Rückzug

Vor 4 Wochen ist mir etwas passiert.

So wie dieser Satz ist, fühlt es sich an. Banal und undefiniert konkret.
Ich glaube nicht, dass ich je öffentlich darüber schreibe oder spreche. Aber es ist passiert, es wirkt und auch das schreibe ich hier auf.
Auch, weil es zeigt, dass viel über Trauma und seine Folgen zu wissen im Fall einer erneuten Traumatisierung bzw. einer Re-Traumatisierung wenig zu Entlastung beiträgt einerseits und andererseits eine Reflexion ermöglicht, die eine Kontextualisierung erleichtert. Also dann doch – irgendwie – entlastet.

Zum Beispiel war mir schon in der Situation klar, dass ich traumareaktiv reagiere.
Dass ich auf Ressourcen zugreife, die mich geistig („frontalhirnig“) an meine gegenwärtige soziale Umgebung binden, weil sie eine gewisse Identität (im Sinne einer Übereinstimmung) haben. Ich habe mich absolut darauf konzentriert, dass ich erwachsen bin, weil ich weiß, dass die Menschen in meiner Umgebung daran keinen Zweifel haben. Ich wusste ganz genau, dass ich, wenn ich mich daran halte und dementsprechend erwartungsgemäß re.agiere, mit mehr Empathie, Hilfsbereitschaft und Fürsorge rechnen kann, als wenn ich re.agiere, wie ich kongruent mit meinem Selbstgefühl bin.

Mir war aber auch klar: Wenn ich „erwachsen re.agiere“ können andere Menschen nicht mehr erkennen, dass ich in Bezug auf die Erfassung der Situation, die Einordnung und die Anbahnung eines Handlungsablaufs hilflos bin.
Sie sprechen mich nicht an, als hätte ich eine wie auch immer gelagerte Verletzung. Sie bieten mir keine Unterstützung an, sondern fragen mich, warum ich welche von ihnen brauche. Wenn es vorbei ist, bietet mir niemand Fürsorge für mich an. Wund_Pflege.

Nun war mein Partner zu dem Zeitpunkt noch auf der Intensivstation und erlebte einen ganz eigenen verletzenden, todes.ängstigenden Horror. Keine_r meiner Freund_innen oder Gemögten konnte zu mir kommen. Nicht allen konnte ich überhaupt davon schreiben. Meine Therapeutin war im Urlaub – und krank. Sie telefonierte kurz mit mir, das ging fürchterlich schief und schon beim Auflegen war ich innerlich absolut blank.

Die nächste Traumareaktion.
Ich habe mich nicht mehr nach außen orientiert. Keine Kongruenz mehr gesucht, kein Trauen und auch keine Kraft mehr für die Angleichung gehabt.
Ich wurde von traumatischen Erinnerungen geflutet und das war die Kongruenz, die ich in mir selbst haben konnte. Gewissermaßen hat in der Situation also die Tatsache, dass ich nicht zum ersten Mal so unversorgt verletzt geblieben bin, mehr zu innerem Zusammenhalt (Assoziation) beigetragen als alle Skills, alles empowernde Wissen, auf das ich zugreifen hätte können.
Weird.

Dieses traumabedingte „nur in sich selbst zu Hause sein“ ist die Schnittstelle, die viele Menschen mit Autismus in Verbindung bringen, weil man über autistische Menschen bis heute noch denkt, sie wären in ihrem Körper oder einer inneren Welt gefangen.
Ich habe da eine Grenze.

Nach traumatisierenden Erfahrungen ist der Rückzug eine bio.logisch absolut perfekte Strategie. Das gesamte System „Körper“ war mehr oder weniger lange überfordert und wurde verletzt. Die Energiereserven sind aufgebraucht. Alle. Sich auszuruhen, ist zwingend notwendig. Es ist wichtig, dass man im Anschluss mehr von allem bekommt als sonst. Mehr Zuwendung, mehr Nahrung, mehr Schutz, mehr Unterstützung. Kein Körper kann aus „nichts“ „etwas“ machen. Er braucht das Außen, er braucht den Input, um Output zu generieren. Gefühle und Gedanken sind Output. Sie sind Körperprodukte. Lebenszeichen.

In einer Gesellschaft, in der das unversorgte Verletztsein die Norm ist, wird Rückzug oft nicht mehr intuitiv als Marker für Fürsorgebedarf verstanden. Also als ein Hinweis darauf, dass eine Person andere Personen zum Überleben braucht. Viel häufiger wird er als Abgrenzung verstanden. Als Akt der Individualisierung, der Betonung des Selbst oder auch der Konzentration auf sich selbst.
Deshalb erscheint es logisch in so einer Phase zu sagen: „Komm erstmal klar – du musst nicht zur Arbeit kommen, du musst nicht zum gemeinsamen Hobby kommen, du musst nicht zum üblichen Treffen kommen – sei unbesorgt, krieg dich erstmal auf die Reihe, wenn was ist, melde dich.“ Was man sagen will ist: „Wir verstehen, dass du im Ausnahmezustand bist – wir warten hier auf dich, bis wieder alles in Ordnung ist.“ Was man aber miteinander macht ist, die Wiederherstellungsarbeit zu verwalten. Die soll der verletzte Körper aus sich selbst heraus schaffen. In vollem Bewusstsein dafür, dass andere Körper erreichbar sind, wenn sie denn erreicht werden können. Mit den richtigen Worten, zur richtigen Zeit, der richtigen Ressourcenlage. Man kann also die Fürsorge bekommen, die man braucht – aber nicht sicher und schon gar nicht bedingungslos.

Vor allem nicht als autistische Person.
Meine autistische Isolation begann schon 2 Minuten nach der Realisation, dass ich gerade von etwas verletzt wurde. Nämlich in dem Moment, in dem mir klar wurde, dass ich jetzt etwas tun musste, das ich noch nie getan hatte. Ich war noch nie in der Situation. Ich habe noch nie gefühlt, gedacht, gemacht, was in dem Moment alles da war. In dieser Konstellation. Der Partner im Krankenhaus, ich alleine mit den Hunden, auf dem Land, zig Kilometer von allen entfernt, zu denen mir der Kontakt nicht so schwerfällt. Ich hatte kein Skript dafür. Und das einzige Skript, das mir einfiel, wurde quasi sofort niedergeschlagen. Und als ich es dann doch anbahnen konnte, nicht erfolgreich im Sinne von wie erwartet, erwünscht und erhofft, abarbeiten. Was zu einer ganzen Reihe von Unklarheiten führt, die meine Rolle in der Situation, meine Pflichten, meine Verantwortungen betreffen und dem nicht-autistischen Außen jetzt mühsam vermittelt werden müssen. Ohne in Gänze geklärt werden zu können.
Es bleibt gewissermaßen ein offener Topf, eine unfertige Sache, wie das unfertig abgearbeitete Skript. Für mich ist auch das ein Stück „offene Wunde“. Denn ich weiß, dass ich mit bestimmten offenen Stellen immer übrig bleibe. Dass ich damit allein klarkommen muss, obwohl ich nicht kann. Und in Bezug auf manche Aspekte auch nicht will.

Die oft fast romantisierte autistische Isolation ist die spezielle Hölle des Minderheitenstresses. Der sich in traumatischen Situationen vervielfacht. Zum Erleben der traumatischen Situation selbst kommt die stets potenziell traumatisierende Interaktion und Kommunikation mit nicht-autistischen Menschen, die ohnehin schon tendenziell nicht erkennen können, was für Bedarfe bestehen. Auch deshalb habe ich in der Situation „erwachsen“ gehandelt. Und nicht „ich (in einer überfordernden Situation, die Unterstützung von Außen nötig macht)“. Ich brauchte die größtmögliche Annäherung an die Erwartungen und Lesbarkeiten der nicht-autistischen Umwelt. Und wie schon im Supermarkt, bei der Arbeit, beim Hobby, im Ehrenamt habe ich also umgeschaltet. Ich habe mich rausgeschnitten. Dissoziiert und in mir selbst isoliert. Nur krasser. Dringlicher. Todes_Ängstlicher. Kontakt_Unterstützungs_Hilfe_Bedürftiger.

Ich habe mich zurückgezogen in den letzten Wochen. Obwohl ich im Kontakt mit anderen Menschen war. Gearbeitet habe. Spaß hatte. Kurzkettenproduktiv war. Mich auf eine Reihe gekriegt habe. Nämlich die, in der diese Erfahrung keine Rolle spielt. Nichts weiter bedeutet. Und auch nichts weiter bedeuten muss, denn so leben wir ja schließlich alle irgendwie – weshalb es für mich gerade auch Kongruenz herstellt. Obwohl es mir überhaupt nicht guttut. Und auch nicht richtig ist. Es ist nur normal.

Schmerzfamilie

Ich habe mir einen Vortrag zum Zusammenhang von Schmerz und Trauma im Kontext von Traumafolgen angesehen.*
Neben mehr Ansätzen zur Erklärung meiner Schmerzen ging ich mit dem neuen Wort „Schmerzfamilien“. Damit sind Familien gemeint, in denen Schmerzen das einzige oder das effektivste Mittel der Kommunikation sind. Statt Dinge auszusprechen, haben einzelne oder auch alle Familienmitglieder unterschiedlich gelagerte Schmerzproblematiken und entwickeln mehr oder weniger effektive Strategien des Umgangs und der Ver_Bindung.

Ein jugendliches Innen reagierte auf meine Erklärung des Wortes: „Dann war meine Familie voll die Unschmerzfamilie, haha.“ Eine kleine Erinnerungsblase öffnete sich erneut für mich, etwas erweitert durch die Verbindung zu der Jugendlichen. Meine Mutter, wie sie sich vor Schmerzen in der Küche krümmt. Die Hände um den Bauch, schwer atmend, über ihr stechend brizzelndes Essen in der Pfanne. Ihr Kopf ohne Gesicht, die Anspannung im Raum, Zeitlupe und Lichtgeschwindigkeit. Das Innen im Heute neben mir sagt: „Sieht aus wie in „Alien“, ne?“
Ich gehe weiter. Sehe, wie die Mutter sich aufrichtet, wegdreht, die Pfanne schüttelt. Mich, die_r immer noch starr im Türrahmen steht, zur Seite schiebt und meinen Schmerz der Berührung genauso ignoriert wie ihren eigenen keine fünf Minuten vorher. Da ist die Verbindung zum Innen schon wieder weg.

Im Nachdenken über meine Schmerzwahrnehmung und Einordnung tauchten weitere Blasen auf. Wie ich in meinen Führerschein von der Legoland-Fahrschule unter „Überempfindlichkeiten“ „Schmerz (Weh-Wehchen)“ schreibe und es absolut ernst meine.
Wie stolz ich bin, meine Selbstverletzung zu schaffen, um mich anschließend mit Grund zu verbinden. Mit wie viel, ja, euphorischer Freude ich mich gegen Wände werfe, meinen Kopf anschlage, mich vom höchsten Punkt des Klettergerüsts fallen lasse, weil es sich so gut, so körperhaft – und eben nicht schmerzhaft – anfühlt. Obwohl ich doch so überempfindlich bin. Wenn mich jemand ganz ~“normal“~ berührt, einfach mal anspricht, ich mich an- oder ausziehe, wasche oder die Kleidung wechsle.

Was ich nach dem Vortrag denke ist, dass mein Körper einerseits gelernt hat, dass es von Vorteil ist, so schnell wie möglich zu erfahren, wann es potenziell gefährlich für ihn wird. Er ist sehr sensibilisiert und leitet alles schneller weiter, um entsprechend schneller in die Selbstschutzkaskade gehen zu können.
Andererseits kann mein Körper auch nur mit dem Input umgehen, der bei ihm als Schmerz ankommt bzw. von ihm als Schmerz erkannt wird. Entsprechend begreife ich einfach nur selten und wenn dann stark verzögert Verspannungsschmerzen oder so Dinge wie schmerzende, weil entzündete Organe. Aber lande praktisch sofort in – ich weiß, dass das übertrieben klingt, aber so ist es für mich – schlimmen Schmerzzuständen, wenn es sensorische Ausreißer in der üblichen Alltagskakophonie gibt. Ich also unerwartet angefasst oder angesprochen oder mit lauten Geräuschen (Sirenen, Klingeln, z. T. das Tuten beim Telefonieren) konfrontiert werde.

Irgendwie bin ich sowohl überempfindlich als auch unterempfindlich. Schon im Normalzustand. Kommt Stress dazu, verstärkt sich alles und löst dissoziative Mechanismen aus. Und wird unterscheidbar. Für mich jedenfalls. Ertauben, betäubt sein, ist sehr anders für mich als unempfindlich sein. Dissoziation verändert die Wahrnehmung, die man üblicherweise hat.
Ich habe gelernt, dass meine Wahrnehmung nicht richtig ist. Und ich kann an dieser Stelle nicht sagen: „Weil die Täter_innen das so wollten.“ Ich will es auch nicht. Denn viel häufiger war ich in meinem Leben mit einer ganz normalen, ganz alltagsgewaltvollen Abwehr meiner Empfindlichkeiten konfrontiert. Ganz üblich hat mir die Schulglocke den Schädel zersägt. Voll normal haben mir die Sockennähte die Zehen aufgeschnitten. Easypeasy mit Lächeln im Steingesicht habe ich mich jahrelang durch Händeschütteln, Freundschaftsumarmungen und mein ganz eigenes Desensibilisierungstraining gequält. Immer mit dem Gedanken: Irgendwann werde ich mich daran gewöhnen, dass es sich anfühlt, als würde meine Haut aufreißen. Weil ich nicht wusste, weil niemand in meinem Leben wusste, dass es bei den meisten Menschen anders ist als bei mir.

Bisschen paradox vielleicht – ich wollte gerade schreiben, dass die Gewalt an mir eigentlich immer eher die dankenswerte Ausnahme-Schmerzerfahrung war. Weil der Schmerz in diesen Situationen von allen Beteiligten erwartet war. Aber naja, „dankenswert“, hm. Das macht es irgendwie noch trauriger und schlimmer alles. Hm, hm, hm.

Jedenfalls.
Ich gehe auch mit dem Gefühl aus dem Vortrag, dass ich mit dem Schwimmen als Ausgleich und den Radtouren im Sommer tue, was sich therapeutisch an der Front anbietet. Defokussierung üben, andere Körpergefühle kennenlernen, die Schmerzerwartung aktiv reflektieren und beobachten, was passiert. Sich immer wieder darin verwurzeln, dass jetzt darauf reagiert wird und gut tuende Umgänge probiert werden können. Heute darf es sich auch gut anfühlen – es gibt einen Raum über „Schmerz“ und „Geht“ hinaus. Wir können ihn erforschen.
Und verteidigen. Gegen die Schmerzerwartungen anderer Menschen.

* der Vortrag wurde vom THZ München angeboten und ist Teil eines kontinuierlichen Angebotes – reinschauen lohnt!

spazieren

Ein Schritt, ein Schritt, ein Schritt.

Über mir knarzen Bäume aneinander, sie wiegen sich wie hohes Gras im Wind. Die Kälte zieht in meine Kleidung, es ist neblig. Die Hunde laufen unsichtbare Pfade ab, atmen Boden und Gras ein.
Zufällig hatte ich an den Geburtstag eines meiner Geschwister gedacht. Überlegt, wie dieser Mensch, der in mir nie älter als 14 wurde, heute wohl ist. In den Dreißigern. Nach so viel Leben, so vielen Erfahrungen. Das übliche Ende dieser Überlegungen legte sich über meine Gefühle wie zähes Gummi. Ich weiß gar nichts. Alles ist möglich. Vielleicht dies, vielleicht das, wir wissen es nicht und werden es mit großer Wahrscheinlichkeit nie erfahren. Schade. Gut. Richtig. Immer.

Vor uns schlägt sich etwas durch den Forst. Bubi stellt seine Ohren zu kleinen, im Rhythmus seines Pulses vibrierenden Dächern auf, NakNak* kann nichts mehr hören. Sie steht neben mir und fragt, ob wir nicht vielleicht langsam nach Hause gehen können. Wir waren gerade bei der Tierärztin. Eine Rückversicherung abholen. Die Hundefriseurin hatte mich tief beunruhigt. Zweifeln lassen, ob wir NakNak* die richtige Behandlung zukommen lassen. Also bat ich um einen Termin. 5 Minuten – eine Frage. Die Ärztin gab mir 25 Minuten und NakNak* eine gezielte Untersuchung. Versteckt mit Streicheln, Lob und Pansenkeksen fand sie nur ihr Alter. Ihre bald 15 Jahre und den Muskelabbau, der einfach passiert. Sie freute sich über einen so alten, so schönen Hund, ich freute mich über ihre Freude.

Ihr Tod hätte mir jetzt nicht gepasst. Ganz davon abgesehen, dass ich prinzipiell nicht damit einverstanden bin, dass das Leben meiner warmen Flauschmotte endlich ist, habe ich im Moment keine freie Zeit. Ich arbeite viel für die Arbeit und dann für mein Hobby und dann ist es dunkel draußen und ich arbeite gegen Erinnerungen. Mein typisches Novemberproblem vermischt mit anderen Bildern. Manchmal denke ich, es sei alles Eins, weil ich der eine Körper bin, dem es passierte und manchmal noch finde ich doch wieder mehr Ruhe in der Leugnung dessen.

Ein Schritt, ein Schritt, ein Schritt.

flight

Später denke ich kurz, dass ich wie ein Kleinkind funktioniere. Irgendetwas ist schwierig, aber wenn sich mir etwas Neues zeigt, dann fühle ich mich gut. Ich sinke in diese neue Sache ein und weil ich Dinge richtig fertig haben muss, bevor ich sie beende, werden es immer mehr Dinge in meinem Leben. Und irgendwann sind „die Feiertage“ während denen die meisten meiner losen und engeren Kontakte halb oder ganz abgeschmiert sind, sich ausruhen oder in der Familie gegenseitig auf den Keks gehen und ich … arbeite. Weiter. An einem der vielen Dinge in meinem Leben.

Ich bin nicht taub für das, was in mir vorgeht. Das ist keine Betäubungsstrategie oder ein un.bewusst ausgenutzter Trigger für Alltagsdissoziation. Es geht einfach. Also mach ichs. Mit allem Spaß, allem Interesse, aller Neugier und Freude. Aller Bereicherung und Selbstbestimmung, die man sich wünschen kann. Einfach so. Immer weiter und weiter.

Gestern war ich dann endlich mit der Überarbeitung von vielesein.de fertig. Die war nötig geworden, weil meine Projekte endlich mal einen Knotenpunkt brauchten. Die Community-Workshops, die „Vielzimmerwohnung“, „Viele-Sein“ und die Interviewreihe „Viele Leben“ – mit allen Spendenoptionen und Episoden einzeln und trallalala.
Und weil ich ernst machen will. Mit meiner Positionierung als arbeitend in diesen Projekten. Auch tragend arbeitend. Relevant, in echt und tatsächlich verantwortlich für den ganzen Bumms, arbeitend. Vor meiner Arbeitszeit im Verlag und danach. Am Wochenende. Im Urlaub. Immer, wenn es geht. Wenn andere Projekte gerade keine Arbeit von mir brauchen.
Daraus ist in den letzten Monaten oft ein Obwohl geworden. Ich habe an diesen Projekten gearbeitet, obwohl ich auch zusätzlich Geld verdienen musste, um die Lektorin für mein Buch bezahlen zu können. Obwohl ich auch mein Cover, meine Werbetexte und die Anträge für Projektzuschüsse fertigkriegen musste. Das kam dann einfach danach. Mit Stressmagenschmerzen, mit Kopfschmerzen, mit nachlassender Kraft dafür, im Kontakt mit anderen Menschen auf ihre Gefühle zu achten, ihre Perspektive anzunehmen, nach ihren Wünschen zu fragen und zu prüfen, ob ich sie erfüllen kann, ohne meine Grenzen zu übergehen.

Ich hatte meinem Partner davon erzählt, dass mir Projekte gegen die Angst helfen. Immer wenn sich etwas auftut, das schwierig ist, ist es gut für mich schnell lösbare Probleme zu bearbeiten. Das verschafft mir Zeit und Selbstbewusstsein für das Problem, das mir Angst gemacht hat und oft löst es sich auch ohne mich. Nur offensiv abgrenzen musste ich mich dann nicht. Aufdecken, dass mir etwas Angst macht und damit andere verunsichern. Andere, die sich auf mich verlassen. Die darauf setzen, dass ich den Überblick habe, dass ich weiß, was zu tun ist, dass ich weiß, wann wirklich Grund zur Sorge, Furcht, Angst, Panik ist.
Niemand erfährt überhaupt davon, dass ich das alles – alles das hier, wie in meinem analogen Leben – mit so viel Angst mache und meine gesamte Funktionalität darauf beruht, dass ich, Hannah, einfach keinen „Freezemodus“ habe, sondern einen „Flightmodus“. Kein depressives Erstarren und alles aufschieben, sondern adrenalingetriebenes Machen und Verbrennen.
Das hat nichts mit „funktionalem Vielesein“ zu tun oder damit, dass meine Therapie mich schon so weit gebracht hat, dass ich jetzt endlich mehr kann als leiden oder dissen. Es hat nur mit Angst zu tun, die ich in ihrem Kern nach wie vor nicht erfasst kriege. Nicht verstehe, ja oft noch nicht einmal direkt bemerke, weil ich mich schneller vor dem Gefühl schütze, als ich es überhaupt begreife.
Im Scherz mit dem Partner entstand ein Kreisel. „Aha und was machst du, wenn dir das Angst macht?“ – „Dann arbeite ich an X“ – „Und wenn das schwer wird?“ – „Dann y.“ – „Aha und das reicht?“ – „Nein“ – „Und dann machst du was?“ – „Dann z.“ – „Ach nee komm, das kann doch nicht sein.“ – „Ja, deswegen mache ich ja dann a.“
Dann sagte er, dass ich bald damit aufhören muss. Ich stimmte zu.

Ohne eine Idee, was ich denn stattdessen tun würde.
Heute versuche ich es mal mit ein paar Stunden Sims. Und morgen auch.

weites Feld

„Stressmagen“ Das Wort poltert in meinem Kopfmund herum, als ich die Praxis meiner Hausärztin verlasse. Ich habe schon wieder eine Magenschleimhautentzündung, der Stress ist schuld. Und das Ibuprofen, obwohl ich es gar nicht mehr täglich und auch schon lange nicht mehr chronisch überdosiert nehme.
Mein Schmerzproblem bleibt. „Das ist ein weites Feld“, sagt meine Hausärztin, „Das ist zu unkonkret“ mein Partner. Das stresst mich, denn es fühlt sich an, als läge dieses weite, unkonkrete Feld zwischen uns. Als müsse ich akzeptieren, dass es ist, wie es ist und nie anders sein wird.

Seit einem halben Jahr habe ich die Webseite einer Schmerzambulanz in den Lesezeichen meines Browsers und genauso lange demotiviere ich mich selbst, mich dort vorzustellen.
Sehr viele Gewaltopfer leben mit chronischen Schmerzen; sehr viele Menschen mit Uterus durchleben die zyklischen hormonellen Veränderungen in ihrem Körper mit Schmerzphänomen; Stress ist ein Gift, dem viel zu viele Menschen jeden Tag über lange Zeit ihres Lebens ausgesetzt werden – m.eine (Er.)Lösung zu finden, wird sich in einem Aufwendigkeitsbereich bewegen, der nicht zu rechtfertigen ist. Ich bin in Traumatherapie, möchte meine Möglichkeiten Kinder zu gebären nicht verlieren und lebe nicht in einer Welt, in der ich irgendetwas ohne Stress machen kann.

Am nächsten Tag ziehe ich meine Bahnen im neuen Schwimmbad. Mein Magen tut weh, meine Oberschenkelknochen, meine Hüften, der untere Rücken tun weh, meine Muskulatur fühlt sich an, als versuche sie, sich von meiner Wirbelsäule abzulösen. Ich kämpfe mich ins High, werde warm und könnte heulen vor Selbstmitleid. Was ist das für eine beschissene Gesamtscheiße. Warum bin ich immer noch so trapped in Schmerz. Warum hört es nicht endlich auf.
Nach einer Stunde ist mir egal, dass mir alles weh tut. Alles ist wattiert, summt, ist lebendig und beweglich. Ich trinke einen Kaffee im Auto und höre dem frühen Vogelzwitschern zu. Mein Tag ist wieder ziemlich voll. Mit schönem, gewollten, mit sehr frei gewählten Projekten und Arbeiten. Lieben Kontakten, spannenden Themen, schaffbaren Aufgaben. Und keine 2 Millimeter dahinter eine grenzenlose Qual, die so diffus ist, so unkonkret, so viel NICHTS.

Jetzt versuchen wir ein anderes Schmerzmittel. Eine am Tag, immer um 10.
Es kommt mir vor, als würde ich eine Lüge schlucken, weil mir klar ist, dass mein Schmerz auch etwas mit Erinnerung zu tun hat. Aber wie genau, weiß ich nicht.
Auch das ist ein weites Feld.

’stuck in time‘

Zuletzt hatten wir es mit Innens zu tun, die an Dinge glauben, die nicht real sind. Das schreibe ich so, weil ich nicht „Blödsinn“, „Lügen“ oder „Traumawahrheiten“ sagen will, denn weder weiß ich näheres über ihre Ansichten noch bin ich mir schlüssig darüber, worum es dabei ~wirklich~ /eigentlich/ in WAHRheit geht.
Ich bin mir nur in einem sehr sicher, nämlich, dass sie deshalb irgendwie falsch sind. Besonders gefährlich vielleicht. Besonders böse. Besonders schlecht. Und peinlich. Doch gerade habe ich mir das neuste Video der CAT Clinic auf YouTube angesehen. „When alters (in OSDD and DID) are ’stuck in time‘
Vielleicht bin ich selber stuck in time, wenn es um Innens wie diese geht, dachte ich. Und ehrlich gesagt halte ich es sogar für sehr wahrscheinlich, je länger ich jetzt darüber nachdenke.

Erzählungen wie die in dem Video oder auch in manchen Fachbüchern produzieren den Eindruck, dass Innens sich für oder gegen die Realität entscheiden, weil sie sich nicht sicher fühlen. Sie misstrauen dem Neuen und halten deshalb lieber am Alten fest. Sie brauchen das Gefühl des Willkommenseins, der Akzeptanz und man sollte sie liebevoll in der Gegenwart aufnehmen.
Schon bei der Aufzählung habe ich den Wunsch, ein Kotzgeräusch zu machen. Nicht, weil ich die Vorstellung irgendwie kitschig oder romantisch verklärt finde (das auch, aber das würde mich nicht so in die Abwehr bringen) – sondern irgendwie auch voll colonizer style. Invasiv. Übergriffig. Als müsste ich in einem Panzer voller Liebesbomben sitzen und nur gut genug zielen, dann würde schon alles klar gehen.

Ich habe generell ein Problem damit, wie häufig über Kinderinnens oder auch jugendliche Innens gesprochen und gedacht wird, weil sie oft als niedlichere Personifikation des traumatisierten Opfers verhandelt werden oder als unberührte Unschuld, reinweiß und shiny in jemandem, die_r das ganze Leben durch den Dreck geschliffen wurde und nach Blutschweiß stinkt. Obendrauf kommt dann oft noch ebenjener Anspruch, sie in ihrer Perspektive doch bitte anzufassen zu verändern, weil wegen Realität und Gegenwart und isso, musso, iswichtigweildeshalbso.

Ich bin an diesem Anspruch gescheitert. Immer wieder. Das war meine, damals unsere, Existenz. Ich sitze vor einer Therapeutin, die vermittelt mir: „Da ist jemand, der_m wurde etwas eingeredet/die_r weiß nicht, dass es heute vorbei ist/die_r denkt, wir hätten 19 hundertxundneunzig – jetzt mach mal. Mach anders.“ Und alles, was ich machen konnte – like actual Können, war wegmachen. Unsichtbar. Klappe zu, Auslöser für den Wechsel zu diesen Innens vermeiden. Von einem Innen, das gut sprechen kann, zu einem System von Innens werden, das die Gegenwart kennt, vom eigenen Vielesein weiß, aber die Bedeutung dessen überhaupt nicht in sich bewegen kann, weil es immer wieder scheitert und scheitert und diese Wiederholung gut 9 Jahre durchlebt, bis es sich traut zu sagen, dass es immer wieder scheitert, weil es anders nicht funktionieren kann als vermeidend.
Daran habe ich in den letzten Jahren gearbeitet. Innerhalb meines Funktionssystems erfolgreich – vielleicht vermutlich sehr wahrscheinlich, weil ich darin niemanden groß in die Gegenwart lieben musste – außerhalb dessen, mit Basiserfolgen. Es macht mir keine Todesangst mehr Kinderinnens oder Jugendliche überhaupt irgendwie wahrzunehmen und es ist auch seit Jahren nicht mehr das schlimmste, was mir in der Therapie passieren kann, wenn jemand von ihnen dort auftaucht. Es ist weiterhin schlimm und ich darf nicht zu viel darüber nachdenken, aber ich klappe nicht mehr komplett in mir selbst zusammen und kann begreifen, was meine Therapeutin mir sagt, wenn sie sagt, dass es okay ist, wenn andere als ich mit ihr sprechen. Ich weiß, dass das in Anbetracht der Therapiedauer eigentlich erbärmlich ist, aber wenn ich mich selbst als Innen denke, das „in der Zeit stecken geblieben ist“, dann kann ich anerkennen, dass es schneller einfach gar nie hat gehen können.

In all den Fallgeschichten von Vielen sind gescheiterte bis traumatisierende Therapieversuche, misslungene Behandlungen oder grob schlecht behandelte Patient_innen nie Thema. Nur selten wird aufgearbeitet, warum Therapieansatz X für Patientengruppe A bis D konkret nicht funktioniert hat und soweit ich weiß, hat es noch nie eine Studie dazu gegeben, welche Auswirkungen schlechte, falsche, traumatisierende Psychotherapie in Menschen mit DIS hat.
Restpatient_innen wie mich gibt es in der Literatur nicht. Erst wieder als Patient_innengruppe für Behandlungsform/verfahren XY, die genau so definiert ist, dass unsere Vorbehandlung und ihre Folgen weder abgefragt noch sonstwie zu relevanten Markern werden. Die Praktizierenden der Traumatherapie befassen sich einfach nicht mit ihren Opfern Fehlern und das hat Auswirkungen auf sehr vielen Ebenen.

Manche davon habe in diesem Blog schon oft angerissen und ich will das jetzt nicht alles wiederholen, vor allem, weil ich in diesem Text einen anderen Punkt ausdrücken will. Nämlich, dass mir durch die Rahmung von außen immer vermittelt wurde, ich wäre orientiert. Ich wäre der funktionale Anteil. Die_r Erwachsene. Die_r Fähige. In vielen Punkten stimmt das – in manchen jedoch überhaupt nicht und das geht immer wieder unter. Besonders dann nämlich, wenn wir an Punkte kommen, die mein Entstehungstrauma berühren: Die Konfrontation von „verwirrten“/“unfähigen“/“hilflosen“/von mir nicht gezielt ansteuerbaren Innens im Kontext der Traumatherapie.
An diesen Stellen bin ich einfach nicht fähig. Da bin ich 16 Jahre alt und verstehe nicht im Ansatz, was die Erwachsenen um mich herum von mir zu kapieren verlangen – Vielesein, Dissoziation, Du erinnerst dich nicht, aber…, Wir helfen dir mit Fixierung und Betäubung, Du bist hier sicher, eingesperrt in einer Psychiatriestation – und bin so abgrundtief verloren in dem Auftrag etwas zu „reorientieren“, ohne zu wissen, wohin diese Re_Orientierung gehen soll; zu lieben, als etwas von mir willkommen zu heißen, obwohl (und weil) es doch irgendwie dafür verantwortlich ist, dass ich keine Familie, kein Zuhause, keine Gegenwart außerhalb der Psychiatrie mehr habe und deshalb erst recht keine Zukunft.

Und wie ist es jetzt. Meine Therapeutin fordert mich seit Jahren immer wieder dazu auf, zu differenzieren. Ich soll einen Unterschied erkennen zwischen damals und heute, als würde diese Erkenntnis etwas mit mir machen. Das passiert aber nicht. Ich sehe den Unterschied. Bin informiert. Bin orientiert. Aber Kenntnis allein bedeutet nicht auch Befähigung. Bedeutet nicht auch Ermächtigung.
Mal abgesehen davon hat es oft auch einen Anteil von Bagatellisierung dessen, was mich traumatisiert hat. Es ist immer auch eine Art drüberwischen und manchmal auch der Anspruch an mich etwas zu abstrahieren, was ich ohne Unterstützung nicht zu abstrahieren schaffe. Dieser Aspekt wurde im Video auch angesprochen und das hat mir ermöglicht, mich als „feststeckend“ zu überlegen, obwohl ich kein „Kind im Trauma“ bin. Kein_e „Jugendliche_r im Körper eines Erwachsenen“. Kein „von Täter_innen produzierter Anteil, der nicht wissen darf, dass alles vorbei ist“ oder jemand aus irgendeiner anderen Kategorie, die immer wieder benannt wird, um traumareaktives oder -antizipatives Verhalten zu rahmen.
Ich bin ein von schlechter Traumatherapie gemachter Anteil, der in Traumatherapie ist. Für mich kommt niemand aus dem System und betüddelt mich mit Gegenwartszucker, da bin nur ich. Und meine Therapeutin.

Ich spüre vor allem Druck, ihr doch endlich zu vertrauen. Druck, doch endlich zu glauben, dass heute alles anders ist, obwohl sich außer die Repräsentation (nämlich die Person, die therapeutisch mit mir arbeitet) überhaupt gar nichts von dem verändert hat, was mich damals in diese Lage brachte. Nichts und niemand außer mir schützt mich seit 20 Jahren davor wieder für Jahre in einer Psychiatrie eingesperrt zu sein, weil mein Inneres für zu desorientiert, desinformiert, w.irr, krank gehalten wird, um so gelassen zu werden wie es ist.
Und niemals steht das als Frage im Raum. Ob sie tatsächlich desorientiert sind oder sich anders orientieren als erwartet. Ob ich sie vielleicht erstmal kennen.lernen darf, bevor ich irgendwas an ihnen mache oder ihnen irgendwas einrede, was ich in seiner Bedeutung und Auswirkung für sie überhaupt nicht einschätzen kann. Geschweige denn, ob die das überhaupt wollen.

Ich kann sehen, dass mein Misstrauen alt ist. Ich kann sehen, dass es im Hinblick auf das Verhalten meiner Therapeutin nur ein Mal berechtigt war. Aber wie da raus, wenn die Gegenwart des Heute, der Gegenwart von damals so ähnelt? Wir leben nicht in einer Gesellschaft, in der Ver.rückte einfach sein dürfen. Wo Zwangseinweisung und -behandlung als (traumatisierende) Gewaltverbrechen verstanden werden. Ich habe keinen Grund, keine Angst zu haben. Keine Sicherheiten, die mir nicht genommen werden können.
Ich treffe hier keine aktive Entscheidung gegen die Gegenwart oder die Realität.
Es ist die Gegenwart, die Realität, die mich an diesem einen Punkt „stuck in time“ hält.

Sometimes you have to do things scared

Es ist 5 Uhr, mein Wecker klingelt. Heute fahre ich zur anderen Schwimmhalle. 8 Kilometer mehr, 30 Kilometer weniger, die ich allein auf überwiegend landwirtschaftlich genutzten Straßen fahre.
Kaffee, Sportfrühstück, letzter Check des Rucksacks und los. Es regnet, ist so dunkel, dass ich zum ersten Mal vorsichtig zum Auto tapse.

Das Schwimmen gibt mir viel Kraft, sonst würde ich das hier nicht auf mich nehmen. 30 Minuten weniger Schlaf, weniger Sicherheit über die Reichweite des Autoakkus, einen neuen Ort so ganz allein erforschen. „Sometimes you have to do things scared“ – wahrscheinlich eine völlig bescheuerte Instagramwahrheit, aber treffend ist sie. Ja, manchmal, oft, vielleicht in Wahrheit immer muss man Dinge tun, während man Angst hat. Nicht obwohl und auch nicht weil, sondern mit.
Also fahre ich los und schon 10 Minuten später kommt mir jemand entgegen, der sein Fernlicht nicht ausschaltet. Der erste Flashback. Ich zwänge mich darunter, um den rechten Seitenstreifen nicht aus den Augen zu verlieren, während ich den Rest meines Körpers starr halte, um das Auto nicht aus der Spur zu bringen, nur weil ich es bin. Es dauert bis es vorbei ist. Der Krampf im Zwerchfell, der saure Geschmack unter der Zunge, der Druck über den Augen. Die Angst, die Dinge, die sich mir mental aufdrängen, könnten Bilder, könnten geistige Fotografien der Realität sein, mischt sich in meine Fahrangst.

Noch fahre ich auf bekanntem Terrain, neu ist hier nur die Nachtansicht. Ich halte an, lasse vor, halte mich rechts, lasse sie alle ziehen. Bitte fahrt von mir weg, denke ich. Lasst mich hier langkrebseln, ich will nur Abstand von euch. Jemand in mir fängt an, aus dem Satz einen Songfetzen zu reimen, wie es der Partner oft tut. Mit ausladender Helene Fischer-Geste trällert es: „Ich will nichts außer Abstand zu dir my daaaaaarling …“
Das ist lustig. Hilft.

In der nächsten halben Stunde werde ich noch zweimal geblendet und dreimal gefährlich überholt. Ein Mal fährt mir jemand in einer 30er-Zone fast vorne rein, weil sie_r dachte, man könne die scharfe Doppelkurve durch die Ortschaft schneiden. Der Abstand-Schlager in meinem Kopf ist ein Rap geworden und wird von wüsten Gesten begleitet. Meine Erwartungen an die Schwimmhalle steigen. War es mir vorhin noch egal, wie sie ausgestattet und finanzierbar ist, so will ich jetzt mindestens eine halbe Bahn für mich allein und einen Ticketpreis unter 4 €. Meine Angstüberwindung soll sich lohnen, ich bin zu einem Psychokapitalisten geworden. Ohne Gewinnaussicht keine Bereitschaft zur Angstaushaltung – no gain, no service. Ob ich langfristig damit durchkomme?

Ich denke an die Therapie und daran, dass ich in nächster Zeit, in Wahrheit schon morgen, etwas in Angst tun muss. Und dass ich differenzieren muss. Hier auf der Straße kann mir meine Angst das Leben retten – in der Therapie jedoch das Leben kosten, das ich führen könnte, wenn ich bearbeitet habe, was dafür nötig ist.
Meine Angst im Straßenverkehr ist oft Todesangst. In der Therapie habe ich es mit Angst zu tun, die mich vor Todesangst schützt. Vordergründig habe ich Angst, angsteinflößend zu sein. Angst, die Kontrolle zu verlieren. Angst vor Entblößung. Angst vor Un- oder Missverständnissen. Angst vor mir. Angst vor einer Angst der Therapeutin zu schaden. Angst vor Flashbacks, vor Panikgefühlen, vor Angst. Vor der Auflösung von Zeit und Raum, die mich schluckt und vielleicht nie wieder ausspuckt.
Ich weiß, dass das alles Todesängste sind. Weiß, dass ich meine Therapie nie ohne Angst gemacht habe und sich das vielleicht auch nie ganz ändert. Aber ich erlebe sie oft als Grundlage, selten als Zusatz. Mir ist selten wirklich bewusst, dass ich aus Angst die Konfrontation mit meinen Traumata vermeide, Gedanken verschweige, Themen unterschlage, Richtigstellungen aufschiebe – es ist einfach so viel leichter auf der Oberfläche der Psychologisierung zu bleiben und es „Vermeidung“ zu nennen. Eine extrem funktionale Komfortwahrheit ist das. Sich selbst des Vermeidens für schuldig erklären, um nicht in aller Angst erkannt zu werden, die so viel tiefgreifender, wortloser, ohnmächtig machend wirkt.

„let’s talk about Abstand baby – let talk about your abstand to me – let’s talk about you need an MPU …“ Ich stelle das Auto auf dem Parkplatz ab und atme durch. 10 Minuten zu früh, der Regen hat nicht aufgehört. Kurzer Infoschnack mit den Frühschwimmer_innen und schon geht es weiter. Die Halle enttäuscht mich, aber das war ja klar. Es ist voll, viel enger als in der anderen. Die Dusche ist scheiße, aber die Schränke sind größer. Ich kaufe mir viel Schwimmzeit, um mich zur Wiederkehr zu zwingen. Der Winter wird lang, der Stress nicht weniger.
Auf dem Nachhauseweg ist mein Körper weich und warm, ich fühle mich stark und fähig. Jetzt kann ich things auch scared machen, diesmal ist die Rechnung aufgegangen.

alle sind immer genug

Es berührte mich mit Verspätung und unerwartet. Unerwartet, weil ich dachte, schon alles erfasst, verstanden und ins Außen gebracht zu haben. Aber vielleicht auch nicht? Ich kann mich nicht darauf verlassen und das ist ein Trigger. So offensichtlich wie ein 500 Kilo-Findling auf englischem Rasen. Jetzt.

*

Ich bin sehr froh darum, mit meiner Therapeutin sprechen zu können und einen Raum zu haben, in dem ich von Dingen befreit bin, wie „DIE Wahrheit“, „den Leuten“ oder „DER Normalität“. Ich vergesse manchmal, dass das nicht bedeutet, auch einen Raum zu haben, in dem ich nicht ganz genau darauf achten muss, was wie verstanden wird. In dem ich nicht einfach annehmen kann, dass ich in allen Selbstzuständen schon richtig verstanden werde. Ohne nochmal zu prüfen. Nochmal zu fragen. Und dann nochmal, weil es einfach nicht so einfach ist, sondern viel, komplex, alles.

Manchmal denke ich, dass sie mir in allem voraus ist, weil sie viel schneller als ich versteht oder einfach weiß?, welche Gefühle mit Geteiltem einhergehen. Dann aber gibt es diese Momente, in denen ich merke: Das sind oft Annahmen. Annahmen, die ebenfalls oft passen und wichtig sind und eigentlich ist alles gut damit, aber … es sind Glückstreffer. Glück für mich, weil ich so über die Therapeutin in Kontakt mit mir komme, aber sollte das nicht mehr sein?
Vielleicht nicht. Ich habe für mein Buch so viele Studien zur Kommunikation zwischen autistischen und nicht-autistischen Menschen gelesen, dass ich fast sagen würde: Jo, das ist typisch. Der Großteil der nicht-autistischen Kommunikation fußt auf routiniert getroffenen Annahmen über mehr oder weniger diffuse Reize. Glück ist darin nur, dass es mehr nicht-autistische als autistische Menschen gibt, die miteinander kommunizieren. So fällt es nicht auf. Und wenn doch, kann es jedem passieren. Nicht schlimm. Bis sich herausstellt, dass man (sich) als nicht-autistischer Mensch mit dem autistischen Gegenüber einfach sehr sehr oft nicht (richtig) versteht. Dann wirds anstrengend. Oft zu anstrengend.

Da ist die Gefahr von routinemäßigem Erfolg. Die Gewohnheit, immer richtigzuliegen. Das Sicherheitsgefühl. Die Überzeugung: „Ich weiß schon Bescheid, hier Checkbox 1 bis 5 passt, es kann nur Tor 3 sein, ein Zonk ist nicht dahinter zu erwarten.“ Aber dann ist da einer. Und es ist nicht einfach nur ein Irrtum oder ein Missverständnis, das man einfach ausräumen kann, indem man etwas auf andere Art formuliert oder strukturiert, sondern etwas, das aufzeigt, dass Checkbox 1, 3 und 4 doch nicht passen. Dass es nicht nur um ein Missverständnis geht, sondern um vier.
Ich weiß nicht, wie das für meine Therapeutin ist. Ich hoffe, dass sie Umgänge damit gefunden hat, die sie nicht entmutigen, frustrieren oder an sich selbst anzweifeln lassen. Hoffe einfach ins Tiefblaue hinein, dass sie nicht glaubt, ich könne ihr (ableistisch-) eigentlich besser helfen zu verstehen oder „in Wahrheit“ ja doch alles einfach aufklären.
Das ist nämlich meine Angst. Dass sie meine Fähigkeiten zur Auflösung ihrer Frustration oder Anstrengung in solchen Missverständnissen braucht, um dranzubleiben, aber ich kann sie nicht geben, weil ich wirklich und echt und tatsächlich – like profoundly, bottomline of all – nicht kann. Weder als Hannah, erwachsen, alltagsfähig und voller Bemühen um funktionierende Kommunikation mit dem Außen – noch in kindlichen oder jugendlichen Selbstzuständen, die weder erwachsen, noch in meinem Alltag problemlos fähig sind und in der Regel mehr oder weniger verzweifelt, frustriert, gekränkt, hoffnungslos, ohnmächtig, hilflos, überanstrengt vor den Herausforderungen der Kommunikation mit dem Außen stehen.

In den letzten Monaten waren wir so gut in der Arbeit zusammen. Und jetzt ist da wieder so eine Schleife. Eine etwa 30 Jahre alte in mir und eine, die ich mir als nachhaltig für immer aufgelöste und nie wieder auftauchend gewünscht hatte, in unserem Gespräch. Und vor beidem stehe ich mit so wenig. Kann ich so ganz offenkundig wenig tun, dass es möglicherweise nichts ist.
Ich könnte alles verlieren, denke ich. Alles könnte kaputtgehen. Es hängt alles von mir ab und ich versage. Ich bin schuld. Ich habe es ausgelöst, ohne es auflösen zu können. Wie unbedacht, unvorsichtig, dumm kann man sein. Ich habe nicht anders verdient, als dass alles kaputtgeht. Ich habe nicht genug getan. War nicht eindeutig, nicht eindeutlich genug. Bin einfach nicht genug. Das ist die nächste Schleife. Meine schöne Coping-Strategie aus autopoietischem Selbsthass, um bloß nicht zu viel Raum für die Möglichkeit entstehen zu lassen, dass es vielleicht natürlich, logisch, einfach so ist, dass man dann nicht viel tun kann. Oder auch nichts.

Neulich habe ich meinen ersten Wildunfall mit dem Auto gehabt. Ich habe einen Sperling angefahren. Sah ihn im Rückspiegel noch auf der Fahrbahn wild flattern, doch als ich umgekehrt war, hatte ein anderes Auto ihn schon totgefahren. Tagelang hatte ich das Bedürfnis, nochmal in die Situation zu können. Vor ihm abgebremst zu haben, sofort angehalten zu haben. Ich hätte ihn hochnehmen können – mich hätte das andere Auto nicht überfahren. Ich hätte ihn retten können, konnte aber nicht. Ich konnte in dem Moment noch nicht und ich kann jetzt nicht mehr. Es ist passiert und für immer so wie es war. Schlimm, traurig, tödlich, unbeabsichtigt.

Miss- und Unverständnisse erlebe ich nicht so selten wie Wildunfälle, aber ihre Wirkung in Bezug auf meine Ohnmachtsgefühle sind sich sehr ähnlich, nämlich traumanah. Ich denke mich darin automatisch ganz allein. Allein verantwortlich, allein betroffen, allein gelassen. Obwohl das nur in Bezug auf die traumatisierende Situation stimmt.
Ich kann durchaus sehen, dass ich nicht alleinverantwortlich für die Kommunikation in der Therapie bin. Dass ich schon getan hab, was ich konnte, weil ich mehr nicht kann. Ich weiß, dass es nicht meine Aufgabe als Patientin ist, passend für die Therapeutin oder das Therapiekonzept zu sein. Aber die Konsequenz dieses Wissens ist, dass ich etwas von meiner Therapeutin erwarten könnte. Und das macht mir Angst. Wieder irgendwas Traumanahes. Die nächste Kaskade, die mich erniedrigt, allein, weil da die Gefahr besteht eine Möglichkeit ist, dass unser Kontakt nicht nur für mich mit Anstrengung, Arbeit, dem Stoßen an Grenzen des Könnens verbunden ist, sondern auch für sie. Ich sie also nicht geschützt, nicht bewahrt, nicht verschont habe zu empfinden, was mich so oft im Leben schon gequält hat. Als wäre das etwas, das ich könnte. Das irgendwer könnte.
Kurz bin ich in dem Gedanken, dass der Kontakt mit mir einfach immer schwer ist. Immer anstrengend und viel. Wie unfassbar leid mir tut, dass es mich überhaupt noch gibt, obwohl das doch niemand wollen kann. Niemand kann doch wollen, dass so eine Belastung weiter besteht. Ich merke, wie es an mir zieht, das zu beenden. Aus dem Kontakt zu gehen, die Therapie zu beenden, meine Campingausstattung zusammenzupacken und wegzugehen. Fernwandern. Raus, weg, vielleicht plumpse ich unterwegs in eine Gletscherspalte oder werde von einem Problembären gegessen. Mutter Erde knows best how to manage Ballastexistenzen, darum brauche ich mich dann nicht mehr kümmern.

Da ist sie also. Die Gewalt, die ich mir selbst antue, um meine Gefühle der Trennung kongruent zur Situation zu machen. Gewalt kann das einfach so gut. Trennen, spalten, dissoziieren. Das funktioniert so zuverlässig.
Aber das ist nicht, was ich will. Für kurz war es jetzt aber vielleicht wichtig das zu glauben. Um es zu wissen.

*

Vielleicht muss man den Trigger manchmal ganz durchfühlen. Bis zum Schluss durchmachen – so weit, bis man wirklich kurz davor ist, die Koffer zu packen oder sich das Leben zu nehmen, um leichter an den Punkt zu kommen, an dem man sich fragt, was man eigentlich wollte. Ob man das wollte – getrennt sein von allen und allem – oder doch etwas anderes. Was man sich (noch) nicht zu wünschen traut, erlaubt oder zu wünschen aushalten kann. Oder, was (möglicherweise nur jetzt gerade in diesem Moment) einfach noch nicht funktioniert. Oder insgesamt unmöglich ist, aber nicht unersetzbar.

Ich wünsche mir, dass meine Therapeutin mit mir im Kontakt ist. Nicht mit Ideen von mir, die sie sich macht, weil sie Annahmen folgt, die sich aus Begriffen entwickeln, die wir unterschiedlich mit Bedeutung füllen. Wenn wir das hinkriegen (und wir haben das schon hingekriegt), dann fühle ich mich verbunden mit ihr. Nicht allein. Nicht getrennt. Sehr eindeutlich anders als traumanah. Das will ich. Das will ich nicht kaputtmachen, nicht verlieren. Das würde niemand verlieren wollen. Niemand hätte es verdient, das zu verlieren. Egal, wie viel oder wenig sie_r dafür tun kann. Alle sind immer genug für Kontakt, Beziehung, Verbindung.
Alle sind immer genug.

Fundstücke #83

Gespürt habe ich es schon am Mittwoch bei der Blutspende. Aber der übliche Huch-der-Arm-ist-voller-Narben-Sozialtanz hatte mich abgelenkt. Nun steige ich durch die Wildpflanzen vor unserem Haus und spüre den Schwindel wie Fahrtwind. Ich konzentriere mich auf mein Ziel. Freie Fläche für das vom Partner geschenkte Gewächshaus schaffen. Nächste Woche kommen Gemögte zu Besuch und dann bauen wir es auf. Bei dem Gedanken daran steigen kleine weiche Bläschen in mir auf. Das wird schön.

Also weiter. Ich greife nach den verblühten Pflanzen, ziehe sie aus dem trockenen Sandboden und schüttle sie vorsichtig aus. Entdecke Insekten, spüre F. wie einen Klumpen durch meine Adern wandern als sie_r Fotos macht und weiß nicht, ob ich mich übergeben muss oder gleich ohnmächtig werde, als ich aufstehe, um die Pflanze in die Schubkarre zu legen. Dann kommt der Menstruationsschmerz im Unterkörper und der Flashback im Oberkörper als real in meinem Bewusstsein an.

Ich bin verschwitzt, meine Füße stecken unbeweglich im letzten klassischen Schuhpaar, das ich habe. Es ist schwül, immer wieder kommen Nachbar_innen, die wir nicht kennen, mit ihren Hunden an uns vorbei. Schauen mich an, schauen weg. Gehen weiter. Ich denke mich flackernd zwischen Hier und Woanders, beobachte mich weiter nach Pflanzen greifend. Wieder stehe ich auf, wieder erfasst mich der Schwindel, diesmal wanke ich nicht. „Rein. Hoch. Ausziehen. Waschen. Abtrocknen. Anziehen. Wassertrinken. Hinsetzen. Pause. 10 Minuten“. Ich schlage die Worte zu Etappen des Handelns in den Treibsand meines Fühlens. Arbeite sie ab und merke wie sich an der inneren Gegenbewegung andere formen. R. auf jeden Fall, aber auch K. und W. „Klar“, denke ich, „alle, die Angst davor haben zu fallen, aus Angst, sie würden nicht wieder aufstehen (und abwehren) können.“

Das Wasserglas in der Hand betrachte ich die geschaffte Arbeit von oben. Es ist nicht mehr viel. Ich kann es noch vor dem Besuch schaffen. Und wenn nicht, dann muss der Aufbau etwas warten. In meinem Kopf entwickeln sich alternative Pläne, etwas Entspannung, in meiner Hand finde ich eine Schmerztablette.

Als die Hunde den Partner aus dem Bett genervt haben, stehe ich im Tomatenurwald. Es schmerzt weniger, der Schwindel macht mir keine Angst mehr. Später kann ich mich sogar hinlegen, ohne eine Erinnerungsmine auszulösen. Noch später anerkennen, dass ich mich gerade richtig gut schlage. Und noch später begreifen, woran ich mich erinnere.

Zeitsplitterbomben

„Erinnerungen sind wie Zeitbomben“ – ein Zitat eines Zitates in der Podcastserie „Vor aller Augen“ der Süddeutschen Zeitung. Renate Bühn spricht über ihre Erfahrungen, es ist die 5. Folge. Endlich spricht ein Opfer und rückt die Taten und Täter_innen, die Ermittlungen und Strafprozesse aus dem Fokus.
Ich sitze am Bahnhof. Die Sonne scheint, hinter mir liegt eine Therapiestunde, ich fühle mich wie ein Zeitsplitterbombenopfer. Übersät, durchdrungen, übriggeblieben.

Am Ende war es darum gegangen, dass eigentlich immer das Gleiche passiert ist. Eigentlich wurde immer jemand verletzt und das wars. Ganz abstrakt ist das alles, was passiert ist. Eine Sache, ganz kompakt. Also eigentlich … nichts.
Die Haare auf meinen Unterarmen zittern im Wind wie die Halme des verbrannten Grases überall. Im Podcast sprach man über ungeahnte Ausmaße, über Materialmassen, die nur mit erheblichem Aufwand und persönlichem Einsatz händelbar seien, ich spreche mit mir selbst darüber, wie erbärmlich meine Erleichterung über den Gedanken ist, dass sich heute vermutlich kaum noch analoges Material im Umlauf befindet. „Terabyte von Material“, immer das gleiche und gleiche und gleiche, immer wurde jemand verletzt und das wars.

„Terabyte Nichts, oder was?“ Eine schwere Stirn schiebt sich in meine, zerbröselt meinen Fluchtweg in die Vermeidung.
Nein, nicht Nichts. Sowieso nicht. Aber vielleicht haben wir ein Splitter-, ein Fragment-, ein Müsliproblem? Ich fühle mich merkwürdig verbunden mit den Polizist_innen und ihren Helfer_innen in der Datenauswertung. Terabyte Splittermaterial von Gewalt, die über Stunden, Tage, Monate, Jahre passiert ist, landet Festplatte für Festplatte auf ihrem Arbeitsplatz. Ein Ding, eine Zeitsplitterbombe aus dem Leben eines Opfers, die beschriftet, gesichtet, sortiert, und archiviert wird; von mehreren Beamt_innen, die das Opfer nie kennenlernen werden, nie anders mit ihm zu tun haben werden, als in größter Not, schwerster Pein. Opfern, die für die Sortage mit dem Splittermaterial in ihnen drin vielleicht zur Psychotherapie gehen. Wenn sie einen Platz bekommen. Und dort sortieren dürfen. Können. 50 Minuten pro Woche, bis die Krankenkasse nicht mehr zahlt.

„Wir haben Terabyte Material in uns drin“. Das denkt R., ich fühle es. Wir spüren einander beim Trinken, trennen uns wieder, als eine Lautsprecherdurchsage durch die Kopfhörer schießt. Es ist immer das gleiche und gleiche und gleiche. Und es ist immer wieder etwas. Etwas noch mehr. Etwas wieder schlimmes. Etwas ((schon) (wieder)) unaushaltbares. Etwas anderes. Etwas mit jemand anderem und deshalb neu, anders, wieder gleich und gleich und gleich.
Und wir haben nur uns, das zu sichten. Zu sortieren. Nur unser Gehirn als Archiv zur Verfügung. Und die Splitter sind überall. Nicht alle kann ich fühlen. Von vielen weiß ich nicht einmal. „Und die meisten lässt du bei uns. Als wenn wir deine Polizei wärn, aber in Wahrheit sind wir …“
Sie sagts nicht. Denkts auch nicht. Kanns genauso wenig aushalten wie ich. Der Zug fährt ein, wir schalten um auf Musik.
calm like a bomb“.