War es die Mandel-OP mit 15 oder die Blinddarmentzündung mit 16, ich weiß es nicht mehr. An einem Punkt meiner medizinischen Vita jedenfalls begriff ich, dass ich Schmerzen nicht denke, wie ich Gefühle denke. Dass ich mit meinen Gedanken zwar beeinflussen kann, wie mich etwas schmerzt, jedoch nicht, dass etwas schmerzt.
Mit dem vertieften Wissen um meine Alexithymie weiß ich, dass der Weg vom passierenden Schmerz zum begriffenen Schmerz, dem Verstehen und Einschätzen eines Schmerzerlebens, für mich weder intuitiv noch linear ist.
In der Regel fühle ich dauernd irgendwas und manches davon tut mir auch weh – ist aber kein Schmerzreiz im klassischen Sinne, sondern ein Gefühl aus einer oder mehreren Emotionen heraus.
Und manchmal fühle ich einen Schmerz und halte ihn für ein Gefühl, das ich noch nicht genügend prozessiert habe, um es zu erkennen.
Lange dachte ich, dass meine Gewalterfahrungen und meine Tendenz zur überwiegend kognitiven Herangehensweise an emotionale Vorgänge der Hauptgrund dafür sind, meine Körpererfahrungen im Allgemeinen nur im Extrem sicher wahrnehmen und einordnen zu können. Gewalterfahrungen, die auch Erfahrungen von Todesnähe sind, erweitern die Skala zur Einordnung von Schmerz erheblich und wenn diese Schmerzerfahrung zum Mittel werden, weil sie so häufig sind, bekommt man im späteren Leben ein Problem.
Vor allem eines, das mit Dissoziation zu tun hat, denn die Verknüpfung von Schmerz und Trauma wird früher oder später zu einem Trigger von (unkontrolliertem) Erinnern an ebenjene Schmerzerfahrung und damit etwas, das man so gut es geht zu vermeiden versucht. In meinem Fall war das eine weitere Schicht Dissoziation in Form von Handlungs(sub)systemen, die, wie ich, einfach nicht mehr dran denken und in ihrem Funktionieren weder große Sensitivität noch Kompetenz entwickeln, mit Schmerz anders als mit üblichen Gedanken und Gefühlen umzugehen.
Wichtig ist mir dazuzuschreiben, dass ich keineswegs schmerzunempfindlich bin oder mich gefährlichen Situationen aussetze, weil ich keinen Begriff von Schmerz und deshalb Verletzung habe. Ich bin eher schmerzunverständlich. Und das hat sowohl mit dem dissoziativen Wahrnehmen meiner Selbst und meiner Umwelt, aber auch meinem autistischen Prozessieren dessen, was ich von der Umwelt und mir selbst (meinem Körper inklusive) wahrnehme, zu tun.
Ich brauche viele Informationen über mein Erleben, bis ich es Begriffen zuordnen und abgleichen, erkennen und begreifen kann – um dann bedarfsgerecht handeln zu können.
Bei oberflächlichen Wunden, Knochenbrüchen, Verstauchungen, Verbrennungen, Abschürfungen, Quetschungen der Haut zum Beispiel bietet mir der Anblick viele Abgleichspunkte. Je weiter die versehrte Stelle vom üblichen Anblick abweicht, desto sicherer kann ich die bei mir eingehenden Signale a) dieser Stelle und ihrem Zustand zuordnen, b) sie als Schmerz erkennen und c) differenzieren, was hilft und was nicht.
Anders ist es bei Schmerzen, die durch Prozesse im Körperinneren entstehen.
Ich bin in meinem Körper- und Emotionsempfinden nicht viel anders als Kinder. Auch sie lokalisieren viele Organschmerzen und (emotionales) Unwohlsein als Bauchschmerzen oder mehr oder weniger wortlose Diffusion. Mein Add-on als erwachsene traumafolgenbewusste Person ist da einzig der Zusatz: „Ist vermutlich ein Flashback“, denn oft ist es das tatsächlich. Ein Flashback, also in meiner Übersetzung für mich: ein unklarer Gedanke, ein uneindeutiges Gefühl, unkontrolliert erinnert, vermutlich aus einem Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen.
Die Einordnung von Schmerz als einem Flashback zugehörig ist, auch wenn das nach sehr wenig klingt und, wenn man länger darüber nachdenkt, auch einigermaßen tragisch, ein Therapieerfolg. Denn vorher war da nur Diffusion. Uneindeutigkeit. Unklarheit. Hilflosigkeit und Ohnmacht, die ihrerseits wieder Erinnerungsprozesse triggernd wirkten.
Ich halte das für wenig, weil ein Flashback keinerlei Informationen über den Schmerz selbst enthält, sondern lediglich über eine mögliche Ursache, die unmöglich von mir überprüft werden kann. Und für tragisch, weil auch ein Flashback nicht das Gegenteil von diffus ist.
Jedoch – es ist ein Anfang. Eine erste grobe Kategorie.
Es ist hilfreich, wenn man sich nicht ständig fragen muss, ob man aktuell noch Täter_innenkontakt hat oder nicht, weil man sich nach wie vor immer wieder völlig zerstört an_fühlt. Es ist hilfreich, wenn man nicht mehr oder weniger stumm, starr, wirr in einer hausärztlichen Praxis oder schlimmer einer Notaufnahme landet und nicht recht weiß: Asthmaattacke – Herzinfarkt – Panikattacke – Erinnerung an das Gefühl, das ein erwachsener Mensch auf einem Kinderkörper auslöst?
Mehr als eine erste grobe Kategorie ist es jedoch nicht und hier enden meiner Ansicht nach die Möglichkeiten dessen, was mir die Traumatherapie an hilfreichem im Umgang mit meinen Schwierigkeiten der Interpretation bisher geboten hat.
Ich brauche nicht mehr zu lernen, dass ich Empfindungen haben darf und auch nicht, dass meine medizinischen oder sozialen Bedarfe berechtigt und in Ordnung sind. Ich muss mich nicht von in der Form von täter_innenidentifizierten oder -loyalen Innens emanzipieren, dass ich mir Schmerz eingestehen kann oder ein Leiden darunter. Viel mehr brauche ich ein Umfeld, in dem es in Ordnung ist, dementsprechend auch zu leben.
Mir ist gestern, während wir im Auto zum medizinischen Bereitschaftsdienst der nächsten Klinik fuhren, aufgefallen, dass wir nie einfach nur medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, nie einfach nur mit unserem „Privattrauma“ in Kontakt mit Mediziner_innen gehen. Immer sitzen auch die unprofessionellen, inkompetenten, emotional verletzenden, psychisch gewaltvollen Sprüche und Handlungen von Vorbehandler_innen mit im Wartezimmer. Mischen sich in die Art und Weise, wie man über den eigenen Körper, das eigene Erleben des Befindens und den Verlauf des Problems oder einer Krankheit spricht und beeinflussen auch, wie man aufnimmt, was die aktuell behandelnde Person sagt und macht.
Ich leide derzeit an einer Nierenbeckenentzündung, infolge eines verschleppten Harnwegsinfektes. Das ist eine Information, die ich einordnen kann und die mir hilft den Schmerz, den ich seit Wochen (Monaten) für eine Mischung aus Rückenschmerzen, Flashbacks und sehr viel selber schuld hielt, nicht nur emotional richtig einzuordnen, sondern auch in meinem Körper.
Diese Einordnung hat mir außerdem ermöglicht, eine gemeinsame Sachebene mit der Behandler_in zu finden, auf der ich viele der Fragen, die sich dadurch bei mir ergeben haben, stellen und beantwortet haben konnte. Das ist ein völlig anderes Verhältnis und eine völlig andere Basis für meine Behandlung. Denn auf einer Sachebene geht es nicht um meine Gefühle und auch nicht um mein Trauma, meine Erfahrungen mit medizinischem Gaslighting oder die inkompetenten Behandler_innen, mit denen ich schon zu tun hatte, sondern um die Ordnung und Beurteilung der vorliegenden Informationen. Eine von vielen Menschen sekundär vor der sozialen Versorgung wertgeschätzte Seite in der Auseinandersetzung mit Körper und Befinden.
Die Medizin unserer Gesellschaft wird häufig mit Aufgaben der sozialen Versorgung konfrontiert, ohne dieser in Ausbildung oder Ressourcen nachkommen zu können. Gleichzeitig gilt in vielen Praxen und Krankenhäusern Effizienz vor Effektivität, Quantität vor Qualität, was oft zur Folge hat, dass für die Krankheitserklärung nach der Krankheitsentdeckung oft wenig und besonders bei weniger gravierenden Erkrankungen gar kein Raum bleibt. Diese Auseinandersetzung erleben auch Menschen ohne Komplex_Trauma in der Biografie oft als entmenschlichend, kalt, lieblos, wenig wertschätzend und übertragen diesen Umgang in gewisser Weise auch auf ihren Umgang mit der Krankheit. So wird die Behandlung zur Vernichtung der Krankheit und damit gewissermaßen zur Wiederherstellung eines Menschen, der mitfühlende Zuwendung wirklich braucht, aber nicht mehr bei Mediziner_innen suchen muss, nur weil diese die Menschen sind, mit denen sie_r gerade zu tun hat. Die erfolgreiche Behandlung endet für die meisten Menschen mit einer bestätigten Erfahrung ihrer Intuition über ihr Körpergefühl.
Für mich ist sie das Ende einer umfassenden Recherche über meine Erkrankung, ihrer Behandlung und sämtlichen Aspekten, die mir anzeigen, was ich wann wie fühlen könnte und welche Empfindungen wann was bedeuten könnten. Ich kann aus mir selbst und intuitiv nicht unbedingt sagen, ob es mir besser oder schlechter geht, nachdem ich Medikamente bekommen habe und kann Veränderungen im Schmerzerleben oder dessen Position nicht ohne genug Zeit zur Prozessierung der Empfindung selbst mitteilen. Viele Informationen über meine Erkrankung bieten mir allerdings einen mehr oder weniger engen Rahmen, von dem ich mein Empfinden abgrenzen kann bzw. innerhalb dessen ich mein Empfinden abgleichen kann. Es ist eine Hilfe wie etwa eine Speisekarte im Restaurant.
Eine Hilfestellung, die viele Behandler_innen aus Gründen, die in der Regel mehr mit Macht denn ärztlicher Für_Sorge zu tun haben, nicht von sich aus geben und mich aufgrund meiner Behinderung in einer Situation verhaften, die mich für Falschdiagnosen und Falschbehandlung geradezu prädestiniert. Und, die mein Verhältnis zu Schmerzen und Krankheit im Allgemeinen ähnlich stark beeinflusst wie die Gewalterfahrungen in meiner Kindheit, Jugend, im jungen Erwachsenenalter.
Mit allen Konsequenzen.