der Moment, der noch nie war

R. ist mein Stein im Schuh.
Wenn sie darüber redet, wie das für sie war, dass sie niemand verstanden hat, dann spüre ich das wie ein besonders heftiges Stechen ihrer Härte. Peripher, aber deutlich.
Die Verschlossenheit, die sie in Bezug auf DIE ALLE hat und hält, war und ist bis heute manchmal noch ein echtes Hindernis in Hilfe- und Unterstützungskontexten.
Sie würde es nie sagen, mir jedoch ist es total klar: Das frühere Unverständnis der Menschen über ihre Gefährdung hätte ihr das Leben kosten können. Uns. Mir.
Was man ihr, uns, mir in Medien, Schule, Sportverein beigebracht hat: „Sag was, wenn jemandem oder dir etwas Schlimmes passiert.“, das hat sie gemacht. Sie hat gesagt, dass anderen etwas passiert. Und weder sie noch die Menschen haben gemerkt, verstanden, gewusst, dass sie diese anderen war. Niemand hat geholfen.

So ein folgenschweres Missverständnis ist nicht nur „ein harter Schlag“ oder etwas, was das Ego ein bisschen anklatscht, wer ist schon gern unverstanden dies das. Solche Erfahrungen lösen nicht nur Enttäuschung aus. Sie führen auch dazu, dass man sich auf sich allein zurückzieht. Annimmt, die Menschen würden wollen, dass man gefährdet ist. Glaubt, die Gefährdung, die (angenommene) Lebensgefahr sei von allen (also von der ganzen Welt) gewollt. Die Todesangst gewünscht.
Ich reagiere auf solche Annahmen mit Depression, Angst, Suizidalität. R. mit Wut, Härte und authentisch kompromissloser Konsequenz. Nicht einen Filter hält sie noch hoch, wenn sie merkt, dass sie, dass wir, dass ich nicht verstanden, gehalten, getragen werde.

Innere wie R. sind es, die ich bei Vorhaben wie der Operation, aber auch der Traumatherapie möglichst weit raushalte. Noch weiter als aus anderen Interaktionen mit anderen Menschen.
Zum Einen, weil ihre Wut in der Regel zu Problemen führt, die meine kommunikativen Fähig- und Fertigkeiten weit überschreiten. Was sich unter anderem daraus ergibt, dass ich dieses Gefühl nicht mir, sondern ihr zugehörig empfinde und erst nach bewusster Reflexionszeit und manchmal auch erst nach einer Besprechung mit meiner Therapeutin den Anlass überhaupt erkenne und verstehe.

Zum Anderen, weil R. einfach bis heute nicht richtig orientiert ist. Sie kann im Heute agieren, kann den ganzen „Wissen Sie welches Jahr wir haben“-Reigen vortanzen, ohne einen Zweifel aufkommen zu lassen. Aber für sie geht es nach wie vor bei jedem Kontakt, der irgendwie und sei es noch so abstrakt darum geht, dass ihr, uns, mir jemand in irgendeiner Form hilft oder etwas unternimmt, was sie, wir, ich nicht alleine kann, um Leben und Tod.
Wenn diese mit Hilfe oder Unterstützung oder irgendeinem anderen mich betreffenden Ding beauftragten Menschen irgendetwas nicht können, nicht schaffen, nicht wollen – egal ob intentional oder natürlich bedingt – beginnt ein inneres Wiederleben von Traumatisierungen. Davon merke ich, Hannah, bis heute nichts. Ich merke nur R., die es wiederum als flutend und massiv überfordernd erlebt und reagiert. Ihre Reaktion, also die innere Schutzreaktion, macht mir wiederum Angst, weil ein Wechsel zu ihr für mich Kontrollverlust und relativ spezifische zwischenmenschliche Konsequenzen bedeutet.
R. geht im Zweifel nämlich auch einfach aus dem Kontakt und bringt absolut keine Motivation dafür auf, die Kraft zur angepassten Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen aufzubringen. Wer sich im Kontakt mit ihr nicht darum bemüht und kümmert, sie in ihrem authentischen Ausdruck zu verstehen, bekommt von ihr auch kein Bemühen. Sie behält diese Energie für sich, um selbstständig handlungsfähig zu bleiben.
Traumalogisch absolut sinnvoll. Alltagskommunikations-logisch ebenfalls absolut sinnvoll. Sozial und in Bezug auf jede Option der Kontaktgestaltung hingegen eine absolute Katastrophe.
Jedenfalls für mich. Denn R. markiert diese Kontakte den Energieaufwand nicht wert, den die reparierende oder wieder-verbindende Kommunikation für mich bedeutet, die_r in so einem Fall alle Kraft einfach aufbringt, egal, ob ich sie wirklich habe oder nicht. Bis das nicht „wieder gut“ ist, kann ich nichts anderes machen, als daran zu denken, Gespräche in meinem Kopf durchzuanalysieren, Aussprachen im Kopf üben, um auf jede Möglichkeit des Gesprächsverlaufs vorbereitet zu sein und mich auf Alternativen bzw. andere Lösungen zu konzentrieren. Das ist in der Regel die Phase, in der ich dann missverstanden werde, weil die allgemeine erste Annahme ist, ich sei durch mein Trauma so beziehungsunsicher, dass ich Konflikte nicht ertragen kann. Tatsächlich aber kann ich die Emotionalisierung von Konflikten kaum ertragen, weil sie eine oft überaus kräftezehrende Übersetzungshürde für mich darstellt und ich nicht davon ausgehen kann, dass mein Gegenüber das überhaupt weiß, versteht, berücksichtigt oder, wenn es bekannt ist, nicht als Waffe gegen mich einsetzt.

Mal ganz davon abgesehen ist es mir peinlich, wenn R. übernimmt und meinen Körper steuert. R. erlebt sich als 13 Jahre alt und allein gegen die ganze Welt am eigenen Weiterleben überhaupt interessiert. Das ist einfach kein guter Zustand, wenn man inzwischen überwiegend mit Menschen zu tun hat, die es verletzen würde, würde man ihnen Desinteresse an unserer Lebendigkeit unterstellen. So wie es R.s Grundannahme über DIE ALLE ist.

Es ist R., die sich ohne jeden Skrupel hinstellt und sagt, dass es Helferversagen gibt. Wie es wirkt. Dass es mit.schuldig macht. Dass es Teil des Unrechts ist, das Opfern von zwischenmenschlicher Gewalt passiert. R. ist die einzige Seite von mir, die Entschuldigungen von Erzieher_innen, früheren Psychotherapeut_innen und auch Betreuer_innen goutieren würde. Die Einzige, die sich nicht mal dafür schämt zu sagen, dass sie das gerne hätte.
Sie kann das, weil sie sich sehr weit entfernt von diesen Menschen erlebt. Ihre Wut und ihre harte Verschlossenheit schützen sie davor, jemals wieder irgendetwas von DEN ALLEN zu brauchen.

Sie schützen sie aber nicht davor, etwas zu bekommen, wenn sie, wir, ich es brauche.
Die Situation im Krankenhaus, die Operationsvorbereitung und die Pflege danach, war so ein Moment des Bekommens. Einer der Ersten, die ich so je wahrgenommen habe.

Man ist auf allen Ebenen auf mich zugekommen. Nicht ein Schritt in dem ganzen Voruntersuchungsprozess, der Aufnahme und Vorbereitung war gehetzt oder ungeduldig mit mir. Man hat für alles immer wieder meinen Konsens abgewartet. Immer jede alternative Möglichkeit erklärt und über alle Ressourcen aufgeklärt. Alles, was ging, ging auch wirklich. Sobald ich unsicher wurde, wurde ich versichert – ohne dass ich meine Verunsicherung erklären oder entschuldigen musste.
Es war nicht im Fokus, was mich verunsichert hat, sondern dass ich weiß, worüber ich mir sicher sein kann.
Das an sich war bereits außerordentlich wohltuend für mich. Es hat verhindert, dass ich in den traumalogischen Schluss rutsche, die Kontrolle über Unkontrollierbares behalten zu müssen. Diejenigen, die in der Verantwortung für mich waren, haben sie auch übernommen und meinen Konsens darüber immer wieder abgefragt. Ich hatte bis zum Schluss das Gefühl, die Kontrolle darüber zu haben, ob dieser Weg zum Eingriff oder der Eingriff selbst passiert oder nicht.

Offenbar habe ich beim Aufwachen immer wieder gesagt, ich hätte Angst, dass ein Täter da wäre oder käme. Daran habe ich keine Erinnerung.
Aber ich erinnere, dass eine Stationsschwester mir dann im Patient_innenzimmer gesagt hat, dass sie aufpassen würden, dass niemand käme. Dass ich bei ihnen sicher sei.
Der kleine R.-Stein in meinem, naja, meiner Krankenhaus-Laufsocke, war deutlich spürbar, aber nicht relevant für mich. Ich war noch eine ganze Weile nicht richtig wach und dissoziierte abwechselnd mit Schlafsequenzen.

Und dann gab es den Moment, in dem mein Mann egomäßig leicht angedötscht am Bettrand saß und erzählte, wie er beim Betreten der Station erst einmal klar und unmissverständlich gefragt wurde, ob er auch wirklich mein Mann sei.
Das war dann der Moment, in dem der kleine Stein zu einem kleinen Lehmklumpen wurde.

Heilung ist nur Heilung

Ich konnte es aufschreiben, ohne davon zu träumen. Ohne mich in den Tagen danach beobachtet zu fühlen. Ohne in Wut und Ohnmacht zu ertrinken. Ohne die Bitterkeit meiner Position zu einer Süße anderer zu erklären. Mein Helferding. Mein Klapsentrauma~Ding.
Ich halte das für Heilung, selbst wenn es nur ein Trainingsergebnis aus jahrelanger Desensibilisierung sein sollte. Das muss man auch erst mal hinkriegen. Und okay damit werden. Und bleiben.

Renée drückten in der letzten Podcastepisode aus, dass ihnen dieser Ausblick fehlt. Das „nach der Therapie“, das „nach der Heilung“. Was ist denn 10 Jahre später? Und ich denke immer noch: Ja, was soll denn sein?
Soll mich 10 Jahre später noch alles daran erinnern, dass ich mal total zerstört war? Dass ich mich Stückchen für Stückchen suchen, erkennen, finden musste, nur um mich dann Jahr um Jahr zu bearbeiten, zusammenzufügen und zu ver_wachsen?
Die Gewalterfahrungen waren schlimm und haben weh getan. Meine Therapieerfahrungen erstrecken sich über mehr als die Hälfte meines Lebens und sind auch überwiegend mit (Wachstums)Schmerz und schlimmen Erkenntnissen verbunden gewesen. Heilung bedeutet für mich nicht nur selber heil, ganz, rund, okay mit meiner Lebendigkeit zu sein, sondern auch das Leben mit einer Wahl, die ich jetzt noch nicht umfassend habe. Ich muss jetzt nicht mehr über die Psychiatrie und gewaltvolle Behandler_innen schreiben oder sprechen, weil es mich quält und ich leide – ich kann das heute tun, weil es mich mal gequält hat und ich möchte, dass das niemandem mehr passiert. Wenn ich nicht daran denken möchte, dann kann ich mich dafür entscheiden, das nicht zu tun und dann funktioniert das auch. Das möchte ich über alle meine Gewalterfahrungen entscheiden können.

Heilung ist so leise. So leicht. So … einfach so.
Was soll dann sein? Was soll die Medizin, die Psychologie da diagnostizieren? Heilung ist, wo es keine Diagnose mehr gibt, die eine Wunde beschreibt oder impliziert. Da gibt es keinen Erkenntnisgewinn, keine Werkzeuge, keine Methoden. Leider. Aber auch: zum Glück.
Was ist, sind die Menschen. Die Überlebenden. Und ihre Wahl darüber zu sprechen, was 10 Jahre vorher mal war. Oder auch nicht.

Ich kann mir nicht vorstellen, wie ich in 10 Jahren über meine Erfahrungen denke. Ich hoffe, dass ich überwiegend gar nicht dran denke. Hoffe, dass andere Überlebende oder auch Erlebende nicht von mir erwarten, ständig dran zu denken oder dass ich nie aufhöre dazu zu schreiben, aufzuklären oder anfange, die Massen in Bewegung zu empören. Hoffe, dass sie verstehen, dass meine Perspektive, mit so viel Abstand, mit so viel verheilter Wunde nicht das Beispiel ist, das es braucht, um zu verändern oder zu vermitteln, wie schrecklich Psychiatrie- und Behandler_innengewalt ist. Niemand wird helfen, wenn man es auch so gut überstehen kann. Niemand wird sich verstanden fühlen, wenn es mir nicht mindestens ein bisschen genauso weh tut, wie jenen, die es gerade erfahren (haben).

Ich hoffe, dass mich meine Heilung von anderen Überlebenden entfremdet. Nicht, weil ich mich nicht mit ihnen umgeben will, sondern, weil es Gewalterfahrung ist, die uns verbindet, obwohl es so viel mehr Verbindendes im Leben gibt.

Heilung ist nur Heilung. Auch 10 Jahre danach werde ich nicht vergessen und vergeben haben. Ich werde ich sein. Ich werde leben. Und dass das ein unfassbar unwahrscheinliches Glück ist, kann ich schon jetzt fühlen und mit Bedeutung füllen. Vielleicht fehlt die Erzählung vom geheilten Leben also auch, weil darin kaum etwas anders ist als in dem Moment, in dem man merkt: Da ist etwas verheilt.

täter_innenloyale und -identifizierte Innens zivilisieren

[CN: Zivilisierung.
In diesem Text schreibe ich, dass Zivilisierung ein gewaltsames Konzept ist, das sich durch unsere Gesellschaft zieht und beeinflusst, wie wir mit täter_innenloyalen und -identifizierten Anteilen in Menschen, die Viele sind, aber auch Aussteiger_innen, umgehen. Nicht jede Gewalt, nicht jede Tat, die im Namen der Zivilisierung getan wurde, ist vergleichbar mit dem, worauf ich mich hier beziehe. Das ist mir bewusst und wird von mir bedingungslos anerkannt. Im Kern betrifft Zivilisierung jedoch immer die gleichen Aspekte, weshalb ich in diesem Text keine Abgrenzung von z. B. Kolonialverbrechen oder rassistisch motivierter Gewalt vornehme.]

Wir sind am Ende der vierten Staffel Star Trek „Voyager“ angekommen. Seit 9 Monaten wird Seven of Nine, eine Borgdrohne, nun schon von Captain Janeway und ihrer Crew re-assimiliert. Re-kolonialisiert. Re-zivilisiert. Und nun ist sie an dem Punkt, nicht mehr zurück zu den Borg zu wollen, sondern sich der Erde, dem Heimatort ihrer „natürlichen Rasse“ und der Vorstellung dort zu leben, zu öffnen.

Der Strang rund um diese Figur erinnert mich an unsere Ausstiegsarbeit und die Themen, die immer wieder aufkommen, wann immer es um täter_innenloyale, um täter_innenidentifizierte, um in Gewalt- und Traumawahrheiten verhaftete Innens geht.
Wir haben ihnen zwar nie die Identität beschnitten, wie Janeway als sie Seven of Nines Namen zu „Seven“ kürzte, weil ihr das besser gefiel, aber unsere dunkelbunten Innens schlafen auch in ihren Alkoven, fern ab von allen anderen und wir finden das ganz richtig so, denn das ist ja ihre Natur, nicht wahr? Sie sind nicht wir, weil sie keinen Wert auf ihre Individualität legen, sich nicht über sentimentales Geschwätz verbinden und in aller Regel mit den Dingen befasst sind, die relevant sind. Fürs Über_Leben. Was für uns auch wichtig ist, aber erst, wenn es wirklich wichtig ist. Beziehungsweise: Wenn wir einsehen, dass es das ist, weil uns etwas oder jemand überwältigt und hilflos, weil ohnmächtig macht. Nicht einfach so. Nicht, wenn wir gerade leben. Eigenmächtig. Kontrolliert. Sinneseindrücke wahrnehmend, befühlend, in uns und unser Bild von der Welt hineinwebend, wie es uns gefällt.

Wenigen weißen Menschen ist klar, wie schlimm das Konzept der Zivilisation eigentlich ist. Dass es eher etwas mit Formung nach Abbild, mit Folgsamkeit durch Unterwerfung zu tun hat, als mit einer Veredelung des Menschen als Gruppe oder einer Annäherung an Perfektion – an das Beste für alle. Wann immer jemand zivilisiert wird, wird sie_r zur Anpassung gezwungen, was jede individuelle Entscheidung und auch jede individuelle Weiterentwicklung aus allen dem Individuum inne liegenden Möglichkeiten heraus, ausschließt.
Und ja, auch einem Ausstieg aus gewaltvollen Kontexten, aus Sekten, aus Gruppen, deren Verbindung über die Dynamiken und Logiken der organisierten Gewalt entsteht, in die zivile Gesellschaft, die „normale“ Welt, hinein, ist ein Prozess, an dessen Ende ein gewisses Maß an Zivilisierung erwartet wird, um jemandes Integration beurteilen zu können. Und zwar nicht, weil alle Menschen immer wissen, dass sie Aussteiger_innen, Outlaws, Unnormale, Andere assimilieren zivilisieren wollen, sondern, weil sie gar kein anderes Instrumentarium für den Kontakt miteinander haben. Oder anwenden können. Vielleicht.

Es erscheint uns natürlich, dass unser Bild von der Welt richtig ist, weil wir nicht glauben, was täter_innenloyale oder -identifizierte Innens glauben und dieses Nichtglauben von unserer direkten wie indirekten (sozialen) Umgebung als richtig, als wahr, bestätigt wird. Nicht, weil irgendwer wirklich weiß, was zu glauben richtig ist oder falsch. Nicht, weil es so etwas wie „das richtig wirklich Wahre“ außerhalb individueller Vorstellungen überhaupt gibt. Sondern einfach nur, weil wir uns mit genug Menschen über eine Idee, eine Annahme verbinden und gegenseitig versichern können, passiert das in uns. Wir glauben einfach, dass wir Bescheid wissen.
Und alle, die nicht auch so sind, die nicht so verbunden sind mit uns, die unser Denken und Glauben nicht teilen, die sind uns vor allem deshalb fremd. Und nicht, weil sie anders aussehen, andere Dinge (nicht) können als wir, weil sie mächtig sind, wo wir ohnmächtig sind oder weil sie eine andere Sprache sprechen. Sie könnten andere Dinge wollen, andere Ziele verfolgen als wir. Sie könnten uns schaden, unsere Macht begrenzen, sie könnten tun und lassen, was sie wollen und das darf niemand. Außer denen, denen wir dies gewähren. Oder denen, die uns aus ihrer Macht über uns gewähren lassen.

Von aller Gewalt, die wir an uns selbst ausüben mussten, um der Gewalt durch Familie und Täter_innengruppe zu entgehen, ist diese die eigentlich schlimmste. Denn sie ist – in dieser Zeit, dieser Gesellschaft, dem Momentum, das wir in der Menschengeschichte haben – alternativlos. Widerstand ist zwecklos – und war nie möglich. Wir wurden assimiliert und in das Gewaltkollektiv hineingeboren, noch bevor uns irgendjemand körperlich oder psychisch versehrt hat. Niemand von uns ist einfach richtig. Wir werden alle von irgendwem oder irgendwas für richtig (genug) erklärt und erklären unsererseits andere für richtig (genug), um ein Überleben zu sichern, das wir für wertvoller, richtiger, vielleicht auch wichtiger halten als das anderer.

Ich merke, dass ich etwas Falsches tue, wenn ich dunkelbunten Innens widerspreche. Ich merke, dass ich ihnen keinen Lebensraum, kein gutes Leben biete, wenn ich ihnen vermittle, dass ES, DAS, hier und heute nicht mehr passiert und sie heute, hier, jetzt, weder gewollt noch gebraucht werden. Dass ich sie der Verstümmelung aussetze, wenn ich sie dem Heute und dessen Kontexten aussetze. Ich weiß, dass es einer abstoßend überheblichen Großzügigkeit der Überlegenen entspringt, wenn ich ihnen anbiete, sich neue Betätigungsfelder, neue Aufgaben, neue Überzeugungen und Weltbilder zu suchen – aber nicht das, was sie kennen und ihr Leben lang wollten.

Diese Erzählung über die Integration täter_innenloyaler und/oder -identifizierter Innens ist ziemlich weit verbreitet. Es gibt wenig Beschreibung von bedingungsloser Akzeptanz, geteiltem Trauma, Perspektivübernahme und der Inklusion von Täter_innenloyalität und Opferschaft in ein Leben danach. Oft, weil man dadurch mit der Zivilgesellschaft bricht. Weil man allgemeine Heilungserwartungen, Heilungsansprüche, enttäuscht, weil man anfängt etwas zu glauben, das etwas anderes, etwas eigenes ist.
Viele haben die Idee, wer dunkelbunten Innens zustimmt, stimme Täter_innen zu. Stimme Menschenverachtung, Brutalität, Gewalt zu, delegitimiere die Not der Opfer, negiere Freiheit und Selbstbestimmung als Wert an sich.
Auch das hat etwas mit dem Glauben Bescheid zu wissen zu tun. Mit der Annahme, man wisse schon, was in einem Menschen vorgeht, der Kinder vergewaltigt oder welche Interessen die Vertreiber von Gewaltdokumentation in Wahrheit haben. Die meisten täterloyalen und -identfizierten Innens werden (~irgendwie~) als Täter_innen gedacht – oder als Kinder, die Täter_innen sein wollten. In beiden Fällen werden sie nicht als eigen gedacht und das ist ein Fehler für mich. Denn das kann nur passieren, wem Täter_innenschaft als wesensfremd, als unnatürlich erscheint. Als fremd. Als Ausnahme. Als unvereinbar mit Opferschaft, mit Normalität, mit Gleichheit.

Nun bin ich in der Situation, in der ich nicht umhinkomme mir Welt_Ansichten und Wertkonzepte dieser Innens als mir als Einsmensch eigen anzuerkennen. In der ich nicht umhinkomme zu bemerken, dass mein (Über_)Leben in dieser Gesellschaft gefährdet ist, wenn ich mich nicht in Wort und Tat von ihren Werten und Glaubenssystemen distanziere – sie jedoch gleichzeitig in mich aufnehme, wie es meine Traumaheilung erfordert. Eine extrem widersprüchliche Situation mit erheblichem Potential, erneute Dissoziation erforderlich zu machen.
Einfach, weil es um Anpassung geht.
Nicht um Weiter_Entwicklung.

Text mit einer weirden Metapher zum Vielesein

Zwischen dem Haupttrieb einer Tomatenpflanze und ihren Austrieben entwickeln sich im Lauf der Zeit Geiztriebe. Wenn man viele Früchte ernten will, dann soll man seine Tomatenpflanze zur Eintriebigkeit erziehen und diese Geiztriebe abknipsen.

Unsere Vielheit kam mir immer so vor. Wir sind einfach viele, schießen und sprießen aus allen Leerstellen, verbuschen und stabilisieren das, was wir sind. Viel von dem was wir tun und uns erarbeiten ist, zulassen zu können, dass es Leerräume und einen starken Haupttrieb gibt. Wir erziehen uns zur Wenigertriebigkeit.

Ich merke selber, dass dieser Texteinstieg irgendwie beknackt ist, aber
Ja, doch so ist es.

So ist Überleben und am Leben sein und so ist Funktionieren in einer Welt, in der das eigene Amlebensein längst nicht reicht, um darin gesichert zu sein. Alle werden wir hier und da ausgegeizt, zurechtgestutzt und immer wieder neu verpflanzt. Krippe, Kindergarten, Grundschule, weiterführende, Beruf oder Uni – einpflanzen, umpflanzen, ernten, wieder neu einpflanzen…
Wir werden alle dazu gezwungen zu produzieren, wir selbst sind das Produkt. Das ist kein negatives Weltbild, das ist Kapitalismus, das ist die Welt, die Gesellschaft, in der unser aller Leben passiert.

Wir arbeiten uns gerade an Erinnerungen ab, die mit einem Kontext zu tun haben, den wir in der Therapie bisher nie besprechen konnten. Sehr frühe Traumatisierungen, die systembildende Auswirkungen hatten und damit auch Basis von uns allen sind.
Für mich fühlt sich das nicht nach einer Sache an, für die ich viel Mut aufbringe und dann besser im Leben klarkomme. Diesmal werde ich nichts ernten könnten, das mich in einen Beruf bringt, in Produktivität, in schützende Unauffälligkeit, in eine Perspektive auf mich und mein, unser Leben, die mich von Kraft und Zuversicht erfüllt.

Diesmal ist es schlimm und ich merke, in welchem Ausmaß ich nicht genug dafür bin. Obwohl ich schon alles weiß. Weiß, dass man das schaffen kann. Weiß, dass das geht. Weiß, dass es auch nötig ist, um unser Amlebensein so selbstbestimmt zu gestalten, wie wir das wollen. Ich weiß aber auch, dass ich kein Wissen darüber habe, wie man Geiztriebe, die genauso stabil, genauso kraftvoll, genauso produktiv wie der Hauptrieb sind, abknipst, ohne eine Wunde zu hinterlassen, die nicht mehr heilen kann.

10 Jahre

Das ist ein Meme. Heute vor 10 Jahren.
Ich habs bei Twitter gesehen. Manches ist witzig, manches boxte mir unvermittelt in den Bauch. Nun, wo 2019 fast ausgetrunken ist und im Hinblick auf so manche üble Entwicklung wenn nicht nach Schierling so doch bittersüß schmeckt, nehme ich mir die Zeit, meine letzten 10 Jahre zu überfliegen.
Wirklich – nur überfliegen.

Die ältesten Beiträge hier bei WordPress beginnen im November 2010.
„Multipel zu sein ist nichts womit man nicht leben kann. Es geht. Es gibt ein Heilen. Es gibt eine Normalität und es gibt eine Zukunft.“, das steht in einem der ersten Beiträge. Manchmal denke ich, dass wir vielleicht nie mehr als das hätten schreiben müssen. Weil: es ist so und alles mehr ist vielleicht einfach nur mehr, aber nicht nötig. Was weiß ich.

Vor 10 Jahren war NakNak* noch ein Hundekind, wir waren am Anfang ihrer Ausbildung. Jemand, die_n wir dieses Jahr zum ersten Mal persönlich getroffen haben, hat uns das ermöglicht und H. hat uns ermöglicht, dass sie_r uns das ermöglichen konnte.
H. ist vorbei. Vor – ich weiß das Datum nicht – vielleicht 6 oder 7 Jahren? – zum ersten Mal, letzte Woche zum zweiten Mal. Schmerzhaft. Obwohl es gut und richtig war. Wer weiß, wem wir außer uns noch geschadet hätten.

Die Therapeutin. Ist immer noch unsere Therapeutin. Es hilft nachwievor, mit ihr zu arbeiten. Es war ein Weg zueinander und ist es für manche von uns noch.
Wir Rosenblätter sind nicht mehr ausschließlich das „Therapiemach“-System. Suizidalität ist nicht mehr normal für uns. Einsamkeit ist nicht mehr normal für uns. Allerdings ist es normal geblieben mit manchen Viele-Dingen allein zu sein und normal geworden, keine stationäre psychotherapeutische Hilfe mehr in Anspruch nehmen zu können. Bitter.

Und auch etwas, was wir verstanden haben, weil Selbstbestimmung für uns kein abstrakter Kampfbegriff mehr ist, sondern ein allgemeines Menschenrecht. Der ganze politische Aktivistenklops. Der hat heute eindeutigere Formen. Mehr Hintergrundwissen, mehr Auseinandersetzungs- und Reibungsfläche als je zuvor. An uns, an unserem Leben, an allem, was wir tun. Es hilft unglaublich zu verstehen, was da passiert ist, wenn uns ältere, erfahrenere Frauen zur Selbstbestimmung verholfen, aber sofort von ihrer (zweiten) Welle geschubst haben, sobald wir über uns selbst bestimmt haben.
Es hilft zu verstehen, dass es nie nur therapeutisch war, sondern immer auch persönlich und deshalb politisch.
Es ändert nichts, aber hilft.

Seit 10 Jahren nehmen wir unser Schreiben ernst genug, um es zu tun. Regelmäßig. Nur ein Mal in den letzten 10 Jahren ging es nicht. In der großen Krise nach der Autismusdiagnose. Wie heftig, krass, schlimm – akut lebensbedrohlich – diese Zeit war, das habe ich erst einige Monate später verstanden. Nämlich dann, als man uns das Schreiben verbieten wollte und damit die letzte eigene Ressource, um mit dem umzugehen, was wir gerade erfuhren.
Unser Leben hat sich damals grundlegend für uns verändert und es wäre schön gewesen, diese Veränderung in aller Ruhe willkommen heißen zu können. Mit traumasensibler Unterstützung einordnen zu können. So wie es dann lief, war es re-traumatisierend. Unnötig schmerzhaft. Nicht fair. Gewaltvoll. 2016 war entsprechend das schwierigste der letzten 10 Jahre.

Auch wegen der Schule. Die Berufsausbildung mit Fachabitur. Typische Verzweiflungsüberforderung.
Es hat sich gelohnt, war eine tolle Erfahrung, ist ein persönlicher Triumph. Aber der Preis war hoch, sehr viel höher, als wir das kommuniziert haben und kommunizieren.
Wir würden es nicht noch einmal machen und sagen das nicht, weil wir den Abschluss und die Erfahrungen nicht wertvoll finden oder nichts davon haben. Wir würden heute unsere Grenzen nicht mehr so weit übergehen. Nicht so und nicht nur für eine Chance auf etwas, das man uns strukturell, gesellschaftlich, manchmal auch persönlich schlicht nicht zugestehen will.

Wir haben uns in den letzten 10 Jahren in eine Lebensrealität eingefunden, die voller Zwänge und Barrieren ist, die aufzuzeigen, zu erklären und zu diskutieren einen großen Teil unserer Arbeit ausmacht. Dass wir nicht aufgeben ist viel. Dass wir uns selbst darin Raum nehmen und gestalten noch viel mehr. Wir wollen dafür kein Lob, wollen keinen Orden für Durchhalten trotz allem am güldenen Band.
Es ist leben. Unser Leben. Es ist nichts besonderes, sondern etwas normales. Das ist in uns angekommen und zu einer stabilen Ressource gworden. Es geht nicht mehr um Leben oder Tod, es geht um das Leben und wie wir es er_leben wollen.

Wir sind nicht mehr die außerordentliche Betreute, von der man so mega viel lernen kann, dass man sich klemmt, beim Chef um angemessene Fortbildungen zu kämpfen. Wir sind nicht mehr der skurrile Fall, der irgendwie unterhaltsam und inspirierend zugleich ist, so dass man die Realität der Not dahinter gar nicht an sich ranlässt. Vor 10 Jahren waren das die Gründe, weshalb Menschen mit uns zu tun hatten. Sie haben uns betreut, sie haben unser Leben verwaltet, sie haben uns gerettet und manche haben uns deshalb ausgenutzt.
Heute werden wir respektiert, gemocht, geachtet und geliebt von jemandem, der das gar nicht muss.
Heute werden wir um Einschätzungen zu für Traumaüb.erlebende und ihre Behandler_innen relevanten Themen gefragt. Werden als Autorin geschätzt und werden für Analysen, die noch vor einigen Jahren als (zu) hochgeistige Vermeidungstendenzen nicht einmal angehört wurden, gelobt, belohnt und gezielt angefragt. Wir sind stolz auf unsere Arbeit und lassen uns das nicht mehr pathologisieren.

Der letzte Punkt ist der Name. Wir heißen nun anders und spüren, dass damit ein neuer Abschnitt beginnt. Es ist ein zweiter Ausstieg, das lässt sich nicht von der Hand weisen. Wir gehen seit der Namensänderung durch Prozesse, die vorher nicht möglich waren, fühlen uns okayer als je zuvor. Nicht alles wird einfach werden, schon jetzt zeichnet sich auch viel Schmerz und Trauer ab, doch wir fühlen uns auch stark und sicher genug, dem begegnen zu können.

Zum Abschluss dieses Textes, vielleicht das, was mir für andere Viele, die es bis hierhin zu lesen geschafft haben, wichtig ist. 10 Jahre sind eine lange Zeit. 10 Jahre sind für manche Innens ihr ganzes Leben. Wie viele Prozesse und Ereignisse in 10 Jahre passen, hat mir dieser Text deutlich aufgezeigt und wieder eine Idee zu den inneren Kosmen der Kinderinnens und jugendlichen Innens gegeben. Sie tragen so unfassbar viel unserer Leben, wenn sie 10 sind. Oder 5. Oder 13. Sie sind mehr als ein Speicher, mehr als eine Datenbank, eine Sedimentschicht von allem, was uns ausmacht.
Eine Angabe von Jahren – auch über die Jahre, in denen man therapeutisch daran arbeitet, die erfahrenen Traumatisierungen zu erinnern und/oder zu verarbeiten – ist der Versuch, etwas einzugrenzen, was in sich keine Grenzen kennt. Nämlich Prozess. Entwicklung.

Wir möchten hier keine 10 Jahre Erfolgsgeschichte präsentieren. Sondern die Erfolge, die wir in den letzten 10 Jahren hatten. Aus Gründen. Einer davon ist, dass wir das im Moment für uns brauchen.
Es wird dir, euch, in 10 Jahren vielleicht ähnlich gut bis besser gehen. Vielleicht auch nicht. Aber Prozesse, Entwicklungen wird es gegeben haben und darum geht es in dieser Rückblende.
Prozess spüren, um ihm im Alltag mehr und mehr zu vertrauen.
Denn neben allem was war, ob es schlecht war oder nicht, wird es immer Prozess in dir, in euch, gegeben haben und vielleicht ist das etwas, das als Wissen Platz bei dir, bei euch, bekommen darf und zu einer Kraftquelle werden kann.

von der Mietklage zur Grundrechtslage

Heute morgen kam eine Email mit der Nachricht, dass die Mietklage gegen uns fallengelassen wurde.
Wunderbar ist das zum Einen, will ich schreiben. Denn es ist wunderbar, dass wir uns in den nächsten letzten Monaten in dieser Wohnung nicht darum streiten müssen wie viel es denn kosten darf. Unser Wohnen. Der Schutz vor den Elementen und Ort, an dem wir unsere Schätze bewahren.

Doch da ist auch der Stich, den die Klage selbst verursachte. Die Erinnerung daran, dass auch dieser Schutz, dieses Grundrecht auf Wohnen einfach keine Selbstverständlichkeit ist. Im Kapitalismus ist es das sowieso nicht. Nur Besitz schützt vor Inanspruchnahme, doch auch Besitz ist ein beweglicher Begriff.

Für uns eröffnet sich darüber immer wieder diese Wunde der Erfahrung nichts zu haben, nichts zu besitzen, doch besessen zu werden und von jemandem gehabt zu sein. Nicht, weil dies das Thema unserer Traumatisierung war, sondern, weil der ganz normale, alltäglich und von so so vielen Menschen gelebte Adultismus, diesen Aspekt der Traumatisierungen gleichermaßen verdeckt wie ermöglicht hat.

Als die Klage vor einigen Wochen plötzlich in unserem Briefkasten lag, waren wir sofort wieder in einem Zwie_Spalt zwischen der Frage, wieso man uns nicht vor so einem Brief schützt, der an einem Freitag bei uns landet und zu diesem Zwecke besser bei der Betreuung landen sollte und der Notwendigkeit Ressourcen frei zu machen, um eine juristisch gebildete Person zu finden, die uns in der Angelegenheit vertritt.
Ein Spalt hat zwei Seiten und eine tiefe Kluft dazwischen. Und in dieser Kluft fühlten wir uns wie das Kind, das wir einmal waren. Unbeweglich, weil rechtlos. Ungehalten, weil infrage steht, ob der Boden auf dem man steht, als der eigene überhaupt gesehen und benutzt werden darf. Gezwungen aufzusehen, weil in einer Kluft zu stehen naturgemäß bedeutet, unten zu stehen.

Dieses Gefühl ging schnell wieder vorbei. War mehr Echo und Erinnerung daran, dass schwierige, komplizierte, anstrengende Dinge einfach immer wieder diese Wirkung auf uns haben, aber mehr auch nicht.
Wirkung ohne Bestimmung könnte man sagen.
Denn in den letzten Jahren haben sich Mietklagen wie die mit der wir konfrontiert waren, in unserem Bullergeddo gehäuft. Hier wohnt man in guter Lage. Ruhig, nah an der Universität, alles ist ohne Auto erreichbar, die Wohnungen sind weder hässlich noch absolut dysfunktional.
Es ist einfach nur eine Wohnsiedlung, die in den späten 20ern bis Ende der 30 Jahre gebaut wurde und heute an allen Ecken und Enden teils hoffnungslos überaltert ist. Sie ist teuer aufrechtzuerhalten und dennoch überwiegend nur billig zu vermieten. Das ist eine Zwickmühle für Konzerne, denen die Geldgewinne über die Wohnqualität und Mieterwünsche gehen.

Das Drama des Bullergeddo ist weder neu noch aktuell irgendwie special. Seit sozialer Wohnungsbau nicht mehr gefördert wird und die Siedlung eben diesem Aktienunternehmen gehört, steigt die Miete von Jahr zu Jahr, während die Instandhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen, sowie jede zusätzliche Dienstleistungen kontinuierlich (vor allem qualitativ) abnehmen.

Für uns ist der Zerfall der einst als “Gartenstadt” bezeichneten Siedlung vor allem an den verschwindenden Gärten zu sehen. Wie um zu beweisen, dass sie die Gegend wirklich nur noch als Geldmaschine und sonst gar nichts sehen, werden hier große alte völlig gesunde Bäume, die Lebensraum für die paar Vögel, die sich hier noch tummeln, sind, einfach weggeschnitten. Anfang des Jahres blutete hier eine geköpfte Birke wochenlang aus, kurze Zeit später mussten völlig intakte Apfelbäume im Hinterhof dran glauben. Letzte Woche haben sie einen prächtigen wunderbar herbststrahlenden Spitzahorn zerteilt.
Mit den Bewohner_innen der Siedlung wird sowas nicht besprochen. Wieso auch. Die wohnen ja nur hier.

Ende letzten Jahres haben wir Mieter_innen eine Initiative begonnen. Wir haben uns getroffen und einander unsere bösen Briefe gezeigt. Einige waren da schon mit ihren ersten Klagen auf Mietzahlungen beschäftigt, während sie in Wohnungen leben, die seit teils 30 Jahren weder modernisiert noch an den Standard angepasst wurden, dem entsprechend sie zahlen sollen. Die meisten leben von Grundsicherung oder der Rente, die man nach einem langen Arbeitsleben als Arbeiter_in eben bekommt.

Unser Fall spielte damals noch gar keine Rolle. Offenbar gibt es nicht so viele Wohnungen in der Siedlung wie unsere, in der wir eine Toilette in der Wohnung und einen sanitären Katastrophenfall mit Dusche einmal übern Gang ohne Möglichkeit abzuschließen oder zielgerichtet zu heizen, haben. Unsere Wohnung ist keine Standardwohnung, deshalb wird unser Fall auch weiterhin keine Rolle spielen.

Doch was, wenn wir umziehen. Wir planen unseren Umzug im Sommer 2019.
Was wird dann passieren?
Wird es so wie im Nachbarhaus, wo sich jetzt in der fancy aussanierten Wohnung, in der bis letztes Jahr noch die COPD-Nachbarin allein gelebt hat, 3 Student_innen zusammen einmieten mussten, weil es als Einzelperson im Studium unmöglich ist diese Wohnung zu finanzieren?
Oder vermieten sie die Bude so wie sie jetzt is? Mit dem Rauchgeruch von der Nachbarin drunter auf dem Dachboden und im Schlafzimmer, der Hellhörigkeit, die jedes Gespräch mithörbar macht, mit dem Fenster das nicht richtig schließt und der vom Vormieter eingeschlagenen Glasfenstertür, die nie ausgetauscht wurde. Mit den Raumtüren, die man nicht abschließen kann, weil die Schlüssel schon vor Jahrzehnten verloren gingen, mit der Therme, die hätte ausgetauscht werden müssen, aber nie ausgetauscht wurde, weil die Handwerkerauftragsvergabe nicht etwa eine Person macht, sondern ein Servicecenter irgendwo in Dortmund, das sich für Maßnahmen, die eine Wertsteigerung bedeuten würden, nicht zuständig fühlt.

Wie können wir potenzielle Nachmieter_innen warnen?
Wie wär das damals für uns gewesen, wenn uns jemand bewusst gemacht hätte, dass diese Wohnung – so gut und ideal ihre Lage auch ist – ein echt harter Kompromiss ist, den wir eingehen, weil wir arm sind und keine Alternativen mehr haben?
Es wär grausam gewesen. Denn wir hatten uns nicht für diese Wohnung entschieden, weil wir dachten: “Och hier isses doch nice – hier will ich sein.”, sondern, weil zwischen Wohnungsbesichtigungstermin und letztem Miettag der letzten Wohnung noch zwei Wochen lagen und die Alternative die Straße gewesen wäre. Denn mit Hund wird man eben nicht überall geduldet. Auch nicht im Obdachlosenheim.

Wie können wir solidarisch mit unseren Nachbar_innen bleiben, wenn wir hier nicht mehr wohnen?
Einige sind in einem Klageverfahren. Eine Vertreter_in der Siedlung strebt eine Musterklage an. Sie hält es für eine gute Idee zu sagen, hier würde mit Drogen gedealt und das Umfeld sei gar nicht so toll und überhaupt wär hier gar nichts so toll, dass man so viel zahlen solle. Und die ganzen alten Leutchen hier – die hätten doch ihr Leben lang hart gearbeitet, da verbiete sich doch sie rauszuwerfen.

Ist eine mögliche Argumentationslinie, natürlich – es ist einfach nicht unsere.
Wie sollten wir uns also verhalten? Diskutieren? – Jetzt ist das möglich, aber wenn wir weggezogen sind, was dann?

In unserer Stadt findet man die billigsten Wohnungen derzeit dort, wo der Bus ein, zwei Mal die Stunde kommt und man etwa eine Stunde einplanen muss, um in die Innenstadt zu kommen. Von dort sind wir hier hingezogen damals. Nicht, weil es dort so furchtbar war, aber weil wir gemerkt haben, dass wir keinerlei Teilhabe ohne Abhängigkeit von Leuten, die uns fahren können haben konnten. Uns ging es sehr schlecht, wir waren isoliert und ohne jeden Input für Lebensgestaltung und –erfahrung. Hier sind wir total aufgeblüht.

Wir wissen nicht, ob man sich mehr dafür einsetzen muss, dass Siedlungen mit günstigen Wohnungen besser mit der Stadt verbunden werden, oder ob man gegen die Privatisierung von Wohnraum insgesamt vorgehen muss oder beides oder noch ganz etwas anderes.
Aber wir wissen: Es geht hier nicht darum, wer wie toll oder nicht toll wohnt – es geht darum, dass man für etwas, dass das eigene Überleben sichert, bezahlen muss und das in dieser Gesellschaft so verdammt normal ist, dass man sich in Fragen nach Wohnqualität durch Parkett und Mieterhöhung wegen einer neuen Bushaltestelle vor der Haustür, ergießt, statt in der Frage wie man das grundlegend anders gestalten kann.

Wenn man so will ist es das, was uns das Bewusstsein um die eigenen traumatischen Erfahrungen des Besessen und Gehabtseins heute klar macht. Wohnen ist genauso wie essen, schlafen, ausscheiden, miteinander und Selbst sein ein Grundrecht, das niemals Besitzgegenstand einer anderen Person/Instanz sein darf.
Egal, wie normalisiert das ist. Egal, welche *ismen dahinter stehen.

Es ist heilt uns, zu beobachten wie Menschen einander solidarisieren und für ihre Grundrechte kämpfen.
Vielleicht ist muss es Teil unseres Bewusstseins für diese Heilung sein, diese Solidarisierung aufrecht zu erhalten und mit.zu.teilen.
Zum Beispiel mit einem Text, wie diesem.

jemand, di_er da ist

Mit der Auseinandersetzung um Autismus und unsere Psychkarriere kommt das Erinnern, wie ein Sterntalerregen auf ein Ich ohne Hemdchen.

Da bin ich und habe nur meine zwei Hände, die ich aufhalten kann. Da bin ich und weiß, dass, was auch immer in ihnen landet, mir weh tun und etwas für mich verändern wird. Weiß, dass es regnet, egal ob ich mich bei lebendigem Leib auflösen lasse oder nicht.
Weiß, dass es vorbei ist. Weiß, dass meine Reaktionen dennoch eintreten werden. Meine Seele funktioniert nicht nach Raum und Zeit, sondern nach Ist oder Nicht-Ist.

Nach wie vor beginnt mein Erinnern mit dem ersten scheppernden Knall einer gelben Metalltür in ihren Rahmen. Eine kinder-und jugendpsychiatrische Station einer Uniklinik. Alles davor ist weg. 14 Jahre und ein paar Monate. Nicht von mir gelebt, nicht von mir gepflegt.
Ich dachte immer, ich hätte ein festes gutes Erinnern ab dem Moment, aber während ich mir frühere Arztbriefe und Klinikberichte anschaue, merke ich die Löcher. Bekomme ich eine Idee davon, wie wir so auf Psycholog_innen und Mediziner_innen gewirkt haben müssen, obwohl doch ich da war und genau gar nicht so bin.

Wir haben geschaut, welche Persönlichkeitsstörungen uns bereits andiagnostiziert wurden. Ja, wegen diesem Narzissmusdings und ja, weil in einem anderen schlauen Buch steht, dass autistisches Sein gerne mal falsch verstanden und fehldiagnostiziert wird. Und, weil ich meine Fehlersuche noch nicht abschließen kann. Meine Fehler in der Klinik zuletzt, meine unsere Fehler in den Kliniken früher. Meine unsere Fehler, die dazu geführt haben, dass wir heute hier leben und wirken und sind – und nicht in einer Pflegefamilie an der Ost-oder Nordsee, in deren Schoß wir heute kriechen könnten, um uns über Zukunftsängste beruhigen und Sorgen entlasten zu lassen.
Ja, nein, irgendwie kann ich es nicht lassen. Kann nicht aufhören die Verantwortung bei mir zu suchen, denn jedes weitere Erinnern gibt mir ein Fundstück in die Hand, das auf Fehler, Missverständnisse, ungünstige Kompromisse und naive Annahmen von mir und uns deutet – während die anderen Beteiligten, ihre Ansichten, Meinungen, Kompromisse und Annahmen jeweils in Diagnosen und mehr oder weniger transparente Berichte destilliert sind und einzig sind in ihren Möglichkeiten etwas mitzuteilen.

Die erste Persönlichkeitsstörungsdiagnose lautete auf “anankastische Persönlichkeitsstörung”.
Ich habs gegoogelt und mich daran erinnert, wie tatsächlich auch nach außen aktiv und transparent wir bestimmte Dinge taten und verlangten.
Und werde auch traurig, denn einige der Ängste hinter so manchem sogenannten “Zwang” zeigten bereits damals mit grell blinkender Leuchtschrift auf Erfahrungen bestimmter Gewalt und mind control (im Sinne von “von Täter_innen durch Gewalt gesetzte Gedanken/Ideen/Denkweisen”).
Ich erinnere mich an eine Debatte mit einer Stationsschwester darüber, ob auch wirklich keine Spinnen oder Schlangen unter der Tür oder durch die Fensterritzen des Zimmers kommen könnten, nachdem sie uns verboten hatte, uns darüber ständig zu versichern, statt zu schlafen.
Und ich weiß noch, dass ich selbst nur wusste, dass es lebenswichtig war mich darüber zu versichern und es mir schlecht ging, sobald ich mehr darüber nachdachte. Da waren intrusives Erleben, Flashbacks, erste Psychosomatiken – die jedoch alle unter “Schlafstörung” bzw. “pavor nocturnus” (“Nachtschreck”) zusammengematscht und nicht weiter beachtet wurden.

Ich erinnere mich, wie ich damals versuchte zu kompensieren was mir fehlte: Zeit_Bewusstsein und Kontrolle über mich selbst.
Damals las ich noch viel darüber, wie man sich wo richtig benimmt, welches Verhalten wann und wo in Ordnung ist. Was man wie genau sagt. Ich kopierte Gesichtsausdrücke und die Stimmlagen von Menschen, die meiner Ansicht nach alles richtig (sicher/okay) machten. Ich weiß, dass wir damals tanzten, sangen, in einer Zirkusgruppe aktiv waren. Alles Dinge, bei denen man okay ist, wenn man perfekt kopiert (und später in der Lage ist, eigenständig zu variieren – worin wir jedoch nie “gut” waren).
Heute würde ich sagen, wir versuchten uns soziale Erbsenmomente zu machen. Versuchten uns mit anderen Menschen okay zu fühlen, weil wir als okay wahrgenommen werden. Aber wir versuchten es auf eine Art, die eine pathologisch Einordnung ermöglichte.
Obwohl, das einzig Pathologische an diesem Versuch der war, dass wir etwas absichtlich konstruiert getan haben, was andere Menschen nicht in der Form konstruieren müssen, weil sie es aufgrund einer geheimnisvollen Fähigkeit einfach können.

Auch so etwas, das ich heute nicht nachvollziehbar finde bzw. nur mit psychologischer Denkdummheit erklären kann: da ist ein 14/15 Jahre alter Mensch – also ein_e Jugendliche_r, was ein Ausschlusskriterium für die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung sein und viel mehr Anlass geben sollte, sich die Umwelt der Person anzusehen und wie sie mit dieser interagiert. Welche Strategien werden da versucht und warum?

Damals wie heute kann man sehen, das viele unserer täglichen “Zwänge/Wiederholungen/Rituale/Abläufe” sehr wohl triftige Gründe haben bzw. auf nachvollziehbare Impulse und/oder Defizite, sowie bestimmte Erlebensqualitäten für uns zurückgehen. Man muss diese Gründe jedoch erfragen, annehmen und als für uns gegeben akzeptieren (wollen) und das ist damals (und auch lange Zeit danach) nicht passiert.

Noch heute kopieren wir die Stimmlagen, Wortcluster und bestimmte Handlungsarten von anderen Menschen, von denen wir wissen, dass sie die jeweiligen Situationen “richtig machen”, weil wir wissen, dass wir es “falsch (like: awkward, unsozial, unsympathisch, weird, unangenehm usw.) machen” würden, würden wir es machen, wie wir es spontan machen würden.
Nicht nur, weil manche von uns glauben, dass sie es ja nur falsch machen können, weil wir ja so ein falscher Mensch sind, sondern, weil Menschen, die sich verhalten, wie wir es tun würden, über kurz oder lang die wie auch immer gegebene Rückmeldung erhalten, dass ihr Verhalten falsch sei – oder eben awkward, unsozial, unsympathisch, weird, unangenehm usw.

Noch heute “streben wir nach Perfektion”. Wir tun es aber nicht, weil wir uns so unvollkommen erleben. Wir tun es, weil wir sehen, wie Menschen auf “perfekt” reagieren und uns denken: Wenn wir dies und das perfekt machen, dann ist alles okay. Dann ist “Erbsenmoment”. Dann ist “loslassen und okay für das Umunsherum und ganz viel Raum frei für Inmittendrin”.

Wenn man so will, könnte man sagen, dass wir durchgehend versuchen uns das Umunsherum vom Leib zu halten, um für bei mit uns sein zu können, ohne gestört zu werden.
(Und ja – ich lese selbst, wie man das lesen kann.)

Die nächste Persönlichkeitsstörungsdiagnose war “Borderlinepersönlichkeitsstörung”.
Interessanterweise eine Diagnose, die von einem sicherlich sehr kompetenten Chirurgen gestellt wurde, der uns selbst zugefügte Schnitte genäht hat. Erst Jahre später tauchte diese Diagnose wieder auf.

Dazwischen lag noch die “schizoide Persönlichkeitsstörung”.
Doch auch dort fehlte der Blick auf den sozialen Kontext. Diese Diagnose gab es nach einem Suizidversuch und einem Zeitraum ohne Sprechen, nachdem wir von Heim zu Heim geschubst wurden, weil wir immer wieder irgendwas falsch gemacht haben, was heute nicht mehr richtig nachzuvollziehen ist.
Was ist bitte die logischere Erklärung für Rückzugstendenzen, abgeflachte Affekte und allgemein eher abweisend/kühle Interaktion, nachdem man auf alles, was man tat oder sagte oder machte, mit seinen 7 Sachen wieder weggeschickt, verlassen, mit schwierigen Dingen (wie etwa Verstrickungen in organisierte Gewalt, schwierige Symptome und Überforderungen im täglichen Leben) alleine gelassen wurde?
A) eine Persönlichkeitsstörung als fast 16 Jährige oder
B) die Frage (und selbst gegebene Antwort) danach, welchen Sinn die Interaktion mit einem unbegreiflichen Außen haben soll, das man einerseits braucht und dessen Schutz man sich wünscht – das andererseits aber genau nichts versteht?

[Gameshow-Musik-Geräusch]

Und dann war da noch die Hysterie.
Die gute alte Hysterie heißt heute “histrionische Persönlichkeitsstörung” und ist ein Psychologen*(sigh!)*wort für “die *(sigh!)* spinnt”.
In unser Diagnosenbonuspunktesammelheft geklebt bekommen haben wir dieses Goldstück in einer Klinik, in der dissoziative Symptomatiken als “unüblich” und Diagnosen wie die DIS eine Glaubensfrage darstellen. (Kein Scheiß – hat der Chefarzt genau so in einem Gespräch gesagt).
Menschen, die als “histrionisch” diagnostiziert werden, werden nach und in Bezug auf das Außen gerichtete Intensionen unterstellt. Da kommen dann so Sätze wie “Sie macht XY nur, um Aufmerksamkeit zu bekommen” her oder die Annahme, diese Menschen würden mehr oder weniger aufwendige Szenarien konstruieren bzw. inszenieren, um sich selbst in einer bestimmten Art wahrgenommen zu wissen.

Ich habe schon geschrieben, dass wir durchaus Verhalten kopieren, um bestimmte Zwecke im Außen zu erfüllen bzw. um als okay wahrgenommen zu werden.
Im Mittelpunkt zu stehen ist für uns dann aber in der Regel doch zu anstrengend und etwas, das wir heute nur noch ertragen, wenn wir davon überzeugt sind, etwas zu tun, wofür es sich lohnt zeitlich und inhaltlich klar begrenzt von anderen Menschen angeguckt, beobachtet, angehört und analysiert zu werden.
Zum Beispiel in der Therapie oder auch während Projekten wie dem Nachwachshaus, in Workshops oder bei Vorträgen.

In der Klinik damals wiederum sind wir aus für uns bis heute nur mehrdimensional erklärbar sozialen Dynamiken heraus immer wieder in negativen bzw. für uns unangenehm oder uns ängstigenden Fokus geraten. Die Kommunikation war durchgehend dysfunktional und unsere soziale Situation eine über alle Maßen überfordernde. Denn wir waren nicht dort, weil wir behandelt werden wollten oder Hilfe suchten, sondern weil wir keinen Wohnort hatten und noch nicht volljährig waren.
And again: etwas mehr Fokus auf die soziale Situation einer Person im Kontext ihrer tatsächlichen Fähig- und Fertigkeiten und die Idee einer in der inneren Struktur einer Person liegenden Problematik wäre als obsolet klar gewesen.
Doch dazu hätte man in Betracht ziehen müssen, dass eine Person eventuell ganz basic Interaktions- und Kommunikationsprobleme hat und permanent Ängste kompensiert, weil sie sich auf niemandem verlassen kann. Nicht einmal sich selbst.

Selbst heute, wenn ich versuche mich daran zu erinnern, wie wir uns in dieser Klinik verhalten haben, erinnere ich mich nur an Missverständnisse und Momente von Verzweiflung darüber, dass es nichts Beruhigenderes als körperlichen Schmerz gab. Obwohl wir uns damals schon 9 Jahre lang immer wieder selbst geschnitten, verbrannt, geschlagen oder verätzt haben, haben wir nie so darunter gelitten, wie damals in dieser Klinik. Es war das tragischste Erbsenmoment, das wir uns selbst machen konnten und diese Belegung von Schmerz durch körperliche Versehrung als Beruhigung ist etwas, das wir heute mühsam wieder zu entkoppeln versuchen.

In einem Gespräch mit dem Begleitermenschen kam jemand an den Punkt in der Auseinandersetzung um die Persönlichkeitsstörungsdiagnosen, dass der uns erschreckende Anteil daran immer wieder der ist, an dem uns Intensionen hinter Verhalten unterstellt werden, für die wir selbst meist weder Kraft noch Fokus hatten.
Was wiederum in der Narzissmuskrise der Teil ist, der uns die letzte Klinik am Ende vollends als guten Ort zur Unterstützung in der Begegnung und dem Auseinandersetzen mit uns und unserem Er_Leben verbrannt hat.

Gerade in der letzten Klinik hatten wir sehr bewusst massive Probleme überhaupt teilhaben zu können, schwerwiegende Kommunikationsprobleme und ein wie wir finden gutes Gefühl für unsere Überforderung vor bestimmten Anforderungen. Und wir sind einer Täuschung erlegen, die uns – zumindest nach jetzigem Stand der Auseinandersetzung und Fehlersuche – dazu verleitet hat, anzunehmen, es wäre okay, wenn wir selbst bestimmen, wofür wir Kraft aufbringen und wofür nicht. Wir haben uns um uns gekümmert und nicht darum, ob wir nach außen okay sind. Wir haben uns auf das Inmittendrin konzentriert und nicht darauf, die flache phrasenbasierende PITT-Sprache zu kopieren und spiegeln, während wir klinikfunktional dissoziieren.

Wir haben etwas gemacht, das ein High Five auf der Heilungsskala bedeuten könnte– aber nur, wenn der Heilungsbegriff auf den Leiden basiert, die wir empfinden.

In keiner der Persönlichkeitsstörungsdiagnosen, die wir in unserer Behandlungsgeschichte erhalten haben, wurde auf unsere Leiden geachtet, sondern überwiegend auf unser sichtbares Verhalten als Einsmensch und die Erklärung, die die jeweiligen Psycholog_innen sich dafür vorstellen konnten.
Wir haben immer genau dort eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert bekommen, wo man uns in unseren Fähig- und Fertigkeiten über- bzw. falsch eingeschätzt und überfordert hat. Wo das nicht passiert ist, verlegte man sich auf die Benennung sichtbarer Probleme und die deuteten schon früh auch in Richtung PTBS und ASS (Autismus-Spektrum-“Störung”), neben ganz schlicht (nicht pathologisierend bewortet) “belastete/überforderte/dekompensierte Jugendliche”.

Wenn ich mich den aufkommenden Erinnerungen widme, merke ich neben der üblichen Bitterkeit auch zunehmend den Wunsch mich und die Innens, die anders als ich nicht gealtert sind, auch mit etwas anderem als den Erklärungen für diese Sachverhalte trösten zu können.

Doch ich spüre die Spaltung zwischen uns sehr deutlich. Manche debattieren bis heute im Innen mit irgendwelchen Krankenpflegern und Schwestern darüber was für widersprüchliche Aussagen sie gemacht haben, die dazu geführt haben, dass man sich “falsch” verhalten hat. Manche sitzen noch immer weinend in der Heilerinquisition (eine wöchentliche Visite mit allen Behandler_innen einer Klinik) und stottern an Worten herum, die nicht ihrem jagenden Puls im Hals vorbei kommen. Manche liegen immernoch fixiert auf irgendeiner Krankenliege und schwanken zwischen Wohlgefühl durch Gefühle von Gehaltenwerden und Verwirrung über aufkommende Flashbacks von Gewalterfahrungen anderer Innens.

Ich merke, dass es ihnen nicht um Trost geht. Jedenfalls nicht vielen. Ich merke, dass es für viele um die Verwirrung und die schier unüberbrückbare Differenz zwischen Außen und Inmittendrin geht, die macht, dass ich sie überhaupt mehr wahrnehme als noch vor ein paar Monaten. Und ich beginne zu begreifen, dass es vielleicht genau diese Spaltung ist, die mir die Autismusdiagnose so schwer macht.

Sie macht mir nämlich den eigenen Anteil der jahrelangen Klapsenqualen bewusst, während der Inklusionsaktivismus, den wir heute unterstützen, eine Haltung in uns hat entstehen lassen, nach der wir unsere Behinderungen (auch im Sinne von “Unfähig-und –Fertigkeiten”) als etwas angenommen haben, das wir als von anderen Menschen ernst zunehmen und mitzudenken einfordern dürfen und sowohl zum Anstoß gesamtgesellschaftlicher Veränderungen im Sinne der Inklusion aller Menschen gleichermaßen, als auch zur Ermöglichung von Teilhabe und Steigerung der eigenen Lebensqualität auch müssen.

Ich komme nicht mehr um eine anerkennende Haltung gegenüber diesen jugendlichen Innens herum. Ich muss sehen, wie super stark, hartnäckig und aus wie vielen guten, wichtigen Gründen sie jeweils getan haben, was sie getan haben und spaltungsbedingt bis heute tun.
Die pedantischen Regelpapageien. Die nervigen Anstandsroboter. Die Kämpfer_innen für soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte auch auf einer geschlossen Station. Die taktierenden Gruppentherapiebestreiter_innen. Die schweigend auf Wände und glitzernde Folien starrenden. Die mutigen “Ich werde misshandelt”-sager_innen. Die intellektuell in Grund und Boden quatschenden. Die “diesmal mache ich alles (die Behandlung/die Therapie/der Versuch in einem Heim zu wohnen) richtig”- Denkenden.

Ich reflektiere an mir die Übernahme des psychologischen Blicks, der mich daran gehindert hat sie so zu sehen. Für mich waren sie bisher immer eher grundlegend dysfunktional und leidend. Weil – DIS –Entstehungslogik: sie ja weiter gewachsen wären, wären sie funktional gewesen bzw. kompatibel mit sich verändernden äußeren Anforderungen. Ich wäre ja nie nötig gewesen, wären sie besser, richtiger, heiler, fähiger, kompatibler gewesen. Sie sind nicht alltagstauglich, geschweige denn orientiert – wie wertvoll können sie dann schon für meinen Er_Lebens.Alltag sein?

Well, ich sehe, dass dieser neuere Blick etwas an ihnen wertschätzt, das nichts mit ihren Fähigkeiten im Heute zu tun hat, sondern mit dem, was sie getan haben, als ich nicht da war. Vielleicht, weil ich damals nicht da war. Vielleicht, weil sie kleben geblieben sind, wo es mich von ihnen im Lauf der Dinge weggerissen hat.

Während meiner Fehler- und Erinnerungssuche merke ich, dass ich ihre Erfahrungen auch gemacht habe und bis heute mache. Aber ich bin keine 14, 15, 16, 17, 18 Jahre alt und bin so global wie sie damals davon abhängig, was wer in welche Berichte über uns schreibt.
Klar sind wir in Teilen abhängig davon, dass unsere Behandler_innen keine Quatschberichte schreiben, weil unsere Hilfen und Unterstützungen entsprechend unserer Bedarfe gebraucht werden und nicht entsprechend dessen, was irgendwer irgendwann aus was auch immer für Gründen von uns und unserem Verhalten hält – auf der anderen Seite aber, steht hinter jedem Antrag auf Unterstützungen auch der implizite Apell an die Logik. Niemand bittet um Unterstützung, wenn si_er nicht die Idee hat, welche zu brauchen oder gut nutzen zu können.

Und: Ich bin eine von den wenigen wirklich Erwachsenen von uns und merke im Moment immer wieder mal, wie sehr auch unsere Einsamkeiten in diverse Fortbestände von Ängsten und Unsicherheiten hineingespielt haben.

Das könnte ich für sie werden, denke ich.
Jemand, di_er da ist.

Schmalzischmalz und Wahrhaftigkeit

Wir sitzen auf unserem Baumstamm im Nirgendwo des Irgendwo im Wald und starren auf das zarte Grün um uns herum.

“Es hat alles irgendwie mit Wahrhaftigkeit zu tun, glaube ich. Also, dass ich, weil ich da bin, der lebende Beweis dafür bin, dass es die anderen vor mir auch gibt. Mit allem, was sie haben, brauchen, können oder auch nicht können, brauchen oder haben. Und eben ganz wahrhaftig.”.

“Hmmm”, macht die Gemögte ins Telefon und es hört sich nach Zustimmung an. “Also ist es deine Selbstannahme als ein Innen, das für andere Innens entstanden ist, die macht, dass du die Anderen, als wahrhaft existierend bewiesen siehst?”
”Ja! – Danke – das ist viel knackiger formuliert.”, sie lacht und wickelt sich den Satz in ein blaues Erinnermich-Tuch.

“Und das Andere ist: Okay – ich habe die anderen und ihre Bedürftigkeiten und Schwierigkeiten als wahrhaft anerkannt. Ich denke: “Okay – ich habe keine Ahnung, wie ich dem begegnen kann. Wie ich auf sie Rücksicht nehmen kann oder wie unser Leben vielleicht gestaltet sein könnte, damit die Dissoziation zwischen uns vielleicht aufgelöst werden kann. Wie ich mit unkontrolliertem Erinnern umgehen kann und vielleicht auch schauen kann, was für Leben sie gelebt haben.
Es ist das Eine dieses Leben zu führen, in dem der intimste Kontakt zu anderen Menschen der ist, in dem man die Fragmente, die wir als Blogtexte teilen, dem Lauf der Dinge überlässt, in dem sich widmet, wer sich die Zeit, den Raum, die Kraft nimmt, sich zu widmen. Mit allen Konsequenzen, Risiken und Aus_Wirkungen, die möglich sind. Dieses Leben, in dem ich gut funktioniere, weil ich das kann. Weil ich dazu da bin, das zu können.”.

Es wird dunkel hinter mir. Ich fühle, wie sich etwas verdichtet und als Tränen aus ihren Augen herauskommt.
NakNak* schiebt sich auf ihren Schoß und leckt an ihrer Handinnenfläche. Drückt den Kopf an ihre Brust und wartet auf die Schmusegeste, die wir immer mit ihr machen.

Ich lege meine Hände auf ihre Schultern, obwohl ich schon weiß, dass sie mich nicht wahrnimmt.
Vielleicht tröste ich mich mit dieser Geste mehr als sie.

Sie schnieft ein bisschen und atmet durch.
“Es ist aber etwas anderes, den Lauf der Dinge selbst und aktiv zu beeinflussen und zu gestalten. Ganz bewusst und mit Absicht – obwohl man weder weiß, was man dazu genau tun muss, noch wirklich sicher weiß, welche Fehler okay sind und welche nicht. Oder – was heißt Fehler? – welche Abweichungen von “normal” wie in “nicht störend” oder “nicht unangenehm auffallend” okay sind.”.
“Also geht es auch noch um Anpassung, ne?”. Die Stimme der Gemögten klingt warm und erinnert mich an den Schwan. “Das ist ja auch oft ein Thema bei euch, die Frage, wie okay ihr seid, wenn ihr nicht passt oder den Anpassungserwartungen nicht entsprechen könnt.”.

Es klingt, als würde sie sich bequemer hinsetzen. “Kann es sein, dass das jetzt auch gerade das Problem ist? Also nicht nur das Dilemma, dass man eure Schwierigkeiten nicht sieht und als wahrhaft anzuerkennen scheint, sondern auch, dass ihr gerade merkt, dass ihr euch nicht an Vorgaben anpassen könnt, ohne so stark zu dissoziieren, dass ihr Zeit verliert oder sowas?”.
Hannah nickt und streichelt den Hund. “Ich glaube schon.”, antworte ich.
“Was ist wenn das immer und immer so bleibt?”, fahre ich fort, “Für immer. Was, wenn uns die Klinik gerade zeigt, wie falsch wir sind und wie wenig anpassungsfähig wir an das echte Leben sind?”.

“Die Klinik ist nicht das echte Leben, M. . Von dort werdet ihr vielleicht viele Dinge mitnehmen, die euch im echten Leben helfen – ja. Aber irgendwas darüber, wie das echte Leben als behinderte und queere Person mit eurem Überlebenshintergrund ist, werdet ihr dort nicht lernen.”.
Ich merke, dass wir ein bisschen über ihre plötzliche Festigkeit erschrecken und hart werden. “Bitte verwechselt Kliniken und Hilfsangebote nicht mit dem echten Leben. Ihr hattet so wenig echtes Leben in eurem Leben – woher sollt ihr wissen, wie man damit umgeht? Ihr werdet Fehler machen und ihr werdet noch ganz oft nicht in die hübschen kleinen Hilfe-Lebens- und Revolutionskonzepte anderer Menschen hineinpassen, aber ihr werdet nie selbst der Fehler sein.
Verstanden? – Oder wenigstens gehört?”.

“Hmmm.”, mache ich und weiß nicht mehr so richtig, was ich sagen soll.
“Ist Hannah noch da?”, fragt sie und klingt wieder so weich wie immer. “Ja”, antworte ich, “sie steht neben mir.”.

“Ich kenne euch jetzt schon sehr viele Jahre und mich haut es selbst regelmäßig aus den Latschen, wenn ich merke, wie eigentlich doch wenig ich davon weiß, wer ihr eigentlich seid und wie ihr es überhaupt schafft am Leben zu bleiben. Aber ich kann das reflektieren, weil ihr mich daran erinnert, wie nötig das ist, um euch kennenzulernen. Immer noch und immer wieder neu.”.

“- Äh – wird das jetzt eine Schmalzischmalzansage?”, frage ich ein bisschen angeekelt dazwischen, “Wir hatten heute schon sowas ähnlich awkwardes mit dem Begleitermenschen am Telefon.”.
Sie lacht. “Nee, kein Schmalz – ernsthafter call out. Ihr seid viele und das bedeutet für mich auch jedes Mal neu gucken zu müssen: “Wer ist da? – Was kann die Person? – Was bringt sie mit? – Worum geht es jetzt und hier? – Was wird gebraucht?.” Das ist meine wahrhafte Normalität im Kontakt mit euch und ich merke selber, dass mich das einerseits manchmal anstrengt, weil ich bei anderen Menschen da viel fauler sein kann – andererseits seh ich aber auch, wie klasse das ist, wenn ihr euch diese Fragen mehr und mehr auch selbst stellen und beantworten könnt. Und die Antworten auch aushalten könnt, ohne in Todesangst oder anderen Stress zu geraten.”, sie kichert. “Oder wie J. sagen würde: “Ich feier’ das hart, wie ihr vorwärts kommt!”.

Wir lachen und reiben uns die Hitze aus dem Gesicht.
Sie sprechen noch ein bisschen über das echte Leben, das Vielesein, das Behindertsein, die Angst und darüber, wie krass es manchmal ist, überhaupt zu existieren.
Ich merke, wie es Hannah zum Trost wird und uns zur Kraftquelle.

Und irgendwann glaube ich fast, dass wir wirklich nicht mehr tun müssen, als wir im Moment tun, um das Beste zu machen, was wir können.

das Gegenteil von “Heilung”?

Das Wort drängt sich auf, wenn man nach Input sucht, wie das Leben nach Gewalterfahrungen jeder Art aussehen könnte.

“Heilung”

Heilen von Schmerz und Verletzung, Heilen von Erschütterung und jedem Ungemach, das je die Seele berührte.
Das Runde kommt ins Eckige und das Kaputte wird geheilt.
Atmen, meditieren, die Reise ins Ich und wenn alles nix hilft, gibts ein Ausmalbuch für Erwachsene zur N3er Packung Antidepressiva.

Vor Kurzem stolperte ich in eine Erweckungs-Eso-Welt-Planeten-Errettungs-Blase und fand das Wort “Heilung” erneut sehr häufig verwendet.
Heilung durch eine tägliche Handvoll Blaubeeren in der Sommerjurte auf spanischen Bergen mitten im Schoße von Mutter Natur und andere Freud wahrscheinlich mit kreiselnden Augen zurücklassende Angebote, begegneten mir dort – und stießen mich in ihren anmaßenden Grundannahmen ab.

Nichts gegen Blaubeeren und Sommerurlaub in Spanien – sicher tut das gut und ist ein tolles persönlich bereicherndes Erlebnis – aber “Heilung”?
Was genau muss kaputt oder krank sein, wenn es durch eine Auszeit mit gesundem* Essen geheilt werden kann?

Wie unvollständig muss man sich fühlen, wenn Orts- und Gewohnheits/Verhaltenswechsel die Erfüllung (Ganzheit = Heilung) bringen kann?
Geht es dort um Schwierigkeiten, die in der inneren Ist-Struktur liegen oder nicht doch eher darum, in einem Kontext zu leben, der diese Unvollständigkeiten nicht zu füllen in der Lage ist?

Als ich anfing mich mit der Behandlung von Traumafolgen auseinanderzusetzen, war genau dies ein Punkt, der mich immer hat spüren lassen, dass meine Probleme und damit auch meine Aussicht auf “Heilung” anders liegen.
Viele Menschen, die Gewalt erfahren haben und in unserer westlichen Gesellschaft mit Rollenerwartungen aufwachsen, die teils sogar nur dann erfüllt werden konnten (und nachwievor besser erfüllt werden können), wenn man eben jene Gewalterfahrungen gemacht hat, leben ganz zwangsläufig einen Alltag, in dem sie sich unvollständig, kaputt, defizitär, minderwertig, schlecht oder krank fühlen.
Wie leicht es ist, dann die Idee der “Heilung” und der Wege dorthin zu vertreten!

Da wird dann gelernt sich abzugrenzen, Nein zu sagen, sich zu erlauben, dass man sich gut fühlt und sich selbst (für sein Können) wertschätzt.
E voila: le “Heilung” to go für nur 25 Kurzzeittherapiestunden und einer Jahreskarte fürs Yogastudio um die Ecke – und wahrscheinlich ganz rein zufällig, genau das, was am Wenigsten etwas an der ursächlich gewaltvollen Kultur des Miteinanders verändert.

“Heilung”, das ist etwas extrem Individuelles. Die Heilung des Einen ist nicht die des Anderen.
Komisch, ne – ist doch der Schaden des Einen häufig doch das Erste, das an dem Schaden des Anderen entlang definiert und bewertet wird und die Optionen zum Heilung versprechenden Weg, dann doch alles andere als so individuell verfügbar, wie sie gebraucht werden.

Wenn ich mich damit auseinandersetze, was genau mein Ziel für mein Leben nach der Gewalt ist, dann denke ich überwiegend, dass für mich die Themen “Ankommen (und das merken und aushalten)”, “Merken, was ich merke, wenn ich angekommen bin (und das merken und aushalten)” und “Okay damit sein, was ich merke, nachdem ich angekommen bin (und das merken und aushalten)”, eine große Rolle spielen.
Ich fühle mich nicht unvollständig und ergo irgendwie auch nicht heilbar.
Mich gibts und ich bin da – doch ich bin nicht dort, wo ich mich in Bezug zu Irgendwas spüren kann.

Ich habe darüber nachgedacht, ob bei mir vielleicht etwas nicht entwickelt ist oder sehr früh kaputt ging, dass mich daran hindern könnte, mich als Ich zu empfinden, wenn ich keine Resonanz auf mich erlebe.
Viele bzw. die meisten Menschen, die ich kenne, finden sich oder Teile von sich in anderen Menschen oder in Dingen, die von Menschen gemacht sind. Ich tue das nicht und habe das nie. Ich weiß, dass ich bin, weil ich bin. Ich weiß, wie ich bin, weil ich bin, wie ich bin.
Mein Gefühl der Vollständigkeit oder Unvollständigkeit braucht also nicht andere Menschen oder das Ummichherum, sondern meine Wahrnehmung davon, wie ist, was ist, was mir passiert.

Gerade in den frühen Büchern, in denen es um DIS und ihre “Heilung” geht, geht es um Vervollkommnung. Die Spaltung wird als früher nötiges Übel gesehen und ihre Aufhebung zum der Heilung im Heute notwendigen Arbeitsziel erkoren.
Das gespaltene Selbst gilt dort als erfolgreich therapiert, wenn es heil (also vereint/integriert/verschmolzen) ist – wobei sich manche Autor_innen sehr wohl auch noch über seelische Narben und die Frage des “Ende gut alles gut?” Gedanken gemacht haben. Am Ende überwog in der Literatur, die ich gelesen habe, aber doch die Idee eines grundlegenden Selbst, das unberührt von einer Spaltung des Seins (Ist) ist und mittels: Überraschung! Veränderung der äußeren Umgebung sowie Gewohnheits/Verhaltensveränderungen wie Muttererde bereit gemacht werden kann, um alles Abgespaltene (wieder) in sich aufzunehmen.

So eine schöne Idee mit so viel Entsprechung in der Natur, dem Lauf der Dinge, dem Reproduzierbaren im Kleinen, wie im Großen.
Kein einziges Sinnspruchbüchlein würde je gedruckt, ohne diese Vorstellung. Kein einziges Achtsamkeits-Meditations-Eso-Dings könnte sich ohne diese Bilder so erfolgreich vermarkten, wie es passiert.

Inzwischen wird dieses Bild in der Traumabehandlungsliteratur nicht mehr so häufig verwendet.
Man weiß inzwischen mehr über DIS, mehr über die Wege von komplex traumatisierten Menschen nach dem Ende einer Therapie. Mehr und mehr wird sich darauf verlegt einen Gedanken von Akzeptanz und ausbalancierter Integration des Geschehenen als geschehen mit individueller Benotung zu verbreiten.

Was auf mich wirkt wie: “Naja – ihr Leben liegt in Schutt und Asche – hier ein Bauplan und meine Cheerleaderpompoms – Sie kriegen das schon wieder hin.” und die Frage aufwirft, wie relevant die Idee von “Heilung” eigentlich noch ist.
Ist diese Idee eigentlich überhaupt noch haltbar oder ist “Heilung” zu einem Schlagwort geworden, das ein “das wird schon wieder” andeuten will, weil es außer motivierenden DIY-Kopfgeburten nichts zu bieten hat?

Und was ist eigentlich das Gegenteil von “Heilung”?

es gibt einen Termin

In 4 Wochen ist der Aufnahmetermin in der Klinik und ich glaube, dass ich jetzt fertig mit meinem Erschrecken und Teilen meines Ärgers darüber bin.

Mein Ärger rührt daher, dass unsere Jahresplanung einen freien Mai zum bis-ans-Meer-fahren hatte und jetzt natürlich nicht mehr. Mein Ärger rührt daher, dass wir mit einer Aufnahme “Ende Februar/Anfang März” geplant hatten und Aufträge abgelehnt haben, an denen wir hätten Geld verdienen können. Um ohne Geldkummer in die Planung des freien Mai gehen zu können. Zum Beispiel.
Mein Ärger rührt daher, dass ich mich, trotz allen Wissens und aller Vorbereitung über den Umstand erschrecke, dass es jetzt einen Termin gibt.

Ich fühle mich eingesperrt in diesen Termin. Habe das Gefühl, trotz aller Möglichkeit, nicht ablehnen zu dürfen. Geschweige denn zu können. Ich kenne so viele, denen es akuter schlecht geht als uns. Weiß von so vielen, die weniger verkorkst für die Hilfe- und Heilungsindustrie sind, als wir.
Und merke wie so eine Hassenergie in mir über diesen Vergleich mit anderen Menschen hochwallt.

Die Therapeutin fragte, ob ich dort überhaupt hin will und ich weiß selbst nicht mehr, was ich ihr geantwortet hab. Jetzt, wo ich fertig mit meinen Gefühlen bin, denke ich, dass ich einfach nicht will, was ich fürchte, was alle dort in dieser Klinik, die Therapeutin, unsere Gemögten und Gemochten glauben, was ich will.
Dass ich nicht will, was ich befürchte, was ich wollen muss. Oder widerspruchslos akzeptieren.

Ich will dieses Moment nicht, das wir in der Krisenstation hatten. Wir haben so lange durchgehalten unsere psychische Dekompensation über die neue Diagnose und ihre Implikationen zu managen, dass wir nicht mal mehr für das Heilungsprogramm dieser Station noch Kraft hatten. Da war keine Kraft mehr sich vor Therapieansätzen zu schützen, die unser Vielesein ausblenden und die allgemein fragile Selbst- und Umweltwahrnehmung, die dahinter steht.
Ich konnte mich nicht dagegen wehren mehr Medikamente zu bekommen, als wirklich nötig waren. Wir konnten uns selbst nicht mehr einbringen in das, was auf der Station als Hilfsangebot gilt.

Ich war an der Entscheidung für den Antrag zur Aufnahme in der Klinik insofern beteiligt, als, dass ich unter dem Vorbehalt zustimme, dass ich die Zustimmung zurückziehe, wenn ich den Eindruck habe, dass wir uns dort behandeln lassen sollen, anstatt, dass wir die Möglichkeiten, die es dort eben so gibt, nutzen können und dort jemanden haben, der uns dabei unterstützt zu reflektieren, was jeweils dabei mit uns passiert.

Wenn man sich die Informationstexte und Behandlungsrahmen der Hilfe-und Heilungsindustriestandorte so durchliest, dann sollte man denken, meine Vorbehalte hätten keine richtige Grundlage. Überall geht es um Eigenverantwortung der Patient_innen oder auch darum, “den Kranken zu helfen, ihr Leben wieder selbst in die Hand zu nehmen”.
Der Punkt ist: Wir haben unser Leben schon selbst in der Hand. Wir leben schon eigenverantwortlich.
Und “krank” waren wir nie. Als “krank” müssen wir uns bezeichnen lassen, damit unser Leiden an der (Selbst- und Umwelt-Wahrnehmungs-)Qualität unseres eigenverantwortlichen Lebens nach schweren Gewalterfahrungen bis ins junge Erwachsenenleben hinein, anerkannt wird und wir um Unterstützung, die vielleicht auch Hilfe werden kann, über die gegebenen Strukturen auch gewährbar bitten können.

Ja – nein – leicht und einfach ist das alles nicht.
Leicht haben sich andere Innens das mal gemacht. Früher. Als wir 14 Jahre alt waren und wütend auf die Heilerinquisition der Kinder- und Jugendpsychiatrie, die uns einfach gar nicht geholfen hat. Heute weiß ich ja, wie genau nicht einfach man Jugendliche unterstützen und schützen kann, wenn im Hintergrund organisierte Gewalt passiert.
Aber damals war das wichtig. Die waren scheiße und fertig. Böse Nichthelden! Mimimi.

Und heute – so viele tausend Grenzverletzungen durch Nichthelferheld_innen, die uns doch so gerne retten wollten oder wenigstens dabei sein wollten, wenn wir uns selbst retten, damit sie von sich sagen können, sie hätten auch einen Anteil dessen gehabt – bin ich das Innen, das alles komplizierter macht, als es ist. Angeblich.
Und natürlich, weil ich ja ein Innen bin, das in einer traumatischen Situation entstanden ist: hochgradig reaktiv und traumaperspektivisch. Zu deutsch: nicht so ganz orientiert und auf der Höhe der Zeit – also: nicht so ganz zu gebrauchen, wenn es um “vernünftige Auseinandersetzung mit diversen Themen des Hier und Jetzt” geht.
Das ist jetzt natürlich eine wilde Spekulation von mir. Weil gesagt hat mir das nie jemand. Nur gezeigt. Und zwar immer wieder. Indem man relativiert, was ich sage, oder jeden Aspekt, den ich aus einer Situation wahrnehme auf mich und meine Wahrnehmung(squalität) allein herunter individualisiert – das Problem der Situation zu genau einzig meinem Problem allein erklärt. Und damit am Ende genau mich und meine Wahrnehmung zu dem Problem macht.

Erste Klasse “kognitive Verhaltenstherapie” – “denke anders – handle anders”. Man möchte mich so gern davon überzeugen, dass Hilfe super ist, weil sie hilft – und das ja ist, was ich will. Angeblich.
Doch was ich will, habe ich in Bezug auf “Hilfe” noch nie gesagt. Ich spreche immer wieder von Unterstützung und Begleitung, von Möglichkeiten sich überhaupt erst einmal anzunähern an das, was ist, um zu prüfen, was eigentlich werden kann. Was vielleicht auch anders werden kann.

Die Annahmen und Ideen, die Menschen von meiner Idee von Unterstützung haben, poltern meistens unbesehen genau darüber hinweg. “Ja ja schon verstanden – sie wollen also aus ihrem Elend gerettet werden- alles klar – hier Ergo – hier Imagination – Einzelsitzungen zweiter Stock rechts – Mittag um 12 – Entlassung in 4 bis 6 Wochen – hier Ihre Tagesration Tavor – ruhen Sie sich jetzt mal aus – Doktor kommt gleich.”.

Und dazu kommt noch die  Kleinigkeit wegen des öffentlich selbstvertretenden Schreibens über das Leben mit DIS und dem Leben an sich, zu einer Person mit DIS, die Öffentlichkeitsarbeit macht, erklärt zu werden. Mit allen Konsequenzen, die das hat. Wie zum Beispiel der, dass wir immer wieder von vorn erklären müssen, dass wir für uns und unsere Ideen und Intensionen allein schreiben. Dass wir erklären müssen, dass wir nicht auf Du-und-Du mit den Heilungshelfer_innen der DIS-Szene sind. Dass wir schon schrieben, als noch niemand das Blog von Vielen mitlas und auch dann noch schreiben, wenn niemand mehr mitlesen möchte.
Die wenigsten Menschen wissen, was ein Blog ist, und viele, die es wissen, denken an Blogs, in denen Produkte platziert oder heilungsindustrielle Interessen weiterverarbeitet werden. Die meisten Menschen stellen sich uns wie eine geübte Selbstdarstellerin mit viel Kraft und Chuzpe für 50 Kerle vor und wir sind die, die das aushalten müssen. Egal, ob wir das können oder nicht.

Ich sehe an der Klinikaufnahme eines dieser Abgrenzungs- und Rechtfertigungsgespräche hängen, die wir in der Therapie führen müssen, wenn unsere Therapeutin einen ihrer (eher seltenen aber wenn dann) wilden “Und was bedeutet das jetzt?”-Ausfälle hat und sich völlig an uns vorbei in irgendwelchen Annahmen verfranst.
Ich will keine Kapazitäten für die Richtigstellung des äußeren Blicks auf uns freimachen müssen. Ich will, dass unsere Kraft für uns allein sein kann. Wenigstens für diesen Zeitraum in der Klinik.

Für mich gibt es nicht viel Anlass zu glauben, dass uns das wirklich gewährt wird. Ich hab nur Anlass zu Annahme, dass ich selbst auch falsche Annahmen habe, die ich überprüfen muss, bevor ich diesem Aufenthalt wirklich zustimmen kann. Immerhin sind gut 6 Jahre seit dem letzten Aufenthalt dort vergangen und wir haben viel für uns erarbeitet.

Aber, wenn sich meine Annahmen bestätigen, muss ich davon ausgehen, dass das alles zu meinem persönlichstindividuellen Privatproblem gemacht wird. Und nicht zu einem Problem, das sich nur niemand außer mir anguckt. Und entsprechend damit umgehen muss.
Egal, ob ich das kann oder nicht. Egal, ob ich das aushalte oder nicht.