#1 „Melden Sie sich, wenn was ist.“

„Wenn was ist“ gehört für mich zu den schlimmsten Formulierungen in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Ich halte sie für gewaltvoll, schlecht und falsch. Will sie weder lesen noch hören. Will mit niemandem zu tun haben, der mir das sagt.
Leider haben wir sie alle schon gehört und sogar selbst in den Strom allgemeiner Alltagsgewaltätigkeiten gegeben. Diese Formulierung ist so üblich, dass viele Menschen sogar glauben, sie würden damit etwas sagen können. Für mich nur schwer nachvollziehbar.

„Wenn was ist“ wird verwendet, um der eigenen Annahme möglicher Abweichungen Ausdruck zu verleihen. „Melden Sie sich“, um ein Bindungsangebot zu machen, dass von_m Klient/Patient_in ausgeht.
„Im Fall einer Abweichung können wir in Kontakt gehen“, kommt also am Ende dabei heraus.

Problem: Mit professionell Begleitenden, Helfenden, Unterstützenden, Behandelnden ist man nie in Kontakt, weil „nichts ist“.
Die Grundlage professionellen Kontaktes ist in unserer Gesellschaft grundsätzlich negativ definiert. Also über die Abwesenheit, das Fehlen von etwas bzw. die Anwesenheit eines Defizits. Sobald man also in einem Betreuungsverhältnis, einem therapeutischen Verhältnis, einem pflegerischen Verhältnis miteinander ist, hat man sich als Hilfe-/Unterstützungs-/Behandlungssuchende Person bereits gemeldet, weil ein ganz spezifisches „etwas“ ist. Nämlich Bedürfnisse, die vom familiären und sonstig näherem persönlichen Umfeld nicht erfüllt werden – also, weil „niemand (da) ist“.

Ich habe lange versucht zu entschlüsseln, was das gemeinte „Etwas“ von dem „Etwas“ unterscheidet, das mich mit Helfer_innen und Behandler_innen zusammenbrachte.
In betreuten Wohngruppen konnte das gemeinte „Etwas“ viele verschiedene Dinge bedeuten.
„Etwas war“, wenn ich eine Sache aus abgeschlossenen Räumen brauchte. „Etwas war“, wenn ich als Heimkind irgendwelche Elternzettelage in der Schule oder beim Amt einzureichen hatte. „Etwas war“, wenn meine seelische Not unerträglich für mich wurde. Mir erschloss sich nie, warum mir extra noch gesagt wurde, dass ich mich dann melden sollte, denn was sollte denn die Alternative sein? Ich bin nicht so aufgewachsen, dass ich nicht ständig und immer und immer die ganze Aufmerksamkeit bei den Leuten hatte, die am meisten über mich zu bestimmen hatten. So wirkte dieses sicherlich sinnvolle Bindungsangebot „dann melde dich“ als Erinnerung daran, dass meine ersten Gedanken zur Problemlösung oder Meinungsfindung auf gar keinen Fall bei meinen Kompetenzen und mir anfangen dürfen, sondern immer erst bei den Autoritäten in meinem Leben. – Und zwar in Bezug auf alles, was passiert, weil es „etwas“ ist.

Im ambulanten Betreuungskontext hat sich das etwas aufgelockert, weil ich im Alltag mehr Autonomie hatte und gestalten konnte. Hier wurde es dann allerdings kompliziert, weil ich kein eigenes Konzept und Übung darin hatte, in Autonomie und ihren Folgen zu leben. Ich war die Betreuung gekommen, weil meine schwere Symptomatik meine Möglichkeiten der Selbstbestimmung extrem begrenzten und teils auch verunmöglichten. Und weil ich als 18-jährige Person noch nie selbst über meinen Wohnraum und dessen Ausstattung bestimmt hatte. Ich wusste nicht, nach welchen Gesichtspunkten ein Haushalt zu führen, ein Finanzbudget einzuhalten, zukunftssichere Entscheidungen zu treffen sind. Ich hatte unerträgliche Panik und Kontrollverluste über mich, wenn ich diese Entscheidungen selbst treffen sollte und funktionierte mich durch die Aufgaben durch, wenn ich in Begleitung von und in Kontakt mit Autoritäten (meiner Betreuerin) war. Was letztlich der „akzeptierte Kontrollverlust“ über mich war, denn er wirkte sich nicht als dysfunktional aus. Dennoch war das ja „etwas, was war“. Und es passierte mir sowohl allein als auch, wenn ich mich bei jemandem gemeldet hatte.
Was also bewirkte es für mich, wenn ich mich meldet, weil „etwas war“? Es ergab sich für mich weiterhin kein Unterschied in der Auswirkung auf mich, wenngleich mir klar war, dass es ein Unterschied ist, allein oder in Kontakt mit jemandem diese Erfahrung zu machen.

Speziell in diesem Kontext war mir aber auch immer bewusst, dass der Kontakt etwas ist, worum ich dankbar sein musste – völlig unerheblich, ob er mir letztlich tatsächlich eine Hilfe oder Unterstützung ist. Denn schon der Umstand, dass man sich um mich, ein Opfer organisierter Gewalt mit komplexer, seltener, kontrovers diskutierter Traumafolge, sorgt kümmert fachlich fundiert auseinandersetzt, ist etwas, das mir spät erst als etwas klargemacht wurde, dass ich grundsätzlich verdient habe wie jeder andere Mensch auch.
Meine Betreuung, Behandlung und Begleitung wurde mir immer wieder als besonders herausfordernd, besondere Ausnahmen erfordernd und besonders viel (mehr) Ressourcen (als von anderen Klient/Patient_innen) abverlangend gerahmt. So habe ich mich oft selbst als das „etwas“ gefühlt, „das ist“ dessentwegen sich jemand bei jemandem melden muss, kann, darf. Es entstand der Eindruck, eine Belastung zu sein, die sich schöngeredet wird. „Interessant, was Psyche so kann.“, „Ich lerne so viel von dir“, „Du machst meinen Beruf spannend.“, „Das ist eine große Herausforderung – wir werden das aber schon hinkriegen (wenn du mithilfst)!“ Ich war zeitweilig vollkommen davon überzeugt, dass es Helfer_innen, Betreuenden, Unterstützenden unfassbar krass viel abverlangt, ihre Arbeit an mir zu machen. Dass sie sich gegen extreme Widerstände und über sämtliche Grenzen hinweg dafür entscheiden müssen, mit mir in Kontakt zu sein (– und ihren bezahlten, selbstbestimmt gewählten Job zu machen, der sie in einen Status erhebt, aus dem heraus sie aktiv über Leben wie meins bestimmen, urteilen und sprechen dürfen).
So kam unter anderem meine Wortmeldung auf der Tagung in Münster 2013 zustande. Mir war damals noch überhaupt nicht in den Sinn gekommen, dass man Bedarfe wie meine aus Gründen besonderisiert, die nichts mit mir zu tun haben. Dass man mein Überleben teilweise als Beweis für Dinge hernimmt, die anders nicht objektivistisch beweisbar sind.

Nie, in all den Jahren hat man mich in meinem Grundgefühl von und Wunsch nach Gleichheit mit anderen Betreuten/Behandelten/Geholfenen bestärkt. Niemand hat mir kontinuierlich vermittelt vermitteln können, dass meine Grundbedürfnisse, die gleichen sind, wie bei allen anderen Menschen auch. Vielleicht, weil das so ein basales Ding ist. Vielleicht, weil man nicht annahm, dass ich überhaupt darüber verunsichert bin. Vielleicht weil ich nie gefragt habe: „Hey, warum ist euer Verhalten über meine Bedürfniserfüllung so anders als bei den anderen Patient_innen/Mitbewohner_innen?“ Vielleicht weil man dachte, mir gefiele der Besonderheitsstatus und gebe mir damit ein gutes Gefühl von Beachtung und Wertschätzung nach einem (so angenommenen) Leben in Missachtung und Abwertung.
Am Ende hat es mich in Dankbarkeit und Angst vor dem Verlust aller Kontakte gezwungen und gehalten.

Es gab Betreuungskontexte, in denen immer „etwas sein“ musste, damit ich überhaupt Kontakt haben konnte, während ich gleichzeitig in Therapiekontexten behandelt wurde, in denen ich mich – egal womit – nicht außerhalb der Therapiestunden melden sollte. Was für mich bedeutete, dass „nichts“, also auch ich selbst nicht „sein“ durfte.

Mein Ausweg aus diesen Widersprüchen und impliziten Sozialzwängen war, aus der Betreuung auszusteigen und meine Wünsche an die Traumatherapie, die ich in der Zeit gerade neu begann, so exakt wie nur irgend möglich zu formulieren. Ich habe mich außerdem innerlich so umfassend wie möglich davon emanzipiert, ein_e „DIS-Patient/Klient_in“ zu sein und begonnen mich als Mensch mit komplexer Traumafolge zu verstehen und zu erforschen, welche Aspekte meiner Existenz warum und in welchen Kontexten, mit welchen Auswirkungen auf mich in unserer Gesellschaft als abweichend gedacht und behandelt werden.

Im Zuge der Auseinandersetzung mit meinem Autismus, habe ich dann verstanden, wie es zu meiner Verwirrung und meinem Missverstehen der so gut gemeinten Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ kam und auch heute noch immer wieder kommt.
Durch dieses Verständnis konnte ich mir dann erarbeiten, was „etwas ist“ in Bezug auf meinen Kontakt mit meiner Traumatherapeutin bedeutet.

„Etwas ist“:

  • Wenn ich suizidal bin und glaube, dass ein Kontakt mit meiner Therapeutin dazu beiträgt, dass ich eine gute, richtige, selbstbestimmte Entscheidung zum Umgang mit meiner Suizidalität treffen kann
  • Wenn ich in traumareaktiven Gedanken- oder Gefühlsschleifen feststecke und glaube, dass mich der Kontakt zu meiner Therapeutin, in einen Zustand bringt, der mich dazu befähigt, meine eigenen Orientierungsfähig- und -fertigkeiten zu aktivieren
  • Wenn ich mich in einer Situation befinde, in der meine Traumatherapeutin formal als meine Behandlerin auftreten muss, um mich vor Schaden (im Sinne einer Falschbehandlung oder Fehleinordnung) zu bewahren
  • Wenn ich mir über Termine und andere gemeinsame Absprachen unsicher bin und glaube, dass meine Therapeutin mich darüber aufklären bzw. daran erinnern kann

„Etwas“ ist nicht:

  • Wenn ich Angst habe und Versicherung auch durch andere Kontakte und Aktivitäten herstellen kann
  • Wenn ich nicht weiß, „was ich habe“, fühle, denke und will – und sich das (außerordentlich) unangenehm anfühlt
  • Wenn Kinderinnens oder innere Jugendliche eine Situation im Außen kompensieren/regulieren/managen/übernehmen
  • Wenn andere Personen zuständig sind (etwa meine gesetzliche Betreuerin oder Behörden)
  • Wenn ich keine Idee habe, wozu ich den Kontakt brauche oder nutzen kann (will)
  • Wenn ich meine Therapeutin in irgendeiner Form als Autorität über mich haben will (Zum Beispiel, damit sie mir Dinge erlaubt oder verbietet, die ich mir selbst nicht erlauben oder verbieten kann/soll)

Es war hilfreich für mich zu verstehen, dass Psychotherapie nie für Menschen konzipiert wurde, die niemanden im Leben haben (und/oder arm, behindert/chronisch krank und nicht weiß sind).
Der Grundgedanke bei Psychotherapie ist der eines Werkzeuges von vielen. Der Kontakt soll ergänzen, was man eh schon in sich hat. Die neu etablierten Methoden sollen neu überdenken lassen und vervollkommnen, was bereits genutzt und aktiv eingesetzt wird.
Der Kontakt zur_m Behandler_in ist kein Ersatz für ein soziales Umfeld im Privatraum, das sich respektvoll und bedarfsgerecht verhält. Und auch wenn Behandler_innen jeder Profession eine gewisse Autorität über die Einordnung des Zustandes ihrer Klient/Patient_innen zugesprochen wird, so sind sie nicht autorisiert über den Wert, die Gestaltung und diverse Entscheidungen diesbezüglich zu urteilen. Selbst wenn die Klient/Patient_innen diese Autorität über sich selbst (noch) nicht selbstbestimmt ausagieren können.

Hätte ich das schon als Jugendliche_r verstanden, wären mir viele Wunden im Hilfe- und Betreuungskontext nicht geschlagen worden und meine Ansprüche an meine Therapie sowie meine Therapeut_innen erfüllbarer gewesen. Und dementsprechend viel weniger Quelle für Re_Inszenierung und Re_Traumatisierung, als dem Kontakt bereits immanent ist.

Denn er ist nie bedingungslos. Er entsteht immer nach und durch verschiedene Akte der Gewalt – und wird immer durch und nach dem Üb.Er_leben von Gewalt nötig.
Die Phrase „Wenn was ist, melden Sie sich“ bestätigt, legitimiert und reproduziert diesen Umstand. Es gibt Bedingungen, die für den Kontakt erfüllt sein müssen. Generell, um einander überhaupt kennenzulernen und eine Zusammenarbeit zu beginnen, aber auch spezifisch, wenn es um die Ausgestaltung dieser Arbeit geht.

Damit ich die Gleichzeitigkeit von Gewalt und Begleitung bei der Heilung von Gewalthandlungen an mir im professionellen Kontext ertragen kann, fordere ich, dass sie mir nicht gesagt wird.

#2. „Sie sind schon so (sehr) weit.“

Ich saß vor der Kinoleinwand, die Brummschleife direkt über meinem Kopf und versuchte die Menschen im Saal zu erfassen. „Alles Freund_innen. Alles Gemögte. Alles ‚die Richtigen‘.“ sagte ich mir und hoffte einfach, dass das auch stimmt.
Meine zweite Lesung, sie lief gut. Ich war zufrieden mit dem Ablauf, den Räumlichkeiten, den kontrollierbaren Kontrollverlusten, mir selbst. „Sie sind schon sehr weit“, sagte meine Therapeutin am nächsten Tag und wieder hoffte ich das Beste. Was auch sonst?

Etwa, dass ich mich frage: „Weit“ von wo nach wo? Weit im Vergleich zu wem? Weit in Bezug worauf? Heißt „weit“ so viel wie „hoch“? Gibt es dann auch ein „tief“? „Links“ oder „rechts“? Nah?
Was ist die Einheit, in der gemessen wird? In welcher Norm bin ich schon (seit wann? Jetzt? Oder schon länger? Hab ich einen wichtigen Moment verpasst? Ich habe nichts mitgekriegt – hätte ich?) sehr weit?
Wie weit ist „sehr weit“? Gibt es auch „mittel weit“? „Bisschen weit“? Wie viel liegt zwischen „sehr weit“ und „weit“? Geht es um Symptome? 5 Mal Traumacrash am Tag ist „nicht mal losgelaufen“, aber zweimal die Woche ist „sehr weit“?

Meine Therapeutin kennt mich seit 2012. Wenn sich jemand zu meiner Entwicklung äußern darf, dann sie. Und doch will ich es nicht hören. Dass unser Kontakt von Normierung geprägt ist, gehört dazu. Sie soll mich anhand von Normen beurteilen, sie hat gar keine andere Wahl, wenn sie ihre Arbeit von der Krankenkasse bezahlt und anderen Menschen in irgendeiner Form verlässlich beurteilen lassen will. Ich muss mich darauf verlassen, dass sie meine Fortschritte normiert, denn sonst weiß sie nicht, ob unsere Arbeit meine Entwicklung unterstützt oder nicht. Ich bin auf ihre Normierungsfähigkeit angewiesen.

Ich aber möchte nichts darüber wissen.
Es verunsichert mich. Es verschiebt meinen Fokus und führt mich in Normkrisen. Zurück in Traumawahrheitskreisel und daraus entstehender Angst vor eigener Überheblichkeit, Eitelkeit, Stolz, Selbstüberschätzung.
Es fällt mir leichter meine Leistungen und Schwächen anzuerkennen, wenn ich sie mir unter den Aspekten von „Kraftaufwand“, „Effizienz“ und „Auswirkung“ anschaue. Wenn ich mich also frage:
Was hat es mich gekostet? Worauf habe ich verzichtet?
Konnte ich es umsetzen, wie gedacht? Hatte mein Plan Schwächen? Konnte ich diese Schwächen aus mir heraus auffangen oder brauchte ich Unterstützung?
Ist eingetreten, was ich mir gewünscht hatte? Wenn nein, hat es geschadet? Wenn ja, ist der Schaden behebbar? Wie viel Energie kostet es mich, diesen Schaden zu beheben?
Wenn eintrat, was ich mir wünschte: Hat es sich angefühlt, wie ich es wollte? Wenn ja, ist das ok für mich? Wenn nein, warum nicht? Wenn es sich nicht angefühlt hat wie gewünscht, warum nicht? Habe ich das beeinflussen können?

Ich verstehe, dass es in unserer Gesellschaft üblich erscheint, ein Leben wie meins mit einem Verständnis von einem Krankheitsverlauf zu betrachten. Sich zu denken: „Ach Mensch, 2010 standen hier noch krud wirre Murkstexte aus Gefühlsbrei und krassem Leidensdruck durch Symptome aller Art – jetzt lesen sie in einem Kino aus ihrem zweiten Buch, ganz alleine und selbstorganisiert. Da ist echt Entwicklung passiert – ein langer (weiter) Weg geschafft.“ Und das stimmt auch. Aber sagt im Grunde nichts. Entwicklung wäre ja schließlich auch passiert, wenn wir keine Bücher geschrieben hätten. Keine Arbeit gefunden hätten. Keine Ausbildung geschafft hätten. Auch dann wäre es ein langer Weg von damals bis heute gewesen. Auch das wäre Leistung, Entwicklung, Prozess gewesen. Vielleicht auch Heilungsweg.

Es ist so schwierig immer wieder klar zu halten, dass eine DIS das Ergebnis umfassender physiologischer Anpassung an spezifische Einflüsse ist. Es ist keine Krankheit, die man rückgängig machen oder aufheben kann. Ich werde also nie von „Genesung“ sprechen können, nie unverändert, nie neuro_normalisiert werden.
Ich werde immer besser lernen mein Verhalten, meine Interaktion und Kommunikation an die Norm anzupassen und meine Reaktionen bestimmten Normen entsprechend zu gestalten. Das wird immer zu meinem Weg gehören und vermutlich ziemlich wahrscheinlich, denn Gesellschaft wandelt sich immer, werde ich ihn bis zum Ende meines Lebens gehen, um zu überleben. Denn das ist mein erklärtes Ziel und natürliche Funktion all meiner Systeme: Überleben.
Wie jedes andere System, jeder andere Mensch auch.

Wenn man meine Lebenszeit als allgemeine Wegstrecke zugrunde legt, bin ich jetzt bei Meter 37 von etwa 83. Gehen wir davon aus, dass ich mich zunehmend daran gewöhnen werde, relevante Anpassungsleistungen zu vollbringen (oder ihre Vermeidung zu perfektionieren) sowie mit höherem Alter von Leistungsansprüchen verschiedener Art entlastet zu werden, dann ja, habe ich nicht mehr so viel vor mir, das so herausfordernd ist wie jetzt. Vielleicht die Hälfte etwa.
„Gesund“ gewesen wäre ich aber lieber früher. Viel früher.
Ich habe von meinen 37 Lebensmetern 23 mit gezielter Umentwicklung und Normentanz verbracht. Oft weil es so wie es war, einfach schlimm war, meistens, weil als Ursache dafür irgendeine mehr oder weniger zwingend zu verändernde Unnormalität angenommen wurde. Ich unnormal, meine Familie unnormal, mein Er_Leben unnormal.

Mein Lebensweg führt mich da nicht heraus. Ich komme nicht bei „Normal“ an „je weiter ich bin“ und ich wünsche es mir auch immer seltener. Einfach, weil meine Kräfte zur Umsetzung dieses Wunsches nicht mehr ausreichen. Ich werde schlicht älter. Kann Normierungsdruck eigentlich nur noch mit aktivistischer Frechheit und Glitzerkanonen oder herablassender Intellektualisierung begegnen – denn so merken nicht sehr viele Menschen, dass ich einfach nicht mehr so viel, so schnell, mit so viel Kraft kann.

Es dennoch zu versuchen gehört zu der Krankenrolle, die mir zugeschrieben wird, aber dazu. Ich darf so lange unnormal krank sein, wie ich bin, aber ich muss auch alles dagegen tun (wollen).
Diesem ableistischen Anspruch zu entsprechen, normalisiert mich in manchen Kontexten. Patient_innen gehen halt in Behandlung. Mein eigenes Ansinnen an meine Behandlung als mich ermächtigend, kann ich dort nicht einbringen, ist für manche vielleicht sogar noch nie gedacht.

Für mich ist Selbstermächtigung, was ich brauche, um mir eigene Normen zu geben. Und durchzuhalten, dass ich sie für mich etabliere. Mich selber mit Kraft dafür versorge. Mir selbst den Rücken stärke, wenn jemand sie angreift. Dafür muss ich nicht wissen, „wie weit ich schon bin“ – dafür muss ich er_leben. Und üben. Und immer wieder ausagieren. Ob bei Lesungen oder meiner Kleiderwahl, unter Freund_innen oder bei der Arbeit.

Deshalb will ich das nicht hören.

#3. „Ich lerne gerne mit/von Ihnen.“

Meine DIS-Diagnose wurde gestellt, als ich 16 Jahre alt war.
Das hatte viele Vorteile für mich, denn meine Behandlungsprognose war sehr gut und ich bin gewissermaßen in die wissenschaftliche Auseinandersetzung sowie in die mediale Erzählung über und von Menschen mit DIS hineingewachsen.
Die Nachteile habe ich aus Loyalität und Unsicherheit lange verschwiegen. Ich wollte niemandem schaden, niemanden über sich selbst verunsichern und natürlich auch meine eigene Situation nicht verschlechtern. Und die war schlecht. Trotz bester Aussichten üb.er_lebte ich auch Jahre nach der Diagnose und ihrer Implikationen für Helfende in Strukturen organisierter Gewalt. In der Regel war ich die erste Person mit DIS in jeder Wohngruppe, jeder Betreuungssituation, jeder Schulklasse, jeder allgemein- und fachmedizinischen Praxis außer der Psychiatrie.

Dass ich wusste, was eine DIS ist und dass ich in der Lage war allen möglichen Menschen mit jedem möglichen Vorwissen zu vermitteln, was das ist, woher es kommt und welche Konsequenzen sich daraus für unser Miteinander ergeben, war zu der Zeit überlebenswichtig für mich. Ich war extrem darauf angewiesen, dass mein Verhalten als traumareaktiv und dissoziativ verstanden wurde, damit man mir glaubte, dass ich wirklich nicht gerne ausgebeutet und verletzt wurde. Aber auch, damit ich richtig und umfassend geschützt wurde. Damit man mir bei der Suche nach einer passenden Therapie half, damit man mich bei der Antragsstellung für bürokratische Schutzmaßnahmen unterstützte. Und letztlich auch, damit man ein wenigstens annäherndes Verständnis dafür bekam, wie umfassend meine Unterstützungsbedarfe im Alltag waren.

Damals war total klar, dass niemand tiefere Ahnung von DIS hat. Trauma war noch mehr als heute Soldatensache, irgendwas mit Krieg, Naturgewalten oder anderen Extremereignissen. Als Folge extremer Gewalt geframed hatte die DIS für viele Menschen, die dann doch davon gehört hatten, auch Elemente des widersprüchlich Fantastischen, ging es doch immer auch um „unvorstellbare Gewalt“ dabei.

Als Betroffene_r ist es für mich bis heute so, dass mich belastet, wie viele Begrifflichkeiten ich erst definieren muss, um überhaupt erst ein Mal einen gemeinsamen Grund zum Verständnis zu erschaffen. Was bedeutet Trauma? Was bedeutet „extreme Gewalt“ in speziell meinem Fall? Was ist Dissoziation? Um was für Strukturen geht es beim Begriff der „strukturellen Dissoziation“? Was ist Amnesie? Was sind Persönlichkeitsanteile/Innens/Innies?
Und was hat das alles mit meinem Bedarf in der Alltagsbegleitung zu tun?
Früher habe ich das allen erklärt, die es wissen wollten. Ich habe Betreuer_innen fortgebildet, Literatur weitergegeben und erklärt, habe zu anderen Fällen mit Vielen meine Perspektive geteilt, habe vermittelt und erklärt. Da war ich 18, 19, 20 Jahre alt und erlebte gleichzeitig noch jeden Tag, was als eine Ursache meiner DIS gilt.
Wenn mir damals jemand sagte, dass sie_r gerne bereit ist, mit mir und von mir zu lernen, wirkte das als Bindungsangebot auf mich. Und als Rettungsversprechen. Ich dachte, wenn nur alle wüssten und verstünden, dann würden sie mir auch helfen. Sie würden dann machen, dass es aufhört. Die Gewalt, aber natürlich auch die Hölle in mir und meinem Leben im Hier und Jetzt.
Das ist so nie eingetroffen.

Das (wissenschaftlich fundierte, mühsam rangeschaffte und von mir objektivierte) Wissen, das ich weitergab, wurde häufig als persönliche Erzählung, als individuelle Konstruktion zur Sinngebung meines Zustandes verstanden. Was man von und mit mir lernte, wurde in der Regel als eine Eigenschaft von mir verstanden, auf die man Rücksicht nehmen kann, wenn es passt. Die man erforschen kann, wenn man auf Problemsuche ist. Ganz als handle es sich bei der strukturellen Dissoziation der Psyche um eine Neigung oder spezielle Gedanken über sich selbst – und nicht um eine grundlegende Architektur, die jede Eigenschaft überhaupt erst ermöglicht und ausschließlich in ihrem Rahmen definierbar macht.

Dieses Verständnis von anderen Menschen zuzulassen, erfordert ein Begreifen vom Leben und der menschlichen Natur, das nicht mit einer Erklärung der DIS als diagnostizierbare Krankheit hergestellt werden kann.
Das gilt für jede Diagnose, jeden als divergent definierten Selbstzustand. Auch Autismus und Trans* sein zum Beispiel.
Niemand mit einem Verständnis von Autismus als persönliche Eigenschaft wird je wirklich kapieren, was es bedeutet autistisch zu er_leben und wird in der Folge immer wieder verletzen und missachten ohne es überhaupt zu merken oder im Nachhinein wirklich zu verstehen. Alle, die glauben Trans* sein könne allein über dya cis normatives Geschlechterverständnis erklärt werden – also in Abgrenzung der sozialen und biologistischen Konstruktion von „Mann“ und „Frau“ – werden nie dahin kommen zu kapieren, was es bedeutet, hier und heute in dieser Gesellschaft als trans* Person zu üb.er_leben. Da können sie noch so gern von und mit uns, die es betrifft, lernen. Denn wir müssen immer mitdenken, dass das, was sie glauben zu lernen, mit hoher Wahrscheinlichkeit geistige Schubladen füllt, die die grundlegend falschen sind.

In der Psychotherapie kann das anders sein. Dort geht man als Individuum hin, um individuell ganz auf sich bezogen zu sein und zu denken und zu fühlen. Man hat eine Diagnose erhalten und von dieser wird die Behandlung abgeleitet. In der Auseinandersetzung mit schwierigen Themen lernt man sich selbst besser kennen und die_r Therapeut_in kann gar nicht anders als mitzulernen, sie_r ist schließlich immer dabei.
Wenn mir meine Therapeutin also sagt, sie würde gerne mit mir lernen, dann übersetze ich mir das in etwa zu: „Ich bin gerne dabei, wenn sie sich besser verstehen.“ – weil ich in dieser Situation nicht grundlegend auf ihr Wissen über mein Selbstverständnis angewiesen bin.

Viele Menschen beginnen eine Psychotherapie aber nicht, um sich besser kennenzulernen. Die meisten (komplex) traumatisierten Menschen in meinem Umfeld suchen eine Therapie, um nicht an ihren Traumafolgen zu sterben. In so einer Situation ist es einfach zynisch, wenn ein_e Therapeut_in sagt, dass sie gerne mit der_m Patient_in lernt. Zynisch, ignorant und letztlich auch (unabsichtlich) gewaltvoll.
Denn es geht in dieser Phase nicht nur um das Individuum und das persönlichst Private, sondern häufig auch um Lebensumstände und gesellschaftliche Kontexte. In solchen Momenten ist es wichtig, dass andere Menschen ihr Wissen vermitteln.
Und als Psychotherapeut_in dann auch zu sagen: „Hier kann es nicht um diese großen Kontexte gehen. Hier machen wir Psychotherapie. Psychotherapie ist der Raum zur individuellen Auseinandersetzung darüber, wie Sie mit und in diesen Kontexten zurechtkommen.“
Diese Grenzziehung finde ich von einigen Behandler_innen oft nicht oder nicht eindeutig genug gemacht und vielleicht ist sie generell auch schwierig. Wichtig finde ich sie dennoch. Schon um als Patient_in diese Grenze nicht als Marker für Abwehr oder leichtfertig ausagierte Ignoranz (miss) zu verstehen. Es gehört zur notwendigen Orientierung dazu, zu erfahren, an wen man sich womit wenden kann und wo man welche Räume wofür hat.

Lebensgefahr (ob real oder so empfunden) ist einfach kein Zeitraum des Lernens, sondern des Erfahrens. Wenn man das als Behandler_in oder Betreuer_in oder Begleiter_in nicht weiß – im Sinne von basic Wissen über menschliches Funktionieren – hat man meiner Meinung nach nichts in der Nähe (komplex) traumatisierter Menschen (in existenziellen Krisen, Lebensgefahr, Täter_innenkontakt) zu suchen.

In den ersten 14 Jahren meiner DIS-Diagnose habe ich vor allem Erfahrungsräume gebraucht.
Ich brauchte Menschen mit vielen verschiedenen Lebenserfahrungen, die mich versichernd durch die eigenen Lebenserfahrungen begleiten, denn ich war in Gewalt erwachsen worden und wusste nicht, wie es ganz konkret anders gemacht wird. Ich brauchte also Menschen, von denen ich lernen konnte, wie (ihr) Leben geht, um mir selbst einen Begriff davon zu machen.
Ich brauchte Menschen, die mit mir zusammen ausgehalten haben, dass ich mein Leben immer wieder bedroht wahrnahm, weil ich angewiesen auf Jobcenter und andere Behörden immer wieder in de facto existenzieller Bedrohung lebte.

Niemals habe ich Menschen gebraucht, die an und von mir toll gelernt haben, was eine DIS ist. Diese Menschen haben immer mich benutzt gebraucht, um sich selber für sich selber über etwas zu versichern oder zu orientieren, statt sich selbst um Fort- und Weiterbildung zu kümmern und die Verantwortung für ihre Wissenslücke und die entsprechend niedrigere Qualität ihrer Arbeit zu übernehmen.
Es war meine Hilfsbedürftigkeit, die ausgenutzt wurde. Meine Hilflosigkeit, die verdeckt und auch für mich selbst verschleiert wurde, mit Lob über meine tolle Erklärungsfähigkeit, meine super Kompetenz so sperrige Inhalte gut zu vermitteln. Und ihr Missverstehen, das ich nicht auflösen konnte. Ihre fehlende Reflexion über das Machtverhältnis, in dem wir waren und die Kontexte, die es unaufhebbar machen.

Diese Verdeckung – dieses Vermeidungsverhalten – ist der Grund, weshalb ich diesen Satz von professionell Begleitenden, Unterstützenden und Behandelnden nicht mehr hören will.
Wir sind nicht auf der gleichen Ebene.
Wenn wir etwas voneinander lernen, dann muss es uns beide befähigen können und nicht aus der Not von einer_m von uns geboren werden. Denn sonst passiert Gewalt.

Fragmente einer Ausnahmesituation

In den Quetschfalten der letzten Wochen hat es mich manchmal überrollt.
Ja, mein Partner ist nicht gestorben – aber es hätte passieren können und
Meine liebe kleine alte NakNak* mit ihrem Krumpelfuß und dem leisen Stöhnen beim Aufstehen und Hinlegen – auch noch nicht tot, aber
Traumafachtag in München, warum ist das alles so kompliziert, achso achso aha, hmm, naja, aber da kann man ja was machen – einfach nur
Mein Buch ist veröffentlicht, jetzt
Buchmesse, hoppla ich bin Teil von etwas und
Oh, wir sind eine Gruppe mit Gruppenthings, da kann
Münster, Spiegel, False Memory, Wahrheit, Wissen, Wichtigtuer, was für ein Karussell oh man, oh man. Alles auf die Leseliste, das ist
Buchmesse, oh, ah, hui mit Aufzeichnung – obwohl ich so
Gruppenthings gonna always Gruppenthing aua uff oje oje oje

All die Dinge der letzten Monate, die außerhalb von mir passiert sind.
Über nichts konnte ich wirklich zu Ende nachdenken oder eine emotionale Verbindung entwickeln. Ich kenne das schon – es gibt einfach Phasen im Leben, da hat man viel im Zwischenspeicher und rumpelt in der eigenen Außenschale umher. Dass das ein Ausnahmezustand ist, habe ich erst am Sonntag begriffen. Nachdem es einen Konflikt gab, den ein jugendliches, aggressives Innen begann und durchzog bis ich die Kontrolle wieder übernehmen konnte. Solche Wechsel sind mir zuletzt vor 12–13 Jahren passiert. Als mein Leben eine endlose Kette von Ausnahmen, eine ganze Existenz im Zwischenspeicher war.
Diese Zeiten sind vorbei. Solche Wirrungen nicht mehr irrelevant. Ich erlebe meine Ausnahmesituation eingebettet in die Alltage und Er_Leben.srealitäten anderer Menschen. Deshalb geht es auch um Anpassungsleistungen. Also darum zu maskieren, zu funktionieren, während mir meine Grundlagen für die Kraft dazu fehlen und über Extrameilen beschafft werden müssen.

Bei allem Frohsein darum, dass ich jetzt nicht mehr allein im Bullergeddo wohne, eine Arbeit habe und viele Menschen kenne, mit denen mich viel verbindet, wäre ich jetzt gerne wieder an genau dem Punkt. Denn von da aus konnte ich mich immer fallen lassen. Wusste immer: „Ob ich mich jetzt aufreiße oder später oder ganz oder gar nicht, es ist im Grunde egal.“ Niemand hat nach mir gefragt, niemand auf mich gewartet, niemand etwas von mir gewollt.
Menschen sind in mein Leben gekommen, weil ich gegeben habe. Obwohl niemand darum gebeten oder darauf gewartet hat.
Das war insgesamt einfacher für mich.
Auch weil es selten vorkam, dass explizit mehr von mir verlangt wurde, als ich sowieso gegeben habe.

Ich wollte immer mehr von mir. Und habe das auch Stück für Stück geschafft.
Jetzt bin ich daran gewöhnt, viel geben zu können.
Und mein Umfeld in Teilen auch.
Sich jetzt an ein niedrigeres Niveau zu adaptieren, fällt mir schwer.

Es sind gerade tatsächlich nur 3 Stunden Konzentration, die ich aufbringen kann. Es ist gerade tatsächlich so, dass ich nicht die ganze Zeit um die möglichen Gefühle und Gedanken anderer Menschen kreise. Sondern darum, meine eigenen überhaupt mal zu empfinden und erkennen zu können. Wenn mir etwas nicht angetragen wird, denke ich nicht darüber nach. Wenn mich niemand anspricht, spreche ich nicht. Ich denke nicht in Wörtern für den Fall, dass ich jemandem davon erzählen will oder muss oder möchte, sondern in dem mir eigenen Irgendwie so.

Früher hätte ich das gemacht und mich dafür bestraft. Denn ich wollte ja mehr – weil ich sollte. Einfach nur arbeitsunfähig sein, einfach nur chronisch erkrankt sein, dafür muss es echte Anlässe geben – die habe ich mir nie an.erkannt, weil sie mein Umfeld nicht an.erkannt hat.
Heute erkennt mein Umfeld das an – und ist zuweilen verunsichert, mich so zu erleben. Freund*innenschaften werden in Frage gestellt, gemeinsame Pläne ob ihrer Umsetzbarkeit generell bezweifelt, meine gesteckten Ziele hinterfragt. Es wird bedauert, wenn ich unter einen Instagrampost schreibe, dass ich viel geschafft und wenig ganz und gar miterlebt habe in der letzten Zeit. Während ich denke: „Leute! Was denkt ihr denn, wie ich gerade durchs Leben gehe? – Mir ist vor wenigen Wochen der Partner – mein von mir geliebter, mein in mein Leben reingebackener Mitmensch – fast gestorben. Ich habe genau in der Zeit eine Retraumatisierung erlebt, die ich jetzt noch mit viel Kraftaufwand aufarbeite. Meine in den letzten 15 Jahren immer da gewesene Assistenzhündin knabbert ihr letztes Stück Lebenszeit. Seit 3 Jahren leben wir in einer Pandemie, die unsere Teilhabe- und Teilgabemöglichkeiten begrenzt – worüber unser Umfeld nur noch aus Höflichkeit nachdenkt. Was denkt ihr denn, wie viel Raum noch in mir drin ist? Wie viel von mir gerade irgendwo anders drin sein kann?“

Ich denke, dass ich viel gebe, wenn ich mich aus dem Rückzug reiße und Pläne oder Vorhaben nicht aufgebe. Wenn ich weiter ehrenamtlich arbeite. Wenn ich mich nicht krankschreiben lasse.
Gleichzeitig merke ich, dass ich mich auch dazu zwinge. Die Angst zu fallen und nie wieder aufstehen zu können – dieses Traumafragment, aus dem ich meine ganze Überlebenskraft, meinen ständigen Antrieb, ziehe – die wirkt unfassbar stark im Moment.
Manchmal rede ich auch mir ein, besonders jetzt aktiv zu bleiben, würde helfen. War ja schließlich das, was sie in der Psychiatrie mit mir gemacht haben: Wenig schlafen, viel Programm. Sinnvolles tun. Sich selber hinter irgendein aktives Handeln stellen.

Tatsächlich will ich aber nur schlafen oder liegen und mein Gesicht in den Bauchflausch von NakNak* halten, während ich Bubi die Öhrchen streichle. So wäre es gerade gut.
Aber wenn es so ist, ist es schon nach 2 Minuten nicht mehr auszuhalten.
Und die Dissoziation fängt mich auf.
Meistens passend.
Und nun auch mal total schwierig für andere.

Aber wäre das nicht passiert, hätte ich es nicht verstanden.
Ist das der Preis?

Aufgaben im System überdenken

Und wieder eine Sprachfalle.
Meine Aufgabe im System. Jemand, ein Anteil von mir – nicht ich, aber nun mal ja doch ich irgendwie – soll mal über die Aufgabe im System nachdenken. Natürlich ohne Angabe, von welchem System die Rede ist. Selbstverständlich ohne Antwort auf die Frage, wer die Aufgabe vergibt.

Es ist schwierig für mich das zur Seite zu stellen.
Obwohl ich weiß, dass das vermutlich ✨nur so✨ gesagt ist. Gemeint ist sehr wahrscheinlich keine vergebene Aufgabe. Nicht: „Überleg mal, was du hier eigentlich für wen machst.“
Sondern: Dein Empfinden, Denken und Handeln, dein Sein, erfüllt eine oder viele Funktionen. Welche sind das? Bist du zufrieden damit? Wie wirkt es sich auf andere Aspekte deines Lebens als Einsmensch aus?
Aber es bleibt Unsicherheit. Denn es ist eine Übersetzung. Meine Annahme darüber, was meine Therapeutin mit der größten Wahrscheinlichkeit gemeint haben könnte. Ich habe gerade keine Möglichkeit, mich darin zu versichern und bin abgelenkt von den Ängsten, die das bei mir auslöst. Alle schon tausendmal durchlebt und überstanden. Reflektiert, geprüft, bewusst aufgelöst, orientiert, aber weiter da wie ein abgefräster Baumstumpf.

Ich bin mir meiner Funktion bewusst. Weiß, dass ich so wie ich damit umgehe, schon alles genau richtig mache für mein Alltagssystem. Ich kaue das einfach nur so Gesagte durch, übersetze mir die diffuse Masse in feste Formen und arbeite damit weiter, obwohl ich jagende Angst habe, weil ich praktisch nie sicher sein kann, ob das so gut geht. Ob ich richtig liege. Ob das nicht doch irgendwie falsch ist. Ich etwas vergessen oder übersehen habe. Ob ich nicht doch etwas ignoriert oder fälschlicherweise außer Acht gelassen habe. Ich habe Angst, weil ich Fehler machen könnte – um weniger Fehler zu machen. Um mir den Stoff zu liefern, den ich brauche, um meine exekutiven Dysfunktionen zu kompensieren: Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Die Stresshormone, die mich zu einem „guten Opfer“ machen, weil es den Arsch hochkriegt, statt für immer malad dem Siechtum anheimzufallen.

Was ich höre, wenn mir jemand sagt, dass ich mal über meine Aufgabe Funktion nachdenken soll, ist oft: „Das ist so schlimm/nicht okay/krank/falsch/schlecht. Lass das mal. Hör mal auf damit. Ist doch krass anstrengend. Mach mal weniger – Mir egal wie – du wirst das schon rausfinden. Du bist kompetent, das seh ich ja. Du bist aktiv und kriegst alles irgendwie hin – Wenn du es nicht packst, würd mich das schon sehr wundern, also ich hab da schon andere Erwartungen an dich – Die Konsequenzen – dein Ding. Da bin ich raus, das ist ja nicht meine Verantwortung.“
Ich erlebe es also nicht wirklich als Anreiz, ergebnisoffen darüber nachzudenken, was ich eigentlich finde oder möchte oder will. Sondern viel mehr als offene Ansage darüber wie ich sein soll oder in welche Richtung ich mich entwickeln oder verändern dürfte, wenn ich wollte.
Und könnte.

Mein Alltagssystem ist ein Angst-Kompensier-und-Nutz-System. Kein Aus-Angst-irgendetwas-anderes-mach-System. Mein Rahmen daran etwas zu ändern ist von meinem System begrenzt. Dem System, das mich in meiner Funktionalität entwickelt hat.
Das heißt nicht, dass ich nie etwas ändern kann – ich kann es aber nicht über meine Systemfunktion hinaus.
Alle Schritte aus dem traumareaktivem Angstfunktionieren heraus habe ich zum Beispiel nur machen können, weil ich kompatible Beruhigungsmechanismen angeboten bekommen habe. Die ich unterstützt ausprobieren konnte. Die anzupassen mir gezeigt wurde. Die kleinen Inseln, in denen ich heute ohne übermäßige Angst funktionieren kann, habe ich entdeckt, weil andere Menschen mir vorgemacht haben, wie das geht. Wie ich das machen muss. Womit ich rechnen muss. Wie ich damit umgehe, wenn es nicht klappt. Weil ich nicht damit alleingelassen wurde, herauszufinden, wie und wer ich bin, wenn ich nicht permanent im größten Angststress bin – obwohl ich Angst habe.

Im Moment geht es in meiner Therapie nicht um mein System und mich, sondern um Wut und ein jugendliches System.
Meine Funktion für uns als Einmensch-System ist es, Systeme wie dieses zu kompensieren, genauer gesagt zu unterdrücken. Wut ist saugefährlich in unserer Gesellschaft. Vor allem in Kontexten wie unserer Herkunftsfamilie, aber auch den Hilfesystemen, in denen wir jugendlich waren und erwachsen wurden. Da gab es nie eine andere Möglichkeit als Angst vor der eigenen Wut – völlig egal wie gerechtfertigt oder rational begründet sie war – zu entwickeln. Sie war immer genauso lebensgefährlich wie die falschen Fragen, die falschen Worte zu den falschen Menschen.
Und sie war oft ein unterstelltes Empfinden oder eine angenommene Empfindung, um Melt- und Shutdowns mit der Annahme eines nicht-autistischen Erlebens verknüpfen zu können. Mir wurde also vielfach auch dann Wut unterstellt, wenn ich schon jenseits jeder Emotionswahrnehmung war – was dazu führte, dass ich mich selbst oft als wütend dachte, obwohl ich es nicht war. Was meine Angst vor Gefühlen ins Extrem generalisiert hat. Ich bin so schon nicht gut darin zu wissen, was ich fühle, wenn es um mehr als Grundemotionen geht – mein Außen hat das aber nicht gewusst und teils auch nicht glauben wollen. Wie mir gespiegelt wurde, was man an mir für Gefühle sieht und annimmt, konnte entsprechend nur selten nicht verwirren und verunsichern – und ist auch heute noch kein Feld, auf dem ich mich sicher fühlen kann. Wer Angst hat, kann halt schlecht nochmal genau über den Anlass drüberfühlen, um sich selbst Klarheit zu verschaffen.
Was das angeht, muss ich immer schneller sein als meine Angstkurve. Immer immer immer. Bei egal was. Im Laden, auf einer Veranstaltung, im Gespräch mit Freund_innen, in der Therapie. Folgerichtig habe ich im Leben auch immer Angst vor der Angst – obwohl und wahrscheinlich gerade weil ich anders überhaupt nicht funktionsfähig (und also ich selbst, Hannah) bin.

Wie ich nun also eine nicht kompensierende Verbindung zu diesem wütenden jugendlichen Innen und seinem System herstellen soll, weiß ich noch nicht sicher. Es hilft zu merken, dass sie nicht mehr die Gefahr wie früher darstellen. Es hilft auch zu merken, dass es im Kontakt mit der Therapeutin zu Zustandsveränderungen kommt, die ihr System ähnlich destabilisieren wie sich meins destabilisiert (und verändert) hat, als ich in Kontakt mit ihr ging und bleiben konnte. Es ist leichter zu erkennen, wer was wie aus.macht, wenn ein System nicht mehr perfekt funktioniert. Ich kann jetzt also leichter anfangen zu schauen, welche Funktion dieses wütende Innen für sein System hat und dann überlegen, ob ich diese Information für etwas nutzen kann, das Verbindung herzustellen hilft.

Also, wenn ich fertig bin mit der Angst vor dem Falschmachen, weil ich nicht über eine Aufgabe nachdenke, sondern eine Funktion.

Rückzug

Vor 4 Wochen ist mir etwas passiert.

So wie dieser Satz ist, fühlt es sich an. Banal und undefiniert konkret.
Ich glaube nicht, dass ich je öffentlich darüber schreibe oder spreche. Aber es ist passiert, es wirkt und auch das schreibe ich hier auf.
Auch, weil es zeigt, dass viel über Trauma und seine Folgen zu wissen im Fall einer erneuten Traumatisierung bzw. einer Re-Traumatisierung wenig zu Entlastung beiträgt einerseits und andererseits eine Reflexion ermöglicht, die eine Kontextualisierung erleichtert. Also dann doch – irgendwie – entlastet.

Zum Beispiel war mir schon in der Situation klar, dass ich traumareaktiv reagiere.
Dass ich auf Ressourcen zugreife, die mich geistig („frontalhirnig“) an meine gegenwärtige soziale Umgebung binden, weil sie eine gewisse Identität (im Sinne einer Übereinstimmung) haben. Ich habe mich absolut darauf konzentriert, dass ich erwachsen bin, weil ich weiß, dass die Menschen in meiner Umgebung daran keinen Zweifel haben. Ich wusste ganz genau, dass ich, wenn ich mich daran halte und dementsprechend erwartungsgemäß re.agiere, mit mehr Empathie, Hilfsbereitschaft und Fürsorge rechnen kann, als wenn ich re.agiere, wie ich kongruent mit meinem Selbstgefühl bin.

Mir war aber auch klar: Wenn ich „erwachsen re.agiere“ können andere Menschen nicht mehr erkennen, dass ich in Bezug auf die Erfassung der Situation, die Einordnung und die Anbahnung eines Handlungsablaufs hilflos bin.
Sie sprechen mich nicht an, als hätte ich eine wie auch immer gelagerte Verletzung. Sie bieten mir keine Unterstützung an, sondern fragen mich, warum ich welche von ihnen brauche. Wenn es vorbei ist, bietet mir niemand Fürsorge für mich an. Wund_Pflege.

Nun war mein Partner zu dem Zeitpunkt noch auf der Intensivstation und erlebte einen ganz eigenen verletzenden, todes.ängstigenden Horror. Keine_r meiner Freund_innen oder Gemögten konnte zu mir kommen. Nicht allen konnte ich überhaupt davon schreiben. Meine Therapeutin war im Urlaub – und krank. Sie telefonierte kurz mit mir, das ging fürchterlich schief und schon beim Auflegen war ich innerlich absolut blank.

Die nächste Traumareaktion.
Ich habe mich nicht mehr nach außen orientiert. Keine Kongruenz mehr gesucht, kein Trauen und auch keine Kraft mehr für die Angleichung gehabt.
Ich wurde von traumatischen Erinnerungen geflutet und das war die Kongruenz, die ich in mir selbst haben konnte. Gewissermaßen hat in der Situation also die Tatsache, dass ich nicht zum ersten Mal so unversorgt verletzt geblieben bin, mehr zu innerem Zusammenhalt (Assoziation) beigetragen als alle Skills, alles empowernde Wissen, auf das ich zugreifen hätte können.
Weird.

Dieses traumabedingte „nur in sich selbst zu Hause sein“ ist die Schnittstelle, die viele Menschen mit Autismus in Verbindung bringen, weil man über autistische Menschen bis heute noch denkt, sie wären in ihrem Körper oder einer inneren Welt gefangen.
Ich habe da eine Grenze.

Nach traumatisierenden Erfahrungen ist der Rückzug eine bio.logisch absolut perfekte Strategie. Das gesamte System „Körper“ war mehr oder weniger lange überfordert und wurde verletzt. Die Energiereserven sind aufgebraucht. Alle. Sich auszuruhen, ist zwingend notwendig. Es ist wichtig, dass man im Anschluss mehr von allem bekommt als sonst. Mehr Zuwendung, mehr Nahrung, mehr Schutz, mehr Unterstützung. Kein Körper kann aus „nichts“ „etwas“ machen. Er braucht das Außen, er braucht den Input, um Output zu generieren. Gefühle und Gedanken sind Output. Sie sind Körperprodukte. Lebenszeichen.

In einer Gesellschaft, in der das unversorgte Verletztsein die Norm ist, wird Rückzug oft nicht mehr intuitiv als Marker für Fürsorgebedarf verstanden. Also als ein Hinweis darauf, dass eine Person andere Personen zum Überleben braucht. Viel häufiger wird er als Abgrenzung verstanden. Als Akt der Individualisierung, der Betonung des Selbst oder auch der Konzentration auf sich selbst.
Deshalb erscheint es logisch in so einer Phase zu sagen: „Komm erstmal klar – du musst nicht zur Arbeit kommen, du musst nicht zum gemeinsamen Hobby kommen, du musst nicht zum üblichen Treffen kommen – sei unbesorgt, krieg dich erstmal auf die Reihe, wenn was ist, melde dich.“ Was man sagen will ist: „Wir verstehen, dass du im Ausnahmezustand bist – wir warten hier auf dich, bis wieder alles in Ordnung ist.“ Was man aber miteinander macht ist, die Wiederherstellungsarbeit zu verwalten. Die soll der verletzte Körper aus sich selbst heraus schaffen. In vollem Bewusstsein dafür, dass andere Körper erreichbar sind, wenn sie denn erreicht werden können. Mit den richtigen Worten, zur richtigen Zeit, der richtigen Ressourcenlage. Man kann also die Fürsorge bekommen, die man braucht – aber nicht sicher und schon gar nicht bedingungslos.

Vor allem nicht als autistische Person.
Meine autistische Isolation begann schon 2 Minuten nach der Realisation, dass ich gerade von etwas verletzt wurde. Nämlich in dem Moment, in dem mir klar wurde, dass ich jetzt etwas tun musste, das ich noch nie getan hatte. Ich war noch nie in der Situation. Ich habe noch nie gefühlt, gedacht, gemacht, was in dem Moment alles da war. In dieser Konstellation. Der Partner im Krankenhaus, ich alleine mit den Hunden, auf dem Land, zig Kilometer von allen entfernt, zu denen mir der Kontakt nicht so schwerfällt. Ich hatte kein Skript dafür. Und das einzige Skript, das mir einfiel, wurde quasi sofort niedergeschlagen. Und als ich es dann doch anbahnen konnte, nicht erfolgreich im Sinne von wie erwartet, erwünscht und erhofft, abarbeiten. Was zu einer ganzen Reihe von Unklarheiten führt, die meine Rolle in der Situation, meine Pflichten, meine Verantwortungen betreffen und dem nicht-autistischen Außen jetzt mühsam vermittelt werden müssen. Ohne in Gänze geklärt werden zu können.
Es bleibt gewissermaßen ein offener Topf, eine unfertige Sache, wie das unfertig abgearbeitete Skript. Für mich ist auch das ein Stück „offene Wunde“. Denn ich weiß, dass ich mit bestimmten offenen Stellen immer übrig bleibe. Dass ich damit allein klarkommen muss, obwohl ich nicht kann. Und in Bezug auf manche Aspekte auch nicht will.

Die oft fast romantisierte autistische Isolation ist die spezielle Hölle des Minderheitenstresses. Der sich in traumatischen Situationen vervielfacht. Zum Erleben der traumatischen Situation selbst kommt die stets potenziell traumatisierende Interaktion und Kommunikation mit nicht-autistischen Menschen, die ohnehin schon tendenziell nicht erkennen können, was für Bedarfe bestehen. Auch deshalb habe ich in der Situation „erwachsen“ gehandelt. Und nicht „ich (in einer überfordernden Situation, die Unterstützung von Außen nötig macht)“. Ich brauchte die größtmögliche Annäherung an die Erwartungen und Lesbarkeiten der nicht-autistischen Umwelt. Und wie schon im Supermarkt, bei der Arbeit, beim Hobby, im Ehrenamt habe ich also umgeschaltet. Ich habe mich rausgeschnitten. Dissoziiert und in mir selbst isoliert. Nur krasser. Dringlicher. Todes_Ängstlicher. Kontakt_Unterstützungs_Hilfe_Bedürftiger.

Ich habe mich zurückgezogen in den letzten Wochen. Obwohl ich im Kontakt mit anderen Menschen war. Gearbeitet habe. Spaß hatte. Kurzkettenproduktiv war. Mich auf eine Reihe gekriegt habe. Nämlich die, in der diese Erfahrung keine Rolle spielt. Nichts weiter bedeutet. Und auch nichts weiter bedeuten muss, denn so leben wir ja schließlich alle irgendwie – weshalb es für mich gerade auch Kongruenz herstellt. Obwohl es mir überhaupt nicht guttut. Und auch nicht richtig ist. Es ist nur normal.

note on: Hannah mach doch auch endlich was

Urlaub also. Und das Auto ist wieder heil. Back to normal?
Ich bin so runter mit allem, dass nichts mehr normal laufen kann. Bin genervt von Sprachnachrichten, genervt von Nachfrage-, Abklär-, Soll das so-, Entscheide du-Mails. Bin ohne jeden Überblick, was die aktivistische Community in Sachen „Aufklärung der Massen über rituelle Gewalt“ so auf die Füße stellt, werde aber dauernd auf das Instagramvideo und YouTube hingewiesen und seit Wochen per Mail angeschrieben, was ich denn denke, finde, glaube, machen will, auch in der Causa Schweiz/Satanic Panic/Missinformation deluxe. Bin verwirrt, weil immer noch niemand zwischen Interessen und Positionen unterscheidet. Denke die meiste Zeit „Hä?“ und spüre dem Rutschen dieser Bubble von mir weg nach.

Gefühlt steht mal wieder auf dem Spiel, dass niemand mehr glaubt, es gäbe organisierte Rituelle Gewalt. Gefühlt muss die DIS-Diagnose schon wieder verteidigt werden. Gefühlt sind Behandler_innen in Gefahr. Gefühlt ist alles ganz dramatisch und muss jetzt ganz schnell irgendwie eingefangen werden und Aktion Aktion von allen! Jetzt hier und gleich und mit voller Durchschlagskraft, weil so muss man das doch machen. Mit aller Gewalt gegen die Gewalt!
Weil uns das ja zuverlässig immer irgendwas bringt.

Es ist extrem herausfordernd für mich, meine Solidaritäten beieinander zu behalten in dieser so sehr verstreuten, schnellen, kurzlebigen Community. Aus der ich persönlich niemanden wirklich kenne und für die ich gefühlt auch einfach nicht (gut, aktiv, laut, offen, echt, kompetent) genug bin. Die Währung ist „lieb“. Ist Freund_in, treue Follower*innenschaft, privates Kennen und Mögen, soziales Feelgood, Bestätigung. Und ich habe nur Überzeugung und Solidarität auf Faktenbasis. Das reicht nicht, um als Nichtfeind_in an.erkannt zu werden. Vor allem nicht in Zeiten wie diesen.

Meine Solidaritäten sind systemisch. Ich stelle so etwas wie „Viele Stimmen“ auf die Beine, während ich ein unfassbar schwieriges, schmerzhaftes Buch schreibe, das der Community helfen soll, fast Vollzeit in einem Verlag arbeite, der ebenfalls vielen Communitys solidarisch zur Seite steht und eine Podcastreihe ausrichte, die der Community helfen soll, das Stigma selber aufzulösen. Ich bezahlte das Supportticket für die nun abgesagte Tagung, damit andere Betroffene auch kommen können. Obwohl ich als Mitmacher_in auch kostenlos reingekommen wäre.
Sich nicht wie Menschen, die mit sozialer Bestätigung handeln, zu beteiligen, heißt nicht zu schweigen. Oder unsolidarisch zu sein. Oder sich nicht zu interessieren. Oder doof zu finden, was andere machen.

Schon, dass ich diesen Text schreibe, um das zu erklären, ist für mich eins von vielen Zeichen dafür, dass ich gerade traumanah fühle. Ich erkläre mich einer diffusen Gruppe, die mich als Individuum gar nicht erst erfasst, sondern einfach nur als Masse hinzugewinnen will, obwohl ich schon längst dabei bin. Nur eben nicht so wie sie. Klassisches Ding in meinem Leben. Drinnen und Draußen sein gleichzeitig.

Jetzt aber gehe ich erst einmal rein. In meinen Urlaub. Erarbeite mir zurück, mich jeden Tag zu pflegen, mich gesund und ausreichend zu ernähren, zu bewegen und mich selbst zu spüren. Meine Gedanken zu hören, meine Ideen zu erforschen. Und dann schreibe ich das mit den Interessen und Positionen auf. Und warum uns die Beschäftigung damit weiter bringen kann, als eine Wall of Hashtags und Solidaritäten aufgrund von „lieb“.

Zeit für Grenzen

Ich hatte es eingepreist – Kontakt mit anderen Menschen erfordert Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen.
Und am Ende ist es der Anfang einer Schleife, deren Verlauf ich gut voraussagen kann.
Nicht mehr so bodenlos verzweifelt wie als Kind, so frustriert wie als Jugendliche und auch nicht mehr mit so viel Selbsthass wie vor der Autismusdiagnose als 30-jährige_r – aber auch nicht gelassen. Neutral, okay damit. Mit Gefühlen von Kontrolle.
Jetzt ist es bewusst. Als Trigger, als äußere Dynamik, als etwas, das ich zu beeinflussen versuchen kann, aber mehr auch nicht. Ich spüre meine Scham, ich spüre Frustration, ich spüre Not und meinen Grad des Gefordertseins.
Und meine Einsamkeit.

Konflikte sind für alle schwierig. Das schreibe ich auf, weil ich weiß, dass hier Menschen mitlesen, die es wichtig finden, so etwas immer auch zu sagen. Weil sie mir sonst nicht glauben, dass ich das weiß und mitbedenke, wenn ich von meinen Schwierigkeiten schreibe. Oder mir sonst unterstellen, ich würde meine Schwierigkeiten für außergewöhnlich schlimm halten. Oder mir unterstellen, ich würde die Schwierigkeiten anderer nicht erkennen können. Und um mich vor solcherlei Vorwürfen zu schützen, habe ich nun also diesen überflüssigen Kram aufgeschrieben, der am Ende doch nie einen Schutz bietet, weil es nicht meine Entscheidung ist, wie ich gelesen und verstanden werde; was mir wann wieso und aufgrund welcher Worte geglaubt, zugetraut und anerkannt wird.
Was für eine Verschwendung. Was für ein Aufriss. 30 Sekunden Lebenszeit dahin für eine nutzlose Geste. Wofür? – Um ein Beispiel zu produzieren.

Denn mir erscheint die Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen oft voll mit unnötigen Gesten. Trotzdem mache sie oft mit. Bestimmte prosoziale Phrasen, Sätze, Bemerkungen, Witze, (Nach)Fragen baue ich in meine Kommunikation ein, um sympathisch, empathisch, zugewandt, freundlich auf andere Menschen zu wirken. Nicht immer, weil mir das wichtig ist, sehr oft aber, weil ich weiß, dass meine Mimik und/oder mein Ton mit einem gewissen Stresslevel nicht mehr als freundlich oder zugewandt, empathisch oder generell sympathisch eingeordnet wird. Besonders in angespannten Situationen oder bei Problemen, die nicht leicht zu lösen sind. Da werde ich oft aggressiv genannt. Dominant. Und damit implizit gewaltvoll.
Vor allem dann, wenn ich, wie es mein Bedürfnis ist, bei der Sache bleibe. Sachorientiert zu denken und handeln, wird von den meisten Menschen nicht auch als sachlich kommunizierend eingeordnet, sondern – besonders in emotional aufgeladenen Situationen als absichtlich ignorierend. Ausgrenzend, kalt, emotional distanziert – so als verwehre man der anderen Person die emotionale Verbindung und damit eine wichtige Grundlage für den sozialen Kontakt.
Meiner Erfahrung nach ist es unerheblich, ob ich mich in solchen Situationen erkläre oder nicht. Die meisten Menschen wollen in solchen Situation vor allem eins: die Ver_Bindung prüfen.
Sie wollen wissen, ob ich gefährlich für sie bin oder nicht. Sie wollen sich sicher fühlen. Und dafür brauchen sie prosoziale Performance. Sie brauchen Versicherung von mir, brauchen prosoziale Phrasen, prosoziale Lügen, prosoziale Nachfragen, Entschuldigungen. Manchmal, aber leider selten, auch prosoziales Handeln von mir. Diese Bedürfnisse richten sie in der Regel als Anspruch, als basale Grundanforderung des Miteinanders an mich.

Was sie nie auch einfordern, ist mein Konsens zu dieser Art des prosozialen Miteinanders. Sie setzen ihn voraus, weil es keinen Moment der Frage gibt, ob das Miteinander, das wir haben, eines ist, das auf der gleichen Ebene läuft. Ob wir auf Augenhöhe miteinander in Kontakt sind, ob wir den gleichen Energieaufwand zur Herstellung und Aufrechterhaltung dieses Kontaktes haben, ob die Ziele unseres Kontaktes die gleichen sind, wie die unseres gemeinsamen Handelns.
In meinen Freund_innenschaften und allgemein allen Kontakten, die ich pflege, ist es erst ein Konflikt, der meine Arbeit an dem Kontakt aufdeckt und mich gewissermaßen outet oder auch „demaskiert“. Denn Konflikte entstehen aus gegenseitigem Missverständnis. In der Regel aufgrund fehlerhafter oder ausgebliebener Kommunikation.

Dies ist ein Grund für meine Tendenz zu „Projektfreund_innenschaften“ oder auch „Themenfreund_innenschaften“. Der gemeinsame Sachbezug trägt meine Beziehungen sehr lange, oft über Jahre hinweg, über die Gefühle von Missachtung meiner kommunikativen Bedürfnisse im sozialen Kontakt und entspricht generell eher meinem Lern- und Bindungsstil. Ich lerne orts- und kontextbezogen sowie detailorientiert; es fällt mir leichter eingehende Reize zu verarbeiten, wenn ich mich bewegen bzw. handeln kann. Kontakte, die ich also aufsuchen muss, um etwas mit ihnen zu tun, haben die höchste Chance auf Haltbarkeit und bieten mit höchster Wahrscheinlichkeit auch den Zugang, um die Personen über ihre Funktion im gemeinsamen Handeln hinaus überhaupt zu erfassen, kennen zu lernen und in ihrer Persönlichkeit empfinden zu können. Das bedeutet: Um zu wissen, ob ich mit den Menschen „kann“, ob ich sie sympathisch finde oder empathisch oder freundlich – oder eben auch nicht, vergeht Zeit. Viel Zeit. Mitunter Jahre. Unter anderem deshalb, weil ich nicht offen damit umgehe im Alltag und, wie oben angedeutet, von mir auch nie abgefragt wird, wie ich die Menschen finde oder ob das gegenseitige Miteinander für mich so in Ordnung ist. Man fragt mich durchaus, ob „alles okay“ ist – der nicht-autistischen Diffusität entsprechend bleibt „okay“ jedoch stets undefiniert. Meine Definition von „okay“ im sozialen Miteinander ist in etwa: „Ich kanns aushalten.“ Und als autistische Person mit DIS ist mein Rahmen für „Aushalten“ mitunter etwas größer als der vieler anderer Menschen.

„Aushalten“ klingt mir oft zu sehr danach, als würde ich leiden, deshalb verwende ich im Kontext meiner alltäglichen Lebensrealität lieber „kompensieren“.  Unter anderem, weil Kompensation, auch die ständige Kompensation von mehr oder weniger unangenehmen Reizen oder Situationen oder Umständen, ein Kernmerkmal des Lebens ist. Ohne Kompensation keine Weiterentwicklung, ohne Weiterentwicklung entsteht Stasis.
Jedoch kann jedes Lebewesen nur im Rahmen der ihm inne liegenden Fähig- und Fertigkeiten, der genetischen Ausstattung, sowie in Abhängigkeit von den generell wirkenden Umgebungsfaktoren, kompensieren. Das bedeutet: Es gibt Grenzen. Und die liegen nicht nur darin, was man (noch) nicht kann, sondern auch darin, was man (noch) nicht darf, soll, will – und zu welchem Zeitpunkt und in welcher (sozialen) Situation man aktivieren kann, darf, soll, will, um zu kompensieren.

Viele Menschen werden an diesen Grenzen jeden Tag herausgefordert und häufig auch überfordert. Oft ganz unbemerkt, da wir in einer ableistischen Gesellschaft leben, in der unser sozialer Status von unserem (stets und immer alles) Können abhängt und das Überwindenwollen menschlicher Unzulänglichkeiten als selbstverständliches Ziel aller Menschen vorausgesetzt wird. Es gilt als normal, sich stets zu überwinden. In vielerlei Hinsicht.

Und so wachsen wir alle auf. Müde, Hunger, Pipi, kalt, das wägen wir alle ständig ab mit unserem Umfeld. Geht das jetzt gerade? Ist es sicher genug? Sind genug Ressourcen dafür da? Wie ist die Bedürfnislage des sozialen Umfeldes – wird es von meinen Bedürfnissen gerade berührt? Wen muss ich wie mitdenken, um den Frieden zu bewahren? Dieser Prozess läuft in der Regel unbewusst ab, intuitiv. Wird geformt von Bindungserfahrungen, auch traumatischen. Wird beeinflusst vom aktuellen Geschehen, dem Normen- und Wertekonzept unserer direkten Umgebung.
Praktisch in diesem Zusammenhang ist die Fähigkeit, stets verlässliche Antworten auf solche Fragen finden zu können. Stets eine angepasste Reizverarbeitung gewährleisten zu können, um schnell und häufig genug richtig zu erfassen, wie die Lage ist. Worum es geht. Wer wie mit wem, was wann wer warum, wo womit was wie … passiert.

Meine Reizaufnahme ist schneller als meine Reizverarbeitung. Jedes Gespräch ist eine Herausforderung für mich. Denn ich nehme jedes Wort auf – kann es fehlerlos erinnern und wiedergeben – aber nicht gleich schnell oder ähnlich schnell wie die meisten anderen Menschen auch verstehen. Meine Kompensationsstrategie ist die Konzentration auf die Sachinhalte, denn das ist ein viel zuverlässigerer Punkt im Miteinander als die sozialen und emotionalen Informationen eines Gesprächs.
Das bedeutet, dass ich in rein emotionalen Gesprächen – oder prosozialen Gesprächen, die der emotionalen Fürsorge dienen – oft praktisch aufgeschmissen bin. Denn das Wissen um die Grund_Emotionen und ihre Bedeutung des Gegenübers muss ich mir aus einem Gespräch ohne zuverlässigen Punkt herausarbeiten. Meistens in Real-Time, während ich die prosoziale Performance vormache, damit die andere Person sich sicher mit mir fühlt (und mich entsprechend nicht angreift) – und eigentlich aber noch gar nicht verstanden habe, was das Ziel des Gesprächs eigentlich ist (und woran ich erkenne, dass es erreicht ist), was der Auftrag an mich ist (und wann dieser erfüllt ist oder erfüllt sein soll) – und selbstverständlich die ganze Zeit über meine Grenzen gehe.
Denn diese Gespräche finden nie mit autistischen Menschen statt, sondern mit nicht-autistischen. Also sprechen wir „nicht-autistisch“. In meinem Fall casual gezwungenermaßen, weil es nie überhaupt zur Debatte steht, wessen kommunikative Bedürfnisse erfüllt werden. Nie mein Konsens dazu abgefragt wird, nie die Zeit, der Raum, die Kapazitäten, die Bereitschaft dafür da ist, Gespräche mit mir vorzubereiten, damit ich überhaupt eine Chance darauf habe, sie mit dem gleichen Energieaufwand wie die andere Person zu führen.

Ganz normal wird von mir verlangt, mich über meine Möglichkeiten hinaus anzupassen.
In der Regel aus Gewohnheit. Und ja, vielleicht auch, weil ich mich nicht dagegen wehre. Was ich aus Angst vor Ausgrenzung nicht tue. Und wegen gemachter Ausgrenzungserfahrungen nach vielfältig vorgetragener Bitte um an mich angepasste Kommunikation.
Es gilt als egozentrisch, als egoistisch, einmal wurde es als narzisstisch gerahmt, dass ich darum bat mich nicht zu überfordern. Mich nicht auszugrenzen. Mich nicht dazu zu zwingen, so zu kommunizieren und interagieren, wie es sich für mich intuitiv richtig, gut, sinnvoll, effektiv, effizient anfühlt.

Doch worum ich bitte, ist keine Rücksicht auf eine Befindlichkeit oder die Anerkennung eines Persönlichkeitsmerkmals. Ich bitte um Teilhabe. Ich bitte um Kontakt, um Miteinander, das ich mir nicht erst verdienen muss.
In dem Konflikt, der diesem Text vorausging, ist mir aufgefallen, dass ich mich in diesem Wunsch selbst nicht ernst genug genommen habe. Nach wie vor sind die nicht-autistischen Menschen in meinem Leben meine kommunikative Norm, der zu entsprechen ich mich zwinge, bis es nicht mehr geht. Obwohl ich weiß, dass das nie geht, ohne meine Grenzen zu übergehen, meine geistigen wie emotionalen Kapazitäten, oft bis aufs letzte auszuschöpfen. Für – am Ende – Basics. Dinge, die sie sich mit praktisch keinem Energieaufwand kommunizieren können, um dann erst wirklich loszulegen.

Ich bin oft teilweise ausgeschlossen in der Kommunikation mit meinen eigenen sozialen Kontakten und kann das nicht aufschreiben, ohne alle Menschen in meinem Leben irgendwie zu verletzen, zu verunsichern – herauszufordern, dass sie mich kontaktieren und fragen „Wieso denn?“ – um wieder auf ihre Art darüber zu sprechen. Wieder für ihren Rahmen perfekt zugeschnitten zu erklären, was bei mir denn alles komisch, anders … autistisch läuft, ohne, dass sie wirklich begreifen. Weil das einfach nicht geht und nie gehen wird. Denn so wie ich mich nicht in sie und ihr Verstehen hineinversetzen kann, können sie es nicht in meins. Sie werden nie in der Lage sein, unseren Kontakt und alles, als ich wahrzunehmen. Sie können sich nur annähern und ob sie wollen oder nicht werden sie scheitern. Und scheitern und sich lächerlich machen, peinlich versagen oder einfach nicht verstanden werden. Aber 37 Jahre lang, so wie ich, werden sie sich das nicht geben. Sie haben die Wahl, die ich nicht habe und sie werden sie treffen. Und zwar nicht so, dass ich es irgendwie leichter habe. Barrierefreier. Zugänglicher. Chancengleich.

Kann ich das verstehen? Ja.
Aber mehr auch nicht (mehr).

Zeit für Grenzen. Und ihre Wahrung.

alle sind immer genug

Es berührte mich mit Verspätung und unerwartet. Unerwartet, weil ich dachte, schon alles erfasst, verstanden und ins Außen gebracht zu haben. Aber vielleicht auch nicht? Ich kann mich nicht darauf verlassen und das ist ein Trigger. So offensichtlich wie ein 500 Kilo-Findling auf englischem Rasen. Jetzt.

*

Ich bin sehr froh darum, mit meiner Therapeutin sprechen zu können und einen Raum zu haben, in dem ich von Dingen befreit bin, wie „DIE Wahrheit“, „den Leuten“ oder „DER Normalität“. Ich vergesse manchmal, dass das nicht bedeutet, auch einen Raum zu haben, in dem ich nicht ganz genau darauf achten muss, was wie verstanden wird. In dem ich nicht einfach annehmen kann, dass ich in allen Selbstzuständen schon richtig verstanden werde. Ohne nochmal zu prüfen. Nochmal zu fragen. Und dann nochmal, weil es einfach nicht so einfach ist, sondern viel, komplex, alles.

Manchmal denke ich, dass sie mir in allem voraus ist, weil sie viel schneller als ich versteht oder einfach weiß?, welche Gefühle mit Geteiltem einhergehen. Dann aber gibt es diese Momente, in denen ich merke: Das sind oft Annahmen. Annahmen, die ebenfalls oft passen und wichtig sind und eigentlich ist alles gut damit, aber … es sind Glückstreffer. Glück für mich, weil ich so über die Therapeutin in Kontakt mit mir komme, aber sollte das nicht mehr sein?
Vielleicht nicht. Ich habe für mein Buch so viele Studien zur Kommunikation zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen gelesen, dass ich fast sagen würde: Jo, das ist typisch. Der Großteil der nicht-autistischen Kommunikation fußt auf routiniert getroffenen Annahmen über mehr oder weniger diffuse Reize. Glück ist darin nur, dass es mehr nicht-autistische als autistische Menschen gibt, die miteinander kommunizieren. So fällt es nicht auf. Und wenn doch, kann es jedem passieren. Nicht schlimm. Bis sich herausstellt, dass man (sich) als nicht-autistischer Mensch mit dem autistischen Gegenüber einfach sehr sehr oft nicht (richtig) versteht. Dann wirds anstrengend. Oft zu anstrengend.

Da ist die Gefahr von routinemäßigem Erfolg. Die Gewohnheit, immer richtigzuliegen. Das Sicherheitsgefühl. Die Überzeugung: „Ich weiß schon Bescheid, hier Checkbox 1 bis 5 passt, es kann nur Tor 3 sein, ein Zonk ist nicht dahinter zu erwarten.“ Aber dann ist da einer. Und es ist nicht einfach nur ein Irrtum oder ein Missverständnis, das man einfach ausräumen kann, indem man etwas auf andere Art formuliert oder strukturiert, sondern etwas, das aufzeigt, dass Checkbox 1, 3 und 4 doch nicht passen. Dass es nicht nur um ein Missverständnis geht, sondern um vier.
Ich weiß nicht, wie das für meine Therapeutin ist. Ich hoffe, dass sie Umgänge damit gefunden hat, die sie nicht entmutigen, frustrieren oder an sich selbst anzweifeln lassen. Hoffe einfach ins Tiefblaue hinein, dass sie nicht glaubt, ich könne ihr (ableistisch-) eigentlich besser helfen zu verstehen oder „in Wahrheit“ ja doch alles einfach aufklären.
Das ist nämlich meine Angst. Dass sie meine Fähigkeiten zur Auflösung ihrer Frustration oder Anstrengung in solchen Missverständnissen braucht, um dranzubleiben, aber ich kann sie nicht geben, weil ich wirklich und echt und tatsächlich – like profoundly, bottomline of all – nicht kann. Weder als Hannah, erwachsen, alltagsfähig und voller Bemühen um funktionierende Kommunikation mit dem Außen – noch in kindlichen oder jugendlichen Selbstzuständen, die weder erwachsen, noch in meinem Alltag problemlos fähig sind und in der Regel mehr oder weniger verzweifelt, frustriert, gekränkt, hoffnungslos, ohnmächtig, hilflos, überanstrengt vor den Herausforderungen der Kommunikation mit dem Außen stehen.

In den letzten Monaten waren wir so gut in der Arbeit zusammen. Und jetzt ist da wieder so eine Schleife. Eine etwa 30 Jahre alte in mir und eine, die ich mir als nachhaltig für immer aufgelöste und nie wieder auftauchend gewünscht hatte, in unserem Gespräch. Und vor beidem stehe ich mit so wenig. Kann ich so ganz offenkundig wenig tun, dass es möglicherweise nichts ist.
Ich könnte alles verlieren, denke ich. Alles könnte kaputtgehen. Es hängt alles von mir ab und ich versage. Ich bin schuld. Ich habe es ausgelöst, ohne es auflösen zu können. Wie unbedacht, unvorsichtig, dumm kann man sein. Ich habe nicht anders verdient, als dass alles kaputtgeht. Ich habe nicht genug getan. War nicht eindeutig, nicht eindeutlich genug. Bin einfach nicht genug. Das ist die nächste Schleife. Meine schöne Coping-Strategie aus autopoietischem Selbsthass, um bloß nicht zu viel Raum für die Möglichkeit entstehen zu lassen, dass es vielleicht natürlich, logisch, einfach so ist, dass man dann nicht viel tun kann. Oder auch nichts.

Neulich habe ich meinen ersten Wildunfall mit dem Auto gehabt. Ich habe einen Sperling angefahren. Sah ihn im Rückspiegel noch auf der Fahrbahn wild flattern, doch als ich umgekehrt war, hatte ein anderes Auto ihn schon totgefahren. Tagelang hatte ich das Bedürfnis, nochmal in die Situation zu können. Vor ihm abgebremst zu haben, sofort angehalten zu haben. Ich hätte ihn hochnehmen können – mich hätte das andere Auto nicht überfahren. Ich hätte ihn retten können, konnte aber nicht. Ich konnte in dem Moment noch nicht und ich kann jetzt nicht mehr. Es ist passiert und für immer so wie es war. Schlimm, traurig, tödlich, unbeabsichtigt.

Miss- und Unverständnisse erlebe ich nicht so selten wie Wildunfälle, aber ihre Wirkung in Bezug auf meine Ohnmachtsgefühle sind sich sehr ähnlich, nämlich traumanah. Ich denke mich darin automatisch ganz allein. Allein verantwortlich, allein betroffen, allein gelassen. Obwohl das nur in Bezug auf die traumatisierende Situation stimmt.
Ich kann durchaus sehen, dass ich nicht alleinverantwortlich für die Kommunikation in der Therapie bin. Dass ich schon getan hab, was ich konnte, weil ich mehr nicht kann. Ich weiß, dass es nicht meine Aufgabe als Patientin ist, passend für die Therapeutin oder das Therapiekonzept zu sein. Aber die Konsequenz dieses Wissens ist, dass ich etwas von meiner Therapeutin erwarten könnte. Und das macht mir Angst. Wieder irgendwas Traumanahes. Die nächste Kaskade, die mich erniedrigt, allein, weil da die Gefahr besteht eine Möglichkeit ist, dass unser Kontakt nicht nur für mich mit Anstrengung, Arbeit, dem Stoßen an Grenzen des Könnens verbunden ist, sondern auch für sie. Ich sie also nicht geschützt, nicht bewahrt, nicht verschont habe zu empfinden, was mich so oft im Leben schon gequält hat. Als wäre das etwas, das ich könnte. Das irgendwer könnte.
Kurz bin ich in dem Gedanken, dass der Kontakt mit mir einfach immer schwer ist. Immer anstrengend und viel. Wie unfassbar leid mir tut, dass es mich überhaupt noch gibt, obwohl das doch niemand wollen kann. Niemand kann doch wollen, dass so eine Belastung weiter besteht. Ich merke, wie es an mir zieht, das zu beenden. Aus dem Kontakt zu gehen, die Therapie zu beenden, meine Campingausstattung zusammenzupacken und wegzugehen. Fernwandern. Raus, weg, vielleicht plumpse ich unterwegs in eine Gletscherspalte oder werde von einem Problembären gegessen. Mutter Erde knows best how to manage Ballastexistenzen, darum brauche ich mich dann nicht mehr kümmern.

Da ist sie also. Die Gewalt, die ich mir selbst antue, um meine Gefühle der Trennung kongruent zur Situation zu machen. Gewalt kann das einfach so gut. Trennen, spalten, dissoziieren. Das funktioniert so zuverlässig.
Aber das ist nicht, was ich will. Für kurz war es jetzt aber vielleicht wichtig das zu glauben. Um es zu wissen.

*

Vielleicht muss man den Trigger manchmal ganz durchfühlen. Bis zum Schluss durchmachen – so weit, bis man wirklich kurz davor ist, die Koffer zu packen oder sich das Leben zu nehmen, um leichter an den Punkt zu kommen, an dem man sich fragt, was man eigentlich wollte. Ob man das wollte – getrennt sein von allen und allem – oder doch etwas anderes. Was man sich (noch) nicht zu wünschen traut, erlaubt oder zu wünschen aushalten kann. Oder, was (möglicherweise nur jetzt gerade in diesem Moment) einfach noch nicht funktioniert. Oder insgesamt unmöglich ist, aber nicht unersetzbar.

Ich wünsche mir, dass meine Therapeutin mit mir im Kontakt ist. Nicht mit Ideen von mir, die sie sich macht, weil sie Annahmen folgt, die sich aus Begriffen entwickeln, die wir unterschiedlich mit Bedeutung füllen. Wenn wir das hinkriegen (und wir haben das schon hingekriegt), dann fühle ich mich verbunden mit ihr. Nicht allein. Nicht getrennt. Sehr eindeutlich anders als traumanah. Das will ich. Das will ich nicht kaputtmachen, nicht verlieren. Das würde niemand verlieren wollen. Niemand hätte es verdient, das zu verlieren. Egal, wie viel oder wenig sie_r dafür tun kann. Alle sind immer genug für Kontakt, Beziehung, Verbindung.
Alle sind immer genug.

Worte

Am Morgen lag ein Amselweibchen neben meinem Schreibtisch. Die Augen geschlossen, die Schnabelspitze in einer kleinen Blutlache. Tot.
Sie musste in den frühen Morgenstunden durch das offene Flurfenster und gegen das nur gekippte Bürofenster geflogen sein.
Ich legte sie mir auf den Schoß und öffnete mir einen Raum zu verstehen, was passiert war. Ein Unfall. Eine Tragödie. Etwas, was noch nie passiert ist, ist passiert und endete unglücklich. Tödlich. Endgültig. Für immer.

Ich wartete auf F.. Wusste, dass sie ein Foto machen wollen würde. Dass sie sie anfassen wollen würde. Wusste, dass „tot sein“ in ihrer Kinderinnenwelt etwas anderes ist. Dass sie einen unbewortbaren Unterschied zwischen all den toten Meisenküken, Spatzenkindern, Rehkitzen, den gestorbenen Hunden und Katzen, Igeln und Füchsen, die sie schon fotografiert hat und ihrem Sterben in Gewaltsituationen macht, aber beides „tot sein“ nennt.

Wir haben in den letzten Wochen viel mit F. gearbeitet, weil der Krieg viele Traumawahrheiten hochgespült hat. Viele Pflichtgefühle, Verantwortungsübernahmen, Verwirrung und Unsicherheit. Tod und Sterben tauchten dabei immer wieder auf und immer wieder die Idee, der Gedanke, das Konzept eines unendlichen Sterbens. Eines, das kommt und geht, passiert und in scheinbar anlassloser Geburt endet. Eben, das Sterben, das ein chronisch dissoziierendes Kind erlebt, das ohnmächtig wird, weil der Schmerz zu groß ist. Das den eigenen Tod entsprechend vielleicht gar nicht schlimm findet, weil es ein Ende von etwas ist, das es nicht selbst beenden kann.
Es verändert das eigene Leiden; es entsteht eine ganz andere Todesangst, wenn man weiß, dass es ein Ende gibt, das nicht wirklich das Ende ist. Eine ganz andere Bereitschaft zum Leben in Gewalt und unter Menschen, die sie ausüben.

Ich wollte ihr das nicht nehmen. Und hatte doch keine andere Wahl, denn wir leben nicht mehr unter Menschen, die uns in die Ohnmacht quälen oder wie selbstverständlich oder zwingend nötig verletzen. In unserem Leben heute, braucht sie die Sicherheit um diesen Ausweg nicht mehr. Es gibt andere Sicherheiten. Etwa die, dass sie überlebt hat. Dass es vorbei ist. Dass sie nie wieder so sterben muss wie früher, weil sie nie wirklich gestorben ist.

Unsere Therapeutin hatte immer wieder versucht, ihr das klarzumachen. In der letzten Stunde entstand ein kleiner Raum um die Worte Tod, Sterben und tot sein. Ein „Frau N. sagt …“ -Raum, der mit seinen Inhalten besteht, aber noch keine Verbindung mit den inneren Räumen hat.
Die tote Amsel hat die Verbindung hergestellt. Eine gleichzeitige Präsenz der Worträume ermöglicht und mit meinem Verstehen verknüpft.

Die Amsel ist tot. Für immer. Das ist deckungsgleich mit dem, was Frau N. über das Sterben, den Tod und das tot sein gesagt hat. Es ist nicht, was sich für F. wie Sterben und tot sein angefühlt hat.
Was F. über ihr Gefühl gesagt hat, ist ein Vergleich. Keine Benennung. Ihre Worte eine Art geistiges Pflaster, damit etwas ist, wo sie nichts hat, spürt, konkret beworten kann. Vielleicht, weil sie damals dissoziiert war, vielleicht weil der Schmerz keine andere Reizinformation mehr aufzunehmen möglich gemacht hat.
In jedem Fall ist es eine Kompensationsstrategie zur Vermeidung (gewesen). Sowohl in Bezug auf die Gewalterfahrung als auch die Dissoziation. Genau wie ich hat sie eine Lücke mit Worten geschlossen, weil es keine gab und vielleicht auch nie gibt.
Ich weiß, dass ich damit eigentlich einen Gegensatz beschreibe, aber es ist keiner. Nicht wirklich. Ich kann es nur nicht anders beworten.

F. hat das Foto gemacht. Einige Stunden später haben wir mit der Therapeutin gesprochen. Ich merke Verschiebungen und Auflösungen in mir, die ich nicht beworten kann. Muss mich immer wieder aus jugendlichen Furcht- bis Angstkreiseln lösen, die Therapeutin könnte von mir verlangen Worte zu finden, die ihr Verständnis ermöglichen. Immer wieder merke ich, wie sehr es mich be.trifft, belastet, verzweifelt mich nur über Worte verbinden zu können. Nie mein Empfinden, mein Verstehen konkret teilen zu können.

Trauma wird oft mit Sprachlosigkeit verknüpft. Irgendwie scheinen sich alle damit abgefunden haben, dass Überlebende immer auf einem Stück Sprachlosigkeit für ihre Wunde sitzen bleiben. Als müsse man einfach akzeptieren, dass man nicht alles benennen kann oder manches einfach mit Worten nicht zu fassen ist.
Ich hingegen finde eigentlich für alles Worte und denke mir welche aus, wenn es keine gibt. Aber das ist nicht das gleiche wie Verstehen, Verbindung – etwas sagen.

Worte sind wie Brotkrumen, dachte ich später an dem Morgen, nachdem mir aufgefallen war, dass die ersten Worte des Partners über die tote Amsel die gleichen waren wie meine: „Oh nein“.
Sie sind ein Hinweis. Eine Fährte.
Nicht mehr, nicht weniger.

Leider.