Flügel

Ein Kind, dem die großen bunten Schmetterlingsflügel vom Rücken abgeschnitten werden. Eine Grafik, die ich öfter sah, als meine Autismusdiagnose noch neu und ich einigermaßen unbedarft in der autistischen Netzbubble unterwegs war. Ich dachte schon damals, dass diese Grafik vermutlich in vielen anderen Kontexten auch benutzt wurde, um die radikale Natur so mancher Grausamkeit gegenüber Kindern aufzuzeigen. Eine Grausamkeit, die als solche oft gar nicht bewusst ist. Eine Radikalität, die einen Für-immer-Abdruck hinterlässt.

„Alle Menschen sind anders“, das ist ein dünnes Läppchen, das man sich manchmal gegenseitig auf den Kontakt patscht. Ich nehm dich, wie du bist – ich will nicht, dass du bist wie ich – wir können alle anders sein, dann muss niemand darunter leiden anders zu sein, töröö!
Darüber dachte ich gestern nach einem Gespräch mit jemandem nach.
„Was wäre die gewünschte Reaktion auf deine DIS-Diagnose?“, war die Frage. Ich habe geantwortet, dass die beste Reaktion Grundlagenkenntnis wäre. Dass es cool, wäre, wenn ich mich nicht immer darauf einstellen müsste, anderen Menschen zu vermitteln, dass mein Aufwachsen so anders war als ihres, dass ich sehr anders, radikal anders, geworden bin als sie. Ohne so Dinge zu sagen wie: „Ich habe Abgründe gesehen und Tode überlebt, die du dir im Fernsehen just for fun reinziehst. Oder zum Entspannen.“ Obwohl es wahr ist. Und auch bewusst gemacht werden muss.

Es wäre schön, wenn die Alltage, die Er_Lebensnormalitäten von Menschen mit DIS bekannter wären als die Ausnahmezustände, die Kontrollverluste. Wenn nicht jede Film- und Fernsehpräsenz des Themas die Gewalt ihres Ursprungs fokussiert und jede, die es nicht tut, vorgeworfen bekommt zu bagatellisieren oder romantisieren.
Ich wünsche mir oft, dass meine DIS als ich begriffen wird. Dass endlich mal allen Menschen klar ist, dass ich meine eigene Symptomlage bin. Dass ich das bin, wenn ich switche, dass ich das bin, wenn ich panisch erinnere, wenn ich ängstlich vermeide und so weiter und so weiter – ganz egal, ob ich das als mir zugehörig empfinde oder nicht. Mein Identitätserleben dabei ist nicht der Krankheitswert – die Krankheit ist nicht, dass ich so bin. Sondern, dass ich darunter leide. Dass ich der Norm zwischenmenschlicher Interaktion nicht zuverlässig entsprechen kann. Dass ich nicht zuverlässig funktionieren kann. Aber immer immer immer muss. Weil es andere immer können. Andere, die anders angepasst aufgewachsen sind. Andere, die andere Chancen zu lernen und zu reifen hatten. Andere, die mit ganz anderen Sicherheiten durchs Leben gehen.

Chronisches Trauma in der frühen Kindheit ist eine massive Entwicklungsstörung.
So logisch wie es ist, dass chronisch traumatisierten Kindern metaphorisch gesehen große bunte Schmetterlingsflügel wachsen, um das Schlimmste zu überstehen, so brutal ist es, sie ihnen abzuschneiden, wenn sie erwachsen sind. Oder so zu tun, als könnten sie wie alle anderen anders sein, wenn sie sie nie zeigen, nie darüber reden, nie einfordern, dass man sie akzeptiert. Sie nie wieder benutzt, wenn es nötig erscheint.

Vielleicht generalisiere ich, wenn ich denke, dass jede Reaktion, wenn sie mehr als bloße Akzeptanz ist, einen Schnitt in diese Flügel bedeutet. Vielleicht bin ich überempfindlich, wenn mir interessierte Neugier auch wehtut. Vielleicht sollte ich mich nicht so haben, wenn ich nach Film- oder Romanfiguren gefragt werde – ich weiß ja, dass die meisten Leute mich davon unterscheiden können.
Es ist trotzdem immer auch ein Angriff. Ein Schnitt. Und damit immer auch die Botschaft doch bitte nicht ich zu sein. Und also lieber tot, denn ich bin ja immer ich, egal, wie anders ich mich verhalte, wie sehr ich anderen gleiche. Traumalogik trifft Gewaltlogik.

Tja.
Vielleicht ist die bessere Antwort auf die Frage, dass ich mir keine Mikroaggressionen wünsche. Vielleicht ist auch mein Wunsch nach Grundlagenkenntnis, eigentlich der Wunsch nach einer speziellen Mikroaggression, weil ich damit mehr anfangen kann als mit allen anderen.
Vielleicht ist mir ganz tief drinnen, an meiner Wurzel, an meinem Ursprung einfach klarer, als an meinen Rändern, dass ich sie, wie so vieles andere an mir, immer brauchen werde. Meine Flügel.

Stress und Opferbelange

Es war zufällig aufgefallen.
Mein Partner war gerade wieder in der Lage zwischen Couch und Schlafzimmer zu wechseln, ohne sofort die Augen schließen und durchatmen zu müssen. Aus Gag hatte ich sein Pulsoximeter aufgezogen und einen Puls von 42. Was ein bisschen niedrig ist für jemanden, die_r gerade hin- und hergelaufen und auch sonst nicht gerade tiefenentspannt war. „Vielleicht spinnt das Gerät, man soll sich ja ohnehin nicht so darauf verlassen, wie auf die Geräte bei Mediziner_innen. Die Dinger sind ja nur fürs Gefühl, für die Tendenz.“ So haben wir darüber gedacht.
Das war im April.

Im Mai habe ich mir einen Körperspion gekauft. Eine Fitnessuhr.
Weil ich dachte, dieser Sommer würde der Sommer werden, in dem ich mich endlich auch körperlich mal so auf die Reihe kriege, wie ich andere Aspekte in meinem Leben schon auf die Reihe gekriegt habe.
Ich würde nicht mehr einfach nur so ’ne Stunde schwimmen, tüddelü, Hauptsache, es fühlt sich gut an, sondern bäm bäm bäm besser, schneller, burn burn burn mein Stressfett weg.
Da fiel die Pulsausnahme in ihrer Regelhaftigkeit auf. Im Schlaf, klar, da würde man eine niedrige Pulsfrequenz erwarten – aber um die 40? Und, ist es nicht irgendwie komisch, wenn man mit Sport anfängt, den man schon seit Jahren in gleicher Regelmäßigkeit macht, von 80 auf 140 hochschießt und dann runterplumst auf 45 bis 42? Hm, hm, hm.

Ich dachte, dass es eine Folge der Covid-Infektion war. Vielleicht sowas wie POTS oder irgendwas Gefäßiges, schließlich ist COVID am Ende eine Vaskulitis – eine Entzündung von Gefäßen.
Und machte weiter wie immer.
Nur, dass es mir im Verlauf des Jahres nicht besser ging. Ich war lange in Sorge, hatte mein Buch veröffentlicht und Lesungen geplant, „Viele Leben“ gestartet und bei der Arbeit ist das Pensum in das für mich Unschaffbare gestiegen, weil immer wieder jemand ausgefallen ist und eine Person ausstieg. Meine Projekte und Pläne konnte und kann ich auch weiterhin nur schluckweise bearbeiten, es ist einfach alles sehr sehr viel. Sehr sehr viel Stress vor allem. Und dann auch noch die Art Stress, die nicht mit regelmäßigem Sport ausgleichbar ist. Oder mit mal schön im Garten sitzen. Oder genießen, wenn was gut gelaufen ist. Feierabend machen. Es ist die Art Stress, die auch immer wieder antickt: Wenn du das nicht schaffst, bist du tot (weil dich alle hassen/du kein Geld hast/du bestimmte Fähigkeiten nicht hast, die dich schützen …)

Irgendwann hat meine Fitnessuhr angefangen zu vibrieren, wenn sie erkannt hat, dass ich aktiv war und einen Puls unter 45 hatte. Logisch, man würde das wohl nicht erwarten bei einer gesunden Person, in meinem Alter.
Ich habe einen Termin bei meinem Kardiologen ausgemacht. Der sollte im Dezember stattfinden. Das fand mein Lungenfacharzt nicht so geil und ließ ihn vorverlegen. Es gab Untersuchungen. Ultraschall, Belastung, 24 Stunden-EKG. Alles mit Wartezeiten natürlich.

Der Sommer kam und ging, ich arbeitete durch. Nix mit Radfahren zusätzlich, nix mit krass mehr burning Schwimmen, sondern schön den Arsch am Computer. Setzen, lesen, schreiben, planen, organisieren, als hätte ich eine Vollzeitstelle und sowas wie nutzbare Freizeit zum Ausgleich.
Im September habe ich dann Urlaub gemacht. Für 4 Wochen. Nachdem ich im Grunde jede Woche mindestens einen Meltdown hatte und wirklich und echt nicht mehr konnte. 2 der 4 Wochen habe ich damit verbracht nachzuarbeiten, was liegengeblieben war, aber mit Ausschlafen. Wenn es denn ging. Und dann bin ich zwei Wochen Fahrrad gefahren. Etwa 650 Kilometer mit ein Mal COVID-Ansteckungsangst und ohne Fitnessuhr. Ich merke inzwischen auch ohne, wann wieder alles im Keller ist und schaffe es, ohne Panikschub meine Herzfrequenz wieder zu erhöhen.

Auf der Buchmesse im Oktober dachte ich kurz, dass ich einen Herzinfarkt bekäme. Ich hatte so heftige Rückenschmerzen, Zahnschmerzen und die Luft ging schwer rein. Aber mein Puls war gut. Wahrscheinlich nur der Stress vom Fahren unter der Woche, im Zugchaos der Deutschen Bahn, im Arbeitschaos, während ich Innenarbeit mit inneren Jugendlichen mache. Panikattacke ohne Panik? Hatte ich noch nie, aber was weiß denn ich?!

Gestern, auf dem Weg zur Praxis meines Kardiologen, dachte ich darüber nach, was ich ändern würde, würde mir jetzt irgendeine echte Herzsache ins Leben treten.
„Ich würde kündigen.“, das war mein erster Gedanke. Kündigen, meine Förderung mitnehmen, eine Reha versuchen und irgendwo neu anfangen. Das Büchermachen würde meine Freizeit werden. Ich würde den Podcast abgeben, die Gruppe abgeben, meine Stifte spitzen und Leinwände zuschneiden. Meine verstaubte Kamera rausholen und erst wieder sprechen, wenn es sich wirklich gut für mich anfühlt.
Ich würde betrauern, dass ich kein Kind bekommen kann, weil wie selbstbestimmt wäre das mit irgendeiner Herzsache und dann würde ich den Partner belatschen, dass wir 6 Monate im Jahr mit dem Wohnwagen unterwegs sind.

Dann aber sagte der Kardiologe, dass ich tippitoppi gesund bin. Super fit halt, da ist eine niedrige Pulsfrequenz normal. Er erklärte mir, wie niedrig mein Risiko für irgendwas Herziges sei und zeigte dabei auf eine Tabelle. Meine Beschwerden könnten vom Übergewicht kommen.
Ich habe also ein messbares und völlig harmloses Ding, weil ich so fit bin und einen Haufen unmessbarer Dinge, die mich belasten, weil ich so fett bin. Geil.

Ich suchte den nächsten Zug nach Hause aus und begann mit Textarbeit. Dann kamen die Nachrichten, über Verspätungen, Reparaturen, komplett ausgefallene Verbindungen. Klar. Ich würde wieder eine Arbeitssache nicht hinkriegen, meine Betreuerin wollte mit mir telefonieren, klappt das noch? Nicht vergessen, der Partner muss noch in die Werkstatt kommen, wir müssen pünktlich zu Hause sein. Wär ich doch nur nicht so fett, dann würde ich das jawohl ganz ohne Druck im Oberkörper und Schwindel überstehen. Natürlich hatte ich noch nichts gegessen und nur Kaffee im Organismus. Wer braucht Kalorien, wenn sie_r auch Stresshormone haben kann. Der Treibstoff der Gewinner, alte Anorexieweisheit zwinkyzwonky

Ich stand am Gleis, weinte und aß ein Brötchen vom Bahnhofbäcker. So wie das jemand machen sollte, die_r seit nun 23 Jahren so ein bizarres Verhältnis zum Essen hat, dass es einfach nie wirklich okay, selten wirklich ganz und gar befriedigend oder zweifelsfrei in Ordnung ist.
Nicht.

Natürlich habe ich nicht nur wegen all dem geweint. Ich war auch angefasst von der Therapiestunde am Tag vorher und eh in Kontakt mit Innens, die nie wieder irgendwas im Mund haben wollen oder in der Nähe davon aushalten können. Manchmal habe ich einfach Pech. Da schieben sich die Themen ineinander wie tektonische Platten und meine innere Welt bebt. Dann denke ich im Nachhinein: Okay, sind meine Tränenvulkane auch mal wieder aktiviert worden.
Aber was erzähle ich mir denn damit?
Irgendwie naturalisiere ich damit doch auch wieder nur die ständige Anspannung, den fehlenden Erholungsraum, die Sackgassen, aus denen ich allein, ohne Ermutigung, Ansporn, Versicherung von außen nicht mehr rauskomme.

Im Zug weinte ich noch ein bisschen weiter, weil scheiße ey, 23 Jahre Essstörung und irgendwie gesund Gewicht verlieren, das hinzukriegen erscheint mir inzwischen einfach nur noch utopisch. Innerhalb all der Dinge, die auch dran sind. Und auch so, wie ich jetzt bin.
Vor 14-15 Jahren hätte ich auf so eine Ansage hin, einfach aufgehört zu essen und fertig. Ich hätte nichts, aber auch gar nichts von dem Druck mitbekommen, den das auslöst. Ich hätte nicht weinen können und wenn doch, nicht ein Mal gemerkt, womit es was zu tun hat.
Vor 10 Jahren oder vielleicht noch vor 5 Jahren, habe ich mir Pläne machen können und es so hingekriegt. Ich hätte nicht gemerkt, wie einseitig ich esse und meine Ängste vor Abweichungen und Unvorhersehbarkeit als Ansporn für meine Selbstbeherrschung nutzen können. Ich hätte nichts von dem Horror mitbekommen, den so eine Dynamik für die Kinder und Jugendlichen in mir bedeutet. Nicht einen Hauch.

Irgendwann war ich leergeweint und dümpelte in der Dissoziation.
Dann stand ich an der Baustellenampel im Parkhaus und spürte die Erschöpfung wie eine warme Wachsdusche. Ich entschied mich gegen einen weiteren Diätanlauf in Eigenregie und begleite das auch jetzt noch mit etwas, das die Therapeutin mal gesagt hat: Alles ist anstrengender, wenn irgendwas nicht grundlegend erfüllt ist.
Ich kann es einfach nicht grundlegend (stabil, ohne außerordentliche Anstrengung) – das gesunde normale Leben machen.
Ich bin halt blöd chronisch stresshormonsüchtigabhängig und meiner Umwelt ist das schwer verständlich zu machen.

„Wie hast du denn so gar kein Erschöpfungsthema?“, hat mich jemand nach der letzten Lesung gefragt. Schon da habe ich mir ein gequältes Lächeln rausgedrückt. Denn ja, doch, klar hab ich ein Erschöpfungsthema. Total! Mein Wunsch im Leben ist, meine Ruhe zu haben. Endlich einfach nur Ruhe und Schlaf und nichts, was mich in irgendeiner Form agitiert. G’tt ich würde so gerne einfach mal einschlafen und wirklich und echt erst dann aufwachen, wenn ich auch wirklich und echt wach bin. Ich bin sau erschöpft. Ich stehe auf, gehe pinkeln und könnte dann schon wieder ins Bett kriechen, weil bereits das – dieses bloße einfache Pinkeln gehen – so ein inneres Traumadrama ist und das Traumadrama ums Im-Bett-Liegen schneller ins dissoziative Nichtsfühlen kippt.
Ich kenne mich nicht ungestresst. Nicht unter Druck. Nicht irgendwie doch damit beschäftigt, irgendwas zusammenzuhalten, damit ich selbst irgendwie be.greifbar bin. Sowohl für mich als auch für andere Menschen.
Ich hab sowas von ein Erschöpfungsthema.
Aber ich kann sehr gut auf Stress funktionieren. Vielleicht sogar nur so. Das will ich nicht hoffen, aber vielleicht gehört das zu den posttraumatischen Realitäten wie diese Essstörung, die Ängste an allen Ecken und Enden, das ewige Brodeln aus dumpfspitzscharfem Erinnerungsschleim, der hier und da zu Krusten getrocknet in mein Begreifen krümelt.

Aber vielleicht, ganz sicher, spreche ich nicht oft genug darüber, in dieser Klarheit.
Vielleicht muss ich mir auch eine Teilverantwortung für diesen medizinischen Fuckup geben. Denn natürlich habe ich meinem Kardiologen nichts von meinen 23 Jahren zwischen 47 und 127 Kilo erzählt. Natürlich weiß der nicht, dass ich komplex traumatisiert nach systematischer sexualisierter Ausbeutung bin. Und damit allein schon zu der Personengruppe gehöre, die doppelt mehrfach erhöhtes Risiko für allen möglichen Herzkreislauf-Shit hat. Noch vor meiner Risikoerhöhung durch die Depressionen und Ängste, meine Behinderung und die Medikamente, die ich nehme.
Andererseits hätte ich es ihm auch nicht verheimlicht, wenn ich nach Fragen zu meinen Symptomen auch danach gefragt worden wäre.

Man verbindet Lebensgeschichten wie meine immer mit Defiziten und Problemen. Aber, dass mich mein Aufwachsen in (toxischem) Stress befähigt, mich durch langanhaltende chronische Stressphasen zu bringen, ohne ständig krank zu sein, ohne andere mit meinen Emotionen zu belasten, ohne einen merkbaren Abfall in meiner Arbeitsleistung, das bleibt oft unbemerkt. Tatsächlich ist das oft eher der Grund für Irritation, wenn ich dann wirklich nicht mehr kann und absolut keinen Verhandlungsspielraum mehr einräumen kann. Dann denken andere Menschen eher, ich würde nicht verhandeln wollen, würde es mir bequem machen, würde einfach querschießen wollen. Keine Verantwortung tragen wollen, keinen Bock, kein Mitgefühl für andere haben. Während aber genau das oft die ersten Gründe für Dauerdurchhalten und intensive Selbstmotivation in die totale Erschöpfung sind. Darin nicht gesehen zu werden und auch keine Anerkennung dafür erhalten, hat bei mir dazu geführt, dass ich das bis heute nicht intuitiv erwarte, sondern als Selbstverständlichkeit in mein Leben hineingebacken empfinde. Ich ballere bis ans Limit und andere halten das für mein mittleres, übliches, normales Anstrengen.

Ich kam zu Hause an, legte den Rucksack ab, holte die Arbeitssachen heraus und arbeitete meine To-dos ab. Mit einem Ohr zum Partner, der immer noch auf den Anruf aus der Werkstatt wartete und umkämpfter Wachheit, denn die Hunde mussten auch noch raus und vielleicht könnte sich eine Zeitblase ergeben, um ein Design für unsere Hochzeitseinladung zu produzieren.
Der Tag verging. Ohne Zeitblase. Ohne Werkstattfahrt. Mit einer Hunderunde im Regen, während meine Betreuerin mit mir telefonierte. Mit dem Entschluss tatsächlich bald zu kündigen, meine Hausärztin um Hilfe beim Abnehmen zu bitten und zu akzeptieren, dass es gerade nicht anders geht, als meine Opferbelange selbstständig zu vertreten.
Ohne es okay zu finden.

Zwangshilfe

Der Begriff kam bei der Lesung auf. Am Ende. Ob vor oder nach der Frage danach, was denn meiner Meinung nach die Alternative sei – „Jemandem sagen, er soll springen, oder wie?“ – das weiß ich nicht mehr.
Was ich weiß und meine ist, dass diese Frage eine Waffe ist. Eine rhetorische Waffe. Benutzt bei einem Angriff, zur Verteidigung.

Ich lese oft die Kapitel „alle finden schlimm, was mir passiert“ und „die Einsicht“ vor. Sie drücken für mich am besten aus, worum es beim Thema Diagnose, Kontrolle und institutionelle Hilfekontexte geht – nämlich darum, dass es sich um Gewalt handelt, die gewollt ist und Aus.Wirkungen hat.
Niemand will, dass sich jemand das Leben nimmt, also zwingen wir einander dazu zu leben und damit wir gar nicht erst merken, was für ein übergriffiger, gewaltvoller Akt das ist, zementieren wir diesen Übergriff in unser Wertesystem. Bauen Institutionen, konstruieren Strafe und Pflicht um Ansprüche, die nie hinterfragt werden sollen. Wir sollen Angst davor haben, dass sich jemand suizidiert. Angst vor dem sozialen Tod, wenn wir zulassen, dass Menschen selbst gehen. Wir erzählen uns Geschichten darüber, wie froh Überlebende einer Depression über ihr Leben sind, wie dankbar für ihre Rettung vor dem Suizid, damit wir denken, dass wir das Beste, weil Richtigste getan haben.
Und weil die Toten nicht mehr sprechen können. Die Suizident_innen keine Stimme mehr haben.
Über sie wird gesagt, sie seien zu krank gewesen für eine richtige Entscheidung. Sie wären nicht in der Lage gewesen zu denken und zu entscheiden, wie ein normaler, gesunder Mensch und deshalb sei ihre Entscheidung falsch gewesen. Unsinnig. Krank. Absolut gestört.
Selbst im Tod ist der Mensch also nicht sicher vor Ableismus. Vor Gewalt.
Bitte – wie schrecklich ist das?

Warum ist unsere Angst, dass die Menschen in unserem Leben kein für sie lebenswertes Leben führen, nicht genauso groß wie vor ihrem Suizid? Warum kostet es uns allen nicht den Schlaf, das Herz, das Wohlgefühl, dass es so so so viele Menschen auf dieser Welt gibt, die absolut keinen Einfluss darauf haben (können, dürfen, sollen), wie sie leben?

Viele Überlebende eines Suizidversuches sagen, wie ich schon als 14 jährige_r, dass sie leben wollen – aber nicht so. Dass es so wie es ist, unaushaltbar ist. Dass sie die Dinge, die sich ändern müssten, nicht ändern können. Und die Menschen, die sie ändern könnten, sie nicht ändern wollen.
Nach dem gescheiterten oder verhinderten Suizidversuch kommen viele in die Phase der Hilfe, auch der Zwangshilfe. In der Phase werden Ressourcen aufgebaut, soziale Netze gestrickt, Zukunftsversprechen entwickelt und manchmal auch mit Medikamenten unterstützt. Wenn das denn alles funktioniert. Wenn nicht gerade Personalmangel ist. Die zuständige Kasse überhaupt bezahlt. Wenn man überhaupt ein_e weiße_r Überlebende_r in Deutschland ist und Rechte auf diese Behandlung geltend machen kann.

Suizid ist für alle – Hilfe, die hilfreich ist, nicht. Auch das muss man sich klarmachen. Auch das gehört zu den Gewalten, in denen wir einander Gesellschaft machen.
Hilfe ist ein Privileg, deshalb soll man sie gefälligst auch annehmen.
Wer das nicht tut, wird für die Gewalt der Zwangshilfe alleinverantwortlich gemacht. Dann sprechen andere darüber, was der Suizidversuch eigentlich bedeutet hat. Wie man welche Geste in Wahrheit einordnen muss. Und natürlich kommt dabei oft heraus, dass, wer sich dabei erwischen oder finden lässt, doch um die Hilfe gebeten hat. Wer es nicht schafft, wollte es also eigentlich auch gar nicht schaffen. Gut, dass dann jemand da war … oder?

Ich versuche bei meinen Lesungen möglichst wenig mit meiner eigenen Geschichte zu argumentieren. Beim Thema Zwang und Gewalt im Kontext der Hilfe geht es einfach nicht um mich. Es ging schon damals, als mir Hilfe aufgezwungen wurde, nicht um mich. Ich bin nicht die Person, die darüber bestimmt hat, wie mit mir umgegangen wurde und ich würde es in vergleichbarer Situation erneut nicht sein.
In Situationen des Zwangs und also der Gewalt geht es nie um ihre Opfer. Es geht um die Bedürfnisse der agierenden Instanz. Das ist bei Zwangsmaßnahmen zur Lebensrettung genauso wie bei Vergewaltigung, Raub, Mord, Steuerhinterziehung. Gewalt ist Täter_innensache. Immer.

Diesen Umstand zu negieren, legitimiert die Unfreiheit der Opfer. In jedem Fall.
Egal, wie gut gemeint. Wie nicht in böser Absicht getan. Wie her die Ziele auch sein mögen – wer sagt, dass Hilfe auch mal aufgezwungen werden muss, ermächtigt sich selbst und entmächtigt jemand anderen. Das ist ein Kernmerkmal von Gewalt.

Ein Bewusstsein dafür zu schaffen, ist eins der Ziele, das ich mit „Worum es geht, Autismus, Trauma und Gewalt“ verfolge. Ich will mit dem Buch nicht ausdrücken, wie böse dieser Arzt oder jene Psychologin mal zu mir war – ich will den Kern des Dramas dieser Erfahrungen aufblättern. Eine Idee davon geben, was für ein Leben mir damals ständig gerettet wurde. Klarmachen, dass die, die mir die Handgelenke zugenäht und den Magen ausgepumpt haben, nicht diejenigen waren, die mich aus dem organisierten Verbrechen gerettet haben. Und dass es auch nicht die organisierte Intensiventspannung nach Gongschlag eingehüllt in Lavendelduft war, die mir in irgendeiner Weise dazu verholfen hat, meine Perspektive als autistische und komplex traumatisierte Person in einer nicht-autistischen Welt zu validieren, zu normalisieren und zu verkörpern.
Das Leben, das mir damals mit so viel Gewalt zu retten versucht worden war, war unfassbar grauenhaft. Ich hatte keinen Anlass zur Dankbarkeit. Und wäre ich gestorben, so wäre das inzwischen auch längst vergangen und überhaupt nicht mehr wichtig. So wie es auch jetzt eher theoretisch als praktisch wichtig ist, wie viele Menschen gerade jetzt, in diesem Moment, genauso ausgebeutet und verletzt werden, wie ich damals. Und nichts anderes mehr wollen als zu sterben. Weil sich niemand für ihre Lebensqualität interessiert. Weil niemand da ist und was ändert oder ändern hilft.

Es ist nicht an mir, mir Alternativen zu Gewalt zu überlegen. Ich übe sie nicht aus.
Zumindest speziell diese Art der Gewalt, die mit dem Begriff der „Zwangshilfe“ benannt wird.

Ich werde niemals in meinem Leben jemanden dazu zwingen, sich nicht das Leben zu nehmen. Ich werde immer fragen, was sich ändern soll. Immer versuchen, Unterstützung beim Ändern von Dingen zu sein, die unaushaltbar sind. Immer für alle da sein, die es nicht allein durch- und aushalten wollen, können, sollen. Aber ich werde niemals von anderen Menschen erwarten, dass sie aushalten und ertragen, woran ich zerbrochen bin. Niemals.

*

Dass ich daran zerbrochen bin – das kam gerade einfach aus mir rausgeschrieben.
Großes krasses Wort. Zerbrochen. Klingt nach tot, kaputt und unwiederbringlich. Was gut passt zu meinem Gefühl für das, was ich empfinde, wenn es um Vertrauen in Helfer*innen und helfende Instanzen geht. Um alle, die es gut meinen und alles tun würden, um zu helfen.
Es hat sich in den vergangenen Jahren verändert, dieses Gefühl.
Es hindert mich nicht mehr sehr daran, offen mit meiner Therapeutin zu sprechen. Unterstützung anzufragen oder zu erbitten, wenn ich sie brauche. Ich kann inzwischen mit Behandler_innen und Helfenden sprechen, ohne mich leer und taub zu fühlen. Kann ihre Perspektive sehen, begreifen und in ihren Kontexten akzeptieren. Und manchmal schon ist es mir gelungen, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um Hilfen neu zu denken, umzusetzen und gewaltvolle Strukturen aufzulösen.

Was offen bleibt, ist jedoch meine Wunde aus diesen Kontexten.
Es gab nie und wird vermutlich auch nie irgendeine Wieder_Gutmachung geben. Oder gar Entschädigung. Zu begreifen, was mir angetan wurde, ist vielleicht das Einzige, was ich selbst irgendwie herstellen und weitergeben kann. Auf, dass es anderen nicht mehr passiert. Und wenn doch, dann nicht gleichsam unentschuldigt, unverantwortet, allgemein legitimiert.

Ich bin nicht bereit Helfergewalt zu decken und mich dem Druck zur Komplizenschaft zu beugen.
Meine Traumatisierung durch Helfer_innen und Behandler_innen wird häufig individualisiert und ableistisch abgewehrt. Man tritt mir oft mit der Idee gegenüber, ich hätte damals nur irgendetwas missverstanden oder aus meiner frühkindlichen/autistischen Irre heraus irgendeine Fürsorge für mich nicht wahrgenommen. Es wird oft überhört, dass dem nicht so ist. Diese so zerreißende Ebene überhaupt nicht verstanden. Wie es ist zu merken, dass man mit aller Liebe verletzt oder aus größster, wärmster, innigster Fürsorge heraus jeder Selbstbestimmung beraubt wird – das ist ein Kern meiner Helfertraumatisierung. Das ist der ganze irre widersinnige Moloch dessen, was eine komplexe Traumatisierung ausmacht.
Das ist, worum es bei Zwangshilfe und ihren Folgen geht.
Für mich. Die_r sie mehrfach üb.erlebt hat.

so ein_e Autor_in sein

500 €. Das sollen Autor_innen für eine Lesung verlangen. Sagt ver.di.
Als ich das lese, trabt eine Frankfurter Bahnhofstaube an meinem Rucksack vorbei. Es regnet, ist grau. Mein Zug hat Verspätung, meine Laune Tataros-Niveau. Tataros, das ist die Unterwelt der Unterwelt. Sisyphus ist da mit seinem Stein beschäftigt. Noch weiter runter und wir sind in den Eingeweiden von Gäa, aber darauf kann ich verzichten.

Ich verkneife mir ein Statement zum ver.di-Post auf Instagram. Denke daran, dass ich gleich 3 Stunden im Zug sitze, den Laptop eh rausfummle und dabei fürchterlich umständlich knistere, während irgendeine Gisela durchs Abteil gackert. Deutsche im ICE, wir sind schon schöne Scherenschnitte.

Nein, ich verlange keine 500 € für meine Autor*innenlesungen. Ich verlange nicht mal Reisekosten. Ich bin froh, wenn sich jemand auf meine Anfrage für eine Lesung zurückmeldet. So läuft das bei mir und meistens ich bin zufrieden damit.
Heute erfüllt es mich mit Grummeligkeit, weil die letzten beide Tage einfach enorm überanstrengend waren. Zugausfall, unterwegs-Meltdowns, Hotelfail, Organisationspleite bei einer Arbeitssituation auf der Buchmesse – good soup for when you are burning. Und gekostet hat es mich ca. 900 €. Weil ich spontan ein anderes Hotel brauchte. In Frankfurt, während der Buchmesse.
Honorar gibt es keins, Fahrkosten, Unterkunftskosten, Verpflegungskosten auch nicht.
Ich bin froh, wenn ich meinen Menstruationsblut rauskrampfenden Körper heute nach Hause gewuchtet bekomme. Wenn ich der Stille in meinem Kopf nachlauschen und Bubi durch die Nadelbaumplantage in unserer Nachbarschaft folgen kann. Wenn ich aufhöre zu denken, ich könnte so ein_e Autor_in werden. So eine_r für die_n Lesungen organisiert werden. Die_r gar nicht fragen oder verlangen muss, sondern angeboten bekommt.

In 11,6 gelaufenen Buchmessekilometern entstehen solche Ideen einfach. Solche völlig überzogenen Selbstbilder. Mein Buch bei einem Riesenverlag, mein Manuskript verhandelt in einer dieser kleinen Buchten mit einer international agierenden Verlagsgruppe. Meine Kopfgeburt fruchtwassernass glänzend in den Regalen von Thalia. Meine literarischen Perlen, gefressen mit Messer und Gabel.
So etwas ist utopisch. Absolut out of reach. Und eigentlich, so wie Buchmarkt und Literaturverwertung heute funktioniert, auch gar nicht erstrebenswert.
Aber ja, so wie ich hier sitze, neben mir ein Businesskasper, vorne tatsächlich eine Gisela, da wäre ich gern nicht Hannah, die ein Buch geschrieben hat, sondern Autor_in nach zwei Arbeitstagen. Die_r jetzt auch ausruhen darf.
Aber nein. So eine Autor_in bin ich nicht. Und für das, was das Schreiben mir bedeutet, ist das auch gut so.

Filmrezension „Wochenendrebellen“

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Vergangene Woche startete der Film „Wochenendrebellen“ im Kino.
Die Handlung beruht auf wahren Begebenheiten, die in Teilen für die Dramaturgie des Filmes leicht verändert wurden. Beschrieben als „warmherzige Komödie“, verspricht er leichte Unterhaltung über die Suche von Mirco und seinen autistischen Sohn Jason nach einem Lieblingsfußballverein. Das Versprechen wird eingelöst. Vielleicht ein wenig zu sehr.

Am Anfang steht eine Gegenwart vieler Familien mit behinderten Kindern. Wie war die Lage damals bei den von Juterzcenkas? – Schwierig. Jason hat es schwer, seine Familie inmitten anderer Kontexte, wie Arbeit und Familienfürsorge, auch.
Die Suche nach einem Lieblingsverein ermöglicht einen kleinen Ausbruch aus allem Schweren und gibt dem Lauf der Dinge eine neue Richtung. Viele neue, intensive und zuweilen auch schwierige Dinge passieren und werden wohl immer passieren. Und das ist schön.
Und mit dieser doch etwas schlichten Note endet der Film.

Trotz aller Kritik, die ich nun an dem Film niederschreibe, eine, die wichtigste, Sache vorweg: Es hat mir Spaß gemacht, den Film zu schauen. Ich wurde gut unterhalten und ich fühle sehr viel Dankbarkeit darüber, dass es hier gelungen ist, einen Film zu machen, in dem das autistische Erleben einer Person viel beeinflusst und für die Story relevant ist, aber nicht sein Hauptthema stellt.

Leider erscheint mir alles andere, was für die Story relevant ist oder auch erzählt hätte werden können, etwas vernachlässigt. Stichwort Charakterentwicklung.
Alle Figuren bleiben von Anfang bis Ende gleich. Gut, die Mami hat irgendwann mal die Haare schön, aber die besorgte, realistische Bedenkenträgerin vom Anfang bleibt sie. Dass Mirco neben seiner Arbeit unter der Woche dann auch noch am Wochenende unterwegs ist, hat keine sichtbaren Auswirkungen. Opa ist Fußballfan und lieb, Ömchen hat im ganzen Film zwei bis drei belanglose Sätze. Das Baby bleibt ein Baby. Selbst die Kühlschranktür bleibt bis zum Schluss kaputt.
Einzig Jason macht eine kleine Entwicklung durch – vom passiv-massivem Forderer zum aktiv-massivem Umsetzer, der regelt. Hm.

Das echte Leben des Vater-Sohn-Duos hat mehr Facetten. Logisch. In ihrem Podcast „Wochenenrebellen“ sowie in ihrem Blog, dem Newsletter und nicht zuletzt ihrer Instagrampräsenz können sie mehr davon teilen. Entsprechend drastisch ist der Unterschied zwischen der leicht-seichten Familiendramedy, die der Film letztlich ist und dem, was sie tatsächlich miteinander erleben und entwickelt haben.

Der Film versucht möglichst alles davon zu erzählen und setzt dadurch keinen konkreten Fokus. Obwohl die Suche nach dem Lieblingsverein das Thema sein soll und sich die Geschichte der Beziehung, das zunehmende Verständnis für einander, die gegenseitige Perspektivübernahme ebenfalls hätte gut erzählen lassen können.
Grundsätzlich ist der Film bis zur Hälfte etwa gut im Tempo, interessant und, speziell was die künstlerische Umsetzung von Jasons Wahrnehmung angeht, ausgezeichnet gelungen. Doch dort – bei den Besuchen im Stadion – entsteht ein Spannungsplateau, von dem man heruntergelangweilt wird.
„Wochenendrebellen“ hätte 20 Minuten kürzer sein können. Ein Ende im Zug, mitten in der Fahrt, „Papsi, ich will, dass wir das für immer machen.“ – Punkt. Doch auch am Ende gibt es Ausschweifungen, die an der Aufmerksamkeit ziehen, ohne in Bezug auf die Geschichte oder die Charaktere zu belohnen. Das ist ein Redaktionsfehler und bedauerlich.

Andererseits denke ich: Diesen Film hätte man auch um Faktor tausend bedauerlicher machen können.
Meiner Ansicht nach sollten nicht-autistische Menschen „Wochenendrebellen“ bevorzugt in Begleitung von Autist*innen schauen, um ihre Einordnung des Gesehenen sofort korrigiert oder bestätigt zu bekommen. Zum Beispiel, um Sätze wie „Jason ist Autist, und er muss sich die laut dröhnende Welt zurechtregeln.“ [Rezension bei Zeit online] in ihrer Unsinnigkeit zu verstehen. Oder zu verstehen, welche Ebenen ein Meltdown über Ja, jetzt schreit der halt rum, was er will“ hinaus auch hat.
Themen, über die autistische und nicht-autistische Menschen ohnehin viel häufiger miteinander reden sollten, um einander mehr Verstehen und Mitgefühl entgegenbringen zu können und letztlich auch der Inklusion behinderter Menschen einen Schritt näherzukommen.

Fazit: Der Film ist hmmnjagut – der Podcast, die Bücher und die Internetpräsenz der Wochenendrebellen sind besser.
Viel besser.

*full disclaimer: Ich habe Jasons Buch (T)Raumschiff Erde, welch Wunder wir zerstören“ gesetzt und werde auch die Fortsetzung von Wir Wochenendrebellen“ setzen. Diese Rezension wurde unbeauftragt geschrieben. Den Eintritt zum Film habe ich selbst bezahlt.

 

Verantwortungsedition

Der letzte Text von Paula Rabe hat es mir bewusst gemacht. „Trauma und Erinnerungen“ heißt er und enthält viele Fragen. Vielleicht fast alle Fragen, die seit nun über 21 Jahren mein Leben mit.bestimmen.

In meinem letzten Text versuchte ich auszudrücken, wie es mir im Moment damit geht, mich mit meinen Erinnerungen zu befassen. Ich schrieb, dass ich froh bin, fortfahren zu können. Auch aufhören zu können, darüber nachzudenken. Zu interpretieren. Puzzlestücke aneinander zu halten, zu suchen und doch nie mit Sicherheit über Wahrhaftigkeit, Richtigkeit, ~Echtheit~ zusammenzufügen.
Einer der wichtigsten Therapierfolge.
Ich kann diesen Prozess – grob, vage, nach einiger innerer Justierung und gestützt auf innere Konzepte, die mir Halt und Stütze geben – selbst bestimmen. Ich kann beeinflussen, wie lange er dauert. Ob ich ihn beworte. Ob ich ihn hinnehme, normalisiere, abperlen oder eindringen lasse – oder auch nicht. Das ist sehr viel wert, denn das Ausgeliefertsein an unkontrollierbares Erinnern hat lange den Großteil meiner posttraumatischen Belastung ausgemacht.

Dabei ging es aber nie nur um das implizite immer-wieder-erleben von Ohnmacht, ausgeliefert und hilflos sein, das damit einherging. Auch die Unmöglichkeit, sich darüber kohärent ausdrücken zu können und das eigene Nichtverstehen waren sehr belastend.
Und sind es zuweilen heute noch.
Neben aller Puzzlearbeit. Neben der Akzeptanz des Umstandes, dass mehr als Puzzle nicht verfügbar ist.

Nach meinem letzten Text habe ich darüber nachgedacht, ob ich wirklich mehr wissen will. Ob ich mehr zulassen will. Ob es übersteigertes Selbstbewusstsein und Eitelkeit oder auch von mir annehmbar normal ist, das eigene Bild von Kindheit, Jugend und Selbst – wenn man es sich schon selbst irgendwie herstellen muss – von so schwierigen, schrecklichen, fürchterlichen Dingen freihalten zu wollen.
Bin ich traumaphobisch oder gewaltvermeidend? Finde ich mich zu großartig, um zurückliegende Momente von Demütigung und Würdelosigkeit in meinem Leben zu akzeptieren? Oder habe ich Angst davor, dass der Täter_innenwille sich durch meine Akzeptanz realisiert und mit meinem Fleisch verkörpert?
Ich bin zu keinem abschließenden Punkt gekommen.

Mir ist aufgefallen, dass ich grenzenlose Aggression in mir anstoße, wenn ich versuche mich ernsthaft zu widmen. Und wenn ich mich gar nicht widme. Und wenn ich mich anschleiche. Und wenn ich so tue, als würde es mir nicht um mich gehen. Wenn ich etwas davon aufschreiben will. Oder ich beobachte, wie meine Therapeutin etwas davon aufschreibt. Wenn es um die Wahrheit geht und wenn die Wahrheit scheißegal ist.
Also eigentlich, irgendwie, immer.

Dies und mein Wunsch, mein so klassischer Wunsch einer ANP, nach einer Zeit der Fraglosigkeit. Die sind mein Fallstrick.
Ich will meine Ruhe. Immer noch, wie schon immer. Ich will Ruhe im Kopf, Ruhe im Leben. Ich will, dass das alles nie war. Von mir aus mit Lüge. Mit reinsteigern und glauben bis in den Tod. Mit: „Alles war okay, nur ich halt nicht. Naja. Hätt schlimmer sein können. Jeder Tag bringt was zum dankbar sein, tüddelü.“ Ich kann so leben. Die anderen in mir halt nicht.
Blöd.

Und damit bin ich konfrontiert, wenn ich heute etwas erinnere – oder erinnern könnte, wenn ich es denn zulassen würde.
Ich weiß, dass ich mit meiner Aggression verantwortungsvoll umgehen muss. Also umgehe ich sie.
Vermeidungstanz „Verantwortungsedition“.
So kann ich sie natürlich nicht mit jemandem teilen. So kann ich sie nicht lösen. So kann ich nichts erfahren. So kann ich nichts lernen. Aber schützen, bewahren, Zeit und Raum zum Finden von alternativen Zugängen schaffen. Denke ich. Rede ich mir ein. Weil mir etwas anderes nicht bleibt.

Denn ja, mit vielen Gefühlen muss man nicht allein bleiben. Auch ich nicht.
Aber damit schon.
Die Monster, die bösen Mädchen, sie sind einfach nicht kompatibel.
Für mich ist das fraglos.
Traumawahr.

Fortfahren

Für mich war es okay, für die Kinder der absolute Horror. Und so dann irgendwann auch für mich. Schwankende Netzabdeckung, kein Telefonnetz. Keine Fluchtmöglichkeit aus meinem eigenen Kopf, der Körper erschöpft vom Radfahren den ganzen Tag.

Eigentlich das, was ich die ganze Zeit wollte. Nur nicht in so einem Moment. So einem Moment wachsender Überzeugung, dass die Erinnerung eigentlich doch die Gegenwart ist, weil so vieles gleich ist. Nicht nur Um- und Gegenstände, sondern auch das Gefühl. Die Angst, die Starre, die Fluchtunmöglichkeit, der unerträgliche Zwiespalt über den Sinn und Unsinn nach Hilfe zu rufen, weil ja NOCH nichts passiert ist, aber mit Sicherheit bald. Was ja aber in der Regel belächelt, abgetan, nicht verstanden, nicht einmal geglaubt wird. Heute wie damals.

Ich bin süchtig. Seit ich 15 Jahre alt bin, sind Beruhigungsmittel mein allgemein legitimierter Fluchtweg. Selbstverständlich reise ich mit Tabletten im Gepäck. Und auf jeden Fall habe ich uns aus diesem Zustand rausgeschossen. Richtig weit weg. Nirgendwohin.

Am nächsten Morgen überlegte ich, wovor ich da eigentlich flüchtete. Es sind die Gefühle, ja, aber doch auch die Gedanken. Die Schlüsse, zu denen ich kommen könnte, würde ich mehr über dieses eine spezielle Kapitel in meiner Gewaltgeschichte wissen. Die Urteile, die ich fälle, obwohl sie mir nicht zustehen. Die Ungerechtigkeit in all dem, die mit nichts, von nichts und niemandem irgendwie ausgeglichen werden kann, weil Gewalt einfach keiner Sachlogik folgt, sondern sich selbst.

Das ist womit ich bis heute keinen guten, gesunden, wohlwollend, ruhenden Umgang habe. Der Umstand, dass es SO scheißegal ist, was ich eigentlich erinnere und wie kongruent oder beweisbar – am Ende ist es immer nicht wiedergutmachbar, weil es kein gutes Vorher gab. Jedes Erinnern ist ein Klecks mehr auf der Scheißekleckerburg. Und die steht nicht an einem Meer, das sie abträgt.

Aus Erinnerungen an Gewalterfahrungen kann man keine Waffe machen. Keine Werkzeuge, nichts. Nichts, was wirklich nutzbar ist. Außer als Gegenstück, als Grenzpfeiler sozusagen.

Ich wollte und will irgendwie noch immer meine eigene Geschichte kennen. Alles davon. Weil ich annehme, dass ich dadurch vollständiger werde. Aber ich will mich nicht wissentlich und willentlich mit Scheiße vervollständigen. Ich will nicht Teil davon gewesen sein und dann auch noch für immer bleiben. Und darüber denken, was die Kinder denken. Und schon gar nicht fühlen, was die Kinder deshalb und dazu fühlen.

Über mir fliegen Gänse in Formation. Die Sonne scheint, die Luft ist kühl und feucht. Ich bin froh, dass die Nacht vorbei ist. Dass ich, im wahrsten Sinne des Wortes, fortfahren kann. Dass es eben doch meine Wahl ist und bleibt, wie und wann und wozu ich mich dem Erinnern widme.

Hierseinmüssenzeit

Und dann riecht die Luft nach Popcorn. Seit Stunden rauschen Autos neben mir die Straße lang, über meiner Oberlippe schmeckt es nach übersalzten Chips. Ich suche nach einer Fabrik, finde keine. Das Geheimnis bleibt ungelüftet, ich fahre weiter.

So wie es jetzt wird, sollte es nicht werden. Eigentlich wollten wir uns morgen mit dem Partner treffen, um den neuen Wohnwagen einzufurzen (Fachjargon für „zu unserem zu machen“). Wir wollten in die mecklenburgische Klüste. Weg halt. Aber dann bekam ich eine Nachricht von der Bekanntschaft, mit der wir am Montag den Abend verbracht haben. Sie hat einen positiven Coronatest.

Schluß mit Nirgendwosein. Back to Coronaangst, Sorge, Ungewissheit, Verzicht.

Und auch back zu diesem Kackstrudel aus „Okay okay alle Fäden festhalten, mitdenken, umplanen, Ankündigungen – hahaha Wer braucht die – ich? naaaaaa 🤪🪓“ den so viele Bereiche in meinem Alltag in sich haben. An dem Abend lag ich mit viel Wut im Bauch auf meiner Luftmatratze. Die gleiche Wut, die ich mir im Alltag weiterhin meistens einfach verbiete oder aktiv wegverdränge. Warum ist diese Scheiße nicht endlich vorbei. Ich kann das nicht mehr, ich will das nicht mehr, es soll aufhören, ich will endlich wenigstens eine richtige Sorge-Pause… Menno. Stampf. Grad keine Tür zum Knallen da, grmpf.

So fahre ich also nicht in die mecklenburgische Klüste, sondern zu dem Eulen-Campingplatz zurück und gebe mir einen Ruhetag in Stadtnähe. Teste mich, schlafe, trinke, ruhe. Wenn ich positiv werde, holt mich ein lieber Bekannter ab und bringt mich nach Hause. Wenn ich negativ bleibe, geht es weiter.

Ich finde mich erwachsen so. Aber genau dort wollte ich in diesem Urlaub nicht sein. Ich wollte Quatschentscheidungen ausprobieren, Kinderideen verfolgen, weil ich ja nirgendwo sein würde, wo es so wie sonst auf meine Erwachsenheit ankommt. Auch das macht einiges meiner Wut aus. Und das ist neu. Ich war noch nie wütend darüber, dafür keinen Raum zu haben.

Noch nie in meinem ganzen Leben.

der Warntag 2023

Später im Zug fülle ich die Umfrage zum Warntag aus.
Ich schreibe in das Kästchen für Vorschläge und Ideen, dass ich gern eine Warn-App in Leichter Sprache hätte. Wo vielleicht statt fünf Zeilen Text, ein Piktogramm zu sehen ist. Wo man die Vibration erst ausstellen und dann einen Text mit Handlungsanweisungen lesen kann.
Am Ende schreibe ich dazu, dass ich mich allein zurechtfinden können will. Dass mir die Vorstellung, im echten Notfall auf aufgeregte Menschen angewiesen zu sein, Angst macht.

Später kämpfe ich gegen meine eingesickerte Behindertenfeindlichkeit an. Zweifle an der Angemessenheit meiner Nachricht, denke: „Also, man kann sich jawohl auch zusammenreißen.“, obwohl ich doch selbst dabei war. Vollkommen zusammengerissen. In der Praxis meines Kardiologen, wo neben den Handys aller Patient_innen auch die des Personals und deren IT-Geräte und von zwei Gebäuden draußen alles losschrillte. Durch meine Otoplastiken und die Kopfhörer darüber.
Ich hatte Glück, denn ich musste mir keine zwei Minuten nach dem Alarm drei auf den Oberkörper geklebte Elektrodenpflaster runterreißen. Schmerz ist antidissoziativ. Schmerz wirkt.
Und stresst.

Meine Zusammengerissenheit ist mein Stresspanzer. Damit konnte ich aus der Praxis rumpeln und wenigstens noch etwas trinken und die Maske abnehmen, bevor die nächste Sirene von zwei Seiten gleichzeitig in meinen Kopf eindrang.
Wie letztes Jahr beobachtete ich ein Kinderinnen bei einer Kommunikation mit K., meiner Freundin. Meine so wunderbar pragmatische Erklärfreundin. Die nicht groß fragt, was ist los, wie fühlst du dich, möchtest du einen Apfelschnitz, sondern sofort schaltet und erklärt, was los ist. Eindeutige Sätze schreibt. Die sich irgendwo im Kopf schon denkt, dass ich das bin, aber anders. Angewiesener, verletzlicher, – temporär – hilflos.
Dazwischen kommt eine SMS von meiner Therapeutin. Sie wird zur nächsten Quelle von Orientierung durch Erklärung. Die Klarheit bringt die Sicherheit rein. Die Sicherheit reduziert den Stress. Meine aufgeplatzten Panzernähte wachsen wieder zu. Ich bin da und laufe durch die Innenstadt zum Therapietermin.

Es hat gut geklappt. Mein Netz hat gegriffen. Der Notfalltest ist kein Notfall für mich geworden. Im Zug muss ich mich deutlich daran erinnern, dass das so ist, weil die Menschen in meinem Leben wissen, wann meine DIS und der Autismus mich konkret und ziemlich grundlegend behindern. Weil ich es geschafft habe, an bestimmten Punkten sehr deutlich zu machen, dass ich manche Barrieren nicht einfach nehmen kann. Viel, extrem viel deutlicher, als ich mich das früher getraut habe. Als ich mir selber zugestanden habe. Denn man kann sich ja auch mal zusammenreißen. Man kann sich ja auch mal nicht anstellen. Ich bin doch nicht so. SO sind nur Behinderte wie die, die im Ahrtal ertränkt wurden. Oder die im Oberlinhaus ermordet wurden. Die, die in echt nichts von allein, aus sich selbst heraus können.

Mein Halt in solchen Momenten ist die Erinnerung an den Unterschied zwischen behindert sein und behindert werden.
Dass ich Lärm und vielquellige Geräusche nicht gut verarbeiten und kompensieren kann, ist mir selbst inne. Okay, das ist mein Bausatz. Etwas, das mich behindert sein lässt. Aber, dass die Hilfsmittel, wie Warn-Apps, wie Infotexte und Durchsagen von mir nicht genauso einfach – auch in einer Stresssituation! – genutzt werden können, behindert mich dabei, informierte, selbstständige und selbstbestimmte Handlungsentscheidungen treffen zu können. Damit ich sicher bin. Damit ich eben nicht in Todesängste rutsche und noch angewiesener auf Menschen bin, die Behinderungen einfach überwinden können und deshalb überhaupt kein Begreifen oder Einfühlen in meine Situation haben. Und deshalb einfach brutal gefährlich für mich sein können.

Wenn ich um Zugang, Teilhabe, Entlastung von meiner Dauerkompensation bitte, hat das für mich viel mit Mut zu tun. Auch, weil ich mit so einer Bitte mein direktes Umfeld einem Stresstest aussetze. Und unter Stress dann doch die eine oder andere Feindlichkeit hervorkommt, die eine oder andere Haltung, die mir zeigt, dass ich doch nicht wirklich sicher bin. Oder nur bis zu einem bestimmten Punkt. Und wie selbstverständlich ist diesem Punkt inne, dass ich Barrieren aus mir selbst heraus kompensieren können muss. Als hätte diese Fertigkeit einfach gar keine Grenzen und entstünde nicht aus meinem Er_Leben als behinderte Person.

Mit diesem Gedanken beende ich den Konflikt in mir.
Es muss aufhören, dass selbstverständlich angenommen wird, behinderte Menschen würden sich gern oder selbstverständlich oder aus einem Gefühl von Sicherheit an andere Menschen wenden, wenn sie vor Barrieren gestellt werden, die sie nicht selbst überwinden können. Es ist einfach sehr oft ein unausgesprochener, unbedachter, zuweilen naturalisierter Zwang zur Angewiesenheit, die dann aber gleichzeitig häufig als nervig, anstrengend, stressig, belastend bewertet wird.

Was zu sagen und sich etwas konkret und nicht soooo schwer umzusetzendes zu wünschen, wie eine zugänglichere Warn-App und Piktogramme in der Katastrophenkommunikation, ist keine Belastung, wenn man sich wirklich für alle drum kümmern will.
Man hat in der Umfrage um Hilfe gebeten. Ich habe geholfen. Fertig.

Könnt ihr übrigens auch – hier geht es zur Umfrage: https://www.warntag-umfrage.de/