Fundstücke #55

Sie sagt, es sei gut, dass wir keine Angst vor dem Tod haben und seufzt.
Ich beobachte das Geräusch noch eine Weile und denke darüber nach, was es ist, das Menschen Angst vor dem Tod macht. Oder vor anderen Dingen.

Der Tod ist keine Sache. Ich glaube deshalb fällt es mir schwer, mich davor zu fürchten.
Tod macht nichts. Tut nichts. Tod ist einfach. Genau wie das Leben.

Ich habe Angst vor der Zeit, wenn NakNak* tot ist, sage ich ihr. Warum, fragt sie.
Weil andere Menschen davon erfahren werden, antworte ich und spüre, wie mir bei dem Gedanken daran der Oberkörper eng wird.
Sie werden mir Dinge sagen und Trost spenden wollen. Mich angucken und Dinge denken, die sie  nicht aussprechen. Das wird mich stören, nerven, ärgern. Vielleicht wird es mir weh tun. Und daran hindern, mich an das Jetzt nach dem Leben mit NakNak* zu gewöhnen.

Glaubst du nicht, dass du erst trauerst, fragt sie.
Wenn ich mich genug dran gewöhnt habe, ja, antworte ich. Wenn ich mich dran gewöhnt habe, dann werd ich trauern.

Hast du Angst vorm Trauern, fragt sie.
Ja natürlich, antworte ich.

Das ist doch, was weh tut.

die Ausnahmesituation

Samstagmorgen.
Wir liegen im Bett und versuchen mehr als erschöpftes abgekämpft sein zu empfinden. Versuchen dem Tag einen Körper zu geben, um ihn erfassen und be_leben zu können. Ich setze Kaffee auf, gehe mit NakNak* raus in den Regen, setze mich ans Küchenfenster und betrachte die Fetzen der letzten Nacht aus über 20 jähriger Entfernung.
Ich wünsche mir ein Haltgefühl, ein Gehörtgefühl, ein Ich-gebe-dir-durch-meine-Idee-eine-Idee-die-dir-vielleicht-weiterhilft-Gefühl und versuche mich nicht verlassen, einsam und verstoßen zu fühlen, nur weil ich weiß, dass ich das gerade nicht bekommen kann. Zumindest nicht von den Menschen, von denen ich es mir wünsche.

Es klingelt.
Meine Nachbarin kommt von draußen rein.
Ich kenne sie noch nicht. Bin in der letzten Zeit aber genervt von ihr, weil sie ihren Müll im Treppenhaus stehen lässt und ich froh sein kann, wenn bei ihr mal vor 23 Uhr so viel Ruhe in der Bude ist, dass ich einschlafen kann.
Sie wohnt noch nicht lange hier und ich hatte die Idee, dass sie mich nicht mag, weil ich einen Hund habe und sie Angst vor Hunden hat.

Sie sagt, sie hätte sich ausgeschlossen und ob ich ihr einen Schlüsseldienst anrufen könne.
Die Worte wackeln und zappeln aus ihrem Mund heraus und ich denke, dass sie müde ist und deutsch einfach nicht ihre Muttersprache. Ich schalte um auf Leichte Sprache und hoffe, dass es hilft. Sie soll sich gerne in meine Küche setzen, sage ich ihr und schließe die Tür zum Büro, in dem NakNak* schläft.
Meine Nachbarin trägt einen durchnässten Pulli und wirkt gleichzeitig erschöpft und überdreht. Eine Decke möchte sie nicht wegen der Hundehaare. Einen trockenen Pulli kann ich ihr nicht anbieten. Meine weggebbaren trockenen Pullis liegen im Altkleidercontainer, weil ich mit ihnen Schluss gemacht habe.

Ich rufe beim Schlüsseldienst an, gebe ihr einen Kaffee. Hunger hat sie keinen, sagt sie. Etwas später zeigt sie mir ihre Zähne, ohne mir zu sagen, was sie an ihnen empfindet. Etwas Schönes kann es nicht sein, denn ihre Halluzinationen sind insgesamt nicht von der Sorte, die man unbeschadet übersteht.
Sie wär gern meine Freundin sagt sie. Weil ich eine berühmte Königin bin und der Hund Frieden ins Haus bringt.
Ich lache und sie lacht mit. Zwischendurch denke ich: “Scheiße, was mach ich jetzt?”, weil ich merke, dass ich in genau so einer Situation bin, von der Mika gerade erst vor ein paar Tagen bei Twitter geschrieben hat.

Ruft man die Polizei oder nicht, wenn jemand in einer psychischen Ausnahmesituation ist? Zum Beispiel wenn jemand suizidal ist. Oder, wie meine Nachbarin, mitten in einem psychotischen Schub, offensichtlich um Kontrolle bemüht, doch vom eigenen Körper und Geist darin sabotiert.

Wie wir dazu stehen, wenn uns jemand die Polizei ins Haus holt, statt sich selbst, weil wir suizidal sind, haben wir schon einmal aufgeschrieben.
Dem füge ich heute noch Folgendes hinzu:

Die Polizei kann nicht helfen. Die Polizei kann nur “etwas tun”, damit “geholfen™” wird/werden kann.
Zum Beispiel jemanden, di_er sich und andere mit einer Waffe bedroht, niederknüppeln und festnehmen, damit jemand anderes – wie ein_e Richter_in oder Mediziner_in – sagen kann, was vielleicht hilft oder grundsätzlich erst einmal wichtig ist. Polizist_innen dürfen nichts einfach so selbst entscheiden oder regeln. Die Polizei ist nicht die Autorität, die dafür da ist, anderen Menschen, jedwede Form von Kontrolle wiederzugeben, die sie gerade nicht haben. Zum Beispiel die Kontrolle darüber, ob sich jemand die_n man kennt, das Leben nimmt oder nicht.

Die Polizei ist mit Rechtsmitteln und Möglichkeiten ausgestattet, die dazu beitragen sollen, die Rechte und Pflichten, sowie formale Verantwortungen zu schützen und/oder akut zu gewährleisten. Es ist keine Sache der Polizei “das Richtige” zu entscheiden – sie ist dazu da, ein Umfeld zu schaffen, in dem das Richtige entscheidbar und durchsetzbar wird. Völlig unabhängig davon, was “das Richtige” wirklich/ “eigentlich” ist.

Meine Nachbarin entschuldigt sich für ihre Aussprache. Redet mit sich selbst und scheint mich zeitweise völlig auszublenden. Sie erzählt mir Dinge, die nicht real sein werden, aber ihre Gefühle schwappen aus ihr heraus in meine Küche, wo ein paar Stunden vorher meine Gewalterinnerungen jeden Spalt umflutet haben. Der Schlüsseldienst schickt jemanden. Ich bin froh um das Bargeld, das ich gestern geholt habe. Draußen fährt ein Polizeiauto an unserem Haus vorbei.

Meine Nachbarin erinnert sich wieder an meine Frage, was passiert ist und erzählt mir, dass sie im Krankenhaus war. Es ging ihr sehr schlecht sagt sie, aber dann habe sie gesehen, was für ein schrecklicher Ort das sei. In den Wänden sind Dinge, sagt sie. Überall sind Leichen. Ich kann ihren Horror auf meiner Haut fühlen und weiß: ich wäre auch weggelaufen, hätte ich das gesehen und nicht gemerkt, dass es eine Halluzination ist.
Sie zeigt mir den Zugang in ihrem Arm und fragt sich, ob das etwas Gutes ist.

Ich schreibe dem Begleitermenschen eine SMS und bitte ihn bei der Polizei nachzufragen, ob meine Nachbarin vermisst wird. Schreibe ihm von dem Zugang und, dass er bitte kommen soll, wenn er kommen kann. Ich bin überfordert von den Gefühlen und Impulsen, die meine Nachbarin hin-und herwerfen, ohne, dass sie selbst sich ausruhen und sortieren kann.
Sie sagt, sie habe einen sehr sehr guten Arzt. Der weiß, was zu tun ist. Ich frag mich, wo dieser sehr sehr gute Arzt war, als sie im Krankenhaus war und Leichen gesehen hat.

Es beruhigt mich zu erahnen, dass sie grundsätzlich weiß, dass sie mit einer Krankheit lebt. Dass sie einen sehr sehr guten Arzt hat und, dass die Polizei ihr auch schon einmal sehr sehr gut geholfen hat. Scheinbar hat sie keine sehr sehr gute Familie, denn es gibt niemanden, den sie anrufen und um Hilfe bitten möchte.

Der Schlüsseldienst kommt und öffnet ihre Wohnungstür.
Ich bezahle und gebe ihr noch 10€ für Zigaretten. Wenn es ihr ansatzweise so geht wie uns noch vor einigen Jahren, denke ich, dann ist Kippengeld und die Möglichkeit die Tür hinter sich zuzumachen, eins der wenigen Dinge, die ich ihr gerade aktiv geben kann, ohne invasiv auf sie einzuwirken.
Dann sehe ich ihre Wohnung. Sehe, wie sie darin umher läuft und außer einem Zigarettenstummel nichts mehr darin hat, das ihr helfen könnte sich irgendwie zu versorgen. Der Begleitermensch meldet sich nicht. Meine Nachbarin streicht nachdenklich über den Zugang in ihrem Arm.

Ich sage, dass ich später nochmal vorbei komme.
Sie beachtet mich nicht. Führt ein Gespräch weiter, das ohne mich stattfindet.

Ich rufe bei der Feuerwehr an, weil ich mit meinen 31 Jahren immer noch verwechsle, welche Nummer zur Polizei und welche zur Feuerwehr führt.
Dann rufe ich bei der Polizei an und frage selbst nach, ob meine Nachbarin als vermisst gemeldet wurde. Sie wurde. Und zwar von dem Krankenhaus, in dem ihr mit der bereits bekannten Krankheit ein Zugang gelegt wurde, ohne sie durchgehend zu betreuen.

Ich merke den Moment, in dem ich das weitere Geschehen aus der Hand gebe. “Es war gut, dass sie angerufen haben”, sagt die Stimme am Telefon und wie sehr weiß ich, dass es das nur dann war, wenn ich alles, was ich über Selbstbestimmung und Inklusion denke, ausblende, niederbrenne und draufkacke.
Denn nein: Es ist nicht okay. Es ist ein scheiß fauler Kompromiss, auf Kosten ihrer Selbstbestimmung, den ich nur deshalb mache, weil sie den Zugang noch im Arm hat.

Was meine Nachbarin gerade sieht, hört und fremd_denkt, mag alles neurologisches Feuerwerk allein sein, aber ihre emotionalen Reaktionen darauf sind echt. Ihr Horror, ihr Ekel, ihr Auflachen, ihre Verwirrung, ihr Unbehagen im Schnelldurchlauf sind echt. Sie ist echt.
Ich weiß leider nicht, wie man solche Zugänge entfernt, ohne zu gefährden oder Schaden anzurichten und ich muss davon ausgehen, dass sie es auch nicht weiß. In einer anderen Zeit – einer, in der ich nicht selbst so hautlos und übermüdet wäre, hätte ich mit ihr die Zeit rumgekriegt bis Montag, wo sie einen Termin mit ihrem sehr sehr guten Arzt hat, der ihr sehr sehr gute Medikamente verschreibt, die ihr üblicherweise sehr sehr gut helfen.
Vielleicht hätte ich auch alle Hebel in Bewegung gesetzt, dass ihr sehr sehr guter Arzt hier herkommt und ihr ihre Medikamente gibt, damit sie zu Hause bleiben kann, wo sie sich immerhin so sicher gefühlt hat, dass sie zurück kam.

So aber muss ich dazu stehen, dass ich nicht kann. Ich kann gerade nicht stunden- bis tagelang in einem zerschossenen Raucherhaushalt bleiben und in jemandes Chaos die einzige Konstante sein.
Das Ding ist: Ich würde das gerne sein – wünsche ihr das sehr, doch ich weiß auch: ansonsten ist da niemand, di_er sich das für sie wünscht. Da sind nur Leute, die dafür bezahlt werden, da zu sein. Das kann reichen und sicher machen da viele einen ganz tollen Job. Aber sie machen ihn nicht ihretwegen oder nur für sie, sondern weil es Leute wie sie gibt, die Menschen brauchen, die diesen Job machen.

Die Polizei kommt erst hoch in meine Wohnung, in der ich mir vorher schnell das verschwitzt fettige Haar kämme, aus dem nach Angstschweiß stinkenden Schlafanzug steige und mich so schnell wasche, wie in der Zeitschaltuhrendusche auf dem Zeltplatz in Mittelhessen diesen Sommer.

Es sind zwei nette alte Männer, die mich fragen, was ich für einen Eindruck von ihr hatte und ehrlich wirken, als sie sagen, was für eine verzwickte Situation das ist, wenn man mit Menschen zu tun hat, die man nicht einfach mal eben so fragen kann, was sie selbst eigentlich möchten. Es sind die ersten Polizisten “im Psychoeinsatz”, die nicht auf mich wirken wie verhinderte Cowboys, die schnelle kalte Entscheidungen treffen wollen, um “die ganze Sache sauber zu erledigen”. Sie wirken eher wie Sozialarbeiter_innen oder Hebammen und je länger sie später zusammen mit der Betreuerin meiner Nachbarin im Hausflur stehen und darauf warten, dass diese die Tür öffnet, desto mehr gestaltet sich auch so ihre Rolle. Sie sind da und sorgen dafür, dass Lauf der Dinge einen sicheren Rahmen hat.
Nicht mehr, nicht weniger.

Um diesen Einblick bin ich dankbar. Zu sehen, wie sehr es eben doch möglich ist, auch von Polizisten nicht wie ein durchgeknalltes Nerv-Pack, das sich einfach nur nicht zusammenreißen will behandelt zu werden, wenn man gerade an einem sehr tiefen Punkt im Leben ist.

Meine Nachbarin fährt im Krankenwagen weg und wir essen unser Frühstück auf.

Später ruft der Begleitermensch an und bringt etwas auf, woran ich noch nicht gedacht hatte: Die Möglichkeit, dass sie den Zugang wegen einer anderen Krankheit im Arm hatte.
Darüber hatte ich noch nie nachgedacht, wenn ich mich damit auseinandersetze, wie gewaltlose Konsensfindung in solchen Situationen aussehen könnte. Grundsätzlich verändert es für mich nicht viel. Auch wenn eine Person zusätzlich zu psychischer Belastung noch eine Krankheit hat, muss sie unter allen möglichen und unmöglichen Umständen die erste Person sein, die man fragt, was gewünscht ist. Denn ja: im Leben gibt es “Wünsch dir was” und zwar immer und für alle. Die Frage ist, wie man die Erfüllung für alle gleichermaßen gut gestaltet.

Die Wünsche und Rechte anderer Menschen zu beschränken ist etwas, das diskussionsbedürftig ist. Aushandlungssache. Alle Beteiligten müssen damit okay sein, dass sie dürfen, was sie dürfen und, dass sie nicht dürfen, was sie nicht sollen. Das gilt in der Sandkiste genauso wie im Alltag einer jeden Person.

Es ist einfach nur ein nicht alltägliches Szenario, das sich auftut, wenn jemand in einer Ausnahmesituation ist. Vielleicht deshalb, weil eine rein psychische Lage vorherrscht – vielleicht aber auch, weil eine körperliche Situation zu einer wackligen Seelenlage führt.
Für mich war allerdings klar: wenn sie noch eine andere Krankheit hat, dann hatte ich keine Ahnung davon und das ist als Grundlage immer ungünstig für jedes gute (nicht schadende) Miteinander. Sie konnte mir nicht viel über sich sagen, ich kannte sie zu wenig, um viel von ihr zu verstehen.

Und hier findet sich der Grund weshalb wir grundsätzlich dafür sind, Menschen darin zu stärken mehr für einander da zu sein. Weshalb wir die Letzten sind, die sagen: “Ja aber nur ein Arzt kann dieser Person WIRKLICH helfen” oder “Nur die Psychiatrie kann für solche Menschen WIRKLICH da sein.”. Das stimmt einfach nicht. Ein Arzt oder auch eine psychiatrische Klinik hat einfach nur die größere Rechtsabteilung im Fall, “dass etwas schief geht”, hat Mittel und Wege Medikamente zu verschreiben, die Personen besser kennenzulernen, lebt davon als Autorität angesehen zu werden.
Das ist nicht nichts – es ist aber nichts, was nur dort geht.

Eine Person, die sich dagegen entscheidet dort Hilfe zu suchen oder von dort anzunehmen, muss deshalb nicht zwangsläufig damit leben, gar keine Hilfe/Unterstützung zu erhalten. Schlimmer ist, dass es in unserer Gesellschaft Usus ist, dass das aber eben doch genau so ist und passiert.
Weil so eine Einrichtung einfach sehr bequem ist. Sehr gut von etwas fernhält, das man “sozialgesellschaftlichen Vertrag” nennen könnte.

Der Umstand, dass wir alle miteinander zu tun haben, bedeutet für mich persönlich auch, dass man in jeder Situation miteinander zu tun hat. Auch dann, wenn man selbst „nicht so genau weiß“. Wenn man selbst “Angst hat etwas falsch zu machen”. Wenn man selbst merkt: “Wow das hab ich noch nie erlebt…”.
Vielleicht bin ich da verschroben und ganz sicher ist es Teil meiner sozialen Awkwardness und Klapsensozialisierung, aber für mich ist es normal, wenn es Leuten schlecht geht. Ich versuche für sie mit mir ein Umfeld zu ermöglichen, in denen es ihnen gut geht. In denen sie auch dann ernstgenommen und in ihrer Selbstbestimmung unangetastet bleiben, wenn sie außergewöhnliche Dinge tun oder wahrnehmen.

Und das sollte meiner Ansicht nach etwas sein, das viele, nach Möglichkeit alle Menschen, für alle Lebewesen anstreben. Dass man eben nicht nur die Sozialrosinen im Miteinander rauspickt und wenns bitter wird abschiebt/weggibt/ignoriert, was passiert.

Menschen, die „Angst“ vor Suizidalität oder psychotischen Zuständen oder wahnhaftem Erleben haben, sind sicher nicht auch Menschen, die sich nie einen Thriller oder die Titelseite der BILD reingezogen haben. So groß kann diese „Angst“ also nicht sein, denke ich. Aber, so schlimm können die Gefühle sein, die sich auftun, wenn man weiß, dass man in einer Gesellschaft lebt, in der Schuld- und Schande-, Macht- und Ohnmacht-Dynamiken so derartig tief greifen, dass es undenkbar wird, auch selbst und aus sich selbst heraus in irgendeiner Form hilfreich oder guttuend auf und mit anderen Menschen wirken zu können.

Es braucht einfach nicht immer und für alles Autoritäten. Manchmal braucht es Hilfe und Unterstützung und Autoritäten können manchmal vielleicht dabei helfen, das ranzubringen, was man selbst gerade nicht geben kann.
Das können sie aber nur solange, wie ich selbst entweder glaube, dass ich nichts (oder nicht genug) zu geben habe oder zu viel Angst davor habe, etwas zu geben, weil ich mit Strafen oder anderen negativen Konsequenzen rechnen muss. Das ist klassische Psychiatrie/Machtkritik und damit das Ende dieses Textes, in dem wir vor allem aufschreiben wollten, dass wir das heute erlebt haben.

 

Ich hoffe, meine Nachbarin hat weder HIV noch Krebs noch einen Hirntumor, noch irgendetwas anderes, wegen dem sie neben der vergleichbar harmlosen Psychose, die ich in ihrem Verhalten zu sehen glaubte, im Krankenhaus behandelt wurde.
Ich hoffe, sie kann sich in ein zwei drei vier Wochen mit ihren sehr sehr guten Medikamenten und einigen Unterstützungen durch ihren sehr sehr guten Arzt, an nicht mehr viel von heute morgen erinnern.
Ich hoffe, dass ich bald einfach bei ihr klingeln und eine Tasse Kaffee trinken kann, um ihr zu sagen, dass sie beim nächsten Mal, wenn sie wegen etwas ins Krankenhaus fahren muss, nicht allein da sein muss. Ihr zu sagen, dass sie sich vor mir deshalb schämen kann, wenn sie will, aber auch nicht muss.

Ich hoffe, dass ich für sie nicht “die berühmte Königin” bleibe, sondern eine Verbündete werde, die im Fall des Falls, der anders als heute laufen soll, mit ihr zu sein bereit ist.

innere Bündnisse

Innere Bündnisse sind möglich.

Das ist etwas, das anzunehmen, für möglich zu halten, als umsetzbar zu begreifen für uns sehr schwer war. Und in Bezug auf manche Innens noch immer ist.
Für uns hängt auch hier wieder ein Aspekt der Sprache daran.
Denn eigentlich geht es nicht um Bündnisse, sondern um Assoziation des Eigenen.

Im äußeren Leben mit anderen Menschen, sind Bündnisse von vielen Optionen geprägt.
Wenn ich ein Bündnis zum Erreichen eines Zieles eingehen möchte, dann kann ich mir aus 7 Milliarden Menschen den einen wählen, mit dem ich gerne zusammenarbeiten möchte.
Innere Bündnisse funktionieren nicht so.
Um überhaupt wählen zu können, muss ich lernen was und wozu ich wählen wollen könnte.
Ich muss erkennen, was ist und eine Idee entwickeln, was sein könnte.

Innere Bündnisse sind bei uns immer wieder in Momenten entstanden, in denen es enormen Leidensdruck gab. Meistens, nachdem dissoziative Brüche verschlossen wurden oder das Weiterleben akut in Frage stand. Manchmal haben diese Bündnisse gehalten und günstige Neustrukturierungen des Inneren zur Folge gehabt. Manchmal jedoch gab es neue Strukturen, die selbst einen dissoziativen Bruch an anderer Stelle bedeuteten.

Beispielsweise kam es während unseres äußeren Ausstiegs zur Etablierung der Rosenblätter als Alltagssystem.
Gab es für uns vorher jeweils einzelne lichte Momente in Kliniken, mit Heimerzieher_innen oder (sogenannten) Freund_innen, gab es während des Ausstiegs die gesamte Lebenszeit für uns, durch die innere Zusammenarbeit.
Eine Lebenszeit, in der man “Ausstieg macht” und als gegeben nimmt, dass alle Menschen um eine_n herum, denken, man hätte Gewalt erlebt, ohne sich selbst zu erinnern, geschweige denn für möglich zu halten, dass da irgendwie vielleicht doch was dran sein könnte.

Als System haben wir gut funktioniert.
Wir haben unser Leben gerettet und nachhaltig hilfreich gestaltet.
Wir haben den Schulabschluss gemacht. Haben schwierige Kontakte beendet. Haben uns soweit verselbstständigt, wie wir das konnten und sind ausgestiegen geblieben.
Wir haben nur nicht ganzheitlich gut funktioniert. Für alle von uns. In jedem Aspekt, der für das Leben wichtig ist.

Unser Bündnis hat uns innerhalb unseres Systems gestärkt, doch von den anderen dissoziiert.
Andere Systeme haben wir, wenn überhaupt, als bzw. durch Symptomcluster wahrgenommen. Manche Systeme können wir nachwievor nicht wahrnehmen. Obwohl sie sozusagen auf der gleichen Festplatte laufen wie wir.

Wir haben unser Bündnis damals nicht ganz spontan, aber auch nicht ganz geplant geschlossen.
Mit dem therapeutischen “Sie müssen mit den anderen (Innens) zusammenarbeiten” konnten wir nicht viel anfangen. Denn was genau soll das denn heißen?
Wenn man nicht einmal weiß, was man arbeiten könnte oder können könnte. Oder will. Oder muss. Oder was sich wie auswirkt. Und wie genau das gehen soll “innere Zusammenarbeit”.
Wir hatten zu der Zeit so wenig Gefühl für Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit, Miteinander, emotionale oder geistige Verschmelzung – allein schon im Außen – wie um alles in der Welt sollten wir wissen, was konkret dort von uns nach innen zu übertragen verlangt wurde?

Was wir kannten war Abhängigkeit, ausgeliefert sein, die Hoffnung, dass die Person, die uns sagt, sie würde uns jetzt helfen, uns jetzt auch wirklich hilft. Und wir kannten Zahlungsmodelle. Wenn du X willst, ist Y der Preis dafür. Eine Sicht, die man als Gegenstand von Betreuung und Behandlung genauso schnell internalisiert, wie als Ausbeutungsobjekt.

Heute verstehen wir, warum wir nicht zu der Art euphorischer Opfer-Befreiungskampf-Pose, wie wir sie bei anderen Aussteiger_innen beobachten konnten, fähig waren. Warum wir außer Variationen von Scheiße und Not eigentlich nichts gefühlt haben.
Was wir damals als den Preis der Freiheit eingeordnet haben, würden wir heute Dissoziation nennen. Ohne abzuerkennen, dass diese in gewisser Form der Preis dessen war, wozu wir uns entschieden hatten.

Wieder kann ich nur unterstreichen, wie wichtig konkretes Handeln und Beworten für uns war und ist.
Heute kann ich mich nicht mehr gut daran erinnern, ob und wenn ja wie oft uns reflektiert bzw. gesagt wurde, ob das, was wir mitunter taten, bereits die “innere Zusammenarbeit” war, die uns angeraten wurde.
Wir hatten nicht nur unfähige oder inkompetente Therapeut_innen.
Wir hatten aber oft Therapeut_innen, die uns nicht als so un_befähigt erkannt haben, wie wir waren und auch heute noch sind. Sprech- und Kommunikationsprobleme hatten wir damals wie heute. Und die Momente der kognitiven Dissonanz, die sich bei allen vielen Menschen, die mit uns zu tun hatten (haben), ergeben, gab es auch damals schon.
Nur, dass wir damals noch dachten, alle Therapeut_innen würden sich immer und ausnahmslos reflektieren und kritisch prüfen.

Was ich erinnern kann ist, dass uns erst jetzt in der therapeutischen Arbeit wirklich klar geworden ist, wie genau wir innere Zusammenarbeit machen. Und nach welchem Gefühl wir suchen müssen. Welche Balancen wir suchen und halten müssen. Was genau eigentlich “innere Arbeit” ist.

Für die Definition (Festlegung) dieser Dinge hatten wir früher entweder nie genug Zeit oder nicht genug Kraft.
Oder wir haben es nicht verstanden, weil  man uns waberige, sehr abstrakte Begriffe hingeworfen hat und davon ausging, wir würden damit schon etwas anfangen können, weil wir ja “in Wahrheit schon ziemlich schlau sind”.

Konkret bedeutet “innere (Zusammen)Arbeit” für uns:
– “sich selbst”/ an ein Innen gerichtet (nach)fragen,
– aufmerksam wahrnehmen, welche Resonanzen man in sich bemerkt (Gedanken, Impulse, unwillkürliche Körperbewegungen…)
– sich auf Gefühle und Gedanken einlassen, die sich fremd, aber irgendwie auch nah anfühlen
– eigene Gefühle und Gedanken in Kontexte rechnen, derer man sich nur hypothetisch sicher ist (sein kann, aufgrund von dissoziativer Amnesie)

Ein Beispiel dafür ist unser Wochenplan.
Der Wochenplan funktioniert als unser kleinster gemeinsamer Nenner.
Er bestätigt uns im Lauf der Dinge, der in Wochen, Tage, Stunden und Minuten eingeteilt ist, die sowohl nach außen als auch nach innen zu gestalten sind. Der Plan beinhaltet ausschließlich Aktivitäten zur äußeren Gestaltung, die den Raum für Aktivitäten zur inneren Gestaltung erschaffen bzw. ermöglichen soll.

Zu Beginn habe ich mich gefragt, was ich brauche, um mich zu versichern und zu orientieren.
Meine Antwort war “Sicherheit um Zeit und Raum” und fühlte sich ganz und gar mir zugehörig. Ich bewegte diese Antwort in mir herum und dachte darüber nach, was genau das konkret bedeutet. Denn das sind ja nur drei Wörter. Die kann ich mir in einer unsicheren Situation sagen, aber sie machen mich nicht sicher in Zeit und Raum, nur weil ich sie höre.

In diesem Nachdenken hatte ich weitere Gedanken und Impulse, die sich klar nicht nach mir oder nicht mir zugehörig anfühlten.
Ein Gedanke war, wie gut es wäre, wenn man wüsste was genau man wann wie und wofür machen soll. Ein Impuls war ein Schwanken zwischen aufschreiben wollen und unsicher darüber sein, ob es Bestand haben würde. Ein anderer Gedanke war ein sehr langer Faden aus Hypothesen und strukturierten Beobachtungen darum, wie einerseits flüchtig und unfassbar, doch gleichzeitig sehr kontinuierlich und genormt Zeit (der Lauf der Dinge als Entwicklung, die ist und doch nie (gleich) bleibt) ist.
Einer, der mir sehr nah war, aber doch nicht von mir kam, war eine Art Gedankenspiel darum, was wäre, wenn ich mich sicherer fühlen würde. Da ging es dann plötzlich um Dinge wie basteln, schreiben, malen, spazieren gehen, fotografieren … Freizeitgestaltung (innere Gestaltung).

Da gab mir eine Idee davon, wofür es – abgesehen von meiner seelischen Entlastung – noch gut wäre, insgesamt weniger belastet zu sein und mich schneller sicher zu fühlen: Es könnte noch etwas neben den Dingen, die wichtig sind um nicht zu sterben, geben.
Vielleicht wirkt das schräg. Aber genau das ist Dissoziation.
Ein so eingeschränkter Fokus, ein so kleines Stück Bewusstsein um sich selbst und das eigene Wirken, dass so ganz grundlegende Dinge nicht bewusst sind.

Ich hatte damals kein Gefühl für Zeit als etwas, das passiert.
Zeit und Geschehnisse sind mir passiert.
Das Konzept von Wochen- und Stundenplänen war mir bekannt – aber bewusst er_leben konnte ich sie nie.
Ich begann meine Tage und verlor sie immer wieder. Ständig rollte von irgendwo irgendein Geschehen auf mich zu und forderte mir irgendeine spontane Reaktion ab, die ich nicht vorbereiten oder planen konnte. Immer wieder sah ich mich Menschen gegenüber, die Worte von mir wollten, sich aber nicht darum scherten, ob diese sagen konnten, was ich wollte.
Für mich war es Glückssache, mich und meine eigene Gegenwart als etwas zu erleben, das einen Anfang, eine Richtung und ein Ziel hat.

Ich hatte den Wunsch nach Pausen. Nach Besinnung. Nach “nicht in einem Schlachtfeld sitzen”. Meine Umsetzungsideen dessen waren wiederholte Suizidversuche oder schwere Selbstverletzungen. Mir erschien der Tod wie eine Nacht ausschlafen, ohne Angst vor einem nächsten Aufwachen haben zu müssen.
Was mir damals fehlte war die Assoziation (das “selbst erleben”/ Bewusstsein/ Erinnern können) dessen, was mein Wirken im Alltag immer wieder zur Folge hatte. Nämlich den Freiraum für andere Innens Dinge zu tun, die ihnen wichtig waren.

Als wir dann den Wochenplan etablierten, kam es nicht zu spontanem Miterleben. Natürlich nicht, denn erst einmal hatten wir ja nur aufgeschrieben, was wir wann zu tun hatten. Aber es kam zu einer deutlichen Abnahme des Gefühls dem Lauf der Dinge mehr oder weniger hilflos ausgeliefert zu sein.
Auch wenn es sich für mich in meinem Zeitempfinden so anfühlte, als würde ich permanent von Menschen bedrängt, konnte ich sehen: Das ist nur ein bis zwei Mal die Woche überhaupt möglich (weil wir damals nur ein bis zwei Mal die Woche überhaupt mit Menschen direkt in Kontakt waren).

Das innere Bündnis begann also mit dem Wochenplan als allgemeine Größe – mit der objektiven Sicht auf eine Woche, die wir alle irgendwie jede_r für sich füllen und verplanen.
Für uns eignen sich äußere Dinge wie der Wochenplan gut, um uns und unsere Er_Leben in Verhältnissen wahrzunehmen.

Im Innen ist vieles mehr oder weniger gleich laut, schrill, nötig, wichtig, dringend, jetztgleichsofortig – wir haben nachwievor massive Schwierigkeiten herauszufinden, was wann wie in welcher Abfolge abgearbeitet/angehört/berücksichtigt werden muss. Gerade dann, wenn sich noch unverarbeitete (traumaassoziierte) Dringlich- und Nötigkeiten dazumischen, wird es schwierig.
Zusammen mit dem kompetenten Eindruck und der positiven Diskriminierung als “intelligent”, die immer wieder auf uns liegt, passiert es uns sehr oft, nicht in dieser unserer Desorientierung gesehen und anerkannt zu werden. Gerade dann nicht, wenn es um den ganz unspektakulären Alltag geht, der uns trotz seiner wenig besonderen Beschaffenheit chronisch überfordert und überreizt.

Unser Bündnis zum Wochenplan hatte nicht zum Ziel irgendeine konkret wahrgenommene Not zu beenden. Viel mehr ging es darum, uns insgesamt in ein mittleres Erregungslevel zu bringen, um den Alltag auch wirklich als “alle Tage geschehend” und also “üblich” wahrzunehmen. Und darauf aufbauend zu schauen, welche Aspekte wir selbst wirklich in ihrer Wirkung auf uns beeinflussen können und welche nicht.

Nach einer Weile des kontinuierlichen Aufschreibens und Mitbedenken des Wochenplans, entwickelte sich eine gewisse Sicherheit für das, was um mich herum geschehen ist.
Selbst wenn mir Montag und Dienstag fehlten, so konnte ich am Mittwoch sehen, dass sie passiert waren und was wir als Einsmensch aller Wahrscheinlichkeit nach getan hatten und womit in der Folge an eben jenem Mittwoch zu rechnen sei.

Die Entdeckung des “Nichts zu tun” und der “Nichtnotwendigkeit etwas zu tun” wurde so für uns überhaupt erst möglich.
Denn irgendwann war er da. Der Moment, in dem ich vor dem Plan stand und ganz automatisch (ohne mir das vorzunehmen) nach innen fragte, ob jemand an einer Stelle vergessen hatte irgendwas aufzuschreiben.
Da war aber nichts.
Kein Alarm, keine Not, kein aufgeschobenes MüsstenwirnochmachensonstgibtsÄrger.
Da war nur: Nichts zu tun
und also zum ersten Mal die wahrhaftig ruhige, sichere Situation, in der wir uns als Alltagsteam nach innen richten konnten, um zu fragen, ob wir mal etwas tun wollen, um etwas zu tun, weil es gerade möglich ist.

Wir begannen zu malen, zu schreiben, zu puzzeln. Hörbücher anzuhören. Spazieren zu gehen. Zu spielen.

Daraufhin wurde das nächste innere Bündnis wichtig.
Denn spielen/kreativ sein/ “Muße haben” was (ist) etwas, das wir lernen mussten (und manche von uns nachwievor müssen).
Und zwar durch Wiederholung im sicheren Rahmen und mit genug Zeit, die Erfahrung gut zu verarbeiten, um sie später auch als “selbst gemacht” zu erinnern.

Wir sind durch Jahre gegangen, in denen wir wussten, dass wir die ruhigen Phasen haben und manche Innens sich darüber gut in Zeit und Raum orientieren konnten und wir deshalb immer weniger in StressAlarmallesbrennt-Situationen kamen.
Aber für uns gab es dieses “Extra” auf “Nichts existenziell lebensnotwendiges zu tun” nicht. Unser Bündnis hatte nur für andere Innens greifbare, im Sinne von “selbst gestaltbare”, Erfahrungsräume zur Folge.

Wir schlossen daraufhin Erfahrungsmitteilungsbündnisse und brachten uns damit in Neugier und Interesse für die Erfahrungsqualitäten der anderen Innens bzw. anderer innerer Systeme.
Und folglich auch in die Situation zu spüren: Sie sind da, sie haben Gedanken, Gefühle, Er_Leben und Geschichten.
Entsprechend mussten wir erst einmal ein paar Jahre vermeidungstanzen bis wir an dem Punkt waren, an dem wir uns noch ein bisschen mehr dafür öffnen konnten, damit zu leben und umzugehen, dass es ist wie es ist.

Auch das erscheint von außen vielleicht bizarr und nicht kongruent. Wussten wir doch schon vorher, dass da andere Innens sind.
Dieses Wissen ist aber ähnlich wie das Wissen darum, dass Hochhäuser hoch sind. Wie hoch sie wirklich sind, weiß man erst wenn man auf dem Dach von einem steht.

Heute arbeiten wir in verschiedenen Bündnissen, die auch für uns Rosenblätter etwas ermöglichen.
Für uns ist das Verstehen und Begreifen dessen, was mit und um uns herum passiert sehr wichtig. Bündnisse mit beobachtenden Innens helfen uns, mehr Informationen über Sachverhalte und auch frühere Geschehnisse zu erhalten. Austausche mit Innens anderer Funktionsbereiche (derzeit zum Beispiel der Schule) ermöglichen uns Überblick über unsere Fähig- und Fertigkeiten insgesamt.
Bündnisse mit Innens, die vor uns waren, helfen uns leichter durch schwierige Phasen zu gehen. Denn sie haben diese Phasen oft schon einmal erlebt und wissen mehr darüber, was gut funktioniert und was eher nicht.

Unsere Schwierigkeiten der Bündnisbildung waren (und sind heute noch) die Unkenntnis der anderen Innens bzw. der Systeme “auf denen sie laufen”.
Wie bereits niedergeschrieben, betrachten wir unser Gehirn als Biorechner.
Wir funktionieren so, dass es für verschiedene (frühere) äußere Kontexte, jeweils ein inneres System gibt, das einen immer gleichen inneren Aufbau hat.
E. Nijenhuis beschreibt das in seinen Schriften ziemlich genau (bewortet es allerdings anders).

Es gibt Innens die funktional aber wenig emotional re_agieren. Es gibt Innens, die sozial funktionieren. Es gibt Innens, bei denen traumareaktives Re_agieren zu beobachten ist. Es gibt Innens, die beobachtend teilhaben. Es gibt Innens, die bestimmte Identifikationen vorgenommen haben. Das ist ein Schema und Schemata können nie die 100% eines Individuums abbilden. Und doch können wir an uns sehen, dass es diese von Nijenhuis beschriebenen Sollbruchstellen des Ich/der Persönlichkeit bei uns auf jeden Fall gibt.

An ihnen entlang können wir eine Idee haben, mit was für einem Innen wir es zu tun haben, wenn wir zum Beispiel in einer sozialen Situation bemerken, dass es immer wieder zu Wechseln dahin kommt. Von den wahrgenommenen Eigenschaften eines Innens können wir dann in etwa ableiten, welche Art Zusammenarbeit vielleicht hilfreich oder allgemein überhaupt in Ordnung sein könnte.

Für uns ist es nicht schlimm, einander durch so eine schematische Perspektive zu betrachten. Uns entsteht dadurch kein Abstand zu dem was oder wer wir sind. Andere Menschen erleben das anders und entsprechend ist ihre Herangehensweise zur Bündnisbildung anders.

Insgesamt geht es bei der Bündnisbildung für uns oft um Gewohnheit.
Es ist schwierig für uns, wenn Bündnisse zu nutzen von außen eingefordert wird, wenn diese Gewohnheit noch nicht da ist. Etwa um die Orientierung eines Innen in Zeit und Raum aus eigener Kraft vorzunehmen oder ein Problem zu lösen.

Wenn wir schon länger in Kontakt miteinander sind, dann gibt es bestimmte Probleme nicht mehr – wenn ein Innen in regelmäßigem Kontakt mit unserem Alltag oder den alltagsfunktionaleren Innens ist, dann kommt es eher nicht mehr zu einer Konfusion um Raum und Zeit.
Es kann also für unser Außen ein Marker für bestehende dissoziative Barrieren sein, wenn ein desorientiertes Innen da ist oder überhaupt über ein zu lösendes Problem gesprochen wird. Also für einen Zeitpunkt, in dem orientierende Unterstützung bzw. Auseinandersetzung mit einem Problem gebraucht wird. Vom Außen.

Je üblicher der Kontakt unter uns ist, desto weniger brauchen wir die Brücke über außenstehende Personen oder auch Gegenstände.
Ist der Kontakt noch nicht da, brauchen wir von außen Unterstützung.
Und zwar nicht nur zur Bildung eines Bündnisses, sondern zu vorderst, um eine Idee davon zu bekommen, um was für ein Innen es sich handelt und wie ein hilfreicher Umgang (z. B. mit Desorientierung) aussehen könnte.

Sprechverbote und “täterloyale” Innens

Eine weitere Frage war, wie mit “täterloyalen” Anteilen/Innens umzugehen sei. Und was man tun solle, wenn sie zu sprechen verbieten.

Auch hier würde ich damit anfangen den Begriff “täterloyal” genauer anzusehen. Und zu fragen, wer diesem Innen/Anteil dieses Wort zugeteilt hat. Und warum. Denn es deutet ja auf zweierlei hin:
1. “nicht in Raum und Zeit orientiert” (siehe: “Wann ist jemand als Täter_in zu bezeichnen und wann vielleicht besser nicht”)
und 2. “nicht opfer- oder zeugenloyal” (also spezifisch (wert)gebunden)

Wir sehen es oft, dass Innens, die sich einer Psychotherapie kritisch gegenüberstellen oder überhaupt auch nur irgendwas, was ein anderer Teil des Systems zu akzeptieren und integrieren versucht, ablehnen, sofort als “täterloyal” oder (eigentlich fast noch schlimmer) “noch im Trauma” verortet werden.
Das ist ein gewaltvolles Vorgehen und sollte nicht passieren.
Weder von Außen, noch von Innen.

Innens/Anteile sind Selbst- und/oder Seinszustände einer Person.
Ich stelle hier nicht zur Diskussion inwiefern man hier von “es sind Menschen” oder “es sind Persönlichkeiten” sprechen könnte, sollte oder müsste.
Was man erforscht hat und immer wieder sieht ist, dass Menschen mit komplexen dissoziativen Traumafolgestörungen diese Zustände als “sehr anders” und manchmal auch als so sehr anders, dass man denkt/glaubt/überzeugt ist/denken könne, es wäre “jemand anders”, erleben und beschreiben.
Und, dass Außenstehende diese Veränderungen ebenfalls beobachten/wahrnehmen können. Und zwar immer wieder.

In unseren Texten über und aus uns selbst, beschreiben wir unsere Sicht auf uns selbst und stehen dabei auch nur für uns und unser Er_Leben.
In diesem Text nehme ich zeitweise die Perspektive einer außenstehenden Person ein, die sowohl “Viele” sieht, als auch “Eine_n mit verschiedenen Anteilen”.
Im Folgenden verwende ich “Innens” synonym für “Anteile”.

Innens mit Adjektiven zu belegen kann verlockend sein. Gerade wenn es um ein System mit vielen Innens geht, erscheinen definierende Begriffe hilfreich, um einen Überblick zu behalten. Doch was ist das für ein Vorgehen? Es ist sortierend und ordnend. Es ist ein- bis maximal zweidimensional.
Innens jedoch sind Zustände. Mehrdimensional erlebte Zustände, wie das Sein im Leben selbst.

Mit einem Begriff wie “täterloyal” legt man etwas fest. Loyalität ist jedoch keine unveränderliche/unbewegliche/starre Eigenschaft. Loyalität ist das Ergebnis einer Bindung an Werte und/oder Personen oder auch Institutionen. Es ist eine Art Erfahrungsergebnis.
Das bedeutet, dass so etwas wie Loyalität nur durch die Dimension der Zeit, der Bewegung… in einer Richtung und der Ausdehnung (Entwicklung) möglich ist.
Entsprechend: 4 Dimensionen, die nicht dann aufhören zu wirken, wenn ein System in Therapie geht oder für einen Ausstieg/Kontaktabbruch entscheidet.

Persönlich bemühen wir uns darum einander zu beschreiben, wenn wir mitteilen wollen, wer oder was wir sind bzw. als wen oder was wir uns selbst sehen und/oder wahrnehmen. Das kann sprachlich anstrengend und frustrierend sein, hat sich jedoch als weit weniger verstümmelnd und auf lange Sicht die Innenarbeit erleichternd herausgestellt.

So beschreiben wir Innens in etwa so:
– Heidi
– erlebt sich
– als X Jahre alt
– ordnet sich Geschlecht * zu
– findet A, B, C wichtig
– macht D, E, F,
– will G, H, I,
– hat Absprache J, K, L, zugestimmt
– lehnt Absprache M, N, O ab
– schlägt Absprache P vor
(- hat Geschichte XY)

Durch dieses Muster können wir einander besser in unseren Gemeinsamkeiten und Unterschieden erkennen.
Wir können sehen, dass wir manchmal die gleichen Ziele haben, obwohl wir einander als fremd und autark erleben und unterschiedliche Motivationen haben, diese Ziele zu erreichen. Vor allem aber können wir uns über die Grenzen eines Gut-Böse-Dyadismus hinweg bewegen.
Trotz unterschiedlicher Wertbindungen und Ansichten können wir zusammenarbeiten und so Raum für einander eröffnen.
Manchmal auch Räume, in denen wir uns die wahren Loyalitäten (im Sinne von Wert_Bindungen) von Innens näher ansehen können.

Wir haben festgestellt, dass wir keine wirklich “täterloyalen” Innens unter uns haben. Sehr wohl aber abhängige, absolut gehorsame, unterworfene Innens, die keinen Widerstand gegenüber Gewalt ausübenden Personen und ihren Forderungen aufbringen oder aufgebracht haben und damit okay sind.
Manchmal, weil sie dissoziiert sind von der Not, die mit der Unterwerfung einher ging und manchmal, weil sie die Not für wichtig/notwendig halten.

Der Begriff “Loyalität” beschreibt eine freiwillig eingenommene Haltung gegenüber Werten und damit einhergehend auch Menschen oder Institutionen, die diese Werte vertreten.
Nun ist zu fragen, wie viel Freiwilligkeit möglich ist, wenn Menschen in Situationen sind, in denen die (auch nur vorgetäuschte oder affektiv reaktiv vorgenommene) Werteübernahme belohnt wird. Zum Beispiel damit nicht zu sterben, nicht verletzt zu werden, nicht (mehr) gequält zu werden. Oder damit Anerkennung von einer sozialen Gruppe zu erfahren und eine bessere Lebensqualität genießen zu dürfen.

Ich halte es für wichtig bei der Kontaktaufnahme mit Innens, die sich an Werte gebunden fühlen, die von Menschen vertreten wurden/werden, die zu Täter_innen wurden, nicht “das Opfer im täterloyalen Innen” zu suchen. Auch dieses Vorgehen kann sich wieder nur im Täter-Opfer-Dyadismus bewegen und damit verstümmelnd wirken.

Der Weg zu einer Kontaktaufnahme und einem Austausch kann schwierig sein.
Früher konnten wir uns überhaupt nur schwer vorstellen, welche Möglichkeiten wir, außer den Gesprächen mit der Therapeutin und unseren eigenen Tagebuchaufzeichnungen, noch haben könnten, um einander zu begegnen und kennenzulernen.
Inzwischen hat sich die aufrichtige Auseinandersetzung mit “unseren Themen” als übliche Alltags- und Freiheitspraxis bewährt.

Wann immer wir Dinge tun, ob das nun Projekte sind oder alltägliche Notwendigkeiten, tun wir das mit aktivem Bewusstsein darum, aus welchen Gründen und für welche (höheren) Ziele wir sie tun. Daraus entsteht immer wieder ein innerer Austausch darüber, in welcher Zeit, in welchem Raum, aufgrund welcher Privilegien oder Limits, welchen Vorwissens und aus welchen Überzeugungen heraus, wir tun, was wir tun (weil wir es heute tun können).
So entsteht eine gewisse Verankerung in der Gegenwart bei gleichzeitig hoher Transparenz der Werte und Motivationen, die wir in dem Moment vertreten.

So entsteht aber auch Arbeit. Arbeit an Angst, an Irritation, an Desorientierung und auch neuen gemeinsamen Zielen aufgrund geteilter Werte.
Es vergeht kein Tag mehr, an dem wir uns nicht damit auseinandersetzen, was manche Innens als verboten, als falsch, als schlimm oder gefährlich erleben bzw. einordnen. Und sei es nur, dass es darum geht, ob wir eines der fünf Grundbedürfnisse dieses Körpers erfüllen dürfen/können/sollten/möchten – oder nicht.

Das ist etwas, das wir lange nicht so durchgehend gemacht haben.
Oft, weil die Kraft gefehlt hat oder der Mut. Manchmal, weil es Ängste gab, die durch nichts und von niemandem gelöst wurden. Lange auch, weil die Vermeidung nicht aufgegeben werden konnte. Und häufig auch, weil der Alltag insgesamt so überfordernd war, dass die etablierten Mechanismen der Dissoziation das Alltagsbewusstsein erneut stark fragmentierten.

Über diese Auseinandersetzung kommen wir nicht mehr umhin eine gewisse Konsequenz in unserem Handeln und Re_Agieren zu entwickeln.
Eine, die nach Außen manchmal als “kompliziert” oder “anstrengend” wahrgenommen wird und uns in soziale Situationen bringt, die von Isolation geprägt ist. Letztlich jedoch konnten wir in den letzten Jahren auch die Erfahrung machen, dass soziale Isolation oder anders ausgedrückt “Dinge anders als andere zu machen” bei aller Not daran, erheblich leichter zu er_tragen ist, wenn es im Innen eine große Kongruenz um die Richtigkeit/Okayheit dessen gibt.

In einem Fall, in dem eine Kongruenz nicht hergestellt werden kann – zum Beispiel wenn Innens eine Therapie ablehnen oder Sprechverbote durchsetzen wollen – entsteht ein Konflikt, den man sich näher ansehen muss.
Es hilft nicht, wenn man Systeme zum “Sprechen trotz Verbot” ermutigt, weil man den hier vertretenen Wert nicht hinterfragt.

Innens, die Werte und Wollen von Menschen (weiter) vertreten, die ihnen (oder dem Körper) Gewalt angetan haben, tun das immer aus Gründen. Und die meisten dieser Gründe haben etwas mit Wert- und sozialen Bindungen zu tun.

Gerade bei Sprechverboten haben wir uns angewöhnt zu fragen, worüber genau wir nicht sprechen sollen.
Einfach schon um klar zu machen, dass es viele Dinge gibt, die man im Laufe eines Tages aussprechen könnte. Man könnte über das Wetter sprechen, aber auch über Dinge, die man früher einmal erlebt hat.
Manchmal bewegt sich schon durch das Aufzeigen der vielen möglichen Optionen, die heute in diesem Leben in relativer Freiheit existieren, etwas bei den Innens. Manchmal ist das nur Irritation. Zum Beispiel wenn sie sich selbst noch in einer Situation verorten, die von Zwang und Gefahr geprägt ist.
Manchmal ist das aber auch Neugier auf Worte. Gerade dann, wenn ein Innen nicht mehr Worte kennt, als jene die es früher gehört hat oder die vom ihm zu sagen verlangt wurden.

Durch unsere Frage danach, was genau wir nicht aussprechen sollen, gehen wir in Kontakt mit diesen Innens. Das ist etwas, dass sie oft nicht kennen.
Innens, die immer wieder durch Appelle, Verbote, Drohungen, Mahnungen, “Slogans”, Ein-Satz-Konstruktionen allgemein auffallen, kennen den Dialog häufig nicht. Sie sind (nicht immer!) das Ergebnis von Situationen, in denen keine Resonanz, kein Mit- oder Nachdenken über die eventuell vorliegenden Gefühle und Absichten der anderen Person, möglich oder erlaubt war.

Sie haben oft etabliert “wie es läuft” – nämlich eingleisig. Eine Person sagt was, die andere Person folgt ihr. Egal, worum es geht, egal, wie die Lage konkret ist, egal, wie das eigene Befinden oder die eigenen Fähigkeiten sind. Antworten, eigene Gedanken, eigene Gefühle, eigene Werte waren oft irrelevant. Und also oft nicht einmal selbst bewusst gemacht oder erforscht – geschweige denn Neugier darauf entwickelt/erlaubt.

Hier kommt der Aspekt der Mehrdimensionalität von Innens allgemein wieder ins Spiel.
Selbst wenn sie ein- oder zwei dimensional erscheinen, so sind sie es doch häufig nicht. (Ausgenommen hier  evtl. States und andere dissoziative Fragmente des Ich oder Selbst) Ihnen nur entsprechend ihrer Erscheinung zu begegnen, bringt sie um die Chance sich gänzlich zu erfassen oder eine Idee von einer Gänze zu entwickeln. Und also auch sich selbst als entwicklungsfähig zu erleben.

Kontaktaufnahmen und Einladungen zum Dialog sind jedoch nicht alles.
Man kann sich das in der Wirkung vielleicht gut übertragen auf die eigenen Reaktionen auf Werbeprospekte und Emails mit Einladungstexten: nicht alles möchte man beantworten, manches erscheint krude und potenziell betrügerisch und manchmal hat man schlicht keine Nerven für irgendetwas mehr, als das eigene. Ähnlich kann es Innens gehen, denen zwar viel daran gelegen ist sich und den eigenen Vorstellungen Raum zu verschaffen, jedoch nicht gelernt haben, dass es Antworten, (Wider-) Worte oder Rückfragen geben kann. Miteinander.

Miteinander kann man auch über konkretere Wege als Worte herstellen.
Bei uns funktioniert konkretes Handeln/Machen am besten. Dinge, die einer gewissen Planung bedürfen, eine Finanzierung für Materialien und auch bestimmte Fähig- und Fertigkeiten erfordern, binden relativ viel von unserer insgesamt zur Verfügung stehenden Aufmerksamkeit und Energie.

Zu Beginn war davon nicht viel da. Wir hatten (und haben heute noch manchmal) nur sehr kurze Konzentrationsspannen und eine geringe Frustrationstoleranz. Doch die Wiederholung hat sich gut ausgewirkt.

Standen wir früher sehr lange im Laden für Bastelbedarf und trafen dann Entscheidungen, die wir bereuten, weil sie sich zu Hause als nicht passend herausstellten, tauschen wir uns heute zu Hause schon aus, wissen auf wessen Meldungen wir warten müssen, wissen, wer uns daran erinnern muss, dass wir etwas tun (wollen), das wir besser nicht tun sollten… Wir wissen, was uns erwartet, wenn wir nicht auf alle diejenigen warten, die irgendwie – und sei es nörgelnd, schimpfend, drohend am Rand stehend – mitbekommen haben, dass wir überhaupt etwas tun wollen.

Und wir wissen, wann es nur im Chaos enden kann Dinge zu tun. Vor allem Dinge, die Menschen, die uns früher verletzt und ausgebeutet haben, nicht gut heißen würden oder könnten. Allein schon, weil wir bestimmt haben, sie zu tun.
Darum hilft es uns insgesamt ein bisschen mehr, als nur tiefenpsychologische oder psychoanalytische Literatur zur eigenen Diagnose bzw. Traumafolgen insgesamt zu lesen.

Mit einem Verstehen der inneren Vorgänge kann man sich sicher fühlen und glauben, dass das alles irgendwie schon klappt, wenn man solche Innens einfach nur gekonnt überzeugt oder sie sehen/spüren/mit_erleben lässt, wie frei man heute ist und wie überholt und evtl. unnötig ihre Wortbeiträge sind.
Mit dem Verständnis der körperlichen Reiz-Reaktionsmöglichkeiten aufgrund der geleisteten Anpassung an toxischen Stress jedoch gibt es einen weiteren Weg zum Begreifen der Perspektive und eigenen tatsächlich vorhandenen Handlungsoptionen.

Zum Beispiel haben wir verstanden, dass uns unser Alltag an vielen Stellen überreizt und überfordert. Heute erheblich weniger als früher und doch genug, um zu sehen, dass die Bereitschaft unseres Körpers in einen traumaassoziierten Zustand zu fallen (also in eine der drei Richtungen von Flucht, Kampf oder Starre) nachwievor besteht. Und wir also schauen müssen, dass wir, so oft es geht, aktiv das mittlere Erregungslevel zu erreichen bzw. zu halten versuchen.
Dieses fühlt sich für uns wie folgt an:

– wir können gut zwischen Vordergrund und Hintergrund trennen
– wir sind motorisch sicher
– wir können Kontexte erkennen

– wir können kreativ sein
– wir können planvoll handeln
– wir können uns mit mittlerer Anstrengung verbal mitteilen (und erleben die Sprache mit dem was wir sagen wollen kongruent)

– wir können uns Texten widmen, die sowohl Worte als auch Zahlen beinhalten
– wir können Sachverhalte herleiten und verstehen (lernen)
– wir haben weniger Probleme uns auszurechnen, wie es anderen Menschen geht

Im Hyperarousel (Übererregung) tendieren wir zu Wechseln (was in der Stress-Trias vielleicht bedeutet “Fähig zu Kampf oder Flucht trotz Starre”).
Darüber verliere ich schnell mein Alltagsbewusstsein. Erlebe mich und meine Umwelt eher fragmentarisch, wenn überhaupt.
Wir haben insgesamt die Tendenz sehr schnell sehr viel körperliche Energie aufzubauen und dann doch an geistige Beschäftigung oder Navigation zu verlieren. So hat sich in der Vergangenheit oftmals eine schwierige Mischung aus massiver Erschöpfung und körperlicher Übererregung entwickelt. (Was als Trigger für Innens aus früheren Gewaltsituationen wirkt und Wiederholungen des Erlebten durch die eigene Hand zur Folge haben kann)

Im Hypoarousel (Untererregung) tendieren wir ebenfalls zu Wechseln, verbleiben dort jedoch meistens in einer Art stumpf stillen Starre.
Es gibt nichts, was die Aufmerksamkeit zieht, es gibt kein konsistentes Ich, kein Wir.
Ohne äußere Unterstützung dauert so ein Zustand eine ganze Weile. Währenddessen tun wir aber auch nichts.

Für uns ist es hilfreich um diese drei Level zu wissen. Zu wissen, wann wir sie erreicht haben. Zu wissen, dass sie im Rahmen unserer neuro-biologischen Reaktions.Möglichkeiten liegen.
Auflösend und entwicklungsfördernd haben sich jedoch die Schritte erwiesen, die uns unsere Beeinflussungsmöglichkeiten dieser Zustände zu begreifen und erleben möglich gemacht haben. Gerade in der Auseinandersetzung mit Innens, die schwierige Forderungen an uns stellten/stellen.

Uns stresst es sehr, wenn die Therapeutin will, dass wir mit ihnen Kontakt gehen. Gerade, wenn es Angst vor diesen Innens gibt. Gerade, wenn es um Innens geht, die nicht nur im Innen wirken, sondern auch nach außen aktiv sind.
Das sind die klassischen drei Engel für Traumascheiße: Überforderung, Stressschleifen aus Selbstverletzung, Selbsthass, Desorientierung um eigene Freiheiten und das Gefühl der Alternativlosigkeit/Ohnmacht/Hilflosigkeit

Es ist für uns besser uns an die Dinge zu erinnern, die uns entspannen, stärken und beweglich  machen. Und konkreter: die Handlungen, die uns entspannen, stärken und beweglich machen.
Was klingt wie eine sinnlose Phrase ist: “Mach doch einfach öfter mal einen Spaziergang/ Sport/ fernöstliche Bewegungsdinger/ Gartenarbeit/*”
Es klingt wie ein Hohn, wenn man da steht mit dem Schrei im Kopf, dem Puls im Hals und dem Gefühl, dass es nie wieder aufhören wird – aber am Ende ist es ein Schritt, den man machen kann. Und dann noch ein Schritt und dann noch ein Schritt.
Oder, wenn man nicht laufen kann, ein Anschieben und dann noch ein Anschieben. Oder eine Hantel hoch, dann die andere. Oder, wenn man gar nichts von allein bewegen kann, eine Hand (eine Körperseite) stimulieren lassen, dann die andere.

Bilaterale Stimulation finden Gehirne megageil. Es entspricht ihrem täglichen Reizverarbeitungsworkflow und wenn man etwas tut, das zufällig genau das viel fordert und ansonsten eher nicht viel daneben, dann können Kapazitäten für mehr frei werden. Mehr Empfinden. Mehr Beweglichkeit (seelisch wie körperlich). Mehr Gefühl für die eigenen Kräfte.

Wir haben, durch unsere Hündin und das Glück eines Wanderwegs auf einem Stück unseres Schulwegs, jeden Tag etwa 10 Kilometer nur für uns und bilaterale Stimulation. Auf diesen 10 Kilometern haben wir unsere inneren Konferenzen und den freien, ruhigen (immer gleichen also vorhersehbaren) Raum für Innens, die noch nie Bewusstseinsräume dafür frei haben konnten, dass es sowas gibt. Bewegung, Licht, die Option zu gehen oder stehen oder sich hinzusetzen oder ein Tier (NakNak*) zu beobachten (ohne etwas tun zu müssen) oder unter sicherer Anleitung zu berühren, zu füttern, Wasser anzubieten oder den Boden unter sich zu fühlen oder Fotos zu machen oder Bäume, Blätter, Früchte anzusehen, anzufassen… oder in Kontakt/Dialog mit etwas/jemand aus dem Inneren zu sein.

Was klingt wie eine dieser furchtbaren rettungsromantischen Szenen in Filmen um Menschen, die zu Opfern wurden, ist für unsere Innenarbeit jeden Tag sehr wichtig. Es reicht nicht solche Erfahrungsräume mal hier und mal da zu haben. Wir brauchen das jeden Tag. Manchmal auch öfter. Einfach, weil wir nicht nur ein Mal im Leben erfahren haben, dass die Welt zerbrechen kann und plötzlich gar nichts mehr ist, wie man glaubt, dass sie es sei.

Wir wissen nicht, wie viel davon von Innens wahrgenommen wird, die Sprechverbote oder andere Limitierungen durchsetzen wollen.
Wir wissen aber, dass viele andere Innens – nicht zuletzt wir, die wir im Alltag aktiv sind – es wahrnehmen und erstarkt daraus hervorgehen. Manchmal auch soweit erstarkt, dass wir über die wahrgenommenen Forderungen aus dem Innen in der Therapie sprechen können.
Und dann darüber sprechen können, von wem wir das wahrnehmen. Und wann.
In der Folge können wir beobachten, ob Aspekte unseres Alltags als Auslöser funktionieren und wie wir sie sichern können.
Manchmal hat es schon geklappt, dass sich solche Innens auch selbst in die Gespräche über ihre Forderungen einbringen konnten.

Überwiegend aber setzen wir auf Entschärfung der Notwendigkeit für Forderungen nach Schweigen.
Wir machen unsere Therapie nicht, um Menschen oder Geheimnisse (Ereignisse) zu verraten, sondern um zu verstehen, welche Ereignisse und Menschen für uns bzw. einzelne Innens so wichtig/dramatisch/grauenhaft/abstoßend/erhebend/befriedigend/* waren, dass das Viele sein sich daraus entwickelt hat bzw. entwickeln musste.
Das ist ein wichtiger Dreh.
Wir machen die Therapie und unser Leben nicht für andere Menschen oder in Richtung anderer Menschen und Werte. Es geht primär nicht darum etwas nach Außen zu bewirken, sondern nach Innen. Was dann auch Aus.Wirkungen nach Außen haben kann, aber nicht muss.

Die andere Seite von Sprechverboten sind also nicht nur die im System, die sich dadurch begrenzt und in Not fühlen, sondern auch die, zu denen nicht zu sprechen gefordert wird.
Unsere Therapeutin erinnert uns immer wieder daran, dass wir nichts aussprechen müssen, was von innen verboten ist oder zu viel Kraft erfordert rauszubringen. Uns hilft das in Balance zu bleiben und nicht aus Versehen oder aus einer inneren Rücksichtslosigkeit heraus Grenzen zu überschreiten, die anderen Innens wichtig sind. Aus Gründen, die wir uns vorgenommen haben zu verstehen.

Für uns ist auch wichtig, dass die Therapeutin wie ein Blinddarm unserer Schilderungen funktioniert.
Existent aber nicht agierend.

Unsere Erfahrungen hatten schon genug Aus.Wirkungen auf uns und unser Er_Leben. In der Vergangenheit und in unserer Gegenwart und vermutlich auch noch ein ganzes Stück in unsere Zukunft hinein. Für uns wäre es unerträglich, würde die Therapeutin einer anderen Person von unseren Erfahrungen erzählen. Nicht nur, weil es ein Bruch unserer Absprachen wäre.
Es wäre auch eine Weitergabe der Gewalt und Not, die wir durch unser Überleben und Verarbeiten zu transformieren versuchen.

Wir wollen etwas aus den Erfahrungen machen und benutzen die Therapie als Raum, sie innerhalb bestimmter Grenzen von Zeit, Raum, emotionaler Beteiligung und Begleitung, zu veräußern und kontrolliert wieder in uns aufzunehmen, um eine Verarbeitung vorzunehmen.
Würde die Therapeutin sie nehmen und mit anderen Menschen teilen, wäre das Gewalt an uns. Auch, wenn wir das nie erfahren würden. (Vielleicht mag man an dieser Stelle einmal kritisch darüber nachdenken, was es bedeutet, wenn wir als Betroffene Bücher von Therapeut_innen lesen, in denen Erfahrungen ihrer Klient_innen geschildert werden. Wir sehen dort einen gewaltvollen Umgang mit Gewaltüberlebenden/-erfahrenen, der nicht kritisiert oder skandalisiert wird, weil “Hilfe” und gute Absichten mit im Spiel sind.)

In diesem Text schreiben wir sehr selbstverständlich von Psychotherapie als Raum zur Auseinandersetzung mit Erfahrungen und dem Inneren.
So ganz selbstverständlich ist es jedoch für viele nicht in Therapie zu gehen oder sein oder zu bleiben.
Geschweige denn überhaupt einen guten Platz für sich zu finden und so lange, wie er gebraucht wird, behalten zu dürfen.

Persönlich kommt es für uns nicht mehr in Frage, über Erfahrungen und Innens/Inneres zu sprechen, wenn wir ohne psychotherapeutisches Back-up sind.
Für manche Betroffene “reicht” eine gute seelsorgerische Begleitung oder eine psychologische Beratung oder eine (sozial-)pädagogische Begleitung.
Für uns geht das nach diversen Helfersystemcrashs und mehr Bewusstsein um die enormen Kraftaufwendungen, die es für diese Formen der Begleitung oft braucht, nicht mehr.

Auch das ist ein wichtiger Aspekt im Umgang mit Innens, die Limits durchsetzen wollen, die früher einmal wichtig waren.
Sie werden ihre Forderungen verstärken, je mehr sie spüren, dass das System als ganzes überlastet ist.
Und ja, es kann überlasten hochmotivierte, jedoch nicht gut aus- fort- und weitergebildete Begleiter_innen im Leben zu haben. Die keine Super-, Inter- oder Fallsupervision in Anspruch nehmen. Die strukturell bedingt nicht einmal ansatzweise kontinuierlich und zuverlässig da sein können. Die eine eigene Gewaltgeschichte nicht genug reflektiert und transformiert haben.

Dabei ist es irrelevant, dass “man ja sonst niemanden hat”. Dabei ist auch irrelevant, dass die Person “doch ihr Bestes gibt und das ja noch nie jemand vorher getan hat”. Dabei ist auch irrelevant, dass “man doch schon viel Schlimmeres durchgestanden hat”.
Zu viel ist zu viel und wenn es eins gibt, worauf man zu achten anfangen muss, wenn sich irgendetwas verändern soll, dann ist das an genau dem Punkt achtsam zu sein.

Ein Trauma ist niemals das Ereignis selbst.
Es ist das Zuviel, dass dieses Ereignis bedeutet (hat).

Innens, die toben und fordern zu tun, was sich für sie vielleicht sogar als lebensrettend ausgewirkt hat, können beim Umgang mit allem Zuviel, dass das Leben heute bietet, die besten Verbündeten sein, die man sich auf dem Weg der Verarbeitung vorstellen und wünschen kann.

Wenn man mit Ihnen Bündnisse eingeht.

*Text als PDF zur freien Weitergabe

Fundstücke #40

In der Deutschklassenarbeit gab es eine Aufgabe,
die mir geholfen hat etwas über (Innen)Kinder zu verstehen.
Das will ich mit.teilen.

Die Aufgabe zeigte eine Zeichnung.
Die Zeichnung sah so aus:

Man sieht 2 Figuren, die auf unterschiedlichen Ebenen stehen.
Die Figuren werden durch einen Dialog verbunden.
Das sieht man, an der Form des Wortes “Dialog”.
Die Form soll an eine Leiter erinnern.

In der Aufgabe sollten wir erklären, warum es wichtig für gute Kommunikation ist,
wenn man auf der gleichen Ebene zueinander spricht.

Was ich über (Innen)Kinder verstanden habe,
zeige ich jetzt auch mit einer Zeichnung.
Die Zeichnung sieht so aus:

Man sieht eine kleine Figur und eine große Figur.
Die kleine Figur bedeutet ein (Innen)Kind.
Die große Figur bedeutet eine erwachsene Person.

Die Figuren werden durch den Dialog verbunden.
Das Wort sieht wieder wie eine Leiter aus.
Weil das Kind kleiner ist als die erwachsene Person.

Obwohl beide Figuren auf einer Ebene stehen
funktioniert jede Kommunikation zwischen ihnen wie eine Leiter.

Ich kenne Leitern.
Ich finde es anstrengend Leitern zu benutzen.
Man muss aufpassen
– dass man nicht daneben tritt
– dass man das Gleichgewicht behält
– dass man nicht vergisst, was man machen will
– dass jemand da ist, der die Leiter gut festhält

Wenn (Innen)Kinder einen Dialog mit erwachsenen Personen machen,
müssen sie auch aufpassen.
– Dass sie die richtigen Wörter benutzen
– Dass sie alles sagen, was sie wollen
– Dass sie beim Sprechen nicht vergessen,
dass sie laut genug sein müssen

Mir ist aufgefallen, dass viele Kinder, die mit erwachsenen Personen sprechen,
Hilfe beim Dialog machen bekommen.
Zum Beispiel:
– die erwachsene Person gibt Wörter, wenn dem Kind eins fehlt
– die erwachsene Person versucht alle Wörter zu verstehen
– die erwachsene Person macht leicht verständliche Dialoge mit dem Kind
– zum Beispiel mit leichten Wörtern
oder mit kurzen Sätzen

Mir ist aufgefallen, dass wir andere Dialoge machen.
Dafür habe ich eine Zeichnung gemacht.
Die Zeichnung sieht so aus:

Man sieht zwei Gesichter und zwei Sprechblasen.
In der oberen Sprechblase* steht:
“Monolog
– Einleitung/These
– Begründung/Beispiele
– Fazit/Spiegelfrage/Überleitung”

In der unteren Sprechblase steht:
“viele Wörter-Antwort”
Man sieht viele kleine Pünktchen und Linien,
die durcheinander sind.

Ein Pfeil zeigt auf die untere Sprechblase.
Dort steht:
“dazwischen verstecken sich die Wörter,
die man zum Überlegen einer Antwort braucht”

Das soll darstellen, dass wir ein festes Schema beim Reden haben.
Und, dass wir die Antworten von anderen Menschen nicht als Schema erkennen,
sondern als Aufgabe.
Oder als Rätsel.

Jetzt schreibe ich, was ich über Innenkinder verstanden habe.

Ich habe verstanden, dass sie einen Dialog immer wie eine Leiter machen müssen,
weil sie noch klein sind.
Und gleichzeitig die  Wörter für eine Antwort finden müssen,
und ihnen niemand hilft.
Weil die anderen Menschen eine erwachsene Person sehen
und anders mit Wörtern und Sprache umgehen,
als wir.

Ich habe verstanden, dass wir den Innenkindern helfen können,
damit es nicht so anstrengend für sie ist.
Zum Beispiel
– wenn wir unsere gesammelten Wörter mit ihnen teilen
– wenn wir bei ihnen sind, wenn sie einen Dialog mit einer erwachsenen Person machen
– wenn wir alles leicht verständlich für sie sagen
– wenn wir versuchen alles zu verstehen, was sie uns sagen wollen

Wir sind erwachsen.
Wir können für die Innenkinder gute An.Sprechpartner_innen sein.
Dann wird es weniger anstrengend für uns alle.

Dafür habe ich auch eine Zeichnung gemacht.
Weil ich Lust dazu hatte.


*Das Sprechschema ist von Innensystem zu Innensystem unterschiedlich starr bzw. wird unterschiedlich flexibel gehandhabt.

Sozialneid

Es ist ein neues Wort und seine Macht ist, mich wütend zu machen.
Auf die Menschen, die ihn haben. Auf die Menschen, die ihn negieren oder ihn, in seiner Problematik für mich, nicht anerkennen wollen.
Und auf mich, denn ich stehe dem hilflos gegenüber und kann nichts tun. Ich hasse mich so sehr, wenn ich nichts weiter tun kann, als unter etwas zu leiden.

Die Situation ist, dass ich ein_e 30 jährige_r Schüler_in in einer Gruppe von 15 bis 18 jährigen Schüler_innen bin. Dass ich mit einer Schwerbehinderung lebe und diese kompensieren muss. Dass ich, anders als meine Mitschüler_innen, nicht normal bin und auch nicht so tun kann, als wäre ichs, weil mein Anderssein ganz grundlegend anders ist als ihres.
Die Situation ist, dass es für kaum jemanden an meiner Schule normal ist, mit einer Behinderung zu leben oder durchgehend damit zu leben, wie jemand eine Behinderung anders als andere kompensieren muss.
Die Situation ist, dass ich nicht den Luxus habe, ein Sonderfall nach vielen anderen Sonderfällen zu sein. Die Situation ist, dass ich damit leben muss, dass es in dem Normal einiger meiner Mitschüler_innen keine Möglichkeit gibt zu verstehen, was mein Normal im Bezug zu ihrem bedeutet.

Die Situation ist, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mehr oder weniger gleich stark lernen, dass alles Verhandlungssache ist.
Wem wir als Gesamtgesellschaft durch unsere gemeinsam genutzten Institutionen und Rechte, Regeln und Verbote, Würde zugestehen und wem nicht. Wem wir unter welchen Umständen, wie, wo, warum und wozu Teilhabe ermöglichen und wem nicht.

Das beginnt damit, dass wir alle gelernt haben, dass zu jedem Gewinn ein Verlust gehört und endet damit, dass wir den Grund für unsere Unzufriedenheiten nicht bei uns und unseren Anspruchs- und Erwartungshaltungen, unseren Einstellungen und Ideen über die Dinge, die uns beschäftigen suchen, sondern dort, wo wir sie erfüllt vermuten.

Sozialneid kann man vorbeugen. Bei einem Großteil der Menschen in meiner Klasse scheint das auch gut funktioniert zu haben.
Ihnen hat es gereicht einen Einblick in meine Art der Wahrnehmung(sverarbeitung) und einen Hinweis auf das Grundrecht der Bildung für alle Menschen gleichermaßen zu bekommen, um zu verstehen, dass weder die Anwesenheit des Assistenzhundes, noch die Gewährung von Dingen, die mir als Nachteilsausgleich dienen, optional sein können, damit ich ein_e Schüler_in wie sie auch sein kann.

Sie haben verstanden, dass meine Teilhabe am Unterricht nicht optional sein kann.
Sie haben verstanden, dass meine Teilhabe nicht gewährleistet sein kann, wenn mir nicht geholfen wird, bzw. ermöglicht wird mir selbst zu helfen.

Für mich sind diese Schüler_innen und auch meine Schule, die mir diese Teilhabe an einer ganz üblichen Berufsausbildung gewährt und ermöglicht, ein Privileg und eines der wenigen wirklich großen Geschenke im Leben.
Andere autistische Menschen mit meinen Problemen lernen in einer Werkstatt und arbeiten später dort bis zur Rente im betreuten Wohnen. Für manche ist das schön und erfüllend, für andere schlimm und das Letzte, was sie sich für das eigene Leben wünschen. Für mich wäre es schlimm in so einer Werkstatt zu arbeiten, denn ich weiß, wie viel mehr ich für die gleiche Arbeit in einer üblichen anders anderen Werkstatt verdienen würde, wäre eine Arbeitskraft wie meine nicht so optional annehmbar, wie sie es für die meisten Unternehmen ist.

Für mich wäre es schlimm, weil ich mein Leben nicht dafür gerettet habe, ausgrenzt, arm und unbefähigt zur Selbstverwirklichung zu leben.
Das ist wichtig nicht zu vergessen.
Ich musste mein eigenes Leben allein retten. Dann will ich es nun gefälligst auch allein mit mir und für mich allein in alle möglichen Richtungen erfüllen.
Und zwar mit Teilhabe an Bildung, an sozialem Leben, an kultureller Praxis, an gesellschaftlichem Diskurs. Mit Würde, Respekt und Achtung vor mir und meinem Sein, wie ich bin.

Die meisten Menschen, die ich kenne, finden so einen Anspruch unheimlich kraftvoll und groß.
Sie erleben so einen feierlichen Schauer, der ihnen den Rücken hinunter läuft, weil ihnen plötzlich klar wird, wie vielschichtig und tiefgreifend dieses Normal, in dem sie sich mal mehr mal weniger angestrengt und frei, selbstbestimmt und behindert bewegen.
Bei manchen Menschen jedoch kommen solche Ansprüche als leere Floskeln ohne jeden Wert an. Bei manchen, weil sie sich diesem Wert nicht bewusst sind (und nie bewusst werden müssen) und bei manchen, weil sie bereits Erfahrungen damit gemacht haben, dass es nichts bringt, solchen Ansprüchen entsprechend behandelt werden zu wollen.

Das Schlimme ist, dass man niemals um Dinge neiden kann, die man hat oder derer man sich bewusst ist.
Das ist, was mich an dem Sozialneid zweier meiner Mitschüler_innen so wütend macht.
Die Verweigerung sich damit auseinanderzusetzen, was sie da eigentlich neiden, wenn ich früher nach Hause darf. Was sie da eigentlich “unfair” finden, wenn unsere Lehrer_innen mich fragen, ob ich lieber allein im Nebenraum arbeiten will; ob es okay ist, wenn der Beamer die 90min Gruppenarbeitszeit über durchgehend läuft; ob ich es schaffe drei Raumwechsel in einer Unterrichtstunde zu haben und so weiter und so weiter.

Es macht mich so wütend, weil ich sie um ihre Möglichkeit darum beneide und weiß, dass ich niemals in meinem Leben an diesen Punkt kommen werde.
Mit der Anerkennung meiner Behinderungen und daraus resultierenden Problemen habe ich meine Chance auf die Vermeidung der Anerkennung meiner Diskriminierungen und Privilegien verwirkt.
Ich werde niemals in meinem Leben in die Position kommen, in der ich vergessen kann, was es für ein Privileg ist zur Schule gehen zu können und was es für ein Geschenk ist, dabei jede nötige und mögliche Unterstützung zu erhalten.

Ich werde niemals in meinem Leben vergessen können, was es für ein Geschenk ist, wenn andere Menschen mich nicht ausgrenzen und dadurch direkt miterleben können, wie das erlernte Modell von “Geben = Nehmen” (wenn ich jemandem etwas gewähre, verliere ich selbst etwas) keinerlei Relevanz hat.

Ich beneide sie um ihre Möglichkeit auszublenden, wie frei und selbstbestimmt sie sich entscheiden können. Um es platt zu sagen: ich beneide sie darum, dass sie sich dafür entscheiden können, sich bewusst zu machen wie gut oder schlecht es ihnen eigentlich geht. Sie haben diese eine Wahl, die ich durch die Diskriminierungen und den daraus entstehenden Problemen, in diesem Umfang so nie hatte. Und niemals haben werde.

Ich stelle es mir viel einfacher vor so durchs Leben zu gehen. Einfacher, als ich es im Moment erlebe.
Aber natürlich weiß ich auch, dass ich das schon oft gedacht habe.
Das Sprichwort dazu ist: “Das Gras auf der anderen Seite ist immer grüner.”

Ich weiß, dass es um Perspektiven und Lebenserfahrungen geht. Und darum, dass man lernen muss, dass nicht alles Verhandlungssache sein kann. Schon gar nicht, welche Perspektive auf die Lebensqualität und Lebensumstände eines anderen Menschen die ist, der folgend man eben jene bewerten und beurteilen darf.
Nur, weil ich glaube, es wäre für mich leichter, könnte ich mich verhalten wie meine Mitschüler_innen, heißt es nicht, dass es für sie einfach ist, sich jetzt gerade so zu verhalten, wie sie es tun.

Trotzdem könnte ich auch gern, was sie können.
Und es ist okay, das auch können zu wollen. Das verändert nichts an der Realität. Es macht überhaupt gar nichts, dass ich das auch gerne möchte und neide, wo ich es vermute.
So lange ich nicht anfange andere Menschen mit meinem Neid zu belasten oder zu quälen oder ihnen die Verantwortung für meine Gefühle daran zuzuschieben.
So wie das diese beiden Mitschüler_innen gerade tun.
Höchstwahrscheinlich sogar ohne das zu merken.

die erste Woche nach den Ferien oder: Was alle verstehen

Ich wollte diesen Artikel gerade  mit: “Es gibt nicht viele Momente, in denen mir bewusst ist, dass ich es in der Schule zu 90% mit Menschen zu tun habe, die bis zu 15 Jahre jünger sind als ich.” einleiten und bemerkte, wie unsinnig diese Aussage ist, wenn ich doch ein paar Absätze später erzählen will, dass ich sie schon wieder angemeckert habe.

Aber ich muss ein bisschen ausholen. Eine Woche weit muss ich ausholen. Mir einen diffusverwolkten Lautklumpen auf die Werkbank donnern und die Wortfeile zücken. (Vielleicht stellen sie sich jetzt ein Werkstattgeräusch vor – das verstärkt den Effekt meiner hier hingeschriebenen Bilder)

Es ist die erste Woche nach den Ferien gewesen. Alle waren mehr oder weniger voll von zu teilenden Geschichten – der Abstand hatte sich verringert – Grenzen und Fassungen aufgeweicht. Nicht nur in unserer Klasse, die sich so viel zu erzählen hatte, dass die 15 Minuten der Unterrichtspausen und die vielen anderen Minuten des Tages, an denen kein Unterricht passiert, nicht reichten.

In den letzten 5 Tagen gab es keine Pause für uns in der Schule. Einmal gab es eine für NakNak* – das war am Donnerstag als wir 8 Stunden hatten und in der Mittagspause in den Wald gegangen sind. Ansonsten huschten wir durch die Schulflure auf der Suche nach einer Ecke ohne Hall und Durchgangsverkehr, um uns über den Tages- und Arbeitsabläufe zu versichern, Testinhalte durchzugehen und etwas zu essen.
Auf den Schulhof zu gehen ist jetzt schwierig. Kalt und nass findet unsere Blase in der Regel scheiße. Da wir uns auf selbige und ihre Signale nicht zuverlässig verlassen können, wäre draußen zu sitzen jetzt zwar erheblich ruhiger, aber im Nachhinein vielleicht das Letzte, was wir brauchen.
So gingen wir also durch die Schulflure, wie alle anderen Schüler_innen auch.

Und wurden angeguckt und begafft.
Wir kennen das und merken trotzdem, wie es uns zertriggert, wenn das passiert. Wir wissen alles darüber, warum Menschen das tun und dass das nichts mit uns zu tun hat – jatta jatta – es ist trotzdem schwierig für uns, damit umzugehen. Denn immer wieder aufs Neue passiert das. Als würde diese Schule jeden Tag neue Schüler bilden, wie der Körper seine roten Blutkörperchen.

In dieser Woche wurde NakNak* hinter mir her angelockt, angefasst, gestreichelt. Wir wurden angepfiffen, um die Aufmerksamkeit des Hundes auf sich zu ziehen. Und auch hier: Wir wissen, warum Menschen das tun. Wir wissen, wie normal solche Grenzüberschreitungen unter Menschen sind. Und trotzdem machen sie mich unheimlich wütend, unfassbar traurig und letztlich: müde –  müde für andere Menschen.
Diese Menschen. Die nicht verstehen, wenn es ihnen niemand sagt und erklärt. Die einfach noch so jung und spontan, unbedacht und an manchen Stellen anders gereift sind, als ich.

NakNak* hat in ihrer Ausbildung gelernt, sich nicht ablenken zu lassen. Das ist jetzt etwa 5 Jahre und viele Millionen beschissen gelaufener Grenzüberschreitungen her. Sie funktioniert nicht mehr ganz genauso wie damals und wir wissen das. Wir trainieren jeden Tag und verlieren das nie aus den Augen – und doch. Jede Zeit unter Menschen, die nicht mit ihr und uns im Training sind, grätscht uns mit ihrer Normalität in ebenjenes Training rein.

Um so ärgerlicher wird es für uns, wenn wir dann in solchen Situationen dezidiert ausgegrenzt werden – NakNak* jedoch nicht.
Ja ups- da passiert Ausgrenzung. Wir werden nicht etwa angesprochen, ob der Hund gestreichelt werden darf. Warum wir mit dem Hund da sind. Was “Assistenzhund” bedeutet. Häufig wird sich nicht einmal unser Gesicht angeschaut. Wir sind nur der kopf(seele-geist)lose Körper zu dem, worauf die Aufschrift auf der Decke dieses niedlichen Assistenzhundes hindeutet. Wir sind die Hülle um das Fremde, das Unheimliche, das irrational Aversive. Der Hund ist okay. Der ist ja nur ein Hund.

Am Mittwoch stand ich morgens in der vollen Bahn mitten im Gang und wartete darauf, dass der Platz für behinderte Menschen frei wurde. Ich hielt mich mit beiden Händen in Balance an den Haltestangen über meinem Kopf. Währenddessen griff ein neben mir sitzender Mensch meinen Oberschenkel streifend an mir vorbei, um die vor mir sitzende NakNak* zu streicheln. Das Gesicht weich und selig lächelnd.
Wie hätte ich da reinboxen können?

Es war diesem Menschen nicht klar, dass seine Berührung etwas in mir an Situationen in Todesängsten erinnerte. Wahrscheinlich hatte er sie nicht einmal bemerkt, denn mich hatte er von dem Hund wegdissoziiert. Abgespalten und weggemacht.

Keine drei Stunden später ging ich durch einen Flur an einem Schülergrüppchen vorbei aus der sich ein Schüler löste und NakNak* im Vorbeigehen zu streicheln versuchte.

Am Donnerstagmorgen wartete ich zusammen mit Schüler_innen meiner Klasse vor einem Raum auf die Lehrerin. Aus einer der Schülergruppen um uns schallten Pfiffe zu uns. Übliche Lockpiffe, die ich für mich durch den Raumhall des Flurs nicht orten konnte. Ich wurde unruhig – NakNak* wurde unruhig. Noch ein Pfiff. Und noch einer. Inzwischen schauten uns alle Umstehenden an. Ich verlor die Beherrschung und rief in irgendeine Richtung: “Hör auf mit dem Scheiß!”. Antwortendes Lachen aus der Halle.
Trigger Trigger Trigger
Wir hätten gehen sollen. Hätten gehen können.

Alle hätten das verstanden.
Aber genau das ist das Problem.

Alle verstehen, wie problematisch so ein Verhalten für uns ist – doch genauso verstehen alle, warum dieses Verhalten passiert.
Und alle geben sie mir an die Hand, dass ich mich damit abfinden soll, weil es ja nicht zu ändern ist. Sie geben mir das Problem in die Hand.
Ich – wir sind die Person, die sich damit arrangieren soll, dass Menschen auf das beste Hilfsmittel, das unter Anderem dabei hilft, in Kontakt mit Menschen zu gehen und zu bleiben, so reagieren, dass ich am liebsten nie wieder mit Menschen zu haben haben will.

Wir wollen nicht jedes Mal alles von uns und unseren Problemen preisgeben müssen, um Menschen zu erklären, was ein Assistenzhund ist und was NakNak* genau tut.
Wir wollen unsere Grenzen sowohl als Mensch, als auch als Mensch-Assistenzhund-Team gewahrt erfahren dürfen, ohne uns auf eine Art zu öffnen, die für andere Menschen vor Fremden nie in frage käme. Es ist unser gutes Recht das einzufordern – selbst vor jenen, die meinen, weil wir offen zugänglich ins Internet schreiben, würden wir doch genau so etwas ganz toll finden!

Wir können nichts dafür, dass die Umgebung, in der wir uns bewegen (wollen) müssen so gemacht ist, dass wir am Besten mit einer hundischen Assistenz an der Seite darin funktionieren. Wir können nichts dafür, dass die Lebensumgebungen der selbsternannten “Normalen” oder “Nichtbehinderten” so frei von Menschen sind, die behindert sind und/oder werden, dass wir einen seltenen Anblick bieten.

Wir können nichts für all die Hindernisse zwischen den auftauchenden Fragen an uns als behinderte Person und dem Mut, sie auch zu stellen.
Wir sind nicht verpflichtet, die Kompensation unserer Behinderungen zu erklären. Wir sind nur verpflichtet die Kompensationsmöglichkeiten für andere Menschen nicht mit unseren Kompensationsmitteln- und wegen einzuschränken.

Es ist – und ja jetzt lasse ich mich hinreißen, man möge es mir verzeihen – ein verdammt netter Service und manchmal auch das undankbarste Ehrenamt, dass wir jeden Tag neu versuchen, freundlich, offen, besonnen und ruhig auf Menschen zuzugehen, für die wir fremd und beunruhigende Gefühle auslösend wirken.
Dieser  Aspekt wird nicht oft benannt in der Inklusionsblase – das scheißnette Immerlieb und Dauergelächel, dass sich für manche behinderte Menschen zu Recht wie ein viel zu enges Kostüm anfühlt und doch immer wieder nötig und wichtig ist.

Denn klar: für uns fühlt es sich immer gleich an, wenn sich irgendwelche Menschen irgendeinen dieser Makro-Mikro-Megafails an uns und unserer Menschenwürde erlaubt – doch es sind eben doch immer wieder andere Menschen. Mit anderen Hintergründen, mit eigenen Geschichten und Arten zu er_leben.

Das macht die Anstrengung nicht geringer. Das macht es nicht weniger frustrierend. Doch es ist wichtig.
Menschen, die mit uns umgehen, zu sehen und als eigene Individuen anzuerkennen, ist vielleicht nicht direkt funktional in dem Sinne, dass es etwas für uns macht, doch es ist wichtig für das, was wir diesen Menschen entgegenbringen: Respekt und den Raum gemeinsam mit uns zu sein, wie sie sind – nicht wie wir sie haben wollen und vielleicht auch manchmal brauchen.

Ich habe heute – nach einem Test, einer frustrierend anstrengend verwirrenden Unterrichtseinheit “Kommunikation” und zwei weiteren Pausen, in denen NakNak* und ich angegafft wurden, unseren Lehrer bequatscht, einen angekündigten Test doch heute bitte nicht mehr zu schreiben und stattdessen nochmal lieber die Aufzeichnungen durchzugehen und Erklärungen zu bekommen.
Das tat ich für mich (die auf dem letzten Loch pfiff und den Test, wegen vieler Fehlzeiten schlicht versemmelt hätte) und die Klasse, die sich in den letzten Tagen noch versuchte gegenseitig zu helfen, es jedoch nicht schaffte, weil niemand wirklich verstanden hatte, worum es ging.
Der Lehrer ließ sich drauf ein, die Schüler fanden es gut und schafften es sogar, sich einen ganzen Teil der Stunde nicht wie eine umgekehrte Stille Post – Filiale zu verhalten.

Bis ein neues Arbeitsblatt ausgeteilt wurde.

Nach 3 Minuten erinnerte ich mich daran, dass sie erst 15, 16, 17 … sind. Nach 5 Minuten sagte ich mir, dass der Lehrer bestimmt – ganz bestimmt bitte gleich was sagt. Nach 10 Minuten brüllte ich sie an. Fragte sie, ob sie überhaupt merken, wie unfair sie sich gerade mir gegenüber verhalten.
Ja und plötzlich konnte der Lehrer etwas sagen. Plötzlich konnte es still sein.
Die Stunde wurde beendet – ich hatte weder den Arbeitsauftrag noch die Wege zur Bearbeitung mitbekommen. Die Klasse tobte aus dem Gebäude – ich brauchte noch 20 Minuten obendrauf.

Ich weiß alles das, was man mir spontan dazu sagen will, um zu verstehen, was da passiert ist. Ich will aber keine spontan gesagten Zumirschiebephrasen mehr über solche Situationen. Ich will nicht verstehen müssen, was da passiert ist.
Manchmal – und gerade nach so einer Woche – will ich, dass mich jemand fragt, ob der Krach, das Viel der Klasse schlimm weh getan hat. Ob ich damit umgehen kann. Ob ich okay bin. Wie ich es in mein Bild von uns verarbeite, einen Overload nach dem anderen nicht wegkompensieren zu können.

Dann will ich, dass mir jemand sagt, ob ich mich verständlich ausgedrückt oder alles komplett falsch gemacht habe. Weil: laut sein und meckern, ist ja auch irgendwie nicht “normal” (und wieso genau das eigentlich alle™ so normal finden – ich werde das wahrscheinlich nie verstehen!)

Ich hätte gern anerkannt, dass ich nicht 24/7 als vermittelnde Auf- oder Erklärer_in oder Öffentlichkeitsarbeiter_in unterwegs bin, sondern immer nur dann, wenn ich das auch leisten kann.

Wenn wir in der Schule sind, sind wir privat unterwegs.
Da brauchen wir selbst Hilfe.
Jedoch nicht, weil wir andere/mehr Behinderungen kompensieren müssen, als andere oder, trotz unseres höheren Alters, sondern, weil wir nicht alleine dort sind.

Alleine muss man nur dann alles schaffen, wenn man alleine ist.
Wir sind nicht mehr alleine.
Wir sind Schüler_in.
Zusammen mit den über 20 Schüler_innen in unserer Klasse.
Zusammen mit den über 1000 Schüler_innen an der Schule.

Es kann nicht nur unsere Aufgabe sein, zu verstehen und zu akzeptieren, was da passiert, nur weil es uns (scheinbar) allein behindert und weh tut.

Heute ist wie gestern. Nur anders.

“Ich habe da auch überhaupt keine Ahnung von.”, sagte unsere Hausärztin und drückte sich die Schultern gegen ihre Ohrläppchen.
Sie meinte dissoziative Krampfanfälle und vielleicht auch Kampfanfälle im Allgemeinen.
Ähnliches hatte unsere Neurologin, die als unsere Psychiaterin im Helfernetz auftritt, gesagt, als wir zuletzt vermehrt Krampfanfälle und motorische Tics hatten. Sie empfahl uns zu einem anderen Neurologen zu gehen. Einem, der sich besser auskennt und eine entspreche Wartezeit für Termine hat.

Und letztlich auch nicht mehr sagen konnte als: “Alles psychisch – ich kann da nichts machen.”

Wir sind dankbar für die Ehrlichkeit mit der uns das gesagt wird. Es ist uns lieber gleich zu wissen, dass wir nicht mit Kompetenzen und Hilfe rechnen können, als zu glauben, sie wäre da und in dieser Annahme enttäuscht zu werden.
Es ist aber auch schlimm, denn “alles psychisch” bedeutet “alles in deiner Psyche begründet” und eben nicht “alles in etwas begründet, worauf deine Psyche reagiert”.

Wir fühlen uns nicht als “psychisch krank” und hassen es, wenn diese Formulierung verwendet wird, um Lebensrealitäten wie unsere zu beworten.
Solange uns die Medizin nicht helfen, uns aber sehr wohl von “körperlich Erkrankten” abgrenzen kann, weigern wir uns auch uns diesem Sprachgebrauch entsprechend zu verorten.

Wir stiegen mit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und nachwievor anhaltendem Schwindel, Schmerzen in der Hand und kurz vorm Erbrechen vor Müdigkeit in die Bahn zurück nach Hause. In den nächsten paar Tagen haben wir schulfrei. Können uns ausruhen. Können hübsch zu Hause bleiben und uns den Bauch über den Hosenbund hängen lassen.
Könnte man so annehmen.
Tatsächlich schliefen wir kurz, nahmen NakNak* in Empfang und fielen in ein Stimmungstief.

Der Anfall war von einer Situation ausgelöst, in der uns das Management der eigenen Hilfen entglitten ist. Den Anfall selbst konnten wir nicht regulieren. Die Hilfen nach dem Anfall war okay und doch unzureichend. Trotzdem wir getan haben, was wir konnten. Wir haben gesagt, was wir brauchen. Wir haben gesagt, was wir wollen. Wir haben gekämpft und verloren. Irgendwie.
Und am Ende bleiben wir allein in unserer Wohnung, lesen im Internet, recherchieren nach Yoga-Übungssequenzen, googeln nach neueren Forschungen über dissoziative Prozesse und ihre neurologischen Strickmuster.
Wir fühlen uns scheiße, sind müde und können doch nicht mehr schlafen.
Irgendwann zerlegt es uns im Schlafzimmer und beinahe fallen wir mit dem Kopf auf die provisorische Treppe zu unserem Bett. Ein paar Stunden vorher hatten wir von jemandes Tod durch Epilepsie erfahren.
NakNak* legt sich neben uns und atmet unsere Wange an.

“Es liegt alles allein in unserer Hand”, denke ich und möchte zeitgleich heulen vor Frust über die Last, die ich daran spüre.
Ich plane unsere Wohnung neu. Plane mehr Platz zum Hinfallen ein, überlege die Wiedereinführung der Notfalltaste am Telefon, die NakNak* betätigen kann. Bitte eine Gemögte, um Zeit, eine stationäre Betreuung mit uns zusammen rauszusuchen und versuche meine Angst vor dem endgültigen Ende von Autonomie und finanzieller Unabhängigkeit mit Tränen zu verdünnen.
Ich schwimme durchs Internet und finde weder Insel noch Hafen für mich und uns und den ganzen Haufen Zeug, über den wir mit anderen Menschen in Austausch gehen wollen würden.

Wieder denke ich über einen Antrag auf Kostenübernahme auf eine stationäre Therapie in einer spezialisierten Klinik nach und darüber, wie dicht der soziale Filz wohl ist, der uns auch diesen Versuch an Hilfe zu kommen verunmöglichen würde.
Und lasse es wieder bleiben.
Diese Art der Hilfe ist für alle anderen. Wir haben schon alle anderen Optionen, sind schon besser versorgt als viele andere. Wir sind nur nicht kompatibel genug. Nicht gut genug. Nicht genug, um sein zu dürfen, wer wir auch noch sind.

Die Nacht geht vorbei und zum ersten Mal seit Wochen, kann ich mich aus einem unkontrollierten Erinnern herauswinden.
Mit der gestauchten Hand können nicht aufs Rad steigen und das ekelhafte Körpergefühl vom Fahrtwind abschmirgeln lassen. Wir gehen in die Küche und setzen uns ans Fenster.
Mir ist klar, dass ich nicht wirklich blute und doch gehe ich in das Rinnsal hinein und verfolge es auf seinem Weg an mir herunter. Ich habe keine Angst, mir ist nicht schlecht. Ich bin das Blut und müde, abgekämpft und dumpf.
Am nächsten Morgen schreibe ich auf, wer noch da war, was ich gemacht und gedacht habe.

Neben all dem, was ich nicht beeinflussen kann, ist die Therapie und der Hausaufgabenklops das, was mir im Moment Hoffnung und einen Faden in die Welt gibt.

Ich verstehe endlich, was es mit mir macht, wann immer Ärzt_innen und andere Helfer_innen sagen, sie hätten keine Ahnung: Ich denke, dass ich diese Ahnung haben muss. Denn irgendwo muss sie ja sein. Es kann ja nicht – es darf ja auch nicht sein, dass niemand weiß, was mit mir passiert, wenn es um so etwas Schlimmes geht.

Es darf doch nicht so sein, dass es für uns keinen Grund zur Annahme gibt, dass es irgendwann und durch etwas, das man tun kann, aufhört zu passieren.
Es muss doch etwas geben, das uns davon erlöst immer wieder so global die Kontrolle über uns und unseren Körper zu verlieren.

Ich sehe die Parallele zum Gewalterleben anderer Innens früher und sehe, wie oft wir mit der Frage nach dem Kontext und der inneren Mechanik dessen, was mit uns und an uns passierte, alleine gelassen wurden. Für mich wird darüber auch verstehbarer, warum sich organisierte Gewalt in additiven Kontexten bewegt, statt einfach nur in den Intensionen der Täter_innen: Sie haben keine Ahnung – aber für sie ist das okay und auch nicht relevant eine Ahnung zu haben, denn das draufgepappte Konstrukt um ihre Handlungen erlöst sie davon.

Für unsere Hausärztin ist es auch nicht relevant eine Ahnung zu haben. Für unsere gesetzliche Betreuerin und den Richter ist es ebenfalls nicht relevant eine Ahnung davon zu haben, was bei uns passiert. Sie können sich auf die eigene menschliche Begrenztheit und ihre Rolle in bestehenden Strukturen zurückziehen und sich so einen meterhohen Grenzzaun zwischen sich und uns aufbauen.
Es ist ihnen erlaubt blind taub und handlungsunfähig vor uns aufzutreten und uns zu vermitteln, wir müssten uns selbst retten helfen.

Und wir, die wir seit Jahren und immer unsere Probleme allein lösen oder durch alleingestemmte Projekte leichter machen, weil es keine anderen Optionen gibt, sprechen darauf natürlich an.
Wir sind die einzige Person, die während und nach dem Termin gelitten hat. Wir sind die Einzigen, die sich vom Krankenhaus nicht ausreichend versorgt gefühlt haben. Wir sind die Einzigen mit diesem Körper. Wir sind die Einzigen mit dieser Psyche. Wir sind allein mit dem, was uns passiert. Wir sind der Einzelfall von dem niemand eine Ahnung haben muss.
Weil man ja nicht von allem eine Ahnung haben kann.

Unsere Therapeutin sagt uns immer wieder, wir sollten uns darauf konzentrieren, dass heute alles anders ist als früher.
Nach Erfahrungen wie diesen, fällt es mir sehr schwer daran zu glauben, dass sich die der früheren Gewalt zugrunde liegenden Dynamiken nicht mehr in unserem Leben befinden und keinerlei (re)traumatisierenden Einflüsse mehr auf uns haben.

Es fällt mir so schwer, dass ich sage, dass heute wie gestern ist. Nur anders.

Prozesskosmen

“Du hörst Musik?”, fragte eine Person, die mit uns in der Klasse ist und schaute mich an.
“Ich geh sogar jeden Tag aufs Klo!”, antwortete ich und hoffte mir über ihre Reaktion erschließen zu können, ob sie überrascht, verwundert, verwirrt, verunsichert oder sich doch allein auf den Umstand, dass ich Musik höre, bezogen war.
Sie und ein paar andere Umstehende lachten und sie erklärte, dass sie sich das einfach nur gefragt hatte, “wegen der Lautstärke”.

Mir ist später aufgefallen, dass wir in einer schwierigen Lage sind, wenn wir erklären wollen, was für uns an Geräuschen schwierig ist. Allgemein ist es schwierig nicht einfach so differenziert darüber reden zu können, wie wir das jetzt aufschreiben werden.

Offenbar hat sich die Idee eingeschlichen, es ginge bei “unserer Geräuschempfindlichkeit” um Lautstärke allein.
Das tut es aber nicht. Es geht um “viel”, das für uns schneller als für viele andere Menschen “zu viel” wird.
Wir hören gern Musik ohne Gesang – stundenlang, auch volle Wumme laut – das Gleiche funktioniert aber nicht mit Songs, in denen gesungen wird. Wir hören sie gern, könnten aber Konzerte mit Mitsingen und Personenkult drum rum nicht durchhalten. Disco kriegen wir auch hin – wissen aber auch, dass wir danach tagelang Ruhe brauchen, weil es uns schlaucht wie ein Triathlon.

Deshalb sind die Ohrenstöpsel, die wir uns am Montag gekauft haben, wieder nur eine Entlastung – kein Lösungsmittel.
Wir kommen auch nicht gut damit zurecht, gar nichts oder nur extrem gedämpft zu hören – da grätschen uns die Traumafolgen rein. Das ist der Verlust eines Sinnes und damit ein Stressfaktor, der unsere Bereitschaft in den Hyperarousel zu kippen, erhöht.
Die Ohrenstöpsel von Alpine sind deshalb so gut für uns, weil sie bestimmte Frequenzen filtern und uns damit von Geräuschen entlasten, deren konkreter Nutzen für uns derzeit nicht gegeben ist. Sie funktionieren wie kleine mechanische Filter, die andere Menschen im Gehirn haben und lassen uns deshalb weniger von dem auditiven “viel” bewusst wahrnehmen.

Wir hören üblicherweise nichts, was andere Menschen nicht auch hören. Wir hören es nur leider immer. Und immer. Und immer. Alles. Gleichzeitig.
Wenn es etwas gibt, um das ich andere Menschen beneide, dann ist es ihre Möglichkeit die multiplen Gleichzeitigkeiten des Jetzt nicht immer als solche bewusst zu haben. Es ist die Entscheidungsmöglichkeit. Das Moment, in dem sie sich darauf konzentrieren können, etwas zu entdecken, dass sie schon immer umgibt.

Neulich ging ich mit meiner Klassenlehrerin durch einen Flur der Schule, den ich sehr mag, weil sich an seiner Decke die Wasseroberflächenbewegungen des im Schulgebäudehof liegenden Teiches reflektieren. Ich sagte ihr, wie schön ich es finde und zeigte ihr, auf ihre Frage, was ich meine, die Bewegungen einen Meter über ihrem Kopf. “Ist mir noch nie aufgefallen.”, sagte sie und freute sich.
Ich freute mich über ihre Freude und verging gleichzeitig in einem Neid aus meiner Idee von ihrem Leben und Sein in einer Welt, in der so viel weniger Dinge für sie geschehen und nach ihrer Aufmerksamkeit zu greifen zu versuchen.

Für mich ist es nicht wie in einem Film, in dem ich einen Raum betrete und zack sind alle Details für mich “einfach da”. (Und nein – wir wurden auch nicht darauf trainiert viele (alle) Details in Räumen wahrzunehmen, weil wir als ein multipler Supersoldat gezüchtet wurden. Just sayin. Mit Blick auf diverse Multimythen, die versuchen Autismus mitzu”erklären”.)
Wir gehen in einen Raum und haben Angst, dass er uns weh tut mit irgendeinem Ding, das niemand sonst zu bemerken scheint.
Ein erheblicher Teil dessen, was in uns vorgeht, wenn wir uns in Räumen aufhalten, hat mit der Selbstpositionierung zu den Kosmen um uns herum zu tun. Wo stoßen wir an? Wo schlagen wir Schatten? Wo verdeckt das Ticken einer Leuchtstoffröhre, das Glucksen im Heizkörper, das mir so gut gefällt? Was macht es, dass wir sind, wo wir sind? Und so viel mehr.
Und dann kommen Menschen dazu und verhalten sich rücksichtlos in Bezug auf all das.
Es ist so viel da und doch sprechen sie nur uns an.

Für uns ist das ein Element aus Gewaltsituationen früher und gleichzeitig auch immer wieder ein Moment gestört zu werden.
Wir sehen uns als Gast, als Zuschauende_r, als Besucher_in wo wir gehen und stehen. Wir wissen, dass wir niemals eins sein können mit dem, was wir wo auch immer vorfinden – aber wir nehmen immer Anteil an den Prozessen, die passieren und werden in manchen Aspekten zum Teil davon. Wir werden vereinnahmt, sind beschäftigt, sind berührt von dem, was passiert, weil wir da sind.
Sich dem “einfach nicht zu widmen”, erscheint mir unmöglich und im Anspruch bigott, rücksichtslos, ignorant und manchmal auch einfach nur unverständlich.

Gleichzeitig kann ich aber natürlich anerkennen, dass Wahrnehmung eben unterschiedlich passiert. Dass Wahrnehmung und Rezeption, Erfassen und Begreifen, Verbindung und Kontakt bei und in jedem Menschen jeweils unterschiedlich passieren.
Bei uns passiert es so, dass wir Umgebungsprozesse wahrnehmen und zur Erfahrung es Ist zugehörig erleben, während andere Menschen einen grundsätzlich anderen Fokus haben. Für sie kommt es nicht in Frage einen Menschen in einem Raum als irrelevanteren Prozess einzustufen, als seinen Schattenschlag auf dem Muster des Bodens in Korrelation zum Geräusch seiner Schuhsohlen auf eben jenem – für sie kommt aber in Frage sich dem zu widmen, wenn man sie darauf aufmerksam macht. Für sie gibt es die Wahl sich dem zu widmen.

Für uns gibt es die Wahl sich stören oder ablenken zu lassen. Oder eben die, die wir schon seit immer leben: die dritte Instanz zu sein zwischen dem nichtmenschlichen Prozesskosmos und dem menschlichen Prozesskosmos und zu versuchen sich zwischen Verbindung und Kontakt zu entscheiden.

Zum Beispiel zu versuchen in Verbindung mit dem menschlichen Prozesskosmos “Klassenlehrerin” zu gehen und ihr zu ermöglichen, Kontakt zu einem von mir wahrgenommenen Prozess aus dem nichtmenschlichen Prozesskosmos (die Bewegungen an der Decke) zu erfahren –  mit dem Ziel ihr zu sagen, was in mir passiert (welcher Prozess in mir passiert) während ich in Verbindung mit diesem Prozess bin.
Wir haben nicht die Wahl uns zwischen beiden zu entscheiden. Der Blick geht immer auf alles gleichzeitig und die einzige Wahl, die wir haben, ist die uns Optionen zu suchen, weniger stark darunter zu leiden.

Auf der einen Seite, dass wir uns manche auditiv wahrnehmbare Prozesse ausfiltern lassen. Dass wir Dinge und Räume meiden, die uns gleich viel oder mehr mit.teilen als Menschen, wenn wir mit Menschen zu tun haben.
Auf der anderen Seite, dass wir aber gegenüber den Menschen mit denen wir uns Verbindungen wünschen, beweglicher und transparenter werden – etwa in dem wir mit.teilen, was wir wann wie wo wahrnehmen, erfassen und womit wir uns gleichzeitig mit ihnen in Verbindung stehend empfinden.

Obwohl es für sie vielleicht nicht so erfassbar und begreifbar ist. Oder relevant. Oder gleichermaßen anziehend.
Und auch obwohl wir immer wieder gelernt haben und bis heute immer wieder als Lektion erfahren, dass das, was für uns von Bedeutung und Relevanz für das Ist als Prozess des Jetzt ist, für “alle anderen™” absolut irrelevant ist.
Nicht weil “alle anderen™” das so wollen oder so entscheiden – sondern, weil es für sie eine Frage des Wissen/Erfahren/* wollen sein muss, bevor sie es so wahrzunehmen versuchen können, wie wir. Und damit am Ende sogar scheitern könnten.
Weil wir jeweils anders sind.

Weil wir jeweils unterschiedliche Prozesskosmen sind.

Fundstücke #33

“Ich will jetzt nicht so groß und immer darüber reden, aber – wenn Sie mal nicht mehr sind – ist es dann noch gesagt?”.
K. hatte die Frage nach wochenlanger Bewegung im Mund in die erste Therapiestunde nach dem Urlaub der Therapeutin fallen lassen.

Die Frage entstand daraus, dass wir wenn wir Zeit haben, versuchen an unserem Buch zu schreiben.
Wir setzen uns hin und arbeiten stundenlang an Wortketten.
Und dann löschen wir das Dokument, fahren den PC runter und steigen aufs Fahrrad, um vor dem Introjekt wegzulaufen, das unsere Ausdrucksversuche als pathologisch(e Persönlichkeitszüge) definiert.

“Was ist das eigentlich überhaupt für eine miese Falle – Was ist das für ein abstoßendes, grundgemeines, gewalttätiges Doublebind… Erklär dich mir – aber stell dich nicht dar.”.
K. hat eine Art Rad zu fahren, die uns Muskelkater in den Unterarmen und Mittelfüßen macht. Das ist als sei sie in Wahrheit im Boxring und würde gegen zwei Gegner kämpfen, die vor ihr stehen wie Goliath vor einer Mikrobe auf Davids Nasenspitze.

“Mir hat nie jemand ver- oder geboten irgendetwas nicht zu sagen. Was ich erlebt habe, ist einfach nichts, wo das übliche Gespräch mal so drauf kommt.”, hatte sie einmal gesagt. “Und – wem soll mans denn sagen? Und welcher Grund dafür ist der Richtige? Und – wie sollte das aussehen, ohne Stress zu kriegen? Wie soll man denn das zusammenkriegen?”.

Wir bewegten uns eine Zeitlang gemeinsam in der Frage, ob wir unsere Therapie zu Zwecken der narzisstischen Selbstdarstellung missbrauchen. Ob wir aufhören sollten Therapie zu machen, weil wir ganz offensichtlich unübersehbar inkompatibel mit therapeutischen und sozialpädagogischen Hilfesystemen sind. Wir dachten darüber nach, das Bloggen und jede andere Form des Ausdrucks und der Auseinandersetzung aufzuhören. Den ganzen angefangenen, unbeholfenen Einsatz für andere Menschen hinzuschmeißen und einfach zu verschwinden, weil uns von diesem Introjekt und dessen Gewaltausübung keine andere Nische offengelassen wird.

So funktionieren Narzissmuskeulen im Rahmen von Helfer_innen.Gewalten und bilden eine Allianz mit früheren Gewalt ausübenden Menschen, die ebenfalls nichts weiter forcieren wollen, als dass man still ist. Unsichtbar. Weg. Tot.
Und sich daran aufreibt, kein anderes Ziel mehr zu haben, als genau das erreichen zu wollen.

Ich erzählte K. davon, wie ich früher immer wieder tief darüber verzweifelte so viel zu sein, dass SIE etwas zu kommentieren hatte. Wie sehr mein innigster Wunsch war, nur ein einziges Mal irgendetwas tun zu können, ohne angeguckt und bewertet zu werden. Wie ich darunter gelitten hatte, nie genug von mir, meinem Denken, Wünschen und Hoffen verstecken zu können, damit ER es nicht für sich benutzt.
Für mich war “Why does he do that?” ein wichtiges Buch dazu.
Für mich war es eine wichtige und hilfreiche Wahrheit, dass manche Menschen eine Art haben auf andere Menschen zu schauen – und damit auch nicht aufhören zu können! – die in ihnen allein begründet ist. Es war und ist wichtig für mich gewesen anzuerkennen, dass wir von sadistischen und damit hochgradig kontroll-zentriert funktionierenden Menschen aufgezogen wurden.
Wir hätten auch weder sprechen, noch denken, wünschen, hoffen, wollen etc. können – sie hätten uns auch in diesem Zustand kaputt kontrolliert und unsere Anwesenheit für sich ausgenutzt.

“Es gibt diese Menschen. Die benutzen dich auch dann noch für die Bestätigung ihrer Wahrheiten, wenn du völlig passiv oder tot bist. Es geht dabei nicht um dich. Es geht um ihre Selbstbestätigung. Um sie allein. Und dabei ist es unerheblich, ob sie als Ärzt_innen in einer Klinik arbeiten, als Hassfollower hinter Anonymitätsbüschen im Internet hocken oder als Gutachter für irgendeine Krankenkasse oder Behörde arbeiten. Es geht einzig um die Bestätigung einer Annahme, nicht um die Auseinandersetzung damit.

Es ist nicht unsere Aufgabe zu verhindern, dass Menschen uns angucken und für sich allein missbrauchen. Wir dürfen verlangen gefälligst nicht benutzt zu werden. Wir sind ein fühlendes Wesen. Kein Objekt. – auch wenn sie uns genau so behandeln und das auch noch für richtig halten (dürfen).”, sagte ich, während ein anderes Innen neben mich trat und seine Bilder von Ärzt_innen in Notaufnahmen, psychiatrischen Krisenstationen und Kliniken, die unser Verhalten in ihre kleinen Formulare hineinkatalogisierten, um auf unser Sein und Denken zu schließen, hinzulegte.

Um mich herum knirschte es aus K.’s Kiefer und das Monster im Inmitten schleuderte sich krachend gegen die Wände seines Käfigs.

“Du kannst reden, K. . Tus einfach. Für dich, für uns, dafür, dass es gesagt ist.”.