ein paar behinderte Gedanken zu Menschen mit Behinderungen und Behinderungen an sich

Morgen haben wir einen Termin in der Abendschule.
Es geht darum sich vorzustellen, seine Bewerbung, seine letzten Zeugnisse und Unterlagen zur Person abzugeben. Es wird darum gehen zu schauen, ob wir dort sein können, was wir für Unterstützung bekommen können, was für Anforderungen gestellt werden.
Ich bin schon angekritzt darüber, nicht einfach nur meine Unterlagen dorthin schicken zu können und dann nur noch auf einen Anmeldebestätigung warten zu müssen.
Aber wir fallen aus den Aufnahmekriterien heraus, also bleibt uns keine andere Wahl.
Voraussetzung ist eine abgeschlossene Berufsausbildung und 2 Jahre Arbeit, sowie Arbeit oder ein zu versorgendes Familienmitglied nebenbei.
Tja, damit können wir leider nicht dienen- und wenn wir es könnten, würden wir uns sicher nicht noch mal 3 Jahre Abendschule geben.

Ich fand mich richtig gut in dem Telefonat mit der Sekretärin. Ich war sachlich, logisch und nicht defensiv.
Ich sagte, ich hätte gerne einen Termin mit dem Schulleiter, um abzuklären ob und wenn ja was für Möglichkeiten es für mich gibt, auch mit meiner Schwerbehinderung (Bumms! Ich habe das Wort gesagt!) teilnehmen zu können und wie die Lage in Bezug auf Unterstützung von Seiten der Schule aussieht.
Die Sekretärin gab mir einen Termin und stellte dann die Preisfrage: „Darf ich Sie fragen- sitzen Sie im Rollstuhl?“. Ich antwortete, das sie mich natürlich fragen darf und, dass ich nicht im Rollstuhl sitze.
(Btw: Was ist das bitte für eine Sprachführung?! Den Rest des Tages fragte ich mich, ob sie mich nur fragen wollte, ob ich einen Rollstuhl benutze oder, ob sie mich fragen wollte, mich etwas zu fragen zu dürfen und dann die Frage nach der Behinderung stellte, und ob ich nun richtig reagiert hatte oder nicht.)

Es ist eine kleine Episode. Total normal und nicht schlimm.
Aber wieder kreiseln in meinem Kopf viele Gedanken wüst hin und her.
Da ist zum Beispiel der Gedanke zum „Standartbehinderten“ in der breiten Masse.
Ich bin mir nicht sicher, aber viele Menschen auf die ich so treffe, oder gerade so in Bezug auf normierende Bürokratie, wie jetzt zum Beispiel in der Verwaltung der Schule, scheint es die Verknüpfung: Schwerbehinderung= das Plakat von „Aktion Mensch“ zu geben.
Schwerbehinderung, das heißt, Rollstuhl, Blindenführhund, Gebärdensprache, eine futuristische Prothese oder die spezifische Physiognomik von Menschen mit Down-Syndrom. Schwerbehinderung das heißt: „Himmel wie kommt der Mensch bloß klar?! Der muss ja total viele Sachen im Alltag anders machen. Der braucht ja richtig viel Hilfe, weil er was nicht kann, was sein Körper (und hier biologistisch eingeflochten der „Geist“ wie der derzeit einzig ausmessbare Intellekt falsch benannt wird bei „geistiger Behinderung“) ihm verweigert.“
Schwerbehinderung heißt auch: „Boa guck mal, was der Mensch TROTZDEM (nicht etwa MIT) kann.“ Heißt auch: Aussagen von den betreffenden Menschen „Ich leide nicht unter meiner Behinderung- ich leide darunter, wie meine Umwelt mit mir umgeht.“. Heißt immer und immer und immer: anders als „DIE ANDEREN“.

Nun ist es so, dass man, wenn man länger als 6 Monate an der gleichen Sache erkrankt ist, als chronisch krank gilt. Und damit ebenso als schwerbehindert.
Und Peng!- steht man vor einer Gruppe von Menschen mit Behinderungen die sogar „anders als die anderen Schwerbehinderten“ ist.
So wie ich.

Für mich ist es eine Bombenhürde zu diesem Termin zu gehen. So bombig, dass ich den Termin höchstwahrscheinlich nicht einmal erinnere. Der Besuch der Schule ist für ich eine Ansammlung von Barrieren, die nicht weggeräumt werden können (und um Himmels Willen auch nicht sollen), um mir den Zugang zu erleichtern. An mein reflexhaftes Umschalten auf Todesangst und in der Folge anpassendes Dissoziieren, kann man weder Rampe, noch Bildtafel, noch Audiomitteilung, noch leichte Sprache dran stellen, um sie (wenigstens in Teilen) zu kompensieren. Ich kompensiere ja selbst bereits in der Situation und breche erst nach einer Überbeanspruchung dieser Fähigkeit zusammen und werde handlungsunfähig. Erst dann kann ich Unterstützung erhalten.
Ich kann sehr gut verstehen, warum es dann schwer fällt, mich als „jemand mit grünem Ausweis“ wahrzunehmen. Wir turnen in der Schule rum, sind produktiv, motiviert, engagiert, geistig fit, aktiv und zuverlässig… bis ich vielleicht das Pech habe, von einem Lehrer in zwei Fächern gleichzeitig unterrichtet zu werden. Bis Mitschüler versuchen außerhalb des Unterrichtes mit mir Kontakt zu haben. Bis es eine Hausarbeit oder ein Projekt über einen Zeitraum wie die Ferien gibt. Bis es außerhalb des Schulkontextes eine so schwere Krise gibt, dass die Somatik sogar bei den Schulgängern ankommt. Also bis zu ziemlich genau dem Zeitpunkt in dem unser Kompensationsmodus zur Kompensation des Gesamtzustandes werden muss.
Es ist gut, wenn ich zum Beispiel jetzt in der Schule einen Menschen habe, dem ich das so erkläre und mit dem ich Absprachen treffe, die mich davor bewahren, mich vor Lehrkräften auch noch erklären zu müssen oder indem sie mich nicht rausschmeißen, weil ich dauernd fehle, mir den Stoff nach Hause bringen oder ein Pauschalattest für Fehlzeiten akzeptieren und mir Gelegenheit geben Tests nachzuholen.
Doch mit der Kompensation der Behinderung selbst bleibe ich auf eine Art allein, die unsichtbar und der als Krankheit bezeichnete Zustand ist. Man sieht sie von außen nicht, man merkt sie mir nur an, wenn man drauf achtet und sogar ich selbst kann dies erst formulieren, wenn ich nicht mehr mehr genau dort in der Schule sitze, sondern hier bei mir zu Hause. Dann nämlich, wenn ich hier sitze und halbgeist-kopfig Hausaufgaben zu erledigen versuche, die ich nicht verstehe und einen Tag nachzuvollziehen versuche, den ich nicht gelebt habe.

Ich könnte nun auch sagen: „Ja ich leide ja nicht unter meiner Behinderung- meine Umwelt geht nur falsch mit mir um“. Das stimmt ja aber nicht. Meine Umwelt geht total richtig und entsprechend mit meinem Verhalten und Wirken mit mir um. Was kann denn meine Umwelt dafür, wenn mein Gehirn nicht für diese Normalität ausgerüstet ist und mein Verhalten und Wirken eben nicht mit MIR(in jedem meiner Zustände) zusammen passiert?
Meine Umwelt hat gar keine andere Chance als für mich unpassend zu sein und ich bin dankbar dafür. Doch das ist etwas das konträr zur stetigen Forderung steht, Barrieren für Menschen mit Behinderung abzuschaffen. Meine Barriere bin in erster Linie mein Erleben meiner selbst (und meiner Umwelt) und erst dann die ungünstigen Normen und Bestimmungen außen.
Wir könnten ja auch das Abitur im Fernlehrgang machen. Ich bin aber abhängig davon in diesen „Schulgängerzustand“ zu geraten, um Zugriff auf das Schulwissen der Abendrealschule und der Schulen zu erhalten. Ich bin also abhängig davon „unter meiner Behinderung zu leiden“, weil ich sonst gar nicht erst die Chance auf Bildung und damit dann später vielleicht ein Studium und noch später vielleicht einen Beruf und damit dann endlich Unabhängigkeit habe.P5310032

Ich stelle mir viele Fragen rund um die Themen der Menschen mit Behinderung und fühle mich dabei behindert.
Da sind die Normen der Leistungsgesellschaft und da die Kritik und die Änderungswünsche derer, die ihnen nicht entsprechen können.
Da ist der Nutzen von pränataler Diagnostik und da die 95% der Fälle von Abtreibung der Föten mit nachgewiesener Wuchsrichtung jenseits der Norm.
Da ist der Ruf nach Inklusion und da das Unterstreichen (müssen) von Andersartigkeit.
Da ist das Leiden und da die Verneinung eines solchen.
Da ist das Versprechen mehr für Menschen mit Behinderung zu tun und da die Förderung von Werkstätten in denen des schlechte Bezahlung und keine Aufstiegschancen gibt.
Da gibt es die Entwicklung von bionischen Prothesen und da die strukturelle Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen, die dafür sorgt, dass sie nie genug Geld für genau diese Prothesen haben werden.
Da gibt es den Beruf des Inklusionshelfers und da aber die Ablehnung von Bewerbern darauf, die selbst einen grünen Ausweis haben. (Boa! Ich hab mich so so so sehr darüber geärgert!)

Manchmal bin ich froh darum, dass wir mit vielen Menschen „anderer Wuchsrichtung“ zusammen gelebt und mit ihnen zusammen gearbeitet haben. Auch wenn wir natürlich keine globale Ahnung von ihrer Lebensrealität haben, haben wir so doch das Bewusstsein, dass die Menschen mit Behinderungen sind- nicht „Behinderte“.
Doch komme ich nicht umhin mich doch noch anders zu fühlen.
Ich bin bis jetzt die einzige Multiple, die ich kenne, die sich diese Störung als Schwerbehinderung hat anerkennen lassen.
Ich hätte es auch anders machen können. Aber in einem Anflug von politischem Trotz war es wichtig für uns gewesen, zu unterstreichen, dass die erlebte Gewalt so schwer war, dass die Folgen heute uns so sehr beeinträchtigen, wie das Fehlen einer körperlichen Fähigkeit.

Es war gut und richtig das zu tun. Wir lassen uns in der Hinsicht nichts anderes mehr sagen, weil es für uns bedeutet hätte, wieder etwas unsichtbar zu machen, wenn wir das nicht getan hätten.
Aber es war auch das Übernehmen einer Aufgabe, die ich mit allen Menschen mit Behinderung teile: Das Eingestehen und Vermitteln meiner (hochprivaten) Probleme an Menschen die genau dieses oben benannte Bewusstsein nicht unbedingt auch haben.
Eine Aufgabe, an der ich, als Innen in diesem Einsmensch hier, genau wegen dieser Probleme scheitern werde.


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