die Fragen und die Antworten

„When I thought I know the answers, they changed the questions.“ Das stand auf einer Karte, die mir eine Therapeutin geschenkt hat. Da war ich fast 18 und hatte außer der Nische im Doppelzimmer der Ballerburg keinerlei Bezugspunkte. Ich reagierte beliebig, verstand nicht, wieso sie diese Karte angemessen fand, wusste nicht, was sie mir damit sagen will. War mir allerdings sehr sicher darüber, dass sie mich weder aufheiterte noch bei etwas half. In dem Zusammenhang war die Karte vielleicht eine Manifestation dessen, was dieser therapeutische Kontakt letztlich war: Unnütz, zynisch, pseudo-nah.

Neulich dachte ich wieder an die Karte.
Es gab eine außerordentlich großzügige Spende für „Viele Leben“, meine Podcastinterviewreihe, in der ich mit Vielen spreche, die ein besonderes Thema haben. Weil ich für meine Arbeit daran bezahlt werden möchte, produziere ich immer erst dann eine Ausgabe, wenn sie finanziert ist. Die Interviews mache ich, wenn ich kann. Ich bin sehr frei in dieser Arbeit und froh, dass weder Zeitdruck noch die Ansprüche Dritter definierende Größen sind.
Doch ich denke auch über Sympathie nach und darüber, ob es nicht besser für das Projekt wäre, würde ich einfach nur im Hintergrund rummachen und jemand anderes stellt es nach außen dar. Oder wenn ich statt eines Podcasts ein Buch daraus mache. Oder wenn ich es ganz lasse.

Ich dachte an diese dusslige Karte, weil mir auffiel, dass ich selbst die Fragen ändere, sobald ich Antworten habe. Und schlimmer noch: Wenn es die richtigen Antworten sind.

In meiner inneren Traumalogik kann es nicht sein, dass ich etwas richtig mache. Oder wenigstens prinzipiell richtig. Sobald ich etwas mache und nichts Schlimmes passiert, stimmt was nicht. Und wenn mir nicht selbst auffällt, was nicht stimmt, dann fange ich an danach zu suchen. Und immer immer immer finde ich mich selber. Ich stimme nicht. Ich bin der Fehler in dem Ganzen. Nicht [beliebiges Attribut einfügen] genug. Nie. Punktum.

Dinge machen, ist gruselig.
Ich weiß das und mache sie in der Regel trotzdem. Manche Menschen finden das gut, den meisten ist es egal. Es ist für mich selbst ein riesen Ding, denn es gibt dieses „trotzdem“. Ich mache die Dinge nicht einfach, sondern mache sie trotzdem. So sind es immer zwei Dinge, die ich da mache.
Wenn man etwas trotzdem macht, dann muss man die ganze Zeit gleichzeitig gegen die eigene Vermeidung, den eigenen Selbsterhaltungstrieb ankämpfen. Man muss ihn niederdrücken, weil man sonst keine Dinge machen kann. Wenn mir das leicht fällt, bedeutet es in meinem Fall immer, dass ich umfassend dissoziiere, während ich es mache. Ich mache die Dinge wie und als jemand, die_r dieses „trotzdem“ nicht mitmacht. Ich mache meine Anstrengungen als Einsmensch für mich selbst unsichtbar, unspürbar, pseudo-weg. Wann immer etwas unsichtbar wird, verliert es Relevanz. Bietet keinen Anlass mehr beachtet und geprüft zu werden. Ich vernachlässige also etwas, das eigentlich von großer Relevanz für mein Überleben ist und das ist dann doch einigermaßen ungünstig. Also, wenn man leben möchte.

„Viele Leben“ habe ich angefangen, weil ich die Realitätsbezüge in der Außendarstellung von Menschen, die sich als Viele erleben, vermisse. Meine Frage ist: „Welche Leben(sthemen) haben Menschen mit (p)DIS?“
und nicht „Wie sollten die Lebensthemen von Menschen mit (p)DIS rübergebracht werden?“. Ich hatte mir sogar eine Antwort dazu überlegt, warum ich mich auf die Inhalte konzentriere und weniger auf die massengerechte Darreichung. – Ich bin einfach kein super sympathisches Massenmäuschen. Ich bin ein Sachstandsmonolith – und das ist okay so.
Ich hatte also nicht nur Antworten auf meine eigenen Fragen, sondern auch noch Antworten, die anerkennend und wertschätzend mir selbst gegenüber waren.

Da arbeite ich mich jetzt wieder hin.
Und im September gibts die 4. Ausgabe „Viele Leben“.

ent.täuschte Freund_innenschaften

Seit Sookie nicht mehr lebt, erkunde ich eine Einsamkeit, die mir sehr vertraut und gleichzeitig wieder neu ist.
Das ist insgesamt schwieriges Terrain, denn ich bin nicht mehr allein und das, was mich einsam macht, ist den nicht autistischen Menschen in meinem Leben kaum zu vermitteln.

Ich muss mich vor ihren schnellen Schlüssen in Acht nehmen. Aufpassen, dass sie nicht annehmen, ich würde sie meinen. Prüfen, ob sie annehmen könnten, ich fühlte mich zu Unrecht abgelehnt. Oder nur deshalb nicht gewollt, weil mich schon meine Eltern eigentlich nicht wollten.
Diese Art des ungeprüften fixen Schlussfolgerns in sozialen Fragen kenne ich von mir nicht. Auch nicht, wie unbewusst diese Urteile und Gedanken bei ihnen aufkommen. Es ist mir ein Rätsel, wie sie nicht erst überlegen, analysieren und prüfen müssen und wollen.

Es gab nach Sookies Tod einen Moment, in dem ich gemerkt habe: Wenn ich nicht allen meinen Freund_innen die gleiche Nachricht geschickt hätte, wüssten sie es nicht und hätten es vermutlich erst in einem Moment erfahren, in dem sie mehr als ein „Oh, das wusste ich nicht“ kaum einbringen würden. Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre später.
Ich hatte eine Teilverstreuung geplant. Alle Leute in der Stadt, die ich nur durch Sookies Präsenz im Leben hatte, sollten kommen. Der Termin ist geplatzt. Von 7 Menschen hat einer zurückgefragt, wann denn der neue Termin sein würde. Wie es mir inzwischen geht. Wie ich zurechtkomme, jetzt, wo so vieles anders ist.
Von den anderen kam keine Nachricht. Kein Anruf. Nichts.

Der Aufprall hat mich in einer verletzlichen Phase erwischt und einen weiteren Trauerprozess nach sich gezogen. Ich fühle mich in sehr alten Traumawahrheiten bestätigt und erlebe immer wieder auch, wie in mir das große Orchester der Beschämung, der Abwertung und Ewigkeitsannahmen spielt.
Alle Kontakte sind auf dem Prüfstand und es sieht nicht gut aus. Spaßfreund_innenschaften habe ich gar keine. Kontakte für Krisentalk und Selbstfindung einige. Ein Mal im Jahr treffe ich die Leute, mit denen ich mich verbunden fühle, weil ich ihre Podcasts höre und Trööts lese. Und der Rest sind Projekt- oder Themenbekanntschaften. Wir arbeiten miteinander.
Der neurotypische Schnellschluss aus so einer Aufzählung ist, dass ich das zu schwarz sehe. Dass ich die Kontakte abwerte, weil ich mich gerade abwerte. Meine Einschätzung hingegen kommt aus 2 Monaten Analyse, Prüfung und Abwägung. Einer genauen Gegenüberstellung von Quantität und Qualität, Wünschen und Realität. Es ist verletzend, wenn das einfach weggewischt wird zugunsten einer Spielart von „Du machst es dir selber schwer/Du nimmst das alles ganz falsch wahr – in Wahrheit …“

Was ich initial sehr oft falsch wahrnehme, ist die Art Kontakt, die ich mit anderen Menschen habe. Vor allem, wenn sie nicht von Konflikten geprägt, sondern immer freundlich und grundsätzlich nicht unbefriedigend sind. Wer mich nicht schlägt oder beschimpft, ist im Grunde schon ein_e Freund_in für mich. Also fast. Ich muss dann natürlich gucken, dass wir uns oft treffen, damit ich die Person lesen lernen kann, um sie sicher von anderen unterscheiden zu können. Ich muss mir ihre Hobbys und Themen merken, mich dafür interessieren und dazu einlesen, damit mich Gespräche dazu weder verwirren noch überraschen. Und dann muss ich natürlich immer gucken, dass ich immer möglichst angenehm für die Person bin – vor allem, wenn sie Freund_innen hat, die ich über sie_ihn kennenlernen könnte. Naja und dann passiert das schon irgendwie mit der Freund_innenschaft, ne? Ne?
Ja, nein. Natürlich nicht. Aber bei anderen Menschen passiert es eben doch ziemlich genau so. IRGENDWIE.
Außer bei mir.

Bei mir ist es immer so, dass ich mich bemühe und in verschiedene Stadien der Überzeugung einer Freund_innenschaft komme, aus der ich an mehr oder weniger relevanten Punkten meines Lebens mehr oder weniger krass verletzend ent.täuscht werde. Menschen, denen ich mich sehr nah fühle, zum Beispiel, weil ich seit Jahren ihre Krisenbegleitung bin, haben dann irgendwann eine ganz gute Phase und melden sich überhaupt nicht mehr. Oder erwähnen beiläufig, was sie alles mit anderen Menschen erleben und unternehmen – während sie mich nie danach gefragt haben, ob wir das miteinander machen wollen. Mit anderen arbeite ich über lange Zeit an super empfindlichen Themen in komplexer Art und Weise – doch jede Einladung zu mir nach Hause, jedes Angebot für gemeinsame Zeit, die nicht von Schwere und Komplexität geprägt ist, wird ausgeschlagen. Manche sind immer für mich da, wenn es mir so schlecht geht, dass ich Suizidgedanken habe, haben aber absolut kein Interesse an Kontakt, wenn es ihnen nicht gut geht oder mir einfach gut. Auch in diesen Kontakten gibt es keine Leichtigkeit, keine umfassende, runde, ausgewogene Ausgeglichenheit, was Kraftaufwand und Gewinn am Kontakt betrifft.
Und wie viele Kontakte habe ich mit Menschen, die sich immer vornehmen, sich bei mir zu melden, es aber nicht schaffen. Es sind zwei. Zwei Menschen, die mir so so wichtig sind, dass ich diese Verletzung hinnehme und immer wieder damit beruhige, dass Komplextrauma und ADHS in ihre Lebensrealität gehört. Und es richtig schön ist, wenn wir dann endlich den Kontakt schaffen.

Meine erste Ent.täuschung dieser Art erlebte ich mit 13. Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gruppentherapie. Wir sollten über unseren körperlichen Abstand darstellen, wie wir unseren emotionalen Abstand zueinander wahrnehmen. Wer am Ende allein in einer Ecke stand und sich vorher mitten in die Gruppe, teils sogar sehr nah an Einzelne gestellt hatte, war ich. Die Beschämung und den Kommentar der Krankenschwester, die diese Gruppe geleitet hat, habe ich nie vergessen und im Laufe meines Lebens in verschiedenen Formen immer wieder gehört. Vor allem von Menschen, die mich überheblich oder intellektuell bedrohlich erlebt haben. Solche Momente eignen sich einfach hervorragend, um sich stark und überlegen zu fühlen. Gemocht und befreundet zu werden, ist in solchen Momenten nicht einfach nur ein Grundbedürfnis, sondern eine Ressource. Es wird zur Quelle von Macht.
Und während die meisten neurotypischen Menschen nicht einmal genau wissen, wie sie dazu kommen, wissen sie jedoch ganz deutlich, dass ich nicht mal nah dran bin. Und die Schnellschusserklärung dafür ist von je her, dass irgendwas an mir persönlich nicht stimmt. Ob Klassenkamerad_innen oder frühere Therapeut_innen, ob Leute in der aktivistischen Bubble oder aus der Selbsthilfeszene – selbst mein Partner sagt: „Naja du bist halt auch …“
Was diesen drei Auslassungspunkten folgt, ist nie schmeichelhaft. Nie nicht verletzend. Nie etwas, das ich unterlassen oder ändern kann. Es ist immer mein Autismus bzw. das Fehlen dessen, was Brit Wilzcek den „sozialen Autopiloten“ [1] nennt.

Eine neue Entwicklung habe ich jedoch bei meiner neuen Arbeitsstelle.
Da fühle ich mich in einen sozialen Nimbus aufgenommen, in dem Kontakt ist, was es ist: Kontakt. Freund_innenschaften und soziales Kapital spielen keine Rolle und das ist sehr angenehm.
Ich habe aber auch eine wachsame Stimme in mir, die mir sehr deutlich aufzeigt, dass ich bei der Arbeit überwiegend mit Autist_innen zu tun habe. Dass das eine Sonderwelt sein könnte, die zerstört wird, sobald sie nicht mehr gebraucht wird, als unwirtschaftlich gilt oder anders wertlos für andere (neurotypische) Menschen.
Ich kann mich da wohlfühlen – aber.

Ich kann nicht davon ausgehen, dass diese eine spezifische Einsamkeit, die sich aus der Kluft zwischen mir und nicht autistischen Menschen ergibt, irgendwann kein Teil meines Lebens mehr ist.
Das macht mich sehr traurig und führt zu einem ständigen Arbeitsaufwand für mich. Denn ja, den Mut nicht zu verlieren, die Hoffnung nicht aufzugeben, Freude an dem zu empfinden, was sich an Kontakten ergibt und was diese Kontakte dann jeweils für mich ermöglichen, ist Arbeit. Es ist unfassbar harte, zehrende Arbeit, Freude an einem Leben zu haben, das mit so einem unlösbaren Dilemma einhergeht und so viel Verletzungspotenzial hat.
Und sie wird nicht leichter, je besser ich sie benennen, verstehen und in ihrer Wirkung kommunizieren kann.
Zumindest im Moment nicht.

[1] Stimmen – Brit Wilczek | Teil 2
| Sozialer Autopilot, 3. Ebene und Wahrnehmung
| https://www.youtube.com/watch?v=Dz19jH1jk2s

gute Chancen auf Zahnshit

Vielleicht ist es ein Zahn. Unbemerkt verstorben in meinem Mund, entzündet meinen Gesichtsnerv reizend. Totenruhe neu interpretiert. Lang wirke das Modernde.

Gegen 1 kann ich es nicht mehr aushalten. Mein Nerv ist ruhig, der Zahn nicht. Mir ist schwindelig vom Schmerzmittel, es ist Montagnacht, mein Inneres summt. Am Sonntagmorgen hatte ich meine Sachen schon gepackt. Mein Magen, mein Bauch, mein Kopf, mein Gesicht, alles tat weh. Und dann nicht mehr so stark. Wir fuhren nicht ins Krankenhaus, sondern tranken lauwarmen Kamillentee zu zimmerwarmem Haferbrei. Schauten einen Film von 1985 und schliefen mitten am Tag 6 Stunden durch.
Die Wahrscheinlichkeit am Wochenende an einen Bereitschaftsarzt zu geraten, der die Gesamtlage falsch einschätzt, erschien zu groß. Mein Partner, dessen heftiges Bluthusten aus der kranken Lunge, initial für „aus dem Mund kommend“ gehalten wurde und ich, die_r bei egal welchem Notfall auch immer eine Psychodiagnose mit auf dem Zettel stehen hat, haben damit so unsere Erfahrungen. Und es ging gut.
Bis 1 Uhr morgens.

Ich begann nach dem zahnärztlichen Notdienst zu suchen. Ging runter, um meinen Partner zu wecken. Der war noch wach und schnell genauso verwirrt wie ich. Denn so einfach ist das mit der notfallmäßigen Versorgung mitten in der Nacht nicht. Schon gar nicht für Zähne, das offenbar allgemein zu vernachlässigende Spezialorgan des menschlichen Körpers. So kam es, dass wir um dreiviertel 2 vor einer dunklen Praxis standen und lernten, dass der Notdienst, der von Samstag um 8 Uhr bis Montag 8 Uhr zuständig war, in Wahrheit nur am Samstag von 10 bis 12 Uhr Patient_innen behandelte. Wie auch die Praxis, die für die Stadt Notdienst hatte.
Wir lernten außerdem, dass „Zähne nachts immer schwierig ist“. Und dass uns die 116 117 nur bestätigen konnte, dass eine Vorstellung beim Arzt dringlich angeraten sei – aber niemanden in ganz Niedersachsen vermitteln konnte.

Knapp – ganz ganz knapp – wirklich um Haaresbreite – entging ich einer wutbürgerlichen Empörungsentladung. Mein Partner blieb ruhig, konnte nicht glauben, dass das jetzt wirklich nicht zu lösen sei. Er googelte für Bremen, ich dachte an die anstehende Krankenhausreform, die die Versorgung von kranken Menschen verbessern soll, indem weniger Versorgungsangebot gemacht wird. Dann googelte er für Nordrheinwestfalen und ich nach dem Gefahrenpotenzial von dem Medikamentenmix, den ich bis zum nächsten Morgen noch einnehmen könnte.
Ich entschied, dass ich eine akute Magenruptur schon rechtzeitig mitkriegen und Ohnmachten, Leber- und Nierenüberbelastung überleben würde. Wir fuhren also nach Hause, um die nächsten 3 Stunden, bis wir uns auf den Weg zu meiner Zahnärztin machen könnten, zu überstehen.

Tatsächlich bin ich eingeschlafen. Ein Bett mit verstellbarem Kopfteil – Gold.
Als ich den Lattenrost damals gekauft habe, hatte ich an Schmerztage gedacht, an denen ich vom Bett aus arbeiten muss – nicht an Erstickungsängste und die Notwendigkeit, nicht so viel Blutdruck auf meine Zähne auszuüben. Trotzdem – gut, dass ich ihn habe. Er hat auch in dieser Situation sehr geholfen.

5 Uhr morgens fuhren wir los. Um 7 öffnet die Praxis. 120 km Hoppellandstraße, Bundesstraße, Autobahn. Erst im Dunklen, dann im Dunkelblauen, bald im Hellgrauen, besprenkelt mit immer mehr Beleuchtungspunkten. Ich strenge mich an, mit meinem Partner zu sprechen. Er soll nicht müde werden, sich gut mit mir fühlen. Ich möchte, dass er merkt, dass er das nicht wirklich umsonst macht, obwohl er es nicht-autistisch betrachtet, komplett umsonst macht. Denn natürlich hätten wir auch bis um 7 schlafen und dann wieder zu der Dorfpraxis fahren können, die wir in 10 Minuten mit dem Auto erreichen. Aber um 7 Uhr morgens hat auch meine Zahnärztin auf. Die weiß, dass ich eine konkrete Ansprache brauche, wenn ich Schmerzen habe, übernächtigt bin und Medikamente intus habe. Die weiß, dass sie mir schon mit Kleinigkeiten sofort Todesangst macht, die ganz real sind, in meinem Körper wirken und die Behandlung traumatisch werden lassen kann. Die weiß, dass ich bei ihr bin, weil ihre Behandlung in meinen Abwägungen darüber, was der effizienteste und am wenigsten belastende Weg ist, das Problem, das Unwohlsein, die Krankheit anzugehen.

Abwägungen wie diese sind vor allem in dem Umfang für nicht-autistische, nicht traumatisierte, nicht chronisch kranke Menschen oft nicht 1 zu 1 nachvollziehbar. Und ich habe das internalisiert. Meine Grundannahme in solchen Situationen ist bis heute: Ich stelle mich an, mache mich besonders, ich mache unnötige Umstände, ich überstrapaziere die Güte anderer Menschen, ich muss entsprechend ganz besonders dankbar, lieb, demütig sein. Alles organisieren, alles fürs Wohlbefinden derer tun, die mir helfen. Das ist das Mindeste und in Wahrheit – ganz unter uns – nicht im Ansatz genug.
Und diese Grundannahme ist generell. Betrifft also auch meinen Partner, meine Freund_innen, meine Therapeutin – alle. Immer. Und weil ich weiß, dass manche von ihnen davon verletzt sind, weil sie ja aus ihrer Sicht immer nur Gutes für mich wollen und vielleicht auch nie (bewusst) so über mich gedacht haben, habe ich auch ein schlechtes Gewissen darüber. Und weiß gleichzeitig doch sehr sicher: Diese Grundannahme ist so wenig falsch wie richtig.
Leider. Es ist einfach verflixt mit mir, meiner komischen Merkwürdigkeit m Autismus und dieser Traumasache. Das Generelle sitzt nie da, wo die stets Generalisierenden es erwarten und das Konkrete bestimmt das Konkretisierende, nämlich mich. Schwierig schwierig.

Zum Glück habe ich schon viele selbstbestimmte Entscheidungen treffen und absichern können.
Meine Freundin K. teilt Räume ihres Wohnraums mit mir, wenn ich in der Stadt bin. So kann ich sie an Therapietagen besuchen, bei ihr arbeiten und übernachten, wenn ich für die Arbeit noch weiter wegfahren muss. Und wir, mein Partner und ich können bei ihr auf ein Bett fallen, wenn wir um 7 Uhr morgens nach 2 Stunden Fahrt erfahren, dass wir erst um 11 in die Praxis können.
Nicht aufzuwiegen dieses doppelte eternal Glücksgold in life.

Der Termin selbst bringt nur einen Verdacht, noch keine ganz feste Sicherheit darüber, was den Nerv initial gereizt hat. Aber die Chancen stehen gut auf Zahnshit.
Mir wäre das ganz lieb, denn ich habe prinzipiell lieber lösbare Probleme bekannter Größe, als kompliziert bis unlösbare Probleme unbekannter Größe.
Nun beginnen wir also eine Antibiose und haben das Ziehen der Nervleiche im Zahn geplant.
Derweil betrachte ich im Stillen den Spaten, mit dem ich auch diesen Zyklus für meine Erschwangerung begraben muss und versuche meine Enttäuschung mit Rationalisierung zu lindern. Es soll einfach auch diesmal nicht sein. Irgendwas Gutes findet sich schon noch daran. Irgendwie. Bald. Hoffentlich.
Das wär schön.

die Nervsache

Aus dem Pieken, das dann und wann mal gestört hat, ist ein Stechen geworden.
Aber ein toter Zahn kann ja nicht mehr wehtun. Das wird wieder irgendein Körperquatsch sein. Dachte ich.
Dann begann das Stechen im Kinn. Wo kein Quatschzahn ist.
Und dann wurde es der massive Dauerschmerz, der meine linke Gesichtshälfte dominiert.
Trigeminusneuralgie nennt sich das.

Hatte ich vor ein paar Monaten schonmal. Rechts. Das ging von allein wieder weg. Mit „nicht mehr draufdrücken“ und Durchhalten. Damit ist jetzt Schluss. Egal, was ich mache, er kommt wieder und wenn er da ist, dann ist er omnipräsent. Seit heute Morgen auch auf der anderen Seite. Obwohl es gestern besser war.

Nun sitze ich hier mit einer Überweisung zum Neurologen, auf der ein Vermittlungscode steht. Einem Zettel, der mir Anfang der Woche noch so wertvoll erschien, doch jetzt nach einem ernüchternden Wartemusikmarathon in der 116 117, wie teures Altpapier. Die nette Frau konnte mir für meine Region zwei Termine anbieten. Einen in 60 km Entfernung nächste Woche Freitag, im gleichen Zeitraum, in dem ich meinen Lungenfacharzttermin habe – in 120 km Entfernung. Der zweite angebotene Termin ist in 4 Wochen. In 80 km Entfernung.
In einem Anflug von Oh-Oh habe ich auch bei meiner Zahnärztin angerufen. Die wie mein Lungenfacharzt und mein Kardiologe in NRW sitzt – mich aber leider nicht mit Vermittlungscode zu einem Neurologen überweisen kann. Seufz.

Ich habe meine Symptomatik natürlich gegoogelt. Weiß, dass mir nicht viel Witziges in den Sternen steht, wenn das nicht wieder von allein weggeht. Ich mache mir Sorgen, denke darüber nach, was ich machen würde, stellte sich heraus, dass ich was habe, was so richtig ganz, so richtig wirklich ernst ist.
Was wird aus meiner Familienplanung? Was, wenn ich was habe, das mich demnächst umbringt?
Ich wollte immer diesen ewig langen Weg von Kreta bis Spitzbergen wandern – kann man das mit Neuroshit? Hält man das aus? Ist es das wert? Ich wollte immer nach Island und in den Gletscherhöhlen fotografieren. Bockt das mit einem Gesicht voller Schmerz? Was, wenn ich gar nicht sterbe, aber mich mit einem weiteren zeitweise massiven Schmerz im Leben arrangieren muss? Hab ich genug Raum für mich um zu merken, ob ich das überhaupt will?

Ich fahre gleich zur Schwimmhalle.
Mein natürlicher Gedankenkreisel-Stopp. Mein Angst-Ende.
Mein Partner findet das nicht gut, wegen der Anstrengung. Er ist eh verwirrt über meinen Umgang mit dem Nervding. Er ist der derjenige, der mir über jede sonstige körperliche Sorge drüberwischt und sagt, ich würde mir Quatschgedanken machen. Da wär nix. Und jetzt irritiert ihn, dass ich nicht schon die ganze Zeit schreiend im Kreis laufe und alle verrückt mache, weil ich was habe. Ich weiß nicht, was er von mir erwartet, es ist mir auch egal. Its my bodyparty and I cry when I want to. Ich sage ihm ja auch nichts zu seinem Umgang mit seiner Krankheit.
Diesen beleidigten Konsens haben wir nun also. Nicht cool, aber was solls. Man kann immer nur so viel Kraft aufbringen, wie man hat und ich hab gerade überhaupt gar keine für seine uneindeutige Kommunikation.

Nächsten Mittwoch kann ich erneut bei der 116 117 anrufen.
Am Montag noch einmal zur Hausärztin. Wenn es noch schlimmer wird, fahre ich in die Ambulanz vom Krankenhaus. Irgendwo wird da doch wohl ein Neurologe rumlaufen, der mal kurz gucken kann, ob ich einen Hirntumor, MS oder einfach nur Pech habe.
Oder?

die Bewerbung

Spät am Abend sitze ich am Computer und schreibe eine Bewerbung. Kein neuer Job. Ein Assistenzhund.
Nun also doch. Vielleicht. Wenn.
Und wenn.

Es sind klassische Hundevermittlungsfragen, die der Verein stellt. Wer, wie, wo? Was sind die Wünsche und Hoffnungen in Bezug auf das Tier? Und die Frage, wie meine Krankheit denn aussieht.
Es wühlt mich auf. Macht mich unsicher.
Ich schreibe auf wie ich wohne und das Bewusstsein um meinen Platzreichtum umspült mich mit Scham. Es geht mir so gut und ich will noch mehr. Meine Lebensumstände sind so stabil, so gesichert und gestützt und was will ich: etwas anderes.

Meine Krankheit ist chronisch, deshalb begreife ich sie als Behinderung.
Meine Traumafolgestörung ergibt sich aus psychischen wie physischen Anpassungen an für mich ungünstige Lebensumstände. Wieder spüre ich Scham und wie viel Anstrengung es mich kostet, trotzdem weiterzuschreiben. Ich weiß inzwischen sehr sicher, dass meine Symptomatik nicht unüberwindbar sein muss, um als solche anerkannt zu werden. Weiß, dass ich, um als Mensch mit Behinderung verstanden und anerkannt zu werden, nicht in Asche und Ohnmacht leben muss. Es darf mir gut gehen. Ich darf gut eingepackt in Fürsorge, Unterstützung und Freiheiten leben und gleichzeitig anerkennen, dass es Punkte gibt, die davon für mich ganz persönlich einfach nicht berührt sind.
Aber diese Punkte sind mir peinlich. Sie berühren Aspekte meines Seins und Erlebens, die schon mein ganzes Leben eine Rolle spielen und konstant Teil der konflikthaften Interaktion mit anderen Menschen sind.
Seit ein paar Wochen spulen sich diese Erfahrungen in einer ständigen Wiederholung in mir ab. Egal, was ich mache, ich nehme die innere Abwertung wahr und den Druck, den sie aufbaut. Nach 15 Jahren, in denen ich mich über meinen Hund daraus orientieren, versichern und beruhigen konnte, baut sich der Strudel wieder auf und ich gerate in die gleichen kommunikativen Momente der Ohnmacht und Starre wie vorher. Es kostet unfassbar viel Kraft, trotzdem weiterzumachen. Mich trotzdem zu ver- und umsorgen. Mich trotzdem zu behandeln, als wäre ich es wert. Mit anderen Menschen zu sprechen, als wäre ich es wert. Mir etwas vorzunehmen und zu versuchen, als sei es nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt, bescheuert, abstoßend oder unsinnig, gerade, weil ich es tue. Mich nach Misserfolgen oder Fehlern nicht massiv zu verletzen oder meinen Suizid als unausweichlich notwendig einzuschätzen.

Ich weiß, was da los ist. Weiß, dass ich das in der Therapie zum Thema machen muss.
Es ist in dieser Lage keine Lösung, einen Assistenzhund zu haben. Aber ein Umgang. Ein anderer als Selbstverletzung, Vermeidung oder ein mentaler Zehnkampf jeden Tag, an dem es keine Momente der Regulierung, keine Augenblicke allgemeiner Okayheit gibt. Es ist ein Umgang, der mir in den letzten Jahren ermöglicht hat, hier herzukommen. In eine stabile fürsorgliche Partner_innenschaft, in eine Arbeitsstelle, die mich fördert und auf mein autistisches Erleben zugeschnitten ist. In ein therapeutisches Momentum, in dem für mich real annehmbar ist, dass ich an den Dingen arbeiten kann, die mich belasten. In eine Situation, in der ein Assistenzhund nicht nur gut arbeiten, sondern auch gut leben kann.

Diese Bewerbung ist nur ein erster Schritt für ein erstes Gespräch.
Dieses Mal habe ich nicht die Zeit für eine Selbstausbildung. Und dieses Mal möchte ich einen Hund, der weniger reizoffen ist, als Sookie es war. Ich brauche jetzt keinen Hund mehr, um zu lernen, wann Umstände wirklich aufregend und möglicherweise überfordernd sind. Heute brauche ich einen Hund, der mich in meinem Bedürfnis nach Beruhigung und Versicherung unterstützt. Ich denke also über eine andere Rasse nach und eine entsprechende Zucht.
Das ganze Vorhaben wird eine Zeit dauern. Jemand anderes wird die Ausbildung für mich übernehmen und ich die süßeste und härteste Zeit mit diesem Hund nicht miterleben.
Ich muss mir noch genau überlegen, ob ich das wirklich so möchte oder als etwas akzeptiere, das anders einfach nicht geht.

Aber nichts machen, weil ich unsicher bin, ist genau das, was ich jetzt nicht machen will.
Gerade jetzt ist es wichtig, mir keine Traumawahrheiten zu bestätigen.

wollen und können

Raus aus der Therapie zieht es mich wieder zurück in den Wattehelm auf meinem Kopf. Es ist warm, die Innenstadt wird von Urlauber_innen durchblutet. Ich prüfe die Zugverbindungen nach Hause und mein Kraftlevel. Es ist niedrig und hoch gleichzeitig. Ich weiß es also im Grunde nicht und damit genug, um mir ein ICE-Ticket zu kaufen. Spontane Abklappung in Wunstorf oder an irgendeinem anderen Stück Arsch der Heide, ist heute definitiv nicht drin.

Der Lärm umgibt mich als Ganzes. Der Bahnhof ist so laut wie meine Gedanken, die Gleichzeitigkeit von allem wirrt mich in viele Fäden. Ich warte. Irgendwann zentriert sich meine Aufmerksamkeit auf meine Füße. Der eine steht schief, der andere eingequetscht zwischen Geländer und Boden. Ich klappere mein Fürsorgeprotokoll ab. Trinke was, denke darüber nach, ob ich noch etwas essen kann, das ich nicht in meine App eintragen kann, weil ich keine Kalorienangaben dazu habe. Schalte meine Kopfhörer ein, spüre dem dichten Wattebauschen nach.
Ich will nach Hause. Ich will Sookie. Ich will alleine sein. Ich will nicht sterben. Ich will nicht. Ich will. Ich will nicht alleine sein. Ich will nach Hause. Ich will Sookie. Ich will alleine sein. Ich will nicht sterben. Ich will nicht. Ich will. Ich will nicht alleine sein.

Als der Zug einfährt, kommt die verdrängte Luft wie eine Wand auf mich zu. Es wird aus- und eingestiegen, ich spüre der Luftwand auf meiner Haut nach. Wenn alles klappt, bin ich früh zu Hause und habe viel Freizeit. Ich könnte mit Bubi los und jemanden anrufen. Aber hat überhaupt jemand Lust auf Zeit mit mir? In den letzten Wochen waren alle Freund_innen in mehr oder weniger großen Krisen. Niemand hatte Zeit und wer Zeit hatte, musste sich erholen. Zeit mit mir ist wahrscheinlich nicht erholsam. Ich merke, wie jemand meinen Rucksack prüft. Ob einfach weggehen eine Option sein könnte. Genau jetzt. Einfach in dem Zug sitzen bleiben und dann in den nächst besten Umsteigen und dann in den nächsten. Und weg sein. Wen würde das schon stören.
„J.“, antworte ich, „unseren Ehemann und Partner.“ – „Also würde es dich stören.“ – „Vermutlich.“

Im Abteil ist es kalt und dunkel. Ich hole mein Tablet hervor und beginne zu arbeiten. Das Rauschen ebbt ab. Mein Körpergefühl dämpft sich runter. Irgendwann bleiben wir stehen, weil vor uns ein Zugunfall passiert ist. Wir werden umgeleitet. Alles läuft routiniert ab. Keiner der Reisenden hat mit einer reibungslosen Fahrt gerechnet, die Bahnmitarbeiter_innen haben Übung. Ich arbeite weiter, freue mich über diese Extrazeit im Kühlen.
Der Zug macht einen Umweg über meine Endhaltestelle zum Richtungswechsel. Ich bin 20 Minuten früher als geplant da. Das Glück, das mir am Montag bei der Fahrschulprüfung gefehlt hat, habe ich also heute. Schön.

Als mich die Hitze überall anfasst, beginnt auch das Rauschen in mir drin wieder. Mein Rucksack piekst mir in die Schultern, die Schuhe reiben über meine Fußoberseiten. Die Kopfhörer pressen mein Gesicht auf den Knochen, das T-Shirt schabt über meinen Bauch. Das Piepen des Parkscheinautomaten ist mir noch durch das Noise Cancelling zu laut.
Ich will nach Hause und im Dunkeln liegen. Und arbeiten. Und mit Freund_innen reden. Und Sookie anfassen. Und mich besser fühlen als jetzt.

Zu Hause ist niemand. Als ich ankomme, ist es still und dunkel im Haus. Ich könnte arbeiten. Könnte wen anrufen. Könnte mich hinlegen. Könnte was essen. Am Ende sitze ich in der Küche und warte auf das Ende vom Schmerz am Leben zu sein.

Autismus und Bindung #3 /fin

Als ich erfuhr, dass meine Eltern meine Kassettenkiste weggeworfen haben, brach mir das Herz. Ich trauere bis heute um meine Sammlung und habe öfter über diesen Verlust geweint, als um den Umstand meine Familie verlassen zu müssen.
Meine Familie war mir nicht egal. Ist sie bis heute nicht.
Aber emotional, physisch wie psychisch sicher gebunden war ich an meine Sammlung und die Beschäftigung mit ihr.

Mein Geschwist hat Ähnliches erlebt. Es hatte als Baby ein Plüschtier geschenkt bekommen. 4 Jahre später war es von unseren Eltern zur Keimschleuder erklärt und ebenfalls in den Müll geworfen worden. Mein Geschwist war so unglücklich und wirr, dass meine Eltern es wieder herausfischen mussten. Wenn ich mich recht erinnere, war dieses Plüschtier auch noch da, als ich wegging. Säuberlich im Bett aufgereiht wie alle anderen Stofftiere, die mein Geschwist besaß.

Anekdoten wie diese können viele Eltern autistischer Kinder berichten. Manchmal schwingt in diesen Erzählungen eine Kränkung mit. Warum ist dieses olle nutzlose Ding so viel wichtiger für mein Kind als ich? Warum wählt es lieber die Beschäftigung damit als mit mir? Hat mein Kind mich nicht lieb? Merkt es denn überhaupt nicht, wie sehr ich es liebe? Unsere Liebe (unsere Ver.Bindung) ist doch viel wichtiger/wertvoller als dieser Gegenstand (dieses Thema).

Konfrontiert mit solchen Fragen, vor allem in einer engeren Beziehung mit anderen Menschen, fühlte ich mich früher oft als Psychopath. Als eiskaltes Herz. Monster. Als jemand, die_r anderer Menschen Gefühle für sich ausnutzt. Denn an meinen Bindungstendenzen hat sich bis heute nicht viel verändert.
Ich habe heute durch die Traumatherapie nicht mehr so viel grundlegende Angst vor Menschen und habe dadurch mehr Kraft und Interesse dafür, auch welche kennenzulernen und etwas mit ihnen zu erleben. Aber wirklich einfach so gern und unangestrengt ist das bis heute nicht.

Ich muss mir die Erfassung der Menschen als individuelle Menschen erarbeiten.
Bis ich jemandem sicher Stimme und Körper zuordnen kann, dauert es. Es ist leichter für mich Orte/Umgebungen mit Menschen zu assoziieren, weil sie diese Orte (und wie ich darin funktionieren muss) beeinflussen. So sind für mich zum Beispiel die Lehrer_innen in der Schule in erster Linie gleich wichtig wie Zettel und Stift, Tafel und Kreide – egal ob sie lieb mit mir sind oder nicht. Bevor ich sie nicht als individuelle, frei bewegliche Komponente „im Kopf zusammen bekommen habe“ sind sie für mich ein Teil des Systems „Schule“ und für mich daher nicht anders relevant als Zettel und Stift, Tafel oder Kreide.

Ich muss Arbeit investieren, um andere Menschen lesen und verstehen, begreifen und nachvollziehen zu können. Selbst wenn ich einen Menschen „im Kopf zusammen habe“ muss ich die individuelle Kommunikation in doppelter Übersetzungsarbeit leisten. Ich muss lernen, wie „sarkastisch“, „freundlich“, „lustig“, „ernst“ und so weiter bei dieser Person aussieht, klingt, riecht – und einüben, wie ich damit gut umgehen kann. Und zwar möglichst so, dass die Person sich nicht wie das Projekt fühlt, das sie für mich aber de facto ist.

Ich muss mir erarbeiten, was wir wann und wie miteinander machen können.
Unbewortete Grenzen kommen dabei ins Spiel. Darf ich meine Fahrlehrerin bitten, Pirouetten zu drehen, damit ich ihrem Rock beim Schwingen zusehen kann? Darf ich meinen Partner dazu drängen, mindestens zwei Mal täglich mit mir „Flügelschlag“ zu spielen? Kann ich die ganze Therapiestunde über mit meiner Kreiselsammlung spielen und die Therapeutin macht das mit dem Reden? Was – wir fahren nicht so oft in die Waschanlage, wie man gern in der Waschanlage sein möchte, sondern so oft, wie das Auto anders nicht mehr zu reinigen ist?
Was ich gern mache und sehe, erlebe und fühle, weicht von den Präferenzen andere Menschen doch erheblich ab und bietet häufig Anlass dazu, mich merkwürdig zu finden oder eigene Grenzen berührt zu fühlen. Da Konsens zu finden geht gar nicht ohne Arbeit.

Und ich muss mir erarbeiten, diese ganzen Vorarbeiten so gut zu schaffen, dass es nicht so anstrengend ist und ich meine eigenen Gefühle und Gedanken im Kontakt wahrnehmen und äußern, teilen und reflektieren kann.

Von außen sieht meine Kontaktanbahnung und das Halten dessen nicht unbedingt nach Arbeit aus. Meine dissoziative Identitätsstruktur verdeckt das meiste davon – auch vor mir selbst! Aber es ist da und ich wusste das auch schon immer auf eine gewisse Weise.
Dass ich in Anbetracht dessen sehr viel leichter in Ver.Bindung mit Tieren und Dingen gehe, ist wohl für alle logisch. Doch wichtig – besonders für die Menschen in meinem Leben, die das jetzt hier lesen – ist, dass es nur leichter ist. Nicht wichtiger. Nicht bedeutsamer.

Die Ver.Bindungen zu Menschen, die ich aufgebaut habe, sind mir wichtig. Ich habe mich zu dem Kontakt und also auch für die Arbeit daran entschieden und sehr viel Energie dafür aufgebracht.
Und natürlich geht auch das einher mit Schattenseiten.

Manche Menschen wissen nicht und werden vielleicht auch nie begreifen, wie viel Arbeit von mir in die Kontaktaufnahme und -gestaltung geht. Sie nehmen es als selbstverständlich hin und vergessen zuweilen selbst etwas in den Kontakt einzubringen. Oder sie kommunizieren mir nicht eindeutig, wie sie den Kontakt gestalten wollen. Dann verletzen sie mich damit, dass sie mir bestimmte große Ereignisse in ihrem Leben einfach nicht erzählen oder mich in schwierigen Lebensphasen ausschließen.
Manche Menschen nutzen meine Treue und Loyalität auch einfach aus. Wieder andere nutzen mein Wissen und meine Bereitschaft zur intensiven emotionalen Carearbeit für andere Menschen aus. Auch damit muss ich mir mehr oder weniger mühevoll einen Umgang erarbeiten.

Meine Kassetten waren nie so anstrengend.
Selbst die schwierigsten Phasen mit Sookie waren leichter.

Autismus und Ver.Bindung #2

Bindung ist ein Ergebnis von Kommunikation.
Von guter Kommunikation, von schlechter Kommunikation. Von Kommunikation, die mit beliebigem Adjektiv beschrieben werden kann. Egal, wie kommuniziert wird, es wird immer eine Ver.Bindung hergestellt. Auf Basis dessen werden die verschiedenen Kommunikationskanäle trainiert und ausgestaltet. Die Bindung, die Kinder mit ihrer Familie aufbauen, gilt als der erste Entwicklungsraum dafür. Man weiß, wie wichtig stabile Beziehungen zu Menschen sind, welche die Grundbedürfnisse der Kinder an.er.kennen und sie dabei begleiten, sie erfüllt zu bekommen. Wie wichtig es ist, dass die Gefühle von Kindern auch von außen wahrgenommen, eingeordnet und begleitet werden. Wie wichtig es noch bis in die Jugendzeit ist, beim Prozessieren bestimmter Erfahrungen und Gefühle unterstützt zu sein.

Bindung und Bindungsstörungen werden entsprechend häufig im Kontext von (früher) Kindheit und (komplexem) Trauma besprochen. Es gibt sehr viele Forschungsergebnisse zu den schwerwiegenden Folgen von Vernachlässigung und Bindungsstörungen. Und sehr viel Text zu Autismus als Bindungsstörung. Vor allem viel misogynen Text. Denn als erste und in den Leben vieler Menschen einzige Bezugsperson für Kinder galt die Mutter. Bis heute hält sich das Bild vom reinen, intuitiv richtigen Mutterinstinkt, der dafür sorgt, dass eine Person ganz einfach aus sich selbst heraus einem Kind ganz und gar gerecht werden kann. Und das mit Leichtigkeit, denn natürliche Reflexe und Instinkte, sind keine Arbeit. Nichts, was man bewusst und aktiv erlernen oder trainieren muss. Nichts, was auch etwas vom Kind oder dem sozialen Umfeld erfordert.

Ich weiß nicht und werde vermutlich auch nie erfahren, wie ich als Kind war. Als Erwachsene kann ich heute nur mutmaßen und von den Erinnerungen, die ich inzwischen an meine Kindheit habe, rückschließen. Im Wissen, um meine Traumawahrheiten, muss ich dabei auch darauf achten, mich nicht störungsverantwortlich zu machen. Ver.Bindung erfordert Kommunikation. Kommunikation erfordert Sender und Empfänger in Kongruenz. Die gleiche Wellenlänge sozusagen. Und die Fähigkeit, die eigene Wellenlänge auf das Gegenüber anpassen zu können.

Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie relevant der Satz „Das hab ich nicht gehört“ oder „Ich hab dich nicht gehört“ in meiner Kindheit war. Meine Eltern haben mich oft ohrenärztlich untersuchen lassen. Mein Gehör war jedoch in Ordnung. Heute kenne ich die ICD 10 Nummer F 80.20, die Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörung [AVWS]. Heute verstehe ich, welche Annahmen andere Menschen allein aufgrund meiner Schreib- und Sprechfertigkeiten (Hyperlexie) hatten.
Und, dass sie falsch waren, ohne, dass ich irgendetwas hätte tun können, um sie zu berichtigen. Ich konnte sehr schnell sehr gut lesen und schreiben – und Worte sehr gut aussprechen – hatte aber ein unterdurchschnittliches Bedeutungsverständnis. Ein unvorstellbarer, nicht nachvollziehbarer Widerspruch für viele Menschen. Man verstand mich als clever, aufmerksam und sehr gezielt in allem, was ich als Sender_in ausgab. Niemand hatte eine Ahnung davon, wie sehr meine Kommunikation auf bloßer Wiedergabe ich-fremder Inhalte beruhte. Was nicht bedeutet hat, dass meine Kommunikation selbst auch ich-fremd war. Ich wusste, dass ich, um mit anderen verbunden zu sein, etwas sagen und auf das reagieren musste, was sie sagten. Und ich wusste, dass es relevant ist, was man, wem wann wie sagt. Die lautsprachliche Kommunikation war damit schon damals das Puzzle, das ich bis heute in jedem Kontakt zusammenbringen muss. Und auch ganz gut kann, denn mein Wort-(bildliches) Gedächtnis ist durch das viele Lesen seit meiner Kindheit umfang- und abwechslungsreich.

Als ich in der Grundschule mit Hörspielkassetten in Kontakt kam, trainierte ich unwissentlich auch meine auditive Wahrnehmung. Meine Kassetten waren das Spezialinteresse, das man bei mir übersah. Während mein autistisches Geschwist über Straßenbahnhaltestellen, Mülltonnen und Pokémon referierte und Plüschtiere im Bett aufreihte, sammelte ich Kassetten nach Verlag und Sprecher_innen und konnte jede einzelne mitsprechen, bevor ich ihren Inhalt auch verstand. Die Kassetten wurden mir das Hilfsmittel zur Barrierenüberwindung, wie es schriftliche Kommunikation bis heute für mich ist.
Die Kassettengespräche konnte ich so oft anhören, wie ich sie brauchte. Da bei einem Hörspiel immer auch mitgedacht wird, dass die Hörenden die Umstände eines Gespräches nicht aus der Körpersprache und der (sozialen) Umgebung schließen können, werden diese Aspekte explizit genannt oder beschrieben. Das war für mich, als würden im Hörspiel die „Störgeräusche“, die in meinem Lebensalltag immer wieder dazu führten, dass ich zum Beispiel meine Eltern „nicht hören konnte“, einfach ausgeschaltet sein. So kam ich in die Lage, Inhalte auch kontextuell zu begreifen und nicht nur wie eine Art Schnellfeuer aus Geräusch und Anspruch in einer Umgebung voller verschiedener Reizschnellfeuer und Ansprüche an die Reaktion darauf.

Als ich sehr klein war, hatte ich diese Hilfsmittel noch nicht. Die Wahrnehmungswelt in der ich er_lebte, stelle ich mir heute als zwangsläufig chronisch stressend, chronisch überfordernd vor. Die verbindende Kommunikation mit anderen Menschen als praktisch unmöglich. Ich nehme an, dass ich eventuell nie einen Unterschied „sehen“ konnte zwischen absichtsvoller Misshandlung und liebevoller Zuwendung.
Überhaupt zu verstehen, was gerade vorgeht – in welchem Kontext ich und das aktuelle Geschehen, in das ich involviert bin, passiert – ist bis heute die Herausforderung, mit der ich (wie andere Autist_innen auch) zu kämpfen habe. Und an der ich weitaus häufiger scheitere, als man es mir anmerkt, geschweige denn zutraut.

Das Ausmaß an Anstrengung, die mit der Kompensation dieser sogenannten „Kontextblindheit“ einhergeht, ist enorm. Das Ausmaß der Überlegenheit von Menschen, die damit keine Schwierigkeiten haben, ebenfalls. Ich bin darauf angewiesen, immer die Kraft dafür zu haben, Erlebtes und Erfahrenes analytisch zu prozessieren. Häufig als „overthinking“ missverstanden, ist es meine einzige Chance zum Selbstschutz und zur Anpassung im Kontakt mit anderen Menschen und gleichzeitig das Verhalten, das mir am häufigsten als Grund für meine psychische Belastung vorgehalten wurde.
Da der Kontext die Kommunikation zwischen Menschen maßgeblich bestimmt, gehen meine Kontaktschwierigkeiten, meine Ver.Bindungsprobleme mit anderen, entsprechend weit über Themen wie Vertrauen, einander mögen und die richtigen Worte im richtigen Moment hinaus.

Tieren hingehen, ist der Kontext oft weniger wichtig. Entsprechend viel leichter fällt es mir, mit ihnen in Kontakt zu gehen und in Ver.Bindung zu sein. Selbst wenn sie mich sensorisch überreizen oder der Kontext über unseren Kontakt hinaus diese Ver.Bindung nicht unterstützt. Um einen Hund zu verstehen, brauche ich mich nicht im Geringsten anstrengen. Ich weiß, dass Straßen scheiße laut und chaotisch unübersichtlich sind. Ich fühls – ein Hund muss mir das nicht erst signalisieren. Genauer gesagt weiß ich genau, welche Signale ich an einer Straße von einem Hund erwarten kann, um in der Annahme bestätigt oder korrigiert zu werden, wie der Hund den Moment erlebt.
Die Mischung aus „wenig Anstrengung“ und häufiger Kongruenz der Empfindungen in Alltagssituationen hat es mir sehr leicht gemacht, eine Ver.Bindung zu meiner Assistenzhündin aufzubauen und diese in ihrer Ausbildung und unserem gemeinsamen Alltag zu gestalten.
Mit ihr im Leben war es leicht für mich, mich generell mit der Welt und im Potenzial mit anderen Menschen verbunden zu fühlen. Jetzt, wo sie gestorben ist, habe ich diese Verbundenheitsgefühle nicht mehr.

Autismus und Ver.Bindung #1

Ein Alien zu sein, kam mir nie in den Sinn. Die Idee, auf dem falschen Planeten zu leben, erscheint mir bis heute merkwürdig. Jeder Planet, den ich kenne, wäre nicht bewohnbar für mich. Alle Planeten, die ich nicht kenne, sind so weit entfernt, dass meine Phantasie nicht reicht, um mir eine Geschichte zu dem Umstand meiner Anwesenheit auf der Erde zu erzählen. Als was wäre ich hier gelandet? Als Ausgestoßene_r oder Verlorene_r? Als Wander_in oder als Geflüchtete_r?
Manchmal wäre ich lieber ein Alien als ein Mensch, der sich fremd fühlt. Was damit zu tun hat, dass ein Alien zu sein für mich bedeutet, der Norm menschlicher Existenz entsagen zu können. Niemand weiß wirklich, wie Aliens sind. Man weiß nur, dass sie nicht sein können wie Menschen.

Möglicherweise kein Mensch zu sein, ist hingegen etwas, das mich schon lange begleitet. Eine Idee, eine Annahme, eine Er_Lebenswahrheit, die sich durch mich hindurchzieht und alle Innens mitberührt. Niemand von uns bezeichnet sich mit der Überzeugung, geboren aus täglich bestätigter Sicherheit, als Mensch.
Ja, da ist viel Traumawahrheit dabei. Aber nicht nur. Nicht einmal überwiegend.

Im Moment von Gewalt ist die eigene Menschlichkeit für mich immer die Schwäche gewesen, die ich nicht überwinden oder verstecken konnte. Der Grund, weshalb es weh getan hat, war meine Menschlichkeit. Der Grund, weshalb ich weinen, schreien, es nicht aushalten … es überleben musste, war meine Menschlichkeit. Der Grund, weshalb ich das alles konnte, war meine Menschlichkeit.

Im Moment des Lebens ist es der permanente Disconnect, das ständig zu berichtigende Mismatch mit anderen, das mich immer wieder so grundlegend in meinem Zugehörigkeitsgefühl zu Menschen verunsichert. Schon mein ganzes Leben lang. Egal, wo. Egal, worum es geht. Egal, welcher Kontext. Zeitraum. Ort.
Die Einsamkeit, die sich daraus ergibt, geht weit über ein ständiges Gefühl des Missverstanden seins oder Ungesehen seins hinaus, das so viele andere Menschen auch im Leben haben. Mit beidem könnte ich umgehen. Nicht gern. Natürlich nicht. Aber letztlich es ist leichter sich verständlich und sichtbar zu machen als sich miteinander in einer Weise zu verbinden, die jene Art der Zugehörigkeitsgefühle auslöst, die ich gern hätte. Die ich mit Sookie empfinden konnte.

Ich fühle mich der Erde zugehörig, weil ihre Pflanzen und Tiere, ihre Objekte und Phänomene mein Bindungspunkt sind. Auf einer Wiese voller Leben bin ich kein Fremdkörper. Im Wind, im Wasser, im Sand, im Licht stehend, kann ich mich so gleichzeitig mit dem Leben fühlen, dass meine Form und Funktion kein relevanter Aspekt ist. Ich habe in mir einen Modus, in dem ich so sein und bleiben könnte. Einfach so da, meinen Bedürfnissen folgend, im ständigen gegenseitigen Kontakt mit dem direkten Ummichherum.
Das ist kein traumanaher Zustand. Kein „reines, pures Innenkind, das mir das Schöne am Leben zeigt“. Kein dissoziatives Nirvana oder „mein wahres Ich“. Es ist ein Selbstzustand, den ich wie so viele meiner Macken und Gefährlichkeiten unterdrücke, um das Leben unter Menschen nicht merkwürdig oder abstoßend zu gestalten. Damit sie sich mit mir verbinden. Wollen. Können. Damit sie mich nicht verletzen, weil sie annehmen, sie wären unbedeutsam für mich. Ich sei emotional kalt. Würde sowieso nichts spüren.

Diesen Zustand zu unterdrücken, hatte ich als Kind überhaupt nicht und als Jugendliche_r noch nicht durchgehend drauf. Als Sookie da war, brauchte ich ihn nicht unterdrücken, weil unser Kontakt praktisch auf ihm basierte.
Jetzt merke ich das Gewicht, die Anstrengung dessen sehr deutlich. Merke, dass dieser Zustand immer auch damit zu tun hat, etwas zu prozessieren und in mir zu integrieren. Und dass ich ihn nur noch beim Schreiben ganz natürlich zulasse. Wenn ich allein bin, meinen totalen Gehörschutz trage und die absolute Kontrolle über die Gerüche und Texturen des Zimmers habe. Wenn es nur noch meine Fingerspitzen und Gedanken sind, die Verbindung herstellen.

ob stolz oder nicht

Ich schrieb neulich über die Wichtigkeit, die Scham für mich hat, wenn es um meine Erfahrungen sexualisierter Gewalt und ihren Folgen geht.[1] Als „Seitenarm“ bezeichnete ich dabei auch die Scham, die ich als behinderte Person oft empfinde.
„Seitenarm“, weil der Text, wie meine Podcasts, die meisten meiner anderen Blogtexte, meine Beiträge an anderen Stellen, zu lang war. Und zu kompliziert. Und deshalb irgendwie … naja, anstrengend. Zu viel.
„Seitenarm“ schrieb ich, weil ich mich schon vor der Veröffentlichung dieses Textes über das Schreiben des Textes und die Notwendigkeit dieses Textes für mich selbst, geschämt habe. Dass ich diesen Aspekt überhaupt erwähnte, ist Ergebnis meines Vollständigkeitsanspruchs. Zu meiner Scham über alles, was mit meiner früheren Opferschaft zu tun hat, gehört auch die Scham über alles, was mich sonst noch ausmacht.
Aber warum hab ich das nicht einfach verschwiegen? Einfach Klappe zu. Stille. Nichts sagen, nichts zeigen. Was sehen, nicht gesehen werden. Ist doch nicht so schwer.
Oder?

Der Juli wird als disability pride month begangen. Zumindest im US-amerikanischen Sprachraum. Und in manchen deutschen Städten. In Berlin zum Beispiel dieses Wochenende.
Ich kann da nicht hingehen. Möchte es auch nicht. Es wäre geheuchelt. – Anderen gegönnt und zugepusht, keine Frage, aber mir selbst gegenüber wäre es geheuchelt. Ich bin nicht stolz, nicht mal irgendwie grundsätzlich okay damit behindert zu sein. Chronisch krank. Gehandicapt. ~Herausgefordert~
Ich muss es hinnehmen, obwohl es die meisten Menschen nicht hinnehmen. Ich muss damit leben, obwohl die meisten Menschen es kacke finden, dass ich einfach damit lebe. Ich kann nichts dagegen tun, obwohl die meisten Menschen genau das von mir verlangen. Implizit. Unbewusst. Nicht so gemeint. Aus Versehen.

Es gibt viele Mikrointeraktionen, die mich beschämen. Manchmal bevor, manchmal nachdem ich selbst bemerke: „Hey, das tut eigentlich weh.“ oder „Äh, aber ich kann das nicht (anders als so) …“.
Und genau so viele Anpassungslügen von mir. Ich kann gut die Klappe halten. Gut sein lassen, was mir im Fleisch steckt und mich monatelang quälend schmerzhaft beschäftigt. Das ist nicht nur „Maskieren“, das ist auch knallharter Selbstbeschiss. Selbstverletzendes Verhalten. Lieb, okay, freundlich, nett nach außen – hasserfüllt, zerstörerisch und brutal nach innen. Außen Lüge, innen Wahrheit. Außen normal, innen behindert.

Ich war in den letzten Wochen traurig, weil ich öfter danach gefragt wurde, wie es bei der neuen Arbeit ist, als danach, wie es ist, jetzt, wo Sookie nicht mehr lebt.
Es ist traurig, weil sich für mich darin zeigt, dass niemand ein echtes Verständnis davon hat, was mein Assistenzhund für mich geleistet hat. Ganz konkret. In jedem Moment, in dem ich mit anderen Menschen zusammen war.
Und es ist bitter, weil ich auch von anderen behinderten Menschen weiß, dass die wenigsten von ihren nicht- oder anders behinderten Freund_innen fragen würden, wie es ihnen mit dem Verlust ihrer Brille, ihres Rollstuhls, ihrer Insulinpumpe, ihrer Pflege- oder Assistenzperson geht. Ich bin nicht allein damit. Das machts eben so, wie es ist: Traurigbitterschlimm.

Ohne Sookie hätte ich niemanden von denen kennengelernt, die ich heute als meine Freund_innen und Gemögten bezeichne. Nicht eine_n. Nicht mal die Person, die mal meine Betreuerin war. Die hätte ich wahrnehmen gelernt wie jeden anderen Menschen auch – aber mehr auch nicht.
Ich hätte weiterhin das Haus kaum verlassen. Hätte weiterhin Sprechen abgespult, Reden performed, Leben gespielt und mich dafür gehasst, dass ich einfach nicht rauskomme. Weiterkomme. Rankomme. An die Welt. An die Menschen. An das, worum es geht.

So viele der Fähig- und Fertigkeiten, die ich mit Sookie trainiert habe, sind jetzt wie aus meinem Kopf radiert.
Und niemand scheint es zu merken.
Und niemand soll es bemerken.
Und ich wünsche mir, dass es alle bemerken.
Und ich weiß, dass das, was nötig ist, um es zu bemerken, wirklich sehr tiefe Einsicht in mein Erleben und Funktionieren erfordert.
Was zu viel verlangt ist. Immer war, immer sein wird.
Es ist so schwierig. So kompliziert. So langwierig zu erklären.

Es ist so, wie es niemand mag.
Und ich muss damit klarkommen.
Ob stolz drauf oder nicht.