’stuck in time‘

Zuletzt hatten wir es mit Innens zu tun, die an Dinge glauben, die nicht real sind. Das schreibe ich so, weil ich nicht „Blödsinn“, „Lügen“ oder „Traumawahrheiten“ sagen will, denn weder weiß ich näheres über ihre Ansichten noch bin ich mir schlüssig darüber, worum es dabei ~wirklich~ /eigentlich/ in WAHRheit geht.
Ich bin mir nur in einem sehr sicher, nämlich, dass sie deshalb irgendwie falsch sind. Besonders gefährlich vielleicht. Besonders böse. Besonders schlecht. Und peinlich. Doch gerade habe ich mir das neuste Video der CAT Clinic auf YouTube angesehen. „When alters (in OSDD and DID) are ’stuck in time‘
Vielleicht bin ich selber stuck in time, wenn es um Innens wie diese geht, dachte ich. Und ehrlich gesagt halte ich es sogar für sehr wahrscheinlich, je länger ich jetzt darüber nachdenke.

Erzählungen wie die in dem Video oder auch in manchen Fachbüchern produzieren den Eindruck, dass Innens sich für oder gegen die Realität entscheiden, weil sie sich nicht sicher fühlen. Sie misstrauen dem Neuen und halten deshalb lieber am Alten fest. Sie brauchen das Gefühl des Willkommenseins, der Akzeptanz und man sollte sie liebevoll in der Gegenwart aufnehmen.
Schon bei der Aufzählung habe ich den Wunsch, ein Kotzgeräusch zu machen. Nicht, weil ich die Vorstellung irgendwie kitschig oder romantisch verklärt finde (das auch, aber das würde mich nicht so in die Abwehr bringen) – sondern irgendwie auch voll colonizer style. Invasiv. Übergriffig. Als müsste ich in einem Panzer voller Liebesbomben sitzen und nur gut genug zielen, dann würde schon alles klar gehen.

Ich habe generell ein Problem damit, wie häufig über Kinderinnens oder auch jugendliche Innens gesprochen und gedacht wird, weil sie oft als niedlichere Personifikation des traumatisierten Opfers verhandelt werden oder als unberührte Unschuld, reinweiß und shiny in jemandem, die_r das ganze Leben durch den Dreck geschliffen wurde und nach Blutschweiß stinkt. Obendrauf kommt dann oft noch ebenjener Anspruch, sie in ihrer Perspektive doch bitte anzufassen zu verändern, weil wegen Realität und Gegenwart und isso, musso, iswichtigweildeshalbso.

Ich bin an diesem Anspruch gescheitert. Immer wieder. Das war meine, damals unsere, Existenz. Ich sitze vor einer Therapeutin, die vermittelt mir: „Da ist jemand, der_m wurde etwas eingeredet/die_r weiß nicht, dass es heute vorbei ist/die_r denkt, wir hätten 19 hundertxundneunzig – jetzt mach mal. Mach anders.“ Und alles, was ich machen konnte – like actual Können, war wegmachen. Unsichtbar. Klappe zu, Auslöser für den Wechsel zu diesen Innens vermeiden. Von einem Innen, das gut sprechen kann, zu einem System von Innens werden, das die Gegenwart kennt, vom eigenen Vielesein weiß, aber die Bedeutung dessen überhaupt nicht in sich bewegen kann, weil es immer wieder scheitert und scheitert und diese Wiederholung gut 9 Jahre durchlebt, bis es sich traut zu sagen, dass es immer wieder scheitert, weil es anders nicht funktionieren kann als vermeidend.
Daran habe ich in den letzten Jahren gearbeitet. Innerhalb meines Funktionssystems erfolgreich – vielleicht vermutlich sehr wahrscheinlich, weil ich darin niemanden groß in die Gegenwart lieben musste – außerhalb dessen, mit Basiserfolgen. Es macht mir keine Todesangst mehr Kinderinnens oder Jugendliche überhaupt irgendwie wahrzunehmen und es ist auch seit Jahren nicht mehr das schlimmste, was mir in der Therapie passieren kann, wenn jemand von ihnen dort auftaucht. Es ist weiterhin schlimm und ich darf nicht zu viel darüber nachdenken, aber ich klappe nicht mehr komplett in mir selbst zusammen und kann begreifen, was meine Therapeutin mir sagt, wenn sie sagt, dass es okay ist, wenn andere als ich mit ihr sprechen. Ich weiß, dass das in Anbetracht der Therapiedauer eigentlich erbärmlich ist, aber wenn ich mich selbst als Innen denke, das „in der Zeit stecken geblieben ist“, dann kann ich anerkennen, dass es schneller einfach gar nie hat gehen können.

In all den Fallgeschichten von Vielen sind gescheiterte bis traumatisierende Therapieversuche, misslungene Behandlungen oder grob schlecht behandelte Patient_innen nie Thema. Nur selten wird aufgearbeitet, warum Therapieansatz X für Patientengruppe A bis D konkret nicht funktioniert hat und soweit ich weiß, hat es noch nie eine Studie dazu gegeben, welche Auswirkungen schlechte, falsche, traumatisierende Psychotherapie in Menschen mit DIS hat.
Restpatient_innen wie mich gibt es in der Literatur nicht. Erst wieder als Patient_innengruppe für Behandlungsform/verfahren XY, die genau so definiert ist, dass unsere Vorbehandlung und ihre Folgen weder abgefragt noch sonstwie zu relevanten Markern werden. Die Praktizierenden der Traumatherapie befassen sich einfach nicht mit ihren Opfern Fehlern und das hat Auswirkungen auf sehr vielen Ebenen.

Manche davon habe in diesem Blog schon oft angerissen und ich will das jetzt nicht alles wiederholen, vor allem, weil ich in diesem Text einen anderen Punkt ausdrücken will. Nämlich, dass mir durch die Rahmung von außen immer vermittelt wurde, ich wäre orientiert. Ich wäre der funktionale Anteil. Die_r Erwachsene. Die_r Fähige. In vielen Punkten stimmt das – in manchen jedoch überhaupt nicht und das geht immer wieder unter. Besonders dann nämlich, wenn wir an Punkte kommen, die mein Entstehungstrauma berühren: Die Konfrontation von „verwirrten“/“unfähigen“/“hilflosen“/von mir nicht gezielt ansteuerbaren Innens im Kontext der Traumatherapie.
An diesen Stellen bin ich einfach nicht fähig. Da bin ich 16 Jahre alt und verstehe nicht im Ansatz, was die Erwachsenen um mich herum von mir zu kapieren verlangen – Vielesein, Dissoziation, Du erinnerst dich nicht, aber…, Wir helfen dir mit Fixierung und Betäubung, Du bist hier sicher, eingesperrt in einer Psychiatriestation – und bin so abgrundtief verloren in dem Auftrag etwas zu „reorientieren“, ohne zu wissen, wohin diese Re_Orientierung gehen soll; zu lieben, als etwas von mir willkommen zu heißen, obwohl (und weil) es doch irgendwie dafür verantwortlich ist, dass ich keine Familie, kein Zuhause, keine Gegenwart außerhalb der Psychiatrie mehr habe und deshalb erst recht keine Zukunft.

Und wie ist es jetzt. Meine Therapeutin fordert mich seit Jahren immer wieder dazu auf, zu differenzieren. Ich soll einen Unterschied erkennen zwischen damals und heute, als würde diese Erkenntnis etwas mit mir machen. Das passiert aber nicht. Ich sehe den Unterschied. Bin informiert. Bin orientiert. Aber Kenntnis allein bedeutet nicht auch Befähigung. Bedeutet nicht auch Ermächtigung.
Mal abgesehen davon hat es oft auch einen Anteil von Bagatellisierung dessen, was mich traumatisiert hat. Es ist immer auch eine Art drüberwischen und manchmal auch der Anspruch an mich etwas zu abstrahieren, was ich ohne Unterstützung nicht zu abstrahieren schaffe. Dieser Aspekt wurde im Video auch angesprochen und das hat mir ermöglicht, mich als „feststeckend“ zu überlegen, obwohl ich kein „Kind im Trauma“ bin. Kein_e „Jugendliche_r im Körper eines Erwachsenen“. Kein „von Täter_innen produzierter Anteil, der nicht wissen darf, dass alles vorbei ist“ oder jemand aus irgendeiner anderen Kategorie, die immer wieder benannt wird, um traumareaktives oder -antizipatives Verhalten zu rahmen.
Ich bin ein von schlechter Traumatherapie gemachter Anteil, der in Traumatherapie ist. Für mich kommt niemand aus dem System und betüddelt mich mit Gegenwartszucker, da bin nur ich. Und meine Therapeutin.

Ich spüre vor allem Druck, ihr doch endlich zu vertrauen. Druck, doch endlich zu glauben, dass heute alles anders ist, obwohl sich außer die Repräsentation (nämlich die Person, die therapeutisch mit mir arbeitet) überhaupt gar nichts von dem verändert hat, was mich damals in diese Lage brachte. Nichts und niemand außer mir schützt mich seit 20 Jahren davor wieder für Jahre in einer Psychiatrie eingesperrt zu sein, weil mein Inneres für zu desorientiert, desinformiert, w.irr, krank gehalten wird, um so gelassen zu werden wie es ist.
Und niemals steht das als Frage im Raum. Ob sie tatsächlich desorientiert sind oder sich anders orientieren als erwartet. Ob ich sie vielleicht erstmal kennen.lernen darf, bevor ich irgendwas an ihnen mache oder ihnen irgendwas einrede, was ich in seiner Bedeutung und Auswirkung für sie überhaupt nicht einschätzen kann. Geschweige denn, ob die das überhaupt wollen.

Ich kann sehen, dass mein Misstrauen alt ist. Ich kann sehen, dass es im Hinblick auf das Verhalten meiner Therapeutin nur ein Mal berechtigt war. Aber wie da raus, wenn die Gegenwart des Heute, der Gegenwart von damals so ähnelt? Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der Ver.rückte einfach sein dürfen. Wo Zwangseinweisung und -behandlung als (traumatisierende) Gewaltverbrechen verstanden werden. Ich habe keinen Grund, keine Angst zu haben. Keine Sicherheiten, die mir nicht genommen werden können.
Ich treffe hier keine aktive Entscheidung gegen die Gegenwart oder die Realität.
Es ist die Gegenwart, die Realität, die mich an diesem einen Punkt „stuck in time“ hält.

Sometimes you have to do things scared

Es ist 5 Uhr, mein Wecker klingelt. Heute fahre ich zur anderen Schwimmhalle. 8 Kilometer mehr, 30 Kilometer weniger, die ich allein auf überwiegend landwirtschaftlich genutzten Straßen fahre.
Kaffee, Sportfrühstück, letzter Check des Rucksacks und los. Es regnet, ist so dunkel, dass ich zum ersten Mal vorsichtig zum Auto tapse.

Das Schwimmen gibt mir viel Kraft, sonst würde ich das hier nicht auf mich nehmen. 30 Minuten weniger Schlaf, weniger Sicherheit über die Reichweite des Autoakkus, einen neuen Ort so ganz allein erforschen. „Sometimes you have to do things scared“ – wahrscheinlich eine völlig bescheuerte Instagramwahrheit, aber treffend ist sie. Ja, manchmal, oft, vielleicht in Wahrheit immer muss man Dinge tun, während man Angst hat. Nicht obwohl und auch nicht weil, sondern mit.
Also fahre ich los und schon 10 Minuten später kommt mir jemand entgegen, der sein Fernlicht nicht ausschaltet. Der erste Flashback. Ich zwänge mich darunter, um den rechten Seitenstreifen nicht aus den Augen zu verlieren, während ich den Rest meines Körpers starr halte, um das Auto nicht aus der Spur zu bringen, nur weil ich es bin. Es dauert bis es vorbei ist. Der Krampf im Zwerchfell, der saure Geschmack unter der Zunge, der Druck über den Augen. Die Angst, die Dinge, die sich mir mental aufdrängen, könnten Bilder, könnten geistige Fotografien der Realität sein, mischt sich in meine Fahrangst.

Noch fahre ich auf bekanntem Terrain, neu ist hier nur die Nachtansicht. Ich halte an, lasse vor, halte mich rechts, lasse sie alle ziehen. Bitte fahrt von mir weg, denke ich. Lasst mich hier langkrebseln, ich will nur Abstand von euch. Jemand in mir fängt an, aus dem Satz einen Songfetzen zu reimen, wie es der Partner oft tut. Mit ausladender Helene Fischer-Geste trällert es: „Ich will nichts außer Abstand zu dir my daaaaaarling …“
Das ist lustig. Hilft.

In der nächsten halben Stunde werde ich noch zweimal geblendet und dreimal gefährlich überholt. Ein Mal fährt mir jemand in einer 30er-Zone fast vorne rein, weil sie_r dachte, man könne die scharfe Doppelkurve durch die Ortschaft schneiden. Der Abstand-Schlager in meinem Kopf ist ein Rap geworden und wird von wüsten Gesten begleitet. Meine Erwartungen an die Schwimmhalle steigen. War es mir vorhin noch egal, wie sie ausgestattet und finanzierbar ist, so will ich jetzt mindestens eine halbe Bahn für mich allein und einen Ticketpreis unter 4 €. Meine Angstüberwindung soll sich lohnen, ich bin zu einem Psychokapitalisten geworden. Ohne Gewinnaussicht keine Bereitschaft zur Angstaushaltung – no gain, no service. Ob ich langfristig damit durchkomme?

Ich denke an die Therapie und daran, dass ich in nächster Zeit, in Wahrheit schon morgen, etwas in Angst tun muss. Und dass ich differenzieren muss. Hier auf der Straße kann mir meine Angst das Leben retten – in der Therapie jedoch das Leben kosten, das ich führen könnte, wenn ich bearbeitet habe, was dafür nötig ist.
Meine Angst im Straßenverkehr ist oft Todesangst. In der Therapie habe ich es mit Angst zu tun, die mich vor Todesangst schützt. Vordergründig habe ich Angst, angsteinflößend zu sein. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Angst vor Entblößung. Angst vor Un- oder Missverständnissen. Angst vor mir. Angst vor einer Angst der Therapeutin zu schaden. Angst vor Flashbacks, vor Panikgefühlen, vor Angst. Vor der Auflösung von Zeit und Raum, die mich schluckt und vielleicht nie wieder ausspuckt.
Ich weiß, dass das alles Todesängste sind. Weiß, dass ich meine Therapie nie ohne Angst gemacht habe und sich das vielleicht auch nie ganz ändert. Aber ich erlebe sie oft als Grundlage, selten als Zusatz. Mir ist selten wirklich bewusst, dass ich aus Angst die Konfrontation mit meinen Traumata vermeide, Gedanken verschweige, Themen unterschlage, Richtigstellungen aufschiebe – es ist einfach so viel leichter auf der Oberfläche der Psychologisierung zu bleiben und es „Vermeidung“ zu nennen. Eine extrem funktionale Komfortwahrheit ist das. Sich selbst des Vermeidens für schuldig erklären, um nicht in aller Angst erkannt zu werden, die so viel tiefgreifender, wortloser, ohnmächtig machend wirkt.

„let’s talk about Abstand baby – let talk about your abstand to me – let’s talk about you need an MPU …“ Ich stelle das Auto auf dem Parkplatz ab und atme durch. 10 Minuten zu früh, der Regen hat nicht aufgehört. Kurzer Infoschnack mit den Frühschwimmer_innen und schon geht es weiter. Die Halle enttäuscht mich, aber das war ja klar. Es ist voll, viel enger als in der anderen. Die Dusche ist scheiße, aber die Schränke sind größer. Ich kaufe mir viel Schwimmzeit, um mich zur Wiederkehr zu zwingen. Der Winter wird lang, der Stress nicht weniger.
Auf dem Nachhauseweg ist mein Körper weich und warm, ich fühle mich stark und fähig. Jetzt kann ich things auch scared machen, diesmal ist die Rechnung aufgegangen.

Fundstücke #83

Gespürt habe ich es schon am Mittwoch bei der Blutspende. Aber der übliche Huch-der-Arm-ist-voller-Narben-Sozialtanz hatte mich abgelenkt. Nun steige ich durch die Wildpflanzen vor unserem Haus und spüre den Schwindel wie Fahrtwind. Ich konzentriere mich auf mein Ziel. Freie Fläche für das vom Partner geschenkte Gewächshaus schaffen. Nächste Woche kommen Gemögte zu Besuch und dann bauen wir es auf. Bei dem Gedanken daran steigen kleine weiche Bläschen in mir auf. Das wird schön.

Also weiter. Ich greife nach den verblühten Pflanzen, ziehe sie aus dem trockenen Sandboden und schüttle sie vorsichtig aus. Entdecke Insekten, spüre F. wie einen Klumpen durch meine Adern wandern als sie_r Fotos macht und weiß nicht, ob ich mich übergeben muss oder gleich ohnmächtig werde, als ich aufstehe, um die Pflanze in die Schubkarre zu legen. Dann kommt der Menstruationsschmerz im Unterkörper und der Flashback im Oberkörper als real in meinem Bewusstsein an.

Ich bin verschwitzt, meine Füße stecken unbeweglich im letzten klassischen Schuhpaar, das ich habe. Es ist schwül, immer wieder kommen Nachbar_innen, die wir nicht kennen, mit ihren Hunden an uns vorbei. Schauen mich an, schauen weg. Gehen weiter. Ich denke mich flackernd zwischen Hier und Woanders, beobachte mich weiter nach Pflanzen greifend. Wieder stehe ich auf, wieder erfasst mich der Schwindel, diesmal wanke ich nicht. „Rein. Hoch. Ausziehen. Waschen. Abtrocknen. Anziehen. Wassertrinken. Hinsetzen. Pause. 10 Minuten“. Ich schlage die Worte zu Etappen des Handelns in den Treibsand meines Fühlens. Arbeite sie ab und merke wie sich an der inneren Gegenbewegung andere formen. R. auf jeden Fall, aber auch K. und W. „Klar“, denke ich, „alle, die Angst davor haben zu fallen, aus Angst, sie würden nicht wieder aufstehen (und abwehren) können.“

Das Wasserglas in der Hand betrachte ich die geschaffte Arbeit von oben. Es ist nicht mehr viel. Ich kann es noch vor dem Besuch schaffen. Und wenn nicht, dann muss der Aufbau etwas warten. In meinem Kopf entwickeln sich alternative Pläne, etwas Entspannung, in meiner Hand finde ich eine Schmerztablette.

Als die Hunde den Partner aus dem Bett genervt haben, stehe ich im Tomatenurwald. Es schmerzt weniger, der Schwindel macht mir keine Angst mehr. Später kann ich mich sogar hinlegen, ohne eine Erinnerungsmine auszulösen. Noch später anerkennen, dass ich mich gerade richtig gut schlage. Und noch später begreifen, woran ich mich erinnere.

Zeitsplitterbomben

„Erinnerungen sind wie Zeitbomben“ – ein Zitat eines Zitates in der Podcastserie „Vor aller Augen“ der Süddeutschen Zeitung. Renate Bühn spricht über ihre Erfahrungen, es ist die 5. Folge. Endlich spricht ein Opfer und rückt die Taten und Täter_innen, die Ermittlungen und Strafprozesse aus dem Fokus.
Ich sitze am Bahnhof. Die Sonne scheint, hinter mir liegt eine Therapiestunde, ich fühle mich wie ein Zeitsplitterbombenopfer. Übersät, durchdrungen, übriggeblieben.

Am Ende war es darum gegangen, dass eigentlich immer das Gleiche passiert ist. Eigentlich wurde immer jemand verletzt und das wars. Ganz abstrakt ist das alles, was passiert ist. Eine Sache, ganz kompakt. Also eigentlich … nichts.
Die Haare auf meinen Unterarmen zittern im Wind wie die Halme des verbrannten Grases überall. Im Podcast sprach man über ungeahnte Ausmaße, über Materialmassen, die nur mit erheblichem Aufwand und persönlichem Einsatz händelbar seien, ich spreche mit mir selbst darüber, wie erbärmlich meine Erleichterung über den Gedanken ist, dass sich heute vermutlich kaum noch analoges Material im Umlauf befindet. „Terabyte von Material“, immer das gleiche und gleiche und gleiche, immer wurde jemand verletzt und das wars.

„Terabyte Nichts, oder was?“ Eine schwere Stirn schiebt sich in meine, zerbröselt meinen Fluchtweg in die Vermeidung.
Nein, nicht Nichts. Sowieso nicht. Aber vielleicht haben wir ein Splitter-, ein Fragment-, ein Müsliproblem? Ich fühle mich merkwürdig verbunden mit den Polizist_innen und ihren Helfer_innen in der Datenauswertung. Terabyte Splittermaterial von Gewalt, die über Stunden, Tage, Monate, Jahre passiert ist, landet Festplatte für Festplatte auf ihrem Arbeitsplatz. Ein Ding, eine Zeitsplitterbombe aus dem Leben eines Opfers, die beschriftet, gesichtet, sortiert, und archiviert wird; von mehreren Beamt_innen, die das Opfer nie kennenlernen werden, nie anders mit ihm zu tun haben werden, als in größter Not, schwerster Pein. Opfern, die für die Sortage mit dem Splittermaterial in ihnen drin vielleicht zur Psychotherapie gehen. Wenn sie einen Platz bekommen. Und dort sortieren dürfen. Können. 50 Minuten pro Woche, bis die Krankenkasse nicht mehr zahlt.

„Wir haben Terabyte Material in uns drin“. Das denkt R., ich fühle es. Wir spüren einander beim Trinken, trennen uns wieder, als eine Lautsprecherdurchsage durch die Kopfhörer schießt. Es ist immer das gleiche und gleiche und gleiche. Und es ist immer wieder etwas. Etwas noch mehr. Etwas wieder schlimmes. Etwas ((schon) (wieder)) unaushaltbares. Etwas anderes. Etwas mit jemand anderem und deshalb neu, anders, wieder gleich und gleich und gleich.
Und wir haben nur uns, das zu sichten. Zu sortieren. Nur unser Gehirn als Archiv zur Verfügung. Und die Splitter sind überall. Nicht alle kann ich fühlen. Von vielen weiß ich nicht einmal. „Und die meisten lässt du bei uns. Als wenn wir deine Polizei wärn, aber in Wahrheit sind wir …“
Sie sagts nicht. Denkts auch nicht. Kanns genauso wenig aushalten wie ich. Der Zug fährt ein, wir schalten um auf Musik.
calm like a bomb“.

Worte

Am Morgen lag ein Amselweibchen neben meinem Schreibtisch. Die Augen geschlossen, die Schnabelspitze in einer kleinen Blutlache. Tot.
Sie musste in den frühen Morgenstunden durch das offene Flurfenster und gegen das nur gekippte Bürofenster geflogen sein.
Ich legte sie mir auf den Schoß und öffnete mir einen Raum zu verstehen, was passiert war. Ein Unfall. Eine Tragödie. Etwas, was noch nie passiert ist, ist passiert und endete unglücklich. Tödlich. Endgültig. Für immer.

Ich wartete auf F.. Wusste, dass sie ein Foto machen wollen würde. Dass sie sie anfassen wollen würde. Wusste, dass „tot sein“ in ihrer Kinderinnenwelt etwas anderes ist. Dass sie einen unbewortbaren Unterschied zwischen all den toten Meisenküken, Spatzenkindern, Rehkitzen, den gestorbenen Hunden und Katzen, Igeln und Füchsen, die sie schon fotografiert hat und ihrem Sterben in Gewaltsituationen macht, aber beides „tot sein“ nennt.

Wir haben in den letzten Wochen viel mit F. gearbeitet, weil der Krieg viele Traumawahrheiten hochgespült hat. Viele Pflichtgefühle, Verantwortungsübernahmen, Verwirrung und Unsicherheit. Tod und Sterben tauchten dabei immer wieder auf und immer wieder die Idee, der Gedanke, das Konzept eines unendlichen Sterbens. Eines, das kommt und geht, passiert und in scheinbar anlassloser Geburt endet. Eben, das Sterben, das ein chronisch dissoziierendes Kind erlebt, das ohnmächtig wird, weil der Schmerz zu groß ist. Das den eigenen Tod entsprechend vielleicht gar nicht schlimm findet, weil es ein Ende von etwas ist, das es nicht selbst beenden kann.
Es verändert das eigene Leiden; es entsteht eine ganz andere Todesangst, wenn man weiß, dass es ein Ende gibt, das nicht wirklich das Ende ist. Eine ganz andere Bereitschaft zum Leben in Gewalt und unter Menschen, die sie ausüben.

Ich wollte ihr das nicht nehmen. Und hatte doch keine andere Wahl, denn wir leben nicht mehr unter Menschen, die uns in die Ohnmacht quälen oder wie selbstverständlich oder zwingend nötig verletzen. In unserem Leben heute, braucht sie die Sicherheit um diesen Ausweg nicht mehr. Es gibt andere Sicherheiten. Etwa die, dass sie überlebt hat. Dass es vorbei ist. Dass sie nie wieder so sterben muss wie früher, weil sie nie wirklich gestorben ist.

Unsere Therapeutin hatte immer wieder versucht, ihr das klarzumachen. In der letzten Stunde entstand ein kleiner Raum um die Worte Tod, Sterben und tot sein. Ein „Frau N. sagt …“ -Raum, der mit seinen Inhalten besteht, aber noch keine Verbindung mit den inneren Räumen hat.
Die tote Amsel hat die Verbindung hergestellt. Eine gleichzeitige Präsenz der Worträume ermöglicht und mit meinem Verstehen verknüpft.

Die Amsel ist tot. Für immer. Das ist deckungsgleich mit dem, was Frau N. über das Sterben, den Tod und das tot sein gesagt hat. Es ist nicht, was sich für F. wie Sterben und tot sein angefühlt hat.
Was F. über ihr Gefühl gesagt hat, ist ein Vergleich. Keine Benennung. Ihre Worte eine Art geistiges Pflaster, damit etwas ist, wo sie nichts hat, spürt, konkret beworten kann. Vielleicht, weil sie damals dissoziiert war, vielleicht weil der Schmerz keine andere Reizinformation mehr aufzunehmen möglich gemacht hat.
In jedem Fall ist es eine Kompensationsstrategie zur Vermeidung (gewesen). Sowohl in Bezug auf die Gewalterfahrung als auch die Dissoziation. Genau wie ich hat sie eine Lücke mit Worten geschlossen, weil es keine gab und vielleicht auch nie gibt.
Ich weiß, dass ich damit eigentlich einen Gegensatz beschreibe, aber es ist keiner. Nicht wirklich. Ich kann es nur nicht anders beworten.

F. hat das Foto gemacht. Einige Stunden später haben wir mit der Therapeutin gesprochen. Ich merke Verschiebungen und Auflösungen in mir, die ich nicht beworten kann. Muss mich immer wieder aus jugendlichen Furcht- bis Angstkreiseln lösen, die Therapeutin könnte von mir verlangen Worte zu finden, die ihr Verständnis ermöglichen. Immer wieder merke ich, wie sehr es mich be.trifft, belastet, verzweifelt mich nur über Worte verbinden zu können. Nie mein Empfinden, mein Verstehen konkret teilen zu können.

Trauma wird oft mit Sprachlosigkeit verknüpft. Irgendwie scheinen sich alle damit abgefunden haben, dass Überlebende immer auf einem Stück Sprachlosigkeit für ihre Wunde sitzen bleiben. Als müsse man einfach akzeptieren, dass man nicht alles benennen kann oder manches einfach mit Worten nicht zu fassen ist.
Ich hingegen finde eigentlich für alles Worte und denke mir welche aus, wenn es keine gibt. Aber das ist nicht das gleiche wie Verstehen, Verbindung – etwas sagen.

Worte sind wie Brotkrumen, dachte ich später an dem Morgen, nachdem mir aufgefallen war, dass die ersten Worte des Partners über die tote Amsel die gleichen waren wie meine: „Oh nein“.
Sie sind ein Hinweis. Eine Fährte.
Nicht mehr, nicht weniger.

Leider.

die letzte Etappe

Ich saß in Emden. Gerade angekommen, mariniert in Sonnencreme-Rest und eingeschweißt von 42 Kilometern auf dem Fahrrad. Am Morgen hatte ich den Rücken eines verirrten Schafkindes berührt, nun zupfte ich mein T-Shirt vom Rücken. Die Sonne stand hoch, die Bedeutung dessen, was der Fahrradhandwerker zum Raspeln meiner Kette sagte, sickerte langsam ein.

Meine Radtour würde nun also ihr Ende finden. Noch die gut 23 Kilometer bis Greetsiel, dann ist Schluss. Kette verschlissen, Ritzel hin, am Montag in die Werkstatt.
Ich kaufte mir ein Eis, ein anderes als sonst, damit die außerordentliche Andersheit dessen, was Urlaub ist, nicht von meiner Routine beeinflusst wird. Denn das soll es ja sein: Ein Bruch, ein Anders, ein Raus aus dem Wieimmer. Die geplante Überstrapazierung der Kapazitäten zwecks ultimativer Energiereservenentleerung, mit dem Ziel zu schauen, was sie aktuell effektiv wieder auflädt und was nicht. Ich kann mir so etwas nur im Urlaub erlauben – im normalen Alltag ist so eine Versuchsanordnung, so eine Forschungsstrecke kaum möglich. Viel zu viel Ablenkung, viel zu viel Anpassungsdruck.

Mit geringer Energiereserve steigt meine Triggerbarkeit, es sinkt aber auch die Anzahl der Fucks, die ich auf meine Anpassung gebe, um damit umzugehen. So bewegte ich die Kiwischeibe in meinem Mund herum und spuckte sie aus, als mir das Knirschen der Kernchen im Mund zu unangenehm wurde. Eine Person in luftiger Sommerkleidung schaute mich an. Neutral vielleicht. Oder nicht? Sie wandte den Blick ab, ließ mich ohne weiteren Hinweis auf ihre Gedanken und Gefühle zurück. Ich hob das Eis an meinen Mund und erinnerte mich an meine Mutter. Eis essen und Kaffee trinken gehen. In der Innenstadt. Ein Mal im Sommer, ein Mal im Herbst oder Winter. Beim zweiten Mal definitiv nach der offiziellen Anerkennung meiner Klatsche. Sie hatte mir Fragen gestellt, meine Antworten haben sie fast zum Weinen gebracht. Ich war ehrlich, sie überfordert.

So wie ich mich gerade fühlte, hat sie sich vielleicht damals gefühlt. Was geht in dir vor?
Und ich, damals wie heute, fast ertrinkend und erblindet im Geklapper von Tassen auf Tellern, Gesprächen und dem Glockenspiel direkt über uns. Bemüht, aber unzureichend. Bindungswillig, aber unfähig. Das Eis lecker, der Kaffee gut, die Sonne schön, die Zeit mit einem Elter allein, ganz wunderbar – und zerreißend schlimm. Weil die Kluft einfach da ist. Unüberwindlich. Die Dissoziation der Gewalt, das Alter, die Er_Lebensrealitäten. Meine Welt war noch so wortlos und ihre Versuche nach mir zu greifen, mich zu halten vielleicht, so vergeblich. Nicht weil ich ein bockiger Teenie war, nicht, weil sie schon allein zum Selbstschutz gar nicht so richtig wirklich mit mir verbunden sein konnte, sondern einfach nur…
weil da etwas fehlte.
Nicht Liebe. Nicht Zugehörigkeit. Und auch nicht der Wille zum Miteinander.
Sondern einfach … dieser eine Klick.
Vielleicht der letzte Dreh, das letzte kleine Ruckeln oder Drücken, das Zahnräder verbindet, Puzzle zusammenfügt, B auf A folgen lässt.
Kurz lasse ich mich in den Lärm fallen. Löse mich auf und nehme der Erinnerung seinen Druck.

Satt, eingelitscht und nachgeweisst wie eine griechische Häuserfassade sitze ich wieder im Sattel. Meine Elternobligatorik durchgehend vergebe ich mir diesen Routinendurchbruch. Es gibt keine Alternative zu: „Es ist wie es ist.“ und auch keine zu: „Es gibt nichts, was ich tun kann, damit meine Eltern und ich so verbunden sind, wie ich es mir wünsche.“
Aber es gibt eine Alternativroute nach Greetsiel.
Und die puckle ich dann auch lang.

Wofür

Kleben blieb, dass sie sagte „Vielleicht ist es gut, wenn Sie sich in Erinnerung rufen, wofür sie da raus sind“.
Weil es ein wunder Punkt ist. Etwas, das mir lange das Gefühl gab, ich könne meine Situation nicht mit der von Menschen vergleichen, die aus komplett abgeschlossenen Gemeinschaften oder Gruppen ausgestiegen sind.

Ich bin da nicht raus, weil ich einen Vergleich angestellt habe und fand: „Ja, nee, draußen ist schon besser für mich. Da bin ich frei, Freiheit ist cool, ich will coole Freiheit.“ Am Anfang meines Lebens „draußen“ stand keine Möglichkeit mir aufzuzählen, was ich jetzt alles darf und vorher nicht. Ich durfte immer alles tun oder nicht tun. Die Grenzen unter denen viele Aussteiger_innen aus „high controlling groups“ gelitten haben, habe ich gesucht, habe ich verlangt – ziehe ich mir heute in mein Leben um Halt und Orientierung zu haben. Mein Leben im Kontext organisierter Gewalt war nicht die Hölle und hat sich, was den täglichen Energieaufwand, die Zermürbung, die seelenzerquetschende Inkongruenz zwischen mir und dem Rest der Welt betrifft, ehrlich gesagt nur im Framing des Leidens darunter unterschieden. Jedenfalls soweit ich mich daran erinnere.

Viele sprechen von ihrem Ausstieg als eine Art Ausbruch aus einem Kerker – ich habe viele Jahre nur in einem Hundekäfig schlafen können, weil es der Rahmen war, in dem ich überhaupt Entspannung finden konnte. Ruhe im Kopf, Orientierung in meiner Körperlichkeit, Pause vom ständigen Greifen nach Dingen außerhalb von mir, um mein eigenes Ende zu fühlen.
Ich litt nie unter der Todesangst anderer Aussteiger_innen, die sich mit freiem Willen oder freien Entscheidungen eingestellt hat. Mir hat nie jemand verboten frei zu denken oder frei zu wollen – ich wurde immer nur für falsches Handeln, falsches Wollen umgebracht. Das ist ein Unterschied. Und ja, ich sehe, wie perfide das ist. Wie elaboriert bösartig das ist, gerade weil das außerhalb solcher Kontexte auch passiert.

Ich bin nicht für irgendetwas ausgestiegen und bleibe auch nicht für irgendetwas ausgestiegen. Ich bin wegen etwas ausgestiegen und das ist im Moment ein Problem, weil es sich bedroht anfühlt.

Vor einigen Jahren formulierte ich, dass das Leben immer nur sich selbst für sich selbst will. Weil das so ist.
Mir war klar, dass viele Menschen diese Formulierung nicht verstehen würden, weil sie sich selten, manche auch nie, mit solcherlei in sich geschlossenen, sich selbst brauchenden, selbst befriedigenden, selbst erschaffenden Systemen befassen. Dabei ist daran überhaupt nichts geheimnisvoll oder kompliziert zu verstehen – es ist nicht einmal besonders, sondern vielleicht einfach viel zu naheliegend, um es zu bemerken. Oder auch zu sehr im Widerspruch mit der Norm, in der alles Sinn und Zweck über sich selbst hinaus haben muss, um als etwas behandelt zu werden. Ein Menschenleben zum Beispiel. Oder ein Lebensziel.

Ich wusste, dass ich sterben würde, würde ich in diesen Kontexten bleiben. Entweder durch jemanden, die_r sich nicht genug im Griff hat oder durch mich selbst, weil ich mich nicht genug unter Kontrolle hatte, um mein eigenes Nicht_Handeln vorherzusehen oder zu beeinflussen. Und ich wusste, dass ich lebe. Dass das ein eigener Wert ist. Eine eigene Ressource. Dass ich, um zu leben, am Leben sein muss.
Und dass ich diesem Kontext nicht geben können würde, was er von mir braucht, fordert, erzwingt, wenn ich tot bin.

Mein Ausstieg war also nie die totale Abgrenzung von diesen Leuten und dem, was sie tun oder glauben, sondern das einzige Mittel, dass ich noch hatte, um zu tun, was sie von mir wollten. Es war eine täter_innen- eine kontextloyale Entscheidung.
Keine Umarmung meiner individuellen Freiheit. Keine Selbstermächtigung. Keine heroische Selbstrettung. Keine Entscheidung aus einem wundersam erhalten gebliebenem Körnchen Selbstwert. Ich hatte einfach nur Glück, mit meinen Überlegungen zufällig die eine logische Lücke in dem ganzen Gebilde gefunden zu haben und damit keinen Grund anzunehmen, dass irgendjemand etwas dagegen haben könnte.

Ich habe die Intentionen dieser Menschen nie verstanden. Selbst heute, wenn mir außenstehende Menschen erzählen, ich sei so sehr angelogen worden, sie hätten immer nur ihre eigenen Ziele verfolgt – ich verstehe es nicht. Für mich handelten sie logisch im eigenen Bezugsrahmen. Sie haben mich also nie angelogen. Sie wollen eine bessere Welt möglich machen. Das wollen viele andere Menschen mit anderen Mitteln auch tun. Wo ist also die Lüge? – In jedem anderen Bezugsrahmen, außer dem, in dem es passiert ist.
Zu welchem Bezugsrahmen gehöre ich? In welchem Kontext hat mein Leben nur eine Bedeutung für sich selbst? – Bis jetzt nur in meinem eigenen. Und in dem sind die Bezugsrahmen anderer Menschen und Gruppen für mich eher Räume, die ich vereinzelt betreten darf. Mal nur kurz und für den Zeitraum einer Arbeit oder gemeinsamen Tätigkeit – und mal über Jahre hinweg, sodass ich das Gefühl habe, ich gehöre dazu, dürfte Wurzeln schlagen und mich verbinden, obwohl ich weiß, dass Verbindung nicht das gleiche wie Verschmelzung ist.

Und das ist das einzige, das mich heute trägt. Dass ich weiß, dass selbst, wenn wir wieder zurückgehen, um das im Moment praktisch 24/7 in mir hallende Schreien, die Todesangst, die Albträume, dieses fahrig zittrige Greifen nach Halt zu beenden, es nicht bedeuten würde, einen Bezugsrahmen zu betreten, mit dem wir 1 zu 1 verschmelzen würden.

Es wäre alles anders und alles gleich.
Wozu also der Aufwand.

der Himmel ist über den Lebenden

„Der Himmel beginnt, wo die Erde aufhört. Kannst du das fühlen?
Wie deine Füße die Erde berühren, aber nicht die Erde sind.
Wo du dich mit dem Planeten verbindest, ohne ein Teil von ihm zu werden.
Wie leicht es ist, den Kontakt herzustellen.
Du musst nichts Besonderes machen, merkst du das?
Fühl mal, wie das einfach passiert.“

Ich höre ihnen zu. Spüre, wie sie spüren. Wie sie sich der Welt versichern und ineinander halten. „Sie sind frei beweglich“, das hat die Therapeutin stark betont. Ich bin steif und wund. Sitze im Zug nach Hause von einer Stunde, die so schlimm entgleist ist, wie lange nicht mehr. Ich habe keine Angst mehr, aber die Angst hat mich. Schrille Todesangst. So hochfrequent, dass sie kein heftiger Ausschlag ist, keinen Krater schlagend in mir wirkt, sondern wie eine gleißende Schnur alles durchdringt. Alle Energie ist in der Angst. Da ist nichts mehr übrig, um zu sagen: Ich habe Angst. Nichts mehr, um zu weinen, nach jemandem zu greifen, die Augen zu öffnen und Trost in der Omnipräsenz des Himmels und der Schwerkraft zu finden.

Es ist vorbei, sage ich mir am ersten Bahnsteig. Die Therapie. Ich stecke meine Nase in eine der Bäckertüten. Der süße Duft des Brotes krabbelt in mich hinein, bis ich nicht mehr einatmen kann. Als zwei junge Menschen auf mich zukommen, greife ich nach meiner Maske. Fühle die Scham, wie einen Sog in die Tiefe. „Do you speak English?“ Ich nicke und werde zum Streckengeleit. Sie kommen aus der Ukraine. Wollen nach Bremen. Die Bahn hat viele Baustellen und Verspätungen. Wir setzen uns zusammen. Sie sind tief müde, ich blute aus Wunden, die niemand sehen kann, der Zug fährt durch den Sonnenschein.

Auf der letzten Etappe wird eine 3G-Kontrolle angekündigt. Ich frage die beiden Menschen, ob sie die Corona Warnapp kennen, ob sie einen Test gemacht haben oder einen Impfnachweis besitzen. Nein, nein, nein, scheiße. Sie sind Schwarze Menschen. Die Angst, die bei den Worten „checking your verification“ in ihnen hochkriecht, ist ein Sturm, der nur von ihrer Haut bedeckt wird. Ich sage, dass meine Station gleich kommt, dass ich aber bleiben kann, wenn sie meine Unterstützung in der Situation wollen. Sie sagen ja, ich bleibe. Warte. Schreibe an meine Kolleg_innen, ob sie wissen, ob geflüchtete Menschen 3G erfüllen müssen, um zu einer Unterkunft zu kommen. Schreibe dem Partner. Warte. Die Unruhe zieht mich leer, bis ich ins Handeln falle.
Ich laufe den Kontrolleuren in die falsche Richtung entgegen. Der Krach im Zug ist wie ein Meer ohne Oberfläche. Als ich zurückkomme, palavert ein Coronaclown unsinniges Zeug mit einem anderen Coronaclown. Zum ersten Mal seit Pandemiebeginn ist mir so jemand in meiner Umgebung nützlich, denn sie werden sich nicht beschweren, wenn zwei Leute neben ihnen möglicherweise nicht geimpft oder getestet sind.

Und dann läuft alles ganz unspektakulär. Der Kontrolleur schickt seine Sicherheitsleute weiter und sagt mir, dass er eine Ausnahme macht, bevor er, ohne das Wort an die beiden Leute zu richten, weitergeht. Ich übersetze, teile meine Nummer und die Masken, die ich heute nicht mehr brauche. Wir trennen uns an meiner Station, ich wünsche ihnen alles Gute, ohne jede Vorstellung, was das sein könnte.

„Der Himmel ist alles, was du fühlen kannst, wenn du einfach so dastehst.“
„Sterben wir alle?“
„Ja. Und jetzt leben wir, merkst du das?
Der Himmel ist über den Lebenden.“

Pläne

„Je stressiger es im Alltag wird, desto mehr Struktur brauchen wir, um zu funktionieren.“ Das klingt für die meisten Leute total logisch und nachvollziehbar. Klar, wer viel vorhat, ist immer gut beraten sich einen Plan zu machen, um gut zu arbeiten oder Abläufe zu gewährleisten.
Für mich beginnt der Stress in „stressiger Alltag“ schon in dem Moment, in dem ich weiß, dass Dinge passieren werden, die üblicherweise nicht passieren. Und zwar nicht, weil sie passieren, sondern weil das Passieren dieser Dinge alles verändert und damit auch sämtliche Ressourcen und Stützen des Alltags beeinflusst. Was bedeutet, dass ich mich nicht nur um die passierenden Dinge, sondern auch ihre Wirkung auf mich kümmern muss.

Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagespläne sind mir noch nie ein Korsett gewesen, nie ein Angriff auf meine persönliche Freiheit – viel eher sind sie der Grund dafür überhaupt in die Situation zu kommen, mich frei entscheiden zu können. Denn ich kann weder entspannen, noch ruhen, noch Kraft tanken, wenn ich nicht weiß, was in den folgenden Stunden und Tagen noch auf mich zukommt und wie ich was wann wie genau kompensieren kann und darf.
Im günstigsten Fall mag ich die Art der Störungen des üblichen Ablaufs einfach nicht oder bin nur irritiert. Dann finde ich Stabilität und Ruhe in Stimming oder meinen Projekten. Problematisch wird es, wenn ich mit den Ressourcen schon so weit runter bin, dass ich weder von Stimming noch von irgendetwas anderem profitiere. Am schlimmsten ist es, wenn der Ablauf über so lange Zeit gestört oder beeinflusst wird, dass ich überhaupt keinen üblichen Ablauf mehr ausmachen kann.
Das gesamte letzte halbe Jahr war so ein Zeitraum. Wir haben viel gearbeitet, viele emotionale Tiefschläge kompensiert, die unsere Freund_innnenschaften bzw. das, was wir dafür hielten, betrafen. Wir haben Physiotherapie und Fahrschulunterricht in Theorie und Praxis durchgezogen, sind alle zwei Wochen nach Bielefeld zur Therapie und alle zwei Wochen zur Autismustherapie woanders gefahren. Wir haben uns an eine Selbsthilfegruppe für Viele herangewagt, haben einige erste Interviews für unsere Podcast-Reihe aufgenommen und alles das immer mit dem Partner und den Beziehungsalltag im Hinterkopf, die Bedürfnisse der Hunde, die Pflicht, die Kür, die Versprechen bezüglich des Gartens, des Podcasts, unserer Projekte.
In den letzten drei Wochen hatte ich jeden Tag einen anstrengenden Termin, seit Ende Oktober habe ich wieder mit Weglaufimpulsen aus  Flashbacks/Alpträumen/Intrusionen aus dem Schlaf heraus zu kämpfen, was bedeutet, dass nicht einmal die Nachtstunden zuverlässig für Erholung da waren.
Dass ich noch nicht „ausgerastet bin“ (den Meltdown nach außen sichtbar hatte) liegt daran, dass ich eine Verzögerung in der Verarbeitung habe und in der Regel nach innen explodiere, also dissoziiere. Und weil die Dissoziation praktisch mein Betriebssystem ist – mich bisher niemand anders erlebt hat – fällt das nicht als Problem auf.
Manchmal finde ich das auch gut so. Denn mit der Ratlosigkeit, der Frage: „Ja und jetzt?“ umzugehen tut mir nur weh und oft ist es den Streit aus der Enttäuschung heraus, dass dieser Schmerz nicht bemerkt wird, einfach nicht wert.

Viele Menschen denken und planen nicht so weit im Voraus wie wir, weil sie es nicht müssen. Ihr Jetzt ist ein anderes als meins – ist nicht so leicht zu zerstören von morgen, bald oder nachher. Und viele Menschen schieben einfach gern auf, weil sie die Kraft für alles auf einmal aus einem viel tieferen, größeren Fass schöpfen als ich. Um in dem Bild zu bleiben, habe ich genau eine Tasse, aus der ich schöpfen kann und ich bin maximal geizig mit jedem noch so kleinen Tropfen, weil ich es muss. Nicht, weil es so schlimm ist, erschöpft zu sein, sondern weil „eine volle Tasse“ zu haben für mich a) nicht bedeutet, nicht erschöpft zu sein und b) weil auch das Management dieses Budgets, die Erfassung, die Planung, die Kommunikation des Budgets bereits daraus geschöpft wird.
Ich habe nie einen fixen Stand von 100 % und daraus kann ich dann hippy happy Leben gestalten – ich muss bereits 40 % weggeben, um in der Lage zu sein, mein hippy happy Leben erfassen, mich selbst darin fühlen und verstehen zu können. Und das ist, was die meisten Menschen – auch „meine Menschen“ – manchmal einfach vergessen: Die meisten Menschen müssen aus ihrem größeren Kraftfass vielleicht 10 oder 15 % dafür weggeben und das oft nicht einmal bewusst. Und am Ende eines Tages haben sie immer noch 20 bis 30 %, um zu verarbeiten, was sie erlebt haben. [1]

Ich habe nicht die Wahl irgendetwas von meinen Therapien (und dem, was wir darin machen) oder Projekten einfach zu lassen, denn ich benutze vieles davon zum Prozessieren und Verarbeiten sowohl dessen, was mir in der letzten Woche, aber auch vor 30 Jahren passiert ist. Jede Therapie, aber auch das Bloggen und Podcasten sind damit Hilfsmittel, die mir – bei aller Anstrengung, die sie bedeuten – ermöglichen, mich im Bezug zur Welt zu halten und damit ein fundamental wichtiger Teil eines mehr oder weniger festen Plans, der mich in diesem selbstbestimmten, autonomen Leben hält.

So einen Plan zu haben – ja, mir überhaupt erstmal einen zu überlegen, mich zu trauen an die Zukunft zu denken, mir eine auszudenken, zu wünschen, mich auf so viel hätte würde wäre wenn einzulassen, habe ich erst mit der Berufsausbildung geschafft. Das war 2016. Da waren wir gerade 9 Jahre aus organisierten Gewaltkontexten ausgestiegen, die uns sehr genau vorgegeben haben, was wann wie zu denken, zu wollen, zu machen war.
So frei wie heute verliert mein Leben und das, was ich darin tue, sofort an Bezug und damit Sinn und Bedeutung, wenn ich meinen Plan loslassen soll. Und das wird bewusst oder unbewusst öfter mal von mir verlangt oder „vorsichtig vorgeschlagen“, wenn der Eindruck entsteht, ich hätte mich verrannt oder überfordert. Oder – was eigentlich am meisten schmerzt – : Wenn ich selber sage, dass etwas zu schwierig für mich ist.
Der erste Reflex ist dann oft die Idee der Entlastung durch Vermeidung. Das Angebot mir irgendeine Aufgabe abzunehmen, irgendein Wagnis nicht zu begehen und zu erwarten, dass ich das okay finde – vielleicht sogar noch krass dankbar bin und mich einfach super fühle. Das tue ich in der Regel aber nicht, denn die Alternative zur Überforderung ist in meinem Fall immer der Ausschluss. Das nicht mitmachen, nicht dabei sein, ohne Bezug sein. Ein Zustand, den so, in dem Umfang wie ich es erlebe, kaum jemand wirklich innig er_leben möchte, weil Bezug für soziale Wesen wie uns Menschen ein existenzielles Grundbedürfnis ist. [2]

Wie viele andere autistische Menschen bin ich sehr hartnäckig. Was ich mir vornehme, das mache ich früher oder später auch. Ich nehme mir nichts vor, das unrealistisch ist und verfolge meinen Lebensplan jeden Tag, weil ich einen brauche, um mein Amlebensein in Existenz und Sinn auszuhalten und zu gestalten.
Das ist nicht banal. Nicht wegzulachen oder zum Quirk zu erklären.
Es ist bedingungslos zu respektieren und mitzudenken.

Immer.

 

[1] In diesem Text verwende ich das Bild von einem Fass bzw. einer Tasse voll Kraft als Flüssigkeit. Viele andere chronisch kranke, neurodiverse, behinderte Menschen verwenden das Bild von einem bestimmten Budget von Werkzeugen/Besteck, das sie zur Verfügung haben. In der Podcastepisode „Was helfen könnte – die Besteck-Theorien, eine Kommunikationshilfe“ habe ich sie genauer beschrieben.

[2] Angebote wie diese führen viele behinderte Menschen in die sogenannte „Schonraumfalle“, was dazu führt, dass Abhängigkeiten entstehen und also die Freiheit der Menschen eingeschränkt wird. Sowohl die der behinderten Menschen als auch die der Menschen, die ihnen die Schonräume ermöglichen und aufrechterhalten müssen.
Mir ist bei Überforderung am besten zu helfen, wenn man mich dabei unterstützt, den Punkt der Überforderung zu verstehen und mit dem auszustatten (oder mir zu ermöglichen, dass ich lerne), was ich brauche, um sie zu überwinden.
Jede Hilfe, die Helfende überflüssig macht, ist besser als der beste Schonraum.

Kinderinnens reorientieren

Overme beschreibt es im Kommentar als „Baustelle“, M. hat es uns in der E-Mail beschrieben, die wir im letzten Beitrag erwähnten:
Wenn Kinderinnens schreien und alles damit fluten. Manchmal so stark, dass nichts mehr anzukommen vermag und man sich als erwachsener Mensch fragt: Wie soll das je enden? Da ist so viel Bedürftigkeit, so viel Not – und dann merken sie nicht mal, dass eigentlich alles ok ist – was doch DAS DING ist – das sollen sie doch merken und dann ist wieder Ruhe im Karton. Wieder alles gut, Reorientierung, yeah!

Das Problem haben Renée einmal in einer Podcastepisode mit uns angesprochen: Was heißt denn „RE – orientiert?“ Worauf soll denn zurück orientiert werden?
Ich, ein erwachsenes Innen, das überwiegend in Alltagssituationen mit anderen Menschen präsent ist, orientiert nie zurück auf einen Zustand, der ganz und gar sicher und entspannt ist. Ich orientiere immer in einen Zustand, in dem Fähigkeiten abgerufen werden können, um um Hilfe zu bitten, Situationen zu organisieren und Probleme zu intellektualisieren, aber sehr viel mehr auch nicht.
Auch ich muss mir meiner Orientierung bewusst werden, sein und bleiben und ich weiß, dass es anderen Innens ähnlich geht.

Ich bzw. das System aus dem Ich hervorging ist entstanden, weil man mich immer wieder als erwachsenen Pol in diesen Kindertraumafolgen gesehen und angesprochen und (therapeutisch) behandelt hat. Und das, obwohl ich meine Diagnose mit 16 erhielt und noch gar nicht erwachsen war. Ich hatte noch keine Kompetenzen überhaupt zu fühlen, was ich fühle oder zu begreifen, was meine Gefühle/Gedanken/Erinnerungen wann wie wo warum bedeuten, wie relevant sie wann wie für wen sind und wie ich ihnen „richtig“ begegne. Und wer eigentlich überhaupt über den richtigen Umgang damit bestimmen darf.

Es gibt viele Viele, die kompetente Erwachsene in ihrem System haben. Wo eine Reorientierung in das erwachsene Bewusst_Sein bedeutet, in einen Zustand der allgemeinen Lebensfähigkeit, der allgemeinen Selbst-Sicherheit und -Ver_bindung (zurück) zu kommen. Also nicht nur zu wissen, dass sie_r erwachsen ist, sondern auch über die Fähig- und Fertigkeiten von erwachsenen Menschen zu verfügen und diese allgemein angemessen anwenden zu können. Erwachsensein ist ja nicht nur, was man darf, wenn man volljährig ist, sondern auch wie vertraut man mit dem Leben ist. Welche Erfahrungen man wie oft schon gemacht hat, welche Strategien man wie oft mit welchem Erfolg genutzt hat, wie viel Basis die eigene Intuition hat, wie bewusst für welche Gefahren man sich in all dem bewegt.
Wenn man so ein erwachsenes Innen – mit Zugang zu einem Großteil dieser Fähig- und Fertigkeiten des Erwachsenseins – ist und es heißt, man solle sich aus der kindlichen Überflutung reorientieren, dann ist das wie die Referenz auf einen Rettungsanker. Festen Boden unter den Füßen. Die Erinnerung an eine Realität, in der existenziell abhängig zu sein (hoffentlich) die Ausnahme ist und Autonomie die Regel.
Dann bedeutet das geflutet werden von Kinderinnens oft wirklich schnell „nur“ eine Erinnerung an unangenehme Zustände früher oder Impulse, denen heute gar nicht mehr so unbedingt nachgegangen werden muss wie früher.

Wenn ich aber damit konfrontiert werde, Kinderinnens zu reorientieren, ist das wie eine Referenz darauf, dass ich kompensieren kann. Denn nichts anderes bin ich. Eine Coping-Strategie. Ein „vorzeigen, dass ich auch erwachsen kann“ – was wirklich wenig mit wahrhaftiger Reife oder dem zum Leben als erwachsene Person nötigen Kompetenzen zu tun hat. Ich bin ohne die anderen Inneren – andere Alltagsinnens oder Innens, die spezielle Funktionen für das System haben – einigermaßen nutzlos in Sachen Kinderinnens und deren Nöte und das sage ich nicht, um ermutigt zu werden, sondern weil es so ist.

Für diese Fälle ist es relevant zu begreifen, wie jemand Viele ist, also welches Ausmaß die Fragmentierung, die Dissoziation, hat. Sowohl als Behandler_in als auch man selbst.
Um genau das zu lernen und zu verstehen, braucht es die Auseinandersetzung mit den Inneren, mit inneren Landkarten, mit Situationsanalysen, mit Tagesprotokollen, mit Tagebüchern, mit der Dokumentation, was hilft und was nicht und all dem Kram, von dem man oft irgendwie denkt: „Meeh, damit mache ich ja gar nicht mein Trauma weg.“ und Außenstehende gerne mal denken, er wär unnütze Nabelschau und trage nur dazu bei, dass man um sich selbst kreist (statt um sie).

Tatsächlich macht die Kenntnis vom eigenen Funktionieren und Re_Agieren, den Umgang mit Traumafolgen erst einmal nicht leichter – aber logischer. Man bekommt einen Rahmen um etwas, auf das man vorher regiert hat, ohne genau zu wissen, wie und worauf eigentlich wirklich.
Ich habe so zum Beispiel verstanden, dass ich nicht das Innen war, auf das gut orientiert werden konnte, weil meine alleinige Anwesenheit einfach nicht bedeutet, dass alles gut ist und wir gut versorgt sind.
Seit das Alltagssystem um mich herum ein stabil in mir integrierter Bestandteil ist, ist das anders.
Ich kann Kinderinnens nach wie vor nicht versorgen und halten – und meine Funktion ist nach wie vor nicht das „happily ever after-Life“ – aber ich habe mein Helfertrauma soweit bearbeitet, dass Kinderinnens mir keine Todesangst mehr machen. Ich bin jetzt in einer Therapie, in der ich bestimmen kann, wann, wie und warum wir uns nähern – und in der ich nicht verletzt und bedroht werde, wenn ich sage, dass ich etwas im Zusammenhang mit ihnen nicht kann oder schaffe oder will.

Wenn ich heute von Kinderinnens geflutet werde, orientiere ich mich in mich selbst, um ihre Impulse zu distanzieren und mehr oder weniger gezielt wieder zu dissoziieren. Nicht, weil ich sie wertlos finde oder was sie mitbringen, irrelevant für mich ist, sondern weil ich sie in diesen Situationen nicht integrieren, nicht anhören, nicht aus_halten kann. Es hat überhaupt keinen Sinn zu versuchen, sie auf meine Er_Lebensrealität zu orientieren, weil sie damit genauso wenig anfangen können, wie ich mit ihrer und es hat genauso wenig Sinn außerhalb der Therapie, wo ich begleitet und unterstützt bin, irgendwelche Traumainhalte aufzunehmen und sie zu integrieren.
Ich bin in solchen Situationen genauso wichtig wie die Kinderinnens – auch wenn sie lauter, dringlicher, auf einer Ebene vielleicht auch berechtigter, schreien als ich. Ich bin in dem Moment die Person, die sie wahrnehmen kann, das macht mich aber nicht automatisch zu der Instanz, die immer sofort richtig und passend reagieren kann.

Wir haben uns in der Psychodynamisch Imaginativen-Therapie ein Innen eingefangen, das das kann.
Die innere Kraft, die weiche weite AllesgutmeinHerz-Wolke auf dem Rücken eines Schwans, in die alles Schwere, Verletzte, Kindliche hineingehen kann – das war der innere sichere Ort, meine Entlastung, meine sichere Bank im sonstigen Verlauf dieser Therapie, in der so vieles immer wieder so knapp an meinen Bedarfen und mir vorbeiging, dass man es kaum er_fassen und konkret kritisieren kann. Der gleiche Mechanismus, der früher geholfen hat überfordernde Anforderungen, Ängste, Empfindungen und so weiter zu kompensieren, hatte jetzt eine von Außen geforderte und unterstützte Form: Ein_e innere_r Helfer_in, die_r jederzeit und ohne eigene Stimme einfach immer alles und jeden schluckt, um mich, uns Alltagsinnens, die über Jahre mit nichts anderem beschäftigt waren, sich den Leuten um sie herum verständlich zu machen, zu entlasten und also weder das Personal noch die Therapeut_innen zu belasten. Etwa mit dem Auftrag, mir die Kompetenzen zu vermitteln, die es braucht, um sich selbst um die Entlastung kümmern zu können. Oder der Einsicht vielleicht gar nicht mal so wenig fragmentiert zu sein, wie man gedacht wird.

Heute wissen wir, dass wir das irgendwie wieder auflösen müssen, weil uns diese_r innere Helfer_in jetzt daran hindert Kontakt zu Kinderinnens herzustellen, wenn sie nicht gerade angetriggert und mitten in unser Er_Leben gespült sind. Aber in akuten Momenten, in Situationen, wo absolut gar nichts mehr geht, ist es das einzige, das funktioniert und hilft.
Wir kriegen schon mit, dass viele Viele genau das eigentlich immer nicht wollen. Weil die Kinder doch schon immer weggedrückt sind, weil sie eh nie raus dürfen, weil sie doch ihr ganzes Leben lang unerwünscht waren … und überhaupt, man soll doch endlich mal aufhören mit der ganzen Dissoziiererei, die ist doch das ganze Problem.

Wir für uns sehen nicht die Dissoziation als das Problem an – sondern die Vielzahl der Situationen, in denen sie gebraucht wird, um zu üb_er.leben bzw. die Chancen auf ein Überleben zu verbessern.
In einer Situation, in der ich verhindere, nicht bis 10 zählen zu können, nicht sagen zu können, wo ich wohne, aber, dass ich mache, was auch immer jemand von mir will, weil ich in einem kindlichen Selbstzustand bin, ist es eine gleichwertige Überlebensmaßnahme zu dissoziieren wie früher als die gleiche Reaktion verhindert hat, dass ich gefährdet bin zu sterben.

Wir können erst dann auf die Dissoziation verzichten, wenn wir in der Lage und dazu befähigt sind zu assoziieren.
Wenn das nicht vorhanden ist – wenn dafür nicht genug Kompetenz, Selbst, Funktion, Rahmen da ist – dann ist es selbst_quälerische Folter sich in die Assoziation zu zwingen. Es schadet. Und zwar ganz genauso wie die Gewalt, die früher passiert ist. Auch, wenn es in allerbester Absicht passiert.

Also – so machen wir das:
Wenn ich stark geflutet werde und nichts anderes machen kann, schiebe ich sie weg. Seit ich mehr mit anderen Innens verbunden bin und an meiner Perspektive auf Kinderinnens arbeite, hat sich der Rahmen, in dem ich das mache, stark verändert. Manchmal brauche ich sie nicht ganz wegschieben mitten ins Wolkennichts des Schwans rein auf Pseudo-Nimmerwiedersehen, sondern nur so weit wie ich es brauche, um funktional genug für eine Bedürfniserfüllung zu sein oder meiner Therapeutin mitzuteilen, was ich bemerke. Dann halte ich mich in mir orientiert und gebe das nach innen frei. Ob davon etwas bei Kinderinnens ankommt – keine Ahnung, das ist aber auch nicht relevant. Sie werden niemals Teil meines Alltags – sie müssen sich in meinem Leben nicht zurechtfinden. Ich bin in Traumatherapie, um ihr Leben als meins zu erleben. Ich muss mich in ihrem zurechtfinden.

Wie im Umgang mit Außenkindern geht es mir also nicht darum, mir die Kinder hinzubiegen, wie ich sie will, um zu kriegen, was ich will (und zu vermeiden, was ich nicht will), sondern dafür zu sorgen, dass ich in Umständen und mit Kompetenzen lebe, die mich darin bestmöglich stützen und halten, mit allem umzugehen, was das Leben mit Kindern, die ihre eigenen Fähig- und Fertigkeiten zu üb.er.leben erst entwickeln, erkunden, ausprobieren, so mit sich bringt. Und zwar ohne mich (und andere) zu zerstören oder zu gefährden.