehen. Nie.
Ich habe gelernt, Menschen in Uniform zu gehorchen und zu vertrauen.
Und in dieser Situation gab es keinen Lerninhalt, der anwendbar war. Keinen Plan B. Nur durchsichtige Notlösungen, auf die ich vertrauen sollte, obwohl ich als Person, die zum Opfer von Gewalt wurde, bis heute nicht einmal weiß, was “Vertrauen” eigentlich ist.
Meine Helferin unterstützte mich übers Telefon, in dem sie sich die Daten der Person geben ließ. Etwas, woran ich nicht gedacht hätte. Etwas, was ich auch gar nicht mehr hätte leisten können.
Zum Glück ratterte in meinem Innern die ganze Zeit “Die Helferin soll hier sein – sie soll hier sein und nirgendwo anders” – hätte dieses Rattern aufgehört, hätte ich sie nicht mehr angerufen.

In meinem Leben gibt es leider niemanden, von dem ich glaube kann  si_er würde mir zurufen: “Kind! Was dir alles passieren kann!”. Ich habe eher Menschen um mich, die mir sagen “Wende dich an die Leute in Uniform.” und “Da mussten sie jetzt durch, aber sie merken ja, es ist nichts passiert.” und “Am Bahnhof läuft gerade viel Polizei herum – es ist wirklich sicher da.”.
Anhand dessen, was mir die Menschen sagen, kann ich in aller Regel nicht ablesen, ob sie das von mir wahrgenommene Ausmaß von Angst, Belastung und Erschöpfung mitsamt aller wahrgenommenen Intransparenz, die ich nicht mehr selbstständig klären kann, begreifen. Die meisten Menschen in meinem direkten Umfeld erleben die Polizei als Helfer_innen – nicht als Marker für eine gefährliche Situation.
Für mich gilt: Wo es friedlich ist, braucht es keine Polizei.
Den Sprung von “Sicherheit” zu “Polizei”, werde ich wohl im Leben nicht schaffen.

Während die Mitreisende mit der Helferin telefonierte betrachtete ich sie.
Studi-Schal, moderne Brille – eine rosa Stielrose in der Hand.

Ich  folgte ihr zur Straßenbahn, in ein Seitenstraße, in eine fremde Wohnung.
Wir tranken Tee und schliefen bis 10 Uhr.

Auf der Rückfahrt bewunderte man mein zerfleddertes und wild bestempeltes Reisedokument.
Für die nächste große Reise werde ich den Mobilitätsservice in Anspruch nehmen, denn weniger auf das Glück eine solidarische und großzügige Mitreisende zu treffen, als darauf, dass Fehler passieren und nicht immer für mich tragbar zu lösen sind, muss ich mich verlassen.
So ist das Leben.

Kinderbücher mit Behinderung

Ich kann es so gut verstehen, wenn Kinder und ihre Eltern sich mehr Vielfalt in Büchern wünschen, wie Mareike das bei sich im Blog tut.

Für mich fängt es schon bei den Namen, der Hautfarbe und spezifischen Kultur- und/oder Religionseinflüssen in verschiedenen Alltagen an, die mir oft fehlen, aber natürlich fehlen auch die Leben von Kindern, die mit zum Beispiel Down Syndrom und und und und auf die Welt gekommen sind, in aller Regel in Kinderbüchern.
Für meine Eulengeschichte suche ich noch immer einen Verlag und arbeite nebenbei als kleines Ausruh-Eskapismus-Novemberüberstehdings an einer anderen Kindergeschichte. Deshalb stecke meine Nase gerade verstärkt in diese Szene und mir fallen da ein paar Dinge auf, die mitverantwortlich für wenig Diversität in Kinderbüchern sein könnten.

Meine Eulengeschichte ist so ein typisches Stück in Sachen “ein Kind bekommt etwas von einem Erwachsenen erklärt”. Davon gibt es ziemlich viele Kinderbücher, finde ich. Eigentlich kommt kaum ein Kind in Geschichten ohne elterliche/erwachsene Erklärung weg, was auf adultistischen Gesellschaftsstrukturen beruht. Erwachsene denken (und bekommen immer wieder von allen Seiten präsentiert), dass Kinder absolut hilflos sind und Dinge nicht verstehen oder nicht richtig verstehen und immer alles erklärt haben müssen.
Sicher ist das nicht nur falsch – aber in der Repräsentation schlägt es sich dann eben doch auch in Kinderbüchern nieder, in denen es so läuft, wie in meiner Eulengeschichte. Eltern wie Kinder finden sich darin wieder und kaufen solche Geschichten entsprechend (Überraschung- der Kreis ist geschlossen).

Die Eulengeschichte ist allerdings etwas philosophisch und sprachknickerig angehaucht. Da geht es um den Grat zwischen “ausgewachsen” und “erwachsen” sein – um Reife, die manchmal zu vermitteln schwierig ist. Für Kinder, die genau in dem Alter sind, in dem sie lieber stundenlang allein ein Treppenhaus hochklettern wollen, als wie “als sie noch klein waren” getragen zu werden, ist meine Geschichte vielleicht noch nichts. Für Jugendliche, die Dinge tun wollen, die den Handlungen von erwachsenen Personen nahekommen, ist der physische Aspekt des “Auswachsens” vielleicht nicht mehr so greifbar.
Das sind bis jetzt jedenfalls so die Rückmeldungen, die ich mit den Absagen erhalten habe. Es sind die Einschätzungen Erwachsener über die Rezeption von Kindern und Jugendlichen, die sicherlich auch begründet sind, keine Frage. Aber es sind eben nicht die Einschätzungen von den Personen, für die ich die Geschichte geschrieben habe und dieser Aspekt von Perspektive ist es, der eine Rolle spielt und den ich in der Geschichte, die ich jetzt angefangen habe, auch an mir selbst bemerke.

Es geht in der Geschichte um ein Kind, das sich etwas fragt und in einem Traum dann die Lösung findet.
Ich habe bemerkt, dass ich beim Schreiben und Zeichnen immer wieder mich selbst zum Vorbild nehme – obwohl es a) ein Kind ist, das b) einen Rollstuhl benutzt und, das c) in einer Familie (also nicht allein) lebt.
Meine Figur ist weit von meinem (Er-) Leben entfernt und ich sehe die Auswirkungen davon auf meine Ideen. Zum Beispiel wollte ich das Kind im Traum laufen lassen, weil es ja ein Traum ist und ein schöner Traum sein soll. In solchen Momenten bin ich dann froh darum, dass ich so viele Menschen, die Rollis und andere Hilfsmittel nutzen, direkt übers Internet erleben kann, sonst würde ich nicht den Impuls zur Reflektion bekommen haben, was das für eine Quatschidee ist.
Es gibt keinen Grund den Traum so weit von der (Er-)Lebensrealität meiner Figur zu entfernen und so nah an mich selbst heranzubringen, aber die “Verlockung” ist ganz klar da und kommt ja auch nicht aus dem Nichts.

Die “guten” Rolemodels für Menschen, die behindert werden, sind immer* die, die _trotzdem_ (nicht _auch_ ) klar kommen. Es sind immer die, die besonders strahlend von ihrer Lebensfreude und ihrer Kraft sprechen und natürlich “totaaaal normaaaaal” sind.
Sichtbar wird da nicht, dass es sich um Menschen handelt, die ohne (finanzielle) Unterstützungen gar niemals da angekommen wären, wo sie sind. Abhängigkeiten werden nicht als Abhängigkeiten benannt, sondern als Lebensstil oder großartig- fast unmenschlich aufopferungsvolle – Hilfe markiert. So, als hätten diese Personen die Wahl zur Hilfe getroffen, weil sie es wollten – nicht, weil ihr Überleben oder die Sicherung von Lebensqualität und Teilhabe an gesellschaftlichem Leben daran hängt. Also etwas, das man _braucht_ und deshalb will.
Das ist der Unterschied, den Behinderungen jeder Art einfach immer auch mit machen. Die Intension von Entscheidungen, die getroffen werden, haben immer auch mit dem Grad der Abhängigkeit von der Umgebung, in der diese Wahl getroffen wird, zu tun. Natürlich kann ein Rollifahrer zu den Paralympics fahren – wenn er genug UnterstützerInnen* hat, die die Ausrüstung, Hilfsmittel, Training, Transportkosten mitstemmen und er genug Resilienzfaktoren in sich hat, sich durch diese Herausforderung durchzubeißen.
Die Dynamik von Verwertungsinklusion, die derzeit überall gefördert (weil von KapitalistInnen* gefordert) wird, funktioniert auf Diskriminierungsachsen immer gleich und macht keinen Unterschied.

Ich glaube nicht (aber ich irre mich da gern), dass diese “Traum ohne Rollstuhl – Sequenz” bei einem Verlag direkt als schwierig markiert worden wäre, denn da ist ja noch “Heidi”.
Das Heidianime von 1989 – ich liebe es!
Klara war das erste Kind im Rollstuhl, mit dem ich als Grundschulkind in Berührung kam. Dass diese Figur durch das liebevolle Zuwenden und Üben; die gute Alpenluft und ihren Willen am Ende laufen konnte und alle Menschen damit glücklich macht, hat in meinem Bild von Menschen, die Rollstühle benutzen, bis heute eine Spur hinterlassen, an der ich nun als Kinderbuchautorin in Spee herumradiere.

Ich lebe heute allein und Rollstühle sind kein Alltagsgegenstand mehr für mich. Ich bin nicht mehr viel umgeben von Menschen, die körperliche Wuchsrichtungen mit Hilfsmitteln kompensieren (müssen), um sich an andere Menschen bzw. die auf sie und ihre Möglichkeiten ausgerichtete Lebensumgebung, anpassen zu können und ich merke, dass das etwas ist, woran ich mich jetzt aktiv erinnern muss, um nicht eine weitere Geschichte nach dem Heidistrickmuster bzw. mit einer Essenz von “Heidi” zu erzählen.

Das ist ein Faktor, der mich an der Darstellung auch meiner Behinderung nämlich sehr nervt: der Implizit der Veränderbarkeit der Behinderung (und nicht der Lebensumgebung).
Meine Behinderung aufgrund psychischer Faktoren wird immer und immer wieder als eine Phase, ein Lebensabschnitt, als krank (und deshalb von ÄrztInnen* “wegmachbar” oder zum Positiven veränderbar) dargestellt – nicht als etwas, das mich als jemanden sichtbar macht, der aufgrund bestimmter äußerer Faktoren so gewachsen ist. Es wird nicht klar, dass es sich um die Folge von Anpassungsreaktionen handelt, die bis heute und vielleicht auch für immer, wenn auch nicht immer gleich intensiv und umfassend, in mir und meinem Erleben wirken.

In meinen Fantasien über mich selbst, kommt nie drin vor, dass ich ohne Angst bin oder ohne Innens. Wenn ich mir ein Bild von mir in bestimmten Lagen mache – egal, wie fantastisch sie sind: “die Anderen” sind immer da, wie jetzt – meine Belastungsgrenze, meine emotionalen Kapazitäten, sind genauso ausgerichtet, wie jetzt. Meine Lebensumgebung verändert sich- aber ich selbst nicht.
Meine Fantasie sprengt immer nur die Grenzen, die ich auch real sprengen könnte (und sei es in Metaphern) und genau das jetzt bei dieser Kindergeschichte zu beachten.. woah- das ist wirklich überhaupt gar nicht so einfach, wie ich mir das am Anfang vorgestellt hatte.

Ich weiß, dass man in seine Figuren hineinschlüpfen muss, um sie voll und rund wirken zu lassen.
Es ist aber auch klar, dass ich nur so viel “Füllmaterial” mitbringen und positionieren kann, wie ich selbst wahrnehme.
So wird dieses kleine Ausruhprojekt auch eine Lektion in Demut vor meinen Fähigkeiten für mich.

Ich möchte keine Geschichte schreiben in der das Kind besonders ist, weil es den Rolli nutzt, sondern, weil es sich die Frage stellt, die es sich stellt und sich selbst beantwortet. Aber dadurch, dass es den Rolli nutzt (was es tut, gerade weil ich eben keine 08/15 Profitkindergeschichte schreiben möchte) wurde es für meine Vorstellung irgendwie doch wieder beinahe logisch, einen für viele junge wie alte Menschen alltäglichen Gegenstand zu etwas zu machen, das eben nicht so normal ist, dass er auch in einem Traum vorkommt.

Das ist, was Behinderungen zu Behinderungen im Sinne von Hindernissen macht: die eigenen (unreflektierten) Vorstellungen über die Lebensrealitäten anderer Menschen
und das ist, was Kinderbücher dann auch nicht divers macht.

und macht das Teilhabegesetz, dass meine Behinderung sichtbar wird?

klitzeschnecke 2017 soll es dann in Kraft treten: das Teilhabegesetz, welches Menschen mit Behinderungen zu ihrem Recht auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kommen lassen soll.

Ich mache mir seit einiger Zeit Gedanken darüber, wie eigentlich abstoßend es ist, dass die Gesellschaft an deren Rand ich vor mich hinlebe, in unserer Zeit noch immer daran arbeiten muss, Menschen nicht auszuschließen.
Dass ich mir noch immer anhören muss, ich solle mich nicht selbst am Rand ebenjener Gesellschaft verorten.
Dass Menschen mit Hilfebedarf, Hilfe erhalten, aber letztlich auf einer anderen Achse in unter Umständen Hilfe bedürftiger Position gehalten werden.
Dass Menschen durch die
menschenverachtende Praxis von Hilfegewährung zu schwerbehinderten Menschen gemacht werden- dieses aber in der Regel weder wissen, noch Fürsprache erhalten.

Ich lese Berichte über Teilhabe, Behinderungen und Inklusion und fühle mich ausgegrenzt, weil meine Art der Behinderung nie benannt, geschweige denn problematisiert wird.
Immer wieder gibt es diesen Umgang mit dem Thema der Inklusion, der seinen Fokus auf körperliche und/ oder geistige Defizite, die mittels spezieller Assistenz, bestimmter Raumumbauten und technischem Equipment “ausgeglichen” werden, hat.
Es wird über Inklusion gesprochen, doch agiert, als spräche man über Integration und erklärt so – auch ganz ohne Worte – wieso Menschen mit psychisch bedingten Behinderungen niemals in solchen Berichten auftauchen oder gar gehört werden, wenn es um Konzepte für Teilhabe und Zukunft für alle Menschen geht.

Ich komme mir mit meinen Unzulänglichkeiten so oft wie der Sondermüll unter “den Behinderten ™” vor, weil es für mich weder Seelenprothesen noch gesellschaftlich anerkannte Arbeitsumgebungen gibt.
In meinem Fall reicht es einfach nicht, das Klo zu vergrößern, Haltegriffe anzubringen oder den PC umzurüsten.
Um mir zu helfen braucht es, was der Begriff “Humanität” meint und genau das ist ein Problem.

Psychisch begründete Behinderungen werden immer wieder individualisiert und so auf einer Ebene betrachtet, die die Gesellschaft ™ von der Aufgabe das Grundrecht aller Menschen auf Hilfen und Gleichberechtigung zugänglich zu machen, enthebt.
Immer wieder begegne ich Sprüchen wie “Depression? Ja hatte ich auch mal- ich hab Urlaub gemacht und dann gings wieder. Depressionen haben ja alle irgendwann mal- hast du das gewusst- ist total normal so ne Depression” oder “Traumafolgestörung? Noch nie von gehört- aber ich kann mir vorstellen, dass dein Leben nach dem Trauma, nie wieder sein wird wie vorher. Da muss man sich durchbeißen und du schaffst das auch- du bist so ne starke Persönlichkeit!”.
Wenn ich solche Gespräche führe, blinkt in meinem Kopf ein Leuchtschild, dessen Schrift ich manchmal gerne durch meine Stirn hindurch leuchten lassen würde, einfach, weil ich zu beschäftigt bin, darüber nachzudenken, ob es sich nun lohnt diesen Menschen über seinen Ableismus und seine Ignoranz aufzuklären, um mein Missfallen laut zu äußern.

Ich erlebe es als großen Mangel, dass Menschen mit psychisch bedingten Beeinträchtigungen keine FürsprecherInnen haben, weil Individualismus und das dazugehörige Stigma noch immer so massiv um sich greift.
Für mich begänne gesellschaftliche Teilhabe an genau diesem Punkt: Teilhabe am öffentlichen Diskurs um Inklusion

Meine Kämpfe um Autonomie und Lebensqualität sind so eng mit der Gesellschaft ™ verbunden, dass eine Wortmeldung immer wieder mehr als symbolische Rampeneinweihung, Blindenschriftkurse für alle oder Werkstättenaufbaufinanzierungen zur Folge haben muss.
Oh weia.
Dann müsste neu über die Krankenkasse als Bürokratie um Menschenleben gedacht werden. Medizinische und auch therapeutische Ethik müsste ihre Themenfelder auf allgemeine Zugänglichkeit erweitern. Wir würden plötzlich über marktwirtschaftliche Barrieren sprechen, die sich allein aus bereits bestehenden Diskriminierungen entspannen und immer wieder neu entwickeln.

Wir würden tatsächlich darüber sprechen, dass Geld einen abstoßend menschenverachtenden Gradmesser in der Frage nach lebenswertem Leben darstellt.
Ja, wir müssten uns der Frage nach lebenswertem Leben stellen.

In der derzeit öffentlichen Debatte um Inklusion von Menschen mit Behinderungen gibt es diese Haltung von “Nein, nein- Menschen mit Down-Syndrom sind nicht wertlos- sie können noch arbeiten! Und schau mal hier: dieser Mensch im Rollstuhl kann ebenfalls noch super arbeiten, wenn man nur diese und jene Barriere wegnimmt!”
Es geht um (Weiter) Ver _ Wert_ ung, Leistung – diesen Traum von “Wenn du nur willst- wenn du dich nur anstrengst- wenn du nur arbeitest und irgendetwas aus dir machst- dann bist du jemand und deine Existenz hat einen Zweck. So wirst du zur Stütze unserer Gesellschaft und ergo völlig inkludiert.”.

Wie unsere Gesellschaft derzeit mit genau der Frage nach dem Wert des Lebens umgeht und welche Preise sie für die Nichtbeantwortung zu zahlen bereit ist, ist aktuell sowohl in der noch immer krassen Situation der Hebammen, wie in der letzten Planung des GBA in Bezug auf die Psychotherapierichtlinie zu erkennen.

Es geht darum das Minimum zu investieren und das Maximum herauszuholen. Wer dem nicht entsprechen kann, fällt raus und braucht ein Gesetz um noch – nun seien wir doch ehrlich- mindestens im rein kostenverursachendkonsumierendem Teil der Gesellschaft ™ existieren und dies als “Teilhabe” bezeichnen zu dürfen.

Meine gesellschaftliche Teilhabe begänne mit Sichtbarkeit, Entstigmatisierung, dem Ende der Pathologisierung, Schutz vor Gewalt, aller Hilfegewährleistung und der Anerkennung (und Wahrung) meiner Würde in Kontexten der Hilfen.
Das ist eine ziemlich lange Liste, die ich in weiten Teilen auch mit allen Menschen gleich bereits jetzt teile.

Das ist ziemlich peinlich für ein Land, das bereits 2007 die Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat und seit 2009 verpflichtet ist, ihr nachzukommen.