die Liste

Es raschelt leise, als sie die abgegriffene Liste aus dem Bauch des Plüschnilpferds herauszieht.
„Dinge die ich machen will, wenn ich frei bin“

Es dauert nicht lange, da tropfen die hundertsten Tränen an den Rand.
So viele Dinge sind bereits durchgestrichen oder mit großen Stolzbuchstaben kommentiert. Ein kleiner Kringel neben die Dinge, die man an der Seite eines Menschen erlebte, der nun so fern erscheint.
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„Das ist wie ein Leben im Leben in Freiheit, das bereits fertig gelebt wurde, nicht wahr?“. Sachte streichen weiche Federn über ihr Gesicht, lassen die Trauer etwas weichen und den Griff um den Brustkorb lockerer werden. „Ja. Irgendwie ist dieses Leben fertig entwickelt und ausgeglüht. So wird es nie wieder.“

Sie greift zum Taschentuch und macht sich frei. Streichelt den Hund, tupft die Feuchtigkeit vom Papier.

„Gibt es etwas davon, was du heute versuchen möchtest?“, es raschelt leise hinter ihr.
Sie atmet ein, horcht nach innen, überlegt und liest sich die Punkte durch.

– in einem Laden ein ganz neues unreduziertes Kleidungsstück kaufen, das gefällt
– einen ganzen geräucherten Fisch kaufen und essen- ganz mit ohne alles
– Schnittblumen in einem richtigen Blumenladen kaufen
– etwas schreiben, ganz nachts, an einem offenen Fenster, wenn ein bisschen Wind herein kommt

„Ja“, ein Lächeln durch die Schleier des Moments.

Es raschelt, als sie Liste aus ihrer Jackentasche zieht.
Eier
Milch
Butter
Backmischung
Wasser
Fleisch
ein ganzer geräucherter Fisch (
das ist von der Liste und du musst mir helfen damit)

„Nunja… „, sie schnalzt mit der Zunge und stampft sich den Weg durch den Markt. „Aber wenn schon, denn schon.“ Sie nimmt den größten, schönsten, festesten, den sie finden kann und legt ihn vorsichtig in den Korb.
Sie schreibt auf die Rückseite ihrer Liste:
Etwas, dass ich möchte, wenn wir frei sind – einen ganzen FRISCH geräucherten Fisch essen, mit Beilage, in angenehmen Ambiente.

„Es ist, als würde sich ein Leben nach dem Anderen neu konstruieren, noch während man eines lebt, nicht wahr?“
Sie wischt sich die fettigen Finger an einem Tuch ab und kichert. „Oder, als würde Einer nach dem Anderen langsam merken, dass wir solche Sachen heute wünschen können, ohne, dass etwas Schlimmes passiert.“ Sie streicht einen Punkt durch und überträgt den Neuen.

er- tragen aus- halten

Ist schon mal jemandem aufgefallen, wie wir das Wort „Aushalten“ verwenden?
Es klingt oft so erzwungen aktiv.
„Du musst das jetzt aushalten“
mit einem
„Tut mir auch leid, aber…“

Aushalten. Wach zu sein und genau zu spüren, dass jede Faser im Körper einfach nur noch nach Ruhe und Regeneration bettelt, während die Stimme und der Geist völlig klar, Wort an Wort reihen.

Aushalten da zu sein und ES in sich arbeiten zu fühlen.

Da sind zwei Sätze aus der Therapiestunde. Der Eine öffnet eine Tür ins Geisterreich der Vergangenheit und der andere trifft einen Punkt, der doch so dringend wiederlegt gesehen gebraucht wurde.
Man sprach über ES und einen Teil ES, über nicht ES und doch ES und weiß, dass man es aushalten musste.

Konnte, sollte, gar keine andere Wahl hatte. Es einfach so hielt. Irgendwas hat da gehalten. Hat gemacht, dass das Aushalten irgendwie durch- mit- überlebt werden konnte. Und doch war es nicht aktiv. Es war einfach. Es war einfach so da, das Aushalten.

Etwas, vielleicht sein Sein, sein Leben, in sich zu halten und dieses, so wie es dort in diesem Umständen war, zu ertragen.
Wieso sprechen wir nicht von einem „Ertragen“? Es war doch ein Ertragen, man trug doch so schwer an etwas, wurde doch mit etwas beladen, dass man zu tragen hatte. Etwas zu tragen ist aktiv. Da ist Bewegung für alle sichtbar drin. Wenn man etwas hält, dann ist es eine Aktivität, die so in einem selbst drin ist- nur in sich und dem was angestrengt wird, um die Kraft zur Haltung aufzubringen.

Etwas zu tragen, impliziert ein von A nach B bringen für uns.
Und das ist doch passiert. Damals wie heute wurde ES durch die Zeit und unser Leben getragen. Es war immer da und jetzt wurde es betrachtet. Wieso nur, fühle ich mich jetzt so schwach, dass aus dem Tragen ein Halten wurde?

Ist es wirklich nur diese einfach unglaublich krasse Müdigkeit des Schlafentzugs? Das Fieber, das seit der Stunde im Körper tobt? Der Kreislauf, der von der Zigarettenkette, die durch meine Lunge gezogen wird, eingekreist wird? Das Bewusstsein um ES, die Bilder vor den Augen die immer wieder neu weggedrückt werden müssen?

Oder ist nicht vielleicht doch, das aufkeimende Wissen darum, dass man ES, obwohl es nun durch Worte geformt- zu einem ES mit Form wurde, weiterhin zu tragen hat und nicht sieht, wo man endlich einfach von sich fallen lassen kann?

Vielleicht, weil man denkt, dass irgendwo in diesem ES genau das drin ist, was überhaupt erst die Möglichkeit zum Aushalten gebar?

täter?- KONTAKT! Teil 1

Immer wieder kommen Menschen mit Suchanfragen bezüglich des Themas „Täterkontakte“ auf diesen Blog.
Ja- phu- was für ein Thema- natürlich unglaublich wichtig und eigentlich dauerpräsent.
Natürlich möchte ich dem angemessen begegnen, breche hier dann aber gleich zu Beginn einfach mal ab.

Nein- wir reden jetzt mal nicht über TÄTER(kontakte), sondern über KONTAKTE.

Über die Täter wissen wir schon richtig viel und täglich wird es mehr.
Doch die Einsamkeit der Opfer bleibt unbenannt und das ist etwas, das unter Umständen tödlich ist. Im Gegensatz zur Gewalt, die sie vorher überlebten und oft noch eine ganze Weile überleben, wenn es um organisierte oder auch Partnerschaftsgewalt geht.

Es war eine der bittersten Erkenntnisse die wir im Verlauf unseres „Ausstiegs“ (den ich im weiteren Text lieber „Abkehr“ nennen möchte- da wir niemals einen „Einstieg“ hatten, sondern hineingeboren wurden) hatten:
Gewalt ist überlebbar– auch wenn es sie sich nie so angefühlt haben kann. Immer gefühlt endlos dauerte und immer weiteren Schaden in uns verursachte.
„Wir sind fähig grausame Qualen zu erfahren und am nächsten Tag wieder zur Schule zu gehen, unsere Betreuer und nahe stehenden Menschen im Glauben zu wiegen, es gäbe keine Täterkontakte.“

Zwischen dieser Erkenntnis und der Kraft sich tatsächlich direkt zu verweigern, lagen bei uns etwa 3 Jahre.
Wir hatten in der Zeit ein Kontingent von über 20 Fachleistungsstunden pro Woche im Rahmen der ambulanten Jugendhilfe, eine ambulante Psychotherapeutin, eine Psychiaterin, einen Hausarzt und eine Klinik mit Schwerpunkt auf der Behandlung von Traumafolgestörungen in der Stadt, die wir zur Intervalltherapie aufsuchten.
Doch keinen einzigen Menschen, dem es rein um uns ging. Und obendrauf, waren wir nach unserer Odyssee der Unzuverlässigkeiten nicht einmal mehr in der Lage uns auf Menschen in helfender Position in irgendeiner Form einzulassen, die mehr verlangte als das was vertraglich/ gesetzlich vorgeschrieben war.

Wenn uns unsere Betreuerin begegnete, haben wir über den Alltag gesprochen, der übrigens nie ein Problem war. Man musste uns nicht beibringen wie wichtig Hygiene und Ordnung, Zuverlässigkeit oder Ehrlichkeit ist.
In der Psychotherapie ging es um „Stabilisieren, was stabilisierbar ist“. (Dies ist zumindest das Fazit heute)
Der Hausarzt klatschte noch bei einem BMI von 17 Applaus und hat bis heute keinen Zugang zu den auch körperlichen Folgen von (Psycho)Traumata- doch um einen anderen zu suchen gibt es noch zu viele Hürden.
Die Psychiaterin verschrieb weiter und weiter Antidepressiva, Benzodiazepine und Neuroleptika.
Nur in der Tagesklinik hatten wir die Chance eine Basis aufzubauen, die es uns in kleinen Schritten ermöglicht hatte eine unserer ersten Verbündeten in unser Leben zu lassen und überhaupt das kleine Fünkchen Resilienz, dass uns knapp 6 Jahre vorher hatte räumlich flüchten lassen, zu hüten und wachsen zu lassen.

Doch wir waren so erst mal unglaublich einsam. Gingen an die Abendschule und versuchten den Normen einer Welt zu entsprechen, die uns verboten war (und nachwievor ist) und kauten uns durch eine Zeit, die absolut bis in die Grundfesten gespalten war; trafen Menschen und enttrafen sie wieder. Was wussten sie denn schon?
Mit Anfang 20 hat kaum jemand so eine Geschichte hinter sich und weiß obendrein noch, dass das was er da gerade erlebt, wahrnimmt und durchmacht so weit außerhalb der Norm liegt, dass selbst jene, die sich mit Extremen befassen, einander darüber in die Haare bekommen.
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Und dann kam da dieser Mensch.
Laut in jeder Hinsicht, mutig, resilient, mitten im Leben und einer zauberhaften Attitüde auf uns zu. Begann Gespräche, diskutierte und debattierte mit uns. Über Monate hinweg kam da stetig jemand auf uns zu, war an uns interessiert, ohne uns „haben zu wollen“. Nicht wir haben den Kontakt eingefordert, sondern dieser Mensch und trotzdem war alles anders, als mit den ganzen Menschen die wir vorher trafen.

Da ging es nicht um Geld, Verantwortung, Zwang oder Ziele.
Da ging es um das Leben und Gemeinsamkeit.
Plötzlich sprach jemand für uns- nicht: statt uns. Sorgte sich um und für uns. Einfach so, weil er sich dafür entschieden hatte.

Über diese Tatsache sind wir dann erst einmal gepflegt zerfleddert. An so eine Beziehung waren wir nicht angepasst- hatten noch nicht eingeübt, wie man ohne Selbstabgabe, ohne den Preis des Schmerzes oder die Notwendigkeit des Verschweigens so einen Schatz bewahrt und mit ihm umgeht.
Bei gemeinsamen Aktivitäten tauchten nach und nach Innens auf, in der Erwartung genommen zu werden- nicht damit rechnend schlichte An-nahme zu erfahren.

Das war wiederum eine Situation, die für diesen Menschen schwierig war. Doch- oh wow! Nein- er ging nicht weg! Er holte sich Unterstützung- doch nicht etwa in einem schlauen Buch allein oder von der Profiseite, sondern von einem Menschen, der ebenfalls multipel ist und machte uns mit ihm bekannt. So trat also der nächste Mensch in unser Leben, der ähnlich verbündet mit uns wurde. (Und übrigens auch „unser erster anderer Multi“- hatte auch was, zu sehen, dass es irgendwie doch ganz normal nach außen aussieht, Viele zu sein…)

Unsere Verbündeten und wir. Ein Bündnis. Eine Ver- Bindung.
Die erste nicht von Machtausübung dominierte Beziehung in unseren 20 jährigen Leben.

Während des Folgejahres wurden wir Stück für Stück unzuverlässig für die Täter. Nicht mehr jeder Zettel in unserem Briefkasten, nicht mehr jedes Angesprochen werden auf dem Weg zur Schule, nicht mehr jedes Klingeln des Telefons wurde beantwortet. Wo wir uns aufhielten und was wir machten, konnten wir nicht verstecken. Wir hatten keine Chance uns bürokratisch zu befreien, obwohl wir es durchgängig mit jedem Antrag der ambulanten Hilfen versuchten und so ziemlich jeden juristischen Hebel durchexerzierten. Der Gesetzgeber schützt die Kernfamilie. Auch die Kernfamilie die ihre Mitglieder zerstört.
Solange keine Strafanzeige gestellt wird und eine Gefährdung eindeutig nachgewiesen werden kann (und das konnte sie eben nicht) gibt es keinen Schutz vom Staat.

Zwei Mal wurde in unsere Wohnung eingebrochen. Einmal stand mitten in der Nacht ein fremder Mensch in unserer Wohnung. Was dort geschehen ist, wissen wir bis heute nicht genau.
3 Wochen später (!) half uns die Betreuung das Schloss auszutauschen.
Dort wir kehrten nicht wieder dorthin zurück.

Die Schutzmöglichkeiten, die sich nun boten, waren ein Witz. Die Notfallausweichwohnung der Betreuung war eine vom Vorbewohner verwüstete Antibiotikazuchtstation in der gerade mal noch unsere Haustiere zum Übergang bleiben konnten. Als Alternative gab es einen Platz in einer Wohngruppe oder die Psychiatrie.
So an die Wand gedrückt, haben wir es dann gewagt und das Angebot angenommen, bei dem mit uns verbündeten Menschen unterzukommen.

Es folgte noch ein Täterkontakt, der in einer kurzen Prügelei und einem deutlichen NEIN endete.
Da wo wir nun lebten, waren wir sicher, das wussten wir.
Nicht weil es doppelt- und dreifach verriegelbare Türen, Panzerglas und keinen Kontakt zu Außenwelt gab oder weil es soviel Bewusstsein über die Täterstrukturen gab oder ein konkretes Wissen darum, was uns wo wie und durch wen angetan werden könnte, sondern, weil es jetzt definitiv jemand bemerken würde, wenn wir plötzlich nicht mehr da sind.
Wir wussten, dass dieser mutige Mensch keine Hemmungen hätte, beim leisesten Verdacht die Polizei anzurufen und zur Not zu erstreiten, dass diese sich zu uns in die Wohnung bewegt. Dass dieser Mensch gegenüber den so verletzten Innenkindern ein so großes Schutz- und „Behüt“-Bedürfnis hat, dass er sich in jedem Fall an unsere Seite stellen würde, um uns daran zu hindern von uns aus Kontakt aufzunehmen oder uns oder ihm etwas anzutun.

Und dann kamen die Dränge.
Erst der Drang zu gehen, Besuche zu machen. Dann der Drang zu sterben. Dann die große Depression, die mit unsäglichen Schmerzen einher ging. Dann die Flashbacks. Dann die Panik. Dann die inneren Zeitverschiebungen. Dann der letzte Überfall. Dann der Drang sich zu entschuldigen. Dann die ersten Krampfanfälle (die sich übrigens als seltene Nebenwirkung eines Medikamentes herausstellten, das wir in der Zeit anfingen zu nehmen). Und dann der kalte Entzug der Benzodiazepine, weil uns sonst die Sanitäter nicht mehr helfen konnten, wenn der Krampfanfall nicht anders als mit Medikamenten unterbrochen werden konnte.
Dann die inneren Tenöre. Dann der Hass nach Außen. Dann wieder die Depression. Dann wieder die Angst. Dann die Trauer. Dann die Wut. Dann wieder die Angst. Geschlafen haben wir in der Zeit so gut wie gar nicht (wenn dann eben durch Medikamente).

Und dann… nach etwa 3- 4 Monaten: Sonnenbrand.
Vogelzwitschern. Kinder im Hof. Kein Schuldgefühl beim Griff nach einem Lebensmittel. Erster Galgenhumor über einzelne Situationen der letzten Monate. Die Katze auf dem Bauch deren Schnurren den eiskalten Klumpen im Bauch antaute. Mehr Aktivität als das Liegen auf der weißen Couchwolke. Eine neue Wohnung in Aussicht und Pläne diese einzurichten.
Ohne an uns zu zweifeln, suchte der Mensch erst Pia und dann Mia mit uns aus. Zwei wunderbare kleine Katzenseelchen, die uns erfreuten, Sorgen umlenkten, strukturierten, eingrenzten und doch über uns hinaus wachsen ließen.
Ein Neustart.


Wir haben nie wieder Gewalt durch Täter ertragen müssen.
Obwohl es nachwievor „Täterkontakte“ gab. Die bürokratische Zwinge konnten wir nicht aufbrechen und durch viele Datenschutzlücken und auch Nachlässigkeiten unserer Betreuer (bzw. jetzt der Menschen in den Ämtern, von denen wir abhängig sind), waren (und sind wir nachwievor) gefährdet.

Doch wir sind sicher, denn wir haben KONTAKT hergestellt.
Nicht nur zu (inzwischen vielen) Verbündeten, Gemögten und HelferInnen, sondern auch zu unserem Resilienzfünkchen und der Welt die so schön- wenngleich so verboten ist.

Fortsetzung folgt


P.S. Es gibt bereits einen Artikel der sich mit dem Thema befasst. Doch die Häufigkeit der Suchanfragen, rechtfertigt für mich ein häufigeres Aufgreifen, auch weil ältere Beiträge gezielt gesucht werden müssen.

„Einstieg in die Freiheit“, statt „Ausstieg“

Es ist für uns gerade eine Zeit in der sich unser Fokus weitet und uns vielschichtig aufspreizt- vielleicht auch neu zerreißt? Wieder wird klar, warum wir uns hier nicht offiziell eingemeinden lassen können. Warum wir uns zu Recht noch nicht als „wirklich ausgestiegen“ betrachten können.

Wir leben schon viele Jahre nicht in mehr in physischer Abhängigkeit derer die uns pseudoreligiöse Werte vorlebten und sind auch nicht mehr in der Situation Gewalt und Ausbeutung aushalten zu müssen. Aber wir schleppen ein Erbe mit uns herum.
Sind innerlich noch längst nicht ganz ausgestiegen.

Vielleicht ist „Ausstieg“ auch nicht das, was wir wollen und schaffen möchten. Denn der Begriff des „Ausstiegs“ impliziert einen Standpunkt und einen Zeitpunkt des Einstiegs. Wir aber sind nie eingestiegen- wir wurden hineingeboren und aufgezogen mit diesen Werten und hatten zu keinem Zeitpunkt wirklich einen einzelnen Standpunkt. Es war schon immer so, dass es Innens gab, die sich gegen Unrecht und Gewalt eingesetzt haben- während andere Innens genau Unrecht und Gewalt er- und ge-lebt haben.

Es ist für uns wichtig geworden zu spüren, wie berechtigt der Wunsch ist keine Schmerzen und Demütigung aushalten zu müssen- doch es ist ein anderes Wertesystem. Eines, das nur deshalb als gut und richtig und wichtig geschätzt wird, weil es der Masse der Menschen als gut und richtig und wichtig vorgelebt wird.
Unabhängig davon, wie wir dieses Wertesystem bewerten liegt es an uns, uns dem hinzugeben oder eben auch nicht. Es hat etwas damit zu tun sich dafür zu öffnen und es in sich hineinzunehmen. Es hat etwas mit Anpassung zu tun- aber nicht mit tatsächlicher Freiheit.

Eine unserer ersten Diagnosen war „Anpassungsstörung“.
Kein Wunder- erlebten wir doch gerade einen Weltenchrash der an Parallelen kaum noch zu überbieten war.

Gab es vorher die „helle“ und die „dunkle“ Welt (beides gruselig, weil nie in Gänze erfass- einschätz- und erinnerbar), gab es dann plötzlich „drinnen“ und „draußen“ sowohl räumlich als auch direkt bei uns. Plötzlich waren wir minderwertiger Patient drinnen (der für sich behalten soll, was in ihm ist- aber trotzdem immer wieder gezwungen (ja wirklich- gezwungen!) wird, etwas von sich und seinen Gedanken, Normen und Werten zu erzählen) und draußen waren die, die wertvoll und frei waren (die Ärzte, Therapeuten, Pfleger, Besucher… die man alle nicht zwingen konnte, etwas von sich preiszugeben).

Diese Zeit war für uns ein schlimmer Fallstrick- ja- eigentlich sogar ein ganzes Fallstricknetz, so dass es uns nie wundert, weshalb viele der Betroffenen, die wir so kennengelernt haben im Lauf der Zeit keinen Ausstieg in dem Sinne schaffen, als dass sie in Freiheiten kommen, wenn sie immer wieder in psychiatrische Stationen müssen, die geschlossen sind. (Und dort oft von Helfern behandelt werden, die um ihren Kopf ein herrlich stabiles Holzhaus gebaut haben, auf das dort niemals etwas heraus oder herein kommt.)

Wenn man aus einem abgeschlossenen Sozialkonstrukt heraustritt und alle Handlungen und Tätigkeiten die in ihr als wertvoll und zwingend normal (im Sinne einer Norm) angesehen werden, steht man erst mal völlig allein da- es sei denn man hat sich andere Dinge bewahrt- und sei es die Fähigkeit seine Werte in einem Teil seines Selbst neu bilden zu können.

Ich habe oft den Eindruck, dass der Faktor der Anpassung an „die Gesellschaft“ (hier nicht näher definiert) der Anreiz für den Ausstieg sein soll oder auch die Anpassung den Ausdruck der eigenen Normen und Werte gegenüber anderen Menschen zu finden.
Als sei Freiheit etwas, das man nur erlangen kann, wenn man sich gut an „die Gesellschaft“ und „die Welt, wie sie außerhalb der Pseudoreligion nun mal ist“ angepasst hat und sie für sich nutzt.

Doch gerade jetzt denke ich, dass es nicht darum geht. Und auch nicht gehen sollte.
Der Wunsch nach Anpassung ist da- natürlich. Wir Menschen sind Individualisten mit Gruppenabhängigkeit- unsere Evolution war so nett uns dies als teilweise genetisch verankertes Markerchen mitzugeben. Doch das ist das, was uns frei macht: die Fähigkeit ganz wir selbst- ganz individuell zu sein.

Wir haben uns früher nie eingesperrt gefühlt- weder in der „hellen“ noch der „dunklen“ Welt. Es war einfach unsere Welt. Der große Katastrophenknall der Erkenntnis kam erst, als wir an einem der pseudoreligiösen Feiertage in unserer ersten eigenen Wohnung saßen und merkten, dass die Art der Wertschätzung des früheren Sozialkonstruktes uns auf eine Art verletzte, die dazu führte, dass uns jemand von außerhalb dessen vermittelte, was genau aus ihrer Sicht dort mit uns passierte.
Wir mochten diesen Menschen und fühlten uns ihm verpflichtet- das Gleiche galt aber auch für jene hinter bzw. in diesem uns verletzenden Sozialkonstrukt. Wir haben uns hin- und herziehen lassen, bis wir den Knall endlich rauslassen konnten und wir uns für eine radikale Zu-Nichts-Niemand-Nirgendwo-in-Gänze-Verpflichtung entschieden.

Für konsequente Nirgendwoanpassung sobald wir uns selbst dabei verloren.
Schwupp war der Druck raus, bekamen wir eine Ahnung von freiem Durchatmen und den Möglichkeiten der Denkrichtungen, zu der unser Gehirn als Ganzes in der Lage ist.
Und doch ist bei aller äußeren Freiheit noch das Gefängnis im Innen da.

Da gibt es nachwievor Innens die diesen Selbstbefreiungsrundumschlag nicht miterlebt haben. Die nachwievor in Teilen der früheren „hellen“, der „dunklen“ und auch der „drinnen“ Welt kleben. Sie sind das, was damals alle an uns ziehenden Seiten jeweils noch immer in der Hand halten.

Diese Innens haben keinen Standpunkt- sie können nicht „aussteigen“, weil sie nicht stehen.
Sie haben keine Basis und Trittbretter herbei zu schaffen, liegt an uns. Doch wo sollen wir sie hernehmen, wenn wir doch immer wieder feststellen, dass eine Anpassung- nicht eine Freiheitspraxis von uns erwartet wird?Eine Freiheitspraxis die auch unabhängig von unseren HelferInnen und all dem, das doch nur dafür da ist, uns zu helfen, passieren darf, ohne als unpassend oder sogar minderwertig zu gelten.

Es ist für uns sehr traurige Freiheitspraxis eben nicht eingemeindet zu sein und die Feiertage allein zu 212289_web_R_K_B_by_Ruth Rudolph_pixelio.deverbringen. Sehr anstrengende Freiheitspraxis dem Sog des Suiziddrang-zwangs zu widerstehen und so in Kauf zu nehmen in ein einem bestimmten Konstrukt eben dann als schlecht und und minderwertig zu gelten. Es ist traurige Freiheitspraxis zu wissen, dass die Menschen die uns umgeben (außer denen die das jetzt lesen und uns kennen) keine Wertschätzung dem gegenüber zeigen. Es ist beängstigend zu spüren, dass wir auch keine klinischen Hilfen mehr in Anspruch nehmen können, weil die Strukturen unnachgiebig und starr (und damit für uns kaum bis gar nicht nutzbar) sind- wir also nicht einmal mehr so frei in der Annahme von Hilfe sein können, wie wir uns da doch ursprünglich erkämpft haben.

Es ist außerordentlich schmerzhaft so frei zu sein, dass man fast haltlos ist.
Freiheit bedeutet auch Dinge nicht anzuerkennen und rebellisch und störrisch zu wirken. Anzuecken und zu hinterfragen. Unangepasst an „die Gesellschaft“ und doch Teil von ihr zu sein. Strukturen zu erfassen, ganz für sich abzuschätzen und zu versuchen sich an sich anzupassen- nicht sich selbst ihr anzupassen.

Ich komme mir vor als wandere ich durch die Wüste und sammle trockenes Holz. Trittbretter für jene Innens die keinen eigenen Standpunkt haben. Immer weiter und weiter- einfach weil wir als Einsmensch kein Sklave mehr sein wollen. Schritt für Schritt auf einer Reise, die aber nicht in einem heiligen Land enden wird.
Sondern in der persönlichen Freiheit.

 

Vielleicht sollte man es für alle so nennen: „Einstieg und Anpassung an Freiheit“.
Irgendwie macht mir meine Wortsynästhesie dieses Wortpaar passender für das was erreicht werden will, als die Wortgruppe „Ausstieg und Loslösung aus destruktiven Zusammenhängen“.

An Erstem sind kleine Rippel zum Festhalten dran.

 

P.S. Auch hier gibt es wieder ein offenes Ende- wir wirbeln immer noch herum und taumeln gerade eher ein bisschen hin und her und ergießen uns hier eher als wirklich fest und klar zu schreiben, worauf wir hinaus wollen. Gehört dazu denken wir- also kriegts einen Platz.

7 Erwachsene

Sie sucht herum und weiß nicht wohin. Sucht das Heute von Gestern und findet nur noch freie Fläche. Ihre Geschichte wird Stück für Stück gefressen von der Karies am Zahn der Zeit.

Stumm ist sie gezwungen zu sehen, dass ihre Schulen und sogar Kindergärten und Heime abgerissen wurden. Es ist nur noch ein leerer Platz, dort wo ihre Worte hallten und in niemandes Kopf zu dringen vermochten.

„Wo ist mein Gesagtes jetzt?“.
Sie steht da und wartet noch immer auf eine Antwort, dreht und wendet ihre Worte wie Steine in ihrem Mund herum. Ab und an beißt sie darauf, um ihre Festigkeit zu prüfen. Sich zu versichern, dass es noch die Gleichen sind wie vor 19 Jahren. Um dem kleinen Herzen, das in ihren Haaren wohnt, sagen zu können, dass sie gewappnet sei, falls doch die Erzieherin wiederkäme und sie nochmal fragte.

Sie steht noch immer an dem mehrschichtig lackiertem Karussell. Versucht zu ergründen, wieviele Farbschichten es bedecken und pult mit ihrem abkauten Fingernagel daran herum. 316455_web_R_K_B_by_mondstein_pixelio.de

„Hier sind wir lang gelaufen. Es war Sommer mit 37°C und sie haben Wasserschläuche hier hingelegt mit Löchern drin. Da konnte man nackig durchlaufen und es war so schön. Es gab Capri- Eis zum Mittag.“

Jetzt ist nichts mehr davon da.
Der Ort an dem die Not aus Versehen sichtbar wurde, existiert nicht mehr.
Es ist, als sei die Chance nun noch endgültiger als damals vergangen.

Das Heute hat das Gestern gefressen.
Was bleibt ist das Mädchen, das erzählte, dass es Monster gibt, die Kinder schlagen und auseinanderreißen.

Das Mädchen, das noch immer da steht und sich fragt, wo sein Gesagtes jetzt ist.

Im Schnitt muss ein (sexuell) misshandeltes Kind, 7 Erwachsene ansprechen, bis es gehört wird

ein paar behinderte Gedanken zu Menschen mit Behinderungen und Behinderungen an sich

Morgen haben wir einen Termin in der Abendschule.
Es geht darum sich vorzustellen, seine Bewerbung, seine letzten Zeugnisse und Unterlagen zur Person abzugeben. Es wird darum gehen zu schauen, ob wir dort sein können, was wir für Unterstützung bekommen können, was für Anforderungen gestellt werden.
Ich bin schon angekritzt darüber, nicht einfach nur meine Unterlagen dorthin schicken zu können und dann nur noch auf einen Anmeldebestätigung warten zu müssen.
Aber wir fallen aus den Aufnahmekriterien heraus, also bleibt uns keine andere Wahl.
Voraussetzung ist eine abgeschlossene Berufsausbildung und 2 Jahre Arbeit, sowie Arbeit oder ein zu versorgendes Familienmitglied nebenbei.
Tja, damit können wir leider nicht dienen- und wenn wir es könnten, würden wir uns sicher nicht noch mal 3 Jahre Abendschule geben.

Ich fand mich richtig gut in dem Telefonat mit der Sekretärin. Ich war sachlich, logisch und nicht defensiv.
Ich sagte, ich hätte gerne einen Termin mit dem Schulleiter, um abzuklären ob und wenn ja was für Möglichkeiten es für mich gibt, auch mit meiner Schwerbehinderung (Bumms! Ich habe das Wort gesagt!) teilnehmen zu können und wie die Lage in Bezug auf Unterstützung von Seiten der Schule aussieht.
Die Sekretärin gab mir einen Termin und stellte dann die Preisfrage: „Darf ich Sie fragen- sitzen Sie im Rollstuhl?“. Ich antwortete, das sie mich natürlich fragen darf und, dass ich nicht im Rollstuhl sitze.
(Btw: Was ist das bitte für eine Sprachführung?! Den Rest des Tages fragte ich mich, ob sie mich nur fragen wollte, ob ich einen Rollstuhl benutze oder, ob sie mich fragen wollte, mich etwas zu fragen zu dürfen und dann die Frage nach der Behinderung stellte, und ob ich nun richtig reagiert hatte oder nicht.)

Es ist eine kleine Episode. Total normal und nicht schlimm.
Aber wieder kreiseln in meinem Kopf viele Gedanken wüst hin und her.
Da ist zum Beispiel der Gedanke zum „Standartbehinderten“ in der breiten Masse.
Ich bin mir nicht sicher, aber viele Menschen auf die ich so treffe, oder gerade so in Bezug auf normierende Bürokratie, wie jetzt zum Beispiel in der Verwaltung der Schule, scheint es die Verknüpfung: Schwerbehinderung= das Plakat von „Aktion Mensch“ zu geben.
Schwerbehinderung, das heißt, Rollstuhl, Blindenführhund, Gebärdensprache, eine futuristische Prothese oder die spezifische Physiognomik von Menschen mit Down-Syndrom. Schwerbehinderung das heißt: „Himmel wie kommt der Mensch bloß klar?! Der muss ja total viele Sachen im Alltag anders machen. Der braucht ja richtig viel Hilfe, weil er was nicht kann, was sein Körper (und hier biologistisch eingeflochten der „Geist“ wie der derzeit einzig ausmessbare Intellekt falsch benannt wird bei „geistiger Behinderung“) ihm verweigert.“
Schwerbehinderung heißt auch: „Boa guck mal, was der Mensch TROTZDEM (nicht etwa MIT) kann.“ Heißt auch: Aussagen von den betreffenden Menschen „Ich leide nicht unter meiner Behinderung- ich leide darunter, wie meine Umwelt mit mir umgeht.“. Heißt immer und immer und immer: anders als „DIE ANDEREN“.

Nun ist es so, dass man, wenn man länger als 6 Monate an der gleichen Sache erkrankt ist, als chronisch krank gilt. Und damit ebenso als schwerbehindert.
Und Peng!- steht man vor einer Gruppe von Menschen mit Behinderungen die sogar „anders als die anderen Schwerbehinderten“ ist.
So wie ich.

Für mich ist es eine Bombenhürde zu diesem Termin zu gehen. So bombig, dass ich den Termin höchstwahrscheinlich nicht einmal erinnere. Der Besuch der Schule ist für ich eine Ansammlung von Barrieren, die nicht weggeräumt werden können (und um Himmels Willen auch nicht sollen), um mir den Zugang zu erleichtern. An mein reflexhaftes Umschalten auf Todesangst und in der Folge anpassendes Dissoziieren, kann man weder Rampe, noch Bildtafel, noch Audiomitteilung, noch leichte Sprache dran stellen, um sie (wenigstens in Teilen) zu kompensieren. Ich kompensiere ja selbst bereits in der Situation und breche erst nach einer Überbeanspruchung dieser Fähigkeit zusammen und werde handlungsunfähig. Erst dann kann ich Unterstützung erhalten.
Ich kann sehr gut verstehen, warum es dann schwer fällt, mich als „jemand mit grünem Ausweis“ wahrzunehmen. Wir turnen in der Schule rum, sind produktiv, motiviert, engagiert, geistig fit, aktiv und zuverlässig… bis ich vielleicht das Pech habe, von einem Lehrer in zwei Fächern gleichzeitig unterrichtet zu werden. Bis Mitschüler versuchen außerhalb des Unterrichtes mit mir Kontakt zu haben. Bis es eine Hausarbeit oder ein Projekt über einen Zeitraum wie die Ferien gibt. Bis es außerhalb des Schulkontextes eine so schwere Krise gibt, dass die Somatik sogar bei den Schulgängern ankommt. Also bis zu ziemlich genau dem Zeitpunkt in dem unser Kompensationsmodus zur Kompensation des Gesamtzustandes werden muss.
Es ist gut, wenn ich zum Beispiel jetzt in der Schule einen Menschen habe, dem ich das so erkläre und mit dem ich Absprachen treffe, die mich davor bewahren, mich vor Lehrkräften auch noch erklären zu müssen oder indem sie mich nicht rausschmeißen, weil ich dauernd fehle, mir den Stoff nach Hause bringen oder ein Pauschalattest für Fehlzeiten akzeptieren und mir Gelegenheit geben Tests nachzuholen.
Doch mit der Kompensation der Behinderung selbst bleibe ich auf eine Art allein, die unsichtbar und der als Krankheit bezeichnete Zustand ist. Man sieht sie von außen nicht, man merkt sie mir nur an, wenn man drauf achtet und sogar ich selbst kann dies erst formulieren, wenn ich nicht mehr mehr genau dort in der Schule sitze, sondern hier bei mir zu Hause. Dann nämlich, wenn ich hier sitze und halbgeist-kopfig Hausaufgaben zu erledigen versuche, die ich nicht verstehe und einen Tag nachzuvollziehen versuche, den ich nicht gelebt habe.

Ich könnte nun auch sagen: „Ja ich leide ja nicht unter meiner Behinderung- meine Umwelt geht nur falsch mit mir um“. Das stimmt ja aber nicht. Meine Umwelt geht total richtig und entsprechend mit meinem Verhalten und Wirken mit mir um. Was kann denn meine Umwelt dafür, wenn mein Gehirn nicht für diese Normalität ausgerüstet ist und mein Verhalten und Wirken eben nicht mit MIR(in jedem meiner Zustände) zusammen passiert?
Meine Umwelt hat gar keine andere Chance als für mich unpassend zu sein und ich bin dankbar dafür. Doch das ist etwas das konträr zur stetigen Forderung steht, Barrieren für Menschen mit Behinderung abzuschaffen. Meine Barriere bin in erster Linie mein Erleben meiner selbst (und meiner Umwelt) und erst dann die ungünstigen Normen und Bestimmungen außen.
Wir könnten ja auch das Abitur im Fernlehrgang machen. Ich bin aber abhängig davon in diesen „Schulgängerzustand“ zu geraten, um Zugriff auf das Schulwissen der Abendrealschule und der Schulen zu erhalten. Ich bin also abhängig davon „unter meiner Behinderung zu leiden“, weil ich sonst gar nicht erst die Chance auf Bildung und damit dann später vielleicht ein Studium und noch später vielleicht einen Beruf und damit dann endlich Unabhängigkeit habe.P5310032

Ich stelle mir viele Fragen rund um die Themen der Menschen mit Behinderung und fühle mich dabei behindert.
Da sind die Normen der Leistungsgesellschaft und da die Kritik und die Änderungswünsche derer, die ihnen nicht entsprechen können.
Da ist der Nutzen von pränataler Diagnostik und da die 95% der Fälle von Abtreibung der Föten mit nachgewiesener Wuchsrichtung jenseits der Norm.
Da ist der Ruf nach Inklusion und da das Unterstreichen (müssen) von Andersartigkeit.
Da ist das Leiden und da die Verneinung eines solchen.
Da ist das Versprechen mehr für Menschen mit Behinderung zu tun und da die Förderung von Werkstätten in denen des schlechte Bezahlung und keine Aufstiegschancen gibt.
Da gibt es die Entwicklung von bionischen Prothesen und da die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, die dafür sorgt, dass sie nie genug Geld für genau diese Prothesen haben werden.
Da gibt es den Beruf des Inklusionshelfers und da aber die Ablehnung von Bewerbern darauf, die selbst einen grünen Ausweis haben. (Boa! Ich hab mich so so so sehr darüber geärgert!)

Manchmal bin ich froh darum, dass wir mit vielen Menschen „anderer Wuchsrichtung“ zusammen gelebt und mit ihnen zusammen gearbeitet haben. Auch wenn wir natürlich keine globale Ahnung von ihrer Lebensrealität haben, haben wir so doch das Bewusstsein, dass die Menschen mit Behinderungen sind- nicht „Behinderte“.
Doch komme ich nicht umhin mich doch noch anders zu fühlen.
Ich bin bis jetzt die einzige Multiple, die ich kenne, die sich diese Störung als Schwerbehinderung hat anerkennen lassen.
Ich hätte es auch anders machen können. Aber in einem Anflug von politischem Trotz war es wichtig für uns gewesen, zu unterstreichen, dass die erlebte Gewalt so schwer war, dass die Folgen heute uns so sehr beeinträchtigen, wie das Fehlen einer körperlichen Fähigkeit.

Es war gut und richtig das zu tun. Wir lassen uns in der Hinsicht nichts anderes mehr sagen, weil es für uns bedeutet hätte, wieder etwas unsichtbar zu machen, wenn wir das nicht getan hätten.
Aber es war auch das Übernehmen einer Aufgabe, die ich mit allen Menschen mit Behinderung teile: Das Eingestehen und Vermitteln meiner (hochprivaten) Probleme an Menschen die genau dieses oben benannte Bewusstsein nicht unbedingt auch haben.
Eine Aufgabe, an der ich, als Innen in diesem Einsmensch hier, genau wegen dieser Probleme scheitern werde.

Das Tagebuch. Sein Sinn und das, was sonst noch damit zu tun hat

Das Tagebuch ist wieder da.

Vor ein paar Wochen- oder Monaten?- war es verschwunden. Zerrissen, verboten, Hoheitsgebiet der BÄÄÄMs.
Es gab wieder Listen und Zettel. Aber natürlich nicht vom Block oder in einem Heft, denn Besitz ist so eine Sache im Denken der BÄÄÄMs.
Bonbonpapier, Verpackungsmaterial, die eigene Haut, ein Zeitungsfetzen, die Rückseite eines Kassenbons… alles wurde zum versteckten Plätzchen. Kontakt- und Suchanzeige nach innen. Mahnmal und sichtbare Drohung. Erinnerung an das zu füllende Alltagsgeschehen.

Wenn wir eines führen ist mehr Überblick möglich.
Symptome die sich häufen oder abnehmen; das Gewicht, eine Dokumentation der Verletzungen und der Versuch sie zu versorgen. Die Finanzen, Ämtergänge, Jobangebote und Arbeit die bereits gemacht wird. Wann wer was gegessen hat, wann der Körper wie lange geschlafen hat (oder es ein „schlafen“ war). Wann NakNak* Auslauf hatte und wie viel. Wo und evtl. mit wem und wenn ja, was dort besprochen wurde. Welche Menschen mich in Zukunft vielleicht anrufen und warum. Welche Einstellungen wann, warum und wie am Blog vorgenommen wurden. Welche Kleidung/ Bücher/ Gewerke wann an wen und über welches Portal verkauft, gekauft oder getauscht wurde.
Wer was denkt. Was wer fühlt. Was wer warum gemacht oder gedacht oder gesagt hat. Die Therapie mit allem was sie aufwirbelt oder niedertritt.
Unser ganzes (Er)Leben steckt in diesen meist billigen Chinakladden von denen im Monat etwa 2-3 vollgeschrieben werden. Sie sind vergänglich und nur begrenzt wichtig.

Unser Tagebuch ist wie ein Liveticker im Sportkanal: Einmal benutzt, vielleicht zweimal oder dreimal, dann ist das, was darin erwähnt wird, schon wieder nicht mehr aktuell.
Es eignet sich nicht zur Analyse eines Gesamtzustandes, weil es mehr Konstruktion einer Gesamtheit ist, als die Dokumentation des Erlebens einer Gesamtheit.

Als de Diagnose gestellt wurde, hatte uns die Therapeutin damals gesagt, wir sollen doch mal versuchen eines zu führen. Ich meine, es war nach einer Stunde in der ich wieder einmal nicht mehr sagen konnte als „alles scheiße“; zwischen den verschiedenen Gedanken und Impulsen nicht trennen konnte und direkt konfrontiert war mit dem Verlust von 3 Wochen Zeit.264967_web_R_by_BirgitH_pixelio.de Ich dachte damals, sie meinte eine Art Tagebuch in dem es Einträge gibt á lá „Heute habe mir ein Eis gekauft. Es war lecker. Mir gehts gut, morgen fahre ich in den Zoo.“. Und ich unterstelle der Therapeutin von damals einfach mal, dass sie etwas in der Art auch im Kopf hatte.
Ich scheiterte natürlich mit Pauken und Trompeten an der Aufgabe und irgendwann gab es auch eine gewisse Resignation. Gut, dann eben kein Tagebuch das schön alles zusammenfasst. Und irgendwann, irgendwo zwischen der Entwicklung von Hospitalismus als Nebenschauplatz und dem infernalischem Chaos, das auf die Entlassung und die Umsiedlung hier in diese Stadt folgten, endeten auch die Bemühungen Erlebnisse, Gedanken, Gefühle und Wünsche festzuhalten. Und sei es nur auf der unbedruckten Ecke einer Buchseite.
Das Außen war durcheinander und desinteressiert, später sogar offen demütigend und gespalten. Wir wurden missachtet und trugen alles ins Innen hinein.
Erst viel später dann, erklärte uns die Kliniktherapeutin hier, wie ein Tagebuch richtig aussehen könnte. Was wir für Möglichkeiten testen und für uns erkunden könnten.
Es war nur eine Stunde und das Thema war als solches gar nicht explizit auf dem Tisch, aber die Nebensätze: „Nehmen sie einfach was kommt und tun Sie es da rein“ und „geschrieben oder gemalt oder geklebt… “ fielen und sie blieben bei mir.
So brauchten wir nur noch die 2 jährige Schleife, bis wir uns den Besitz von Kladdenbüchern erlauben konnten und konnten dann aber loslegen.

Und doch. Trotz dem das Schreiben eines Tagesbuches etwas ist, dass uns sehr hilft und zeitweise gut tut, ist es bis heute Nichts, das wir für uns tun. Es geht dabei nicht um ein seelisches Gleichgewicht oder einer Art Ordnung des Lebens. Es geht bis heute darum, besonders gut so tun zu können, als gäbe es keine Amnesien und als gäbe es eine Ordnung, die man analysieren und für sich nutzen könnte. Es ist ein Kontrollversuch durch striktes Protokoll.
Es ist für uns manchmal nur nützlich, weil es für unsere Therapeuten nützlich ist.

Manche Menschen führen ein Tagebuch, um Abstand zu ihren Erlebnissen zu bekommen. Ihre Probleme und Konflikte objektiver betrachten zu können.
Dadurch, dass wir einander und die Dinge, die wir jeweils tun bereits als objektiv und voneinander unabhängig erleben, sind wir- auch wenn wir es so aufgezeichnet vor uns liegen haben, nicht in der Lage die Einträge als etwas zu betrachten, das einen Verlauf oder eine Entwicklung noch objektiver darstellt. Dies ist vielleicht sogar Stoff für geistige Hochglanzdiskussionen: Wieviel objektiver kann Objektivität in Bezug auf eigentlich ganz subjektive Erlebensweisen sein? Ist der Anspruch einer Objektivität nicht erst dann gerechtfertigt, wenn ich die Dinge grundlegend als subjektiv betrachte?

Jedenfalls ist es jetzt wieder da. Nicht für uns oder weil wir es so dringend wollten. (Wollen dürfen.. oy vey was für ein Thema gerade im Moment!) Sondern, weil unsere jetzige Therapeutin endlich von ihrer Autorität Gebrauch gemacht hat. Ziemlich peinlich, nicht wahr?
Da sitzt man da und redet so vor sich hin, lässt sie teilhaben am stetig tiefer kreiselndem Weltendreh im Innen und hofft und wartet doch irgendwie, dass sie in diesem beängstigend strengen Tonfall sagt, dass man das und das (Guttuende, Hilfreiche) gefälligst nicht aufzugeben bzw. von sich wegzuschmeißen habe. Das man gefälligst zum Arzt gehen solle, dass man gefälligst die getroffenen Absprachen einzuhalten habe. Einfach nur, weil es bis heute mehr gilt, wenn jemand Außen (der per se einfach, weil er nicht man selbst ist, eine nicht zu hinterfragende/ bekämpfende Autorität stellt) etwas bestimmt, als wenn wir selbst etwas für uns bestimmen.

Das Tagebuch fällt in die Kategorie „mitarbeiten“.
In der Therapie und im sozialen Miteinander allgemein, ist es hinderlich amnestisch zu sein.Und es ist unsagbar peinlich dies zuzugeben.
Außerdem ist es ein Zeitfresser.
Eine Therapiestunde hat 50 min, die Krankenkasse bewilligt im Schnitt 120 davon.
Würden wir in jeder Stunde damit befasst sein, die Amnesie des Alltags (nur des Alltags und der aktuellen Lebensrealität) auszugleichen, wäre das Ergebnis vermutlich die Erkenntnis: „Wow ich bin multipel und meine ganzen Parallelleben sehen so und so und so aus.“ Badabing badabumm- für diese Erkenntnis bin ich aber gar nicht da.
Ich will ja lernen, wie ich das Ganze als zu mir gehörig erlebe und erinnere (es überhaupt erinnern zu wollen ist, denke ich, logisch), in der Hoffnung, dass dies dann irgendwann dazu führt, dass der ganze somatische Kladderadatsch aufhören kann, mich kaputt zu machen.
Also ist das Führen eines Tagebuches eigentlich der Teil Therapiearbeit den wir unbegleitet (und teilweise auch ungeschützt) machen (müssen).

Mein neues Tagebuch ist jetzt 8 Tage alt und ich bin entsetzt.
Hatte ich neulich in einem Chat noch gewitzelt, dass „wir das mit dem multipel sein, irgendwie grad viel zu gut machen“, sehe ich nun, wie weit wir wieder auseinander driften können, wenn es nötig erscheint. Was für eine Suizidalität, Verzweiflung, Todesangst, aber auch tiefe Hoffnung, Kampfgeist und Menschenliebe in meinem Innen vor sich hin brütet und sich gegenseitig einen Schützengrabenkrieg liefert. Wie viele Tote es bereits gegeben hat und was für neue Soldaten der Entwicklung inbegriffen sind.
Und das, obwohl draußen die Sonne scheint, uns niemand von außen Gewalt antut, viele neue tolle Chancen und uns guttuende Kontakte da sind… wir doch verdammt nochmal einfach nur zugreifen müssten.
Irgendwie tut mir das weh.*
Und ganz eigentlich merke ich an mir, dass ich, einfach nur um diesen Schmerz nicht zu fühlen, das Tagebuch gern schon wieder weggeschmissen haben will.

P.S. Das Blog könnte man wohl auch als Tagebuch begreifen, doch da es- bei aller Nähe und anscheinender Kohärenz- in der Regel von Einzelnen mit lediglich dem Innen, das gut schreiben kann, zusammen geführt wird, ist es mehr Prisma, als global umfassendes Ausführen. Man bekommt hier lediglich Eindrücke, Ideen und Gedanken von Einzelnen von uns zu lesen. Man kann sich wohl seine Gedanken machen, wie unser Leben wohl so aussieht, doch es würde nicht gelingen. Es ist eben doch nur die Reflektion eines einzelnen kleinen Spiegels

P.P.S. Eigentlich… das fällt mir gerade noch so ein, sollte ich vielleicht doch mal ein Tagebuch von heute aufbewahren.
Vielleicht schaffen wir es ja doch uns irgendwie zu integrieren und später ein Tagebuch zu führen, das nicht aus lauter Snippets besteht.
Es wäre vielleicht interessant beide vergleichend zu betrachten.

P.P.P.S. (ja heute lange ich hier richtig zu) *Edit: Den Bezug zu mir selbst habe ich beim Lesen überwiegend „kopfisch“, da ich weiß, dass mein Körper das geschrieben hat.  Erlebten Schmerz fühle ich im Moment, eher als „Hauch der mir zu nahe kommt“

aus der Zeit, in die Freiheit- Warten auf die Dämmerung

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Rainer Maria Rilke, “der Panther”, 6.11.1902, Paris

Sie kriechen aus dem Innen, in das Jahr 2013.
Der Vorhang lichtet sich und lässt ein Bild hinein.

Meiner oder ihrer?
Mein Sein- dein Schein- ich habe das in einem Brief der BÄÄÄMs an mich gelesen.
Was ist wahr und was nicht- was ist früher und was ist heute?
Was ist echter? Welche Bedrohung ist gleich, obwohl es nicht die gleiche Zeit ist?

Stab an Stab an Stab
Tastend, jede Ebene erspürend. So mutig diese Stäbe zu berühren, müssen sie doch darauf achten, nicht erwischt zu werden, wollen sie ihre Finger behalten.

Sie fragt, ob sie eine offene Rechnung schließen muss. Hat den Berg der Sprachbarriere irgendwie erklommen. Manche Buchstaben fehlen, die Grammatik ist ein Albtraum. Es sind viele Fragezeichen, die durch den Äther rauschen. Irgendwohin. Nicht wissend an was für eine Autorität genau gerichtet. Doch es ist klar, sie lebt mit zwei Bezahlsystemen und fragt nur, welches bei wem nötig wird.

„Nein, mein Herz du bist nicht in der richtigen Zeit.
Aber deine Angst passt in die Angst, um die Situation. Eine Verwechslung ist nur logisch.
Auch wenn sie uns unglaublich tief erschreckt.“
Der Vorhang schließt sich.

Schritt für Schritt für Schritt
Stolpern über Zeitfalten, verwickeln im Zeitstoffband, einen Strick daraus drehen und um den Hals legen.
Einer nach dem Anderen. Auf der Suche nach dem Galgen.
Auf der Suche nach einem Rezept, das es zu einem Zeitkuchen werden lässt.
„Damit ich dich besser fressen kann.“

Zeitfresser. In dich hinein, aus dir heraus.
Zeit, die wie schwarze Tinte über den Boden leckt.
Pfoten tauchen hinein und tragen sie weiter.
Schritt für Schritt für Schritt
Vorbei an Stab für Stab für Stab.

Es war meine Hand, die ihm aufgefallen war.
Flüssige Zeit, tropfenweise aus dem Moos neben der Regenrinne herausgedrückt. Sachte balanciert, durch das eingeschlagene Loch, in meine finstere Hölle. Meinen Käfig.
Fallengelassen in meinen staubig, ausgedörrten Mund.

Schritt Schritt links
Schritt Schritt Schritt links
Schritt Schritt links
Schritt Schritt Schritt links
Quadratur des Kreises

Vorhang auf, Bild hinein.
Wieso war ich da?
Vorhang zu.
Guck nicht hin.
Vorhang auf, Bild hinein.
der Sprachberg baut sich auf, lässt Lawinen herunter segeln.
Vorhang zu.
Wir begraben sie unter ihren Wortbrocken, bis sie nichts mehr sagen.

Schritt Schritt Schritt
Stab Stab Stab

Du hast Zähne, Krallen, Kraft.
Du könntest uns schützen.
Eröffne dich und trete in die Sonne.
Er hat dich gerettet.
Die Tür ist offen
Schon fast 12 Jahre lang.

Der Vorhang wackelt,die Realität scheint immer wieder in kleinen kaltheißen Blitzen hinein.
Blendet und verstört.
Dieses Tier ist nachtaktiv.
Vielleicht ist es ein Warten auf die Dämmerung.
Der Moment, in dem beide Seiten ein vages Erkennen schaffen könnten.

Familie mit Sonderzeichen

“Hannah, darf ich dich was fragen?”
Wir sitzen am Küchentisch und trinken Kaffee. Draußen schneit es leicht, die Kinder liegen flach für einen Mittagsschlaf und Hannes liest im Wohnzimmer. Eva sitzt mir gegenüber und schaut mich an.
Ich nicke, obwohl ich schon spüre, wie sich mein Rücken verhärtet und sich seine Panzerstacheln hervorschieben. Mir wird schlecht, die gelöste Ruhe und das Gefühl in einer sicheren Hütte, in einer Schneekugel zu sitzen, verdünnen sich.
”Was ist mit deiner Familie? Du bist immer so allein, das geht doch nicht. Was ist passiert?”, sie schaut mich freundlich an.
Und sie hat keine Ahnung.

Als wir in das Leben von Eva und Hannes eintraten, ging es um die Religion. Austausch, Fragen und einfach das Wissen, dass der Shabbat für uns nicht immer so ein Trauerspiel sein muss, sondern auch in Gemeinschaft sein kann, wenn wir und sie es möchten. Nun, nach mehr als einem Jahr in dem wir sie besuchen und mehr als 4 Jahren die wir uns allgemein kennen, geht es auch um Gemeinsamkeit. Langsam kommen diese Fragen.
Hannah, was ist mit deiner Familie?
Hannah, warum trägst du im Sommer lange Sachen?
Hannah, warum hast du keine Arbeit?
Hannah, warum hast du noch keinen Freund und Kinderlein?
Hannah…

Sie wissen nicht einmal wie der Körper wirklich heißt.

Wir sind nicht planvoll so bedeckt und glatt. Es dauerte eine Weile, bis alle von uns überhaupt von dem Kontakt wussten, dann dauerte es eine Weile, bis wir die Familie als “okay” eingestuft hatten, dann dauerte es eine Weile, bis wir diese Einstufung genug überprüft hatten und schwupp waren 3 einhalb Jahre um.
Wir blieben bei dem Namen, weil der Körper irgendwann tatsächlich so heißen soll, wozu also sagen, dass er jetzt noch anders heißt.
Wir blieben zum Thema Sommersachen religiöser als wir wirklich sind und können bis heute, ohne zu lügen, dem Arbeitsamt und der Wirtschaftslage die Schuld an unserer Arbeitslosigkeit geben. Das Thema Freund und Kinderlein, bekam man auch ganz einfach mit einem schüchternen Lächeln vom Tisch geschubst…

Nur die Familie…
Unsere Familie ist eine Familie*. Familie mit Sonderzeichen.
Die meisten von uns halten die Mutterfrau und den Vatermann nicht für die eigenen Eltern. Deren eigener familiärer Hintergrund ist mehr oder weniger undurchsichtig und schlichtweg kaum bzw. gar nicht mit der Lebensrealität, unserer Familie* verwoben. Ich weiß, dass wir vor ein paar Jahren einen mit uns verwandten Menschen getroffen haben und das erst bewusst gemerkt hatten, als die Begegnung schon vorbei war.
Es ist keine Familie die große Feiern machen kann, wie Eva und Hannes. Die beiden machen “Pieps” und sofort kommen alle aus allen Himmelsrichtungen zusammen. Feiern sind ein toller Anlass mit Kindern und Enkeln, Schulabschlüssen, beruflichen Erfolgen und Momenten der Freude zu prahlen und sie miteinander zu teilen. Genauso auch wie Schicksalsschläge zu betrauern und Streitigkeiten auf Tapet zu bringen. Hier wird alles irgendwie richtig ausexerziert.
Es ist klar: “Tante Elfriede hat ihr zweites Kind bekommen”, also wird es begrüßt und das Thema “Elfriedes Jüngste” reiht sich nahtlos in die Gespräche am Feiertagsesstisch ein.

In unserer Familie* war eine Beerdigung das größte Zusammenkommen, das ich erinnere und was dort geredet wurde, hatte nichts Persönliches. Als man sich trennte, verwandelten sich die Menschen. Wechselmenschen. Nicht “Eltern”.
Die Wechselmenschen quetschen einen aus, wenn man mit Fremden geredet hat. Und fremd ist jeder- außer ihnen.

Hier erleben wir, dass die Kinder von allein erzählen, was sie mit den Menschen gesprochen haben. Egal, ob mit Fremden oder Bekannten oder Freunden. Sie haben keine Wechselmenschen. Sie kennen keine Strafen für Begegnungen und ausgetauschte Worte. Sie haben Eltern.

Hier, in dieser bunten Familie ist so vieles anders als bei uns früher, dass es uns Angst macht.
Manches Mal ist es zu viel Freiheit, dann schweben wir regelrecht frei herum und sind dankbar über das drakonische Korsett der inneren Familie*. Auch wenn es weh tut- dieser Schmerz ist bekannt und ein fester Punkt. Sehr beruhigend sich dann immer wieder vor Augen zu halten, dass wir nicht dazu gehören. Dass wir anders sind.
Dass wir Teil der Familie* sind- nicht der Familie um Eva und Hannes.

Doch das stimmt so ja eigentlich nicht mehr.
Seit vielen Jahren leben wir physisch nicht mehr in der Familie*. Seit Jahren ist klar, dass wir auch nie wieder zu ihr zurück gehen können. Dass wir nie wieder ganz zu ihr gehören werden.
Es ist klar, dass wir eine Vollwaise sind. Ein erwachsenes Waisenkind.
Wir bezeichnen unsere Gemögten als Eltern im Geiste. Ohne sie als Eltern zu wollen oder von ihnen zu verlangen sich so zu verhalten. Sie geben uns durch ihr Sein schon absolut genug von dem was wir brauchen- und oft genug ist selbst das schon zu viel.

“Ich bin eine Art erwachsenes Waisenkind, Eva. Sowas passiert. Es ist nicht schlimm.”
Eva weiß nicht, was für ein Minenfeld vor ihr liegt. Sie weiß nicht, dass jede ihrer liebevollen Berührungen- die Umarmungen- die ganze höfliche Rücksicht- das “uns einfach Sein lassen”, uns von innen der direkten Strafe zuführt. Uns in schwere Loyalitätskonflikte bringt. Sie fast zur Mutter von vielen weiteren Kindern zu werden droht. Sie zur Bedrohung der inneren Familie* wird.

Sie spürt, dass wir zum Brett werden, zum Panzerstachelrücken. Mehr als einmal hat sie sich bei mir entschuldigt, weil sie ein Kleines von uns verschreckt angestarrt hatte.
Die beiden sind nicht dumm. Sie spüren, dass da bei uns was ist und haben doch nie gedrängt. Das ist einer der wichtigsten Gründe, weshalb wir immer noch mit ihnen sind.

Wir wissen, es würde immer mehr kommen. Immer mehr Fragen. Immer mehr Verständniswunsch. Immer mehr Gemeinsamkeit.
Immer mehr Familie°.

Familie mit anderem Sonderzeichen. Ohne Strafen. Ohne Korsett. Mit gelebtem Glauben aus dem tiefsten inneren Bunker. Ohne Wechselmenschen. Ohne Blutsbande.

Familie, die uns nicht zusteht.
Vielleicht nur jetzt noch nicht. Vielleicht aber auch niemals.

“Doch schlimm! Familie ist wichtig. Familie ist was du hast, wenn du nichts mehr hast. Verstehst du? Hast du niemand, hast du uns, ja?”, sie greift über den Tisch, legt ihre Hand auf meine und drückt sachte zu. 554351_web_R_B_by_CIS_pixelio.de

Ich spüre wie sich ein Stachel in meinen Handteller bohrt und mein Sein unter  der Berührung zerfällt. Mein Blickfeld verengt sich und ich entschwebe. Gerade noch spüre ich, das Lächeln des Gesichtes und höre jemanden sie fragen, was noch für die anderen Gäste hergerichtet werden muss

Ja, liebe Eva.
Wenn wir die Familie* mal nicht mehr haben, dann haben wir euch.
Familie mit anderem Sonderzeichen.

erwachsenes Waisenkind

Es gibt diese Verlassenheit unter Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen. Vielleicht ist es das Waisenkindsein, das einem niemand mehr zugesteht in dem Alter.

Ich weiß noch, dass ich damals dachte, meine Eltern wollten mich nicht mehr haben. Ich wusste nicht, was uns letztlich ins erste Heim brachte.
Ja ich nenne es Heim. Ich finde viele der Einrichtungen für Jugendliche, die nicht mehr bei ihren Eltern wohnen, wollten Heim genannt werden. Und sie selbst, sollten sich als Waisen betrachten dürfen.

Warum auch immer, dachte ich, ich wäre einfach rahmenlos. Weder hier, noch dort hingehörend. Der Gedanke: “Keiner hat mich lieb, keiner will mich haben”, mündete für mich in einem bizarren Selbstverkauf.
Hier schau was ich kann- schau was ich mache- schau wie wichtig ich für dich sein kann- schau was ich leisten kann- bedien dich- nimm mich… Will mich doch bitte haben.

Vor ein paar Jahren dachte ich, es wäre vieles anders gekommen, wenn wir statt in eine473755_web_R_by_Günter Havlena_pixelio.de Einrichtung, in einer Pflegefamilie untergekommen wären.
Nun denke ich, dass wir vielleicht einfach auf einer Art Warteliste gestanden haben.

Und jetzt ein erwachsenes Waisenkind sind.
Meine Eltern leben noch. Sie werden noch sehr lange leben. Aber sie sind auch nicht mehr da.
Sie wollen mich nicht mehr. Weil ich kaputt bin.

Weil ich vielleicht zu heil werde.

Weil ich vielleicht die Warteliste geschafft habe und jetzt Eltern im Geist habe, die ein bisschen auf mich aufpassen und mir helfen. Menschen, die mich nicht geboren haben, die aber bei der Geburt von mir- uns in diesem neuen Leben dabei sind. Mich durch die Wehen meiner Selbstgeburt begleiten, mich schützen, nähren, tragen, halten…

Einfach so.
Auch ohne Blutsbande und Hilfeplan.