ob stolz oder nicht

Ich schrieb neulich über die Wichtigkeit, die Scham für mich hat, wenn es um meine Erfahrungen sexualisierter Gewalt und ihren Folgen geht.[1] Als „Seitenarm“ bezeichnete ich dabei auch die Scham, die ich als behinderte Person oft empfinde.
„Seitenarm“, weil der Text, wie meine Podcasts, die meisten meiner anderen Blogtexte, meine Beiträge an anderen Stellen, zu lang war. Und zu kompliziert. Und deshalb irgendwie … naja, anstrengend. Zu viel.
„Seitenarm“ schrieb ich, weil ich mich schon vor der Veröffentlichung dieses Textes über das Schreiben des Textes und die Notwendigkeit dieses Textes für mich selbst, geschämt habe. Dass ich diesen Aspekt überhaupt erwähnte, ist Ergebnis meines Vollständigkeitsanspruchs. Zu meiner Scham über alles, was mit meiner früheren Opferschaft zu tun hat, gehört auch die Scham über alles, was mich sonst noch ausmacht.
Aber warum hab ich das nicht einfach verschwiegen? Einfach Klappe zu. Stille. Nichts sagen, nichts zeigen. Was sehen, nicht gesehen werden. Ist doch nicht so schwer.
Oder?

Der Juli wird als disability pride month begangen. Zumindest im US-amerikanischen Sprachraum. Und in manchen deutschen Städten. In Berlin zum Beispiel dieses Wochenende.
Ich kann da nicht hingehen. Möchte es auch nicht. Es wäre geheuchelt. – Anderen gegönnt und zugepusht, keine Frage, aber mir selbst gegenüber wäre es geheuchelt. Ich bin nicht stolz, nicht mal irgendwie grundsätzlich okay damit behindert zu sein. Chronisch krank. Gehandicapt. ~Herausgefordert~
Ich muss es hinnehmen, obwohl es die meisten Menschen nicht hinnehmen. Ich muss damit leben, obwohl die meisten Menschen es kacke finden, dass ich einfach damit lebe. Ich kann nichts dagegen tun, obwohl die meisten Menschen genau das von mir verlangen. Implizit. Unbewusst. Nicht so gemeint. Aus Versehen.

Es gibt viele Mikrointeraktionen, die mich beschämen. Manchmal bevor, manchmal nachdem ich selbst bemerke: „Hey, das tut eigentlich weh.“ oder „Äh, aber ich kann das nicht (anders als so) …“.
Und genau so viele Anpassungslügen von mir. Ich kann gut die Klappe halten. Gut sein lassen, was mir im Fleisch steckt und mich monatelang quälend schmerzhaft beschäftigt. Das ist nicht nur „Maskieren“, das ist auch knallharter Selbstbeschiss. Selbstverletzendes Verhalten. Lieb, okay, freundlich, nett nach außen – hasserfüllt, zerstörerisch und brutal nach innen. Außen Lüge, innen Wahrheit. Außen normal, innen behindert.

Ich war in den letzten Wochen traurig, weil ich öfter danach gefragt wurde, wie es bei der neuen Arbeit ist, als danach, wie es ist, jetzt, wo Sookie nicht mehr lebt.
Es ist traurig, weil sich für mich darin zeigt, dass niemand ein echtes Verständnis davon hat, was mein Assistenzhund für mich geleistet hat. Ganz konkret. In jedem Moment, in dem ich mit anderen Menschen zusammen war.
Und es ist bitter, weil ich auch von anderen behinderten Menschen weiß, dass die wenigsten von ihren nicht- oder anders behinderten Freund_innen fragen würden, wie es ihnen mit dem Verlust ihrer Brille, ihres Rollstuhls, ihrer Insulinpumpe, ihrer Pflege- oder Assistenzperson geht. Ich bin nicht allein damit. Das machts eben so, wie es ist: Traurigbitterschlimm.

Ohne Sookie hätte ich niemanden von denen kennengelernt, die ich heute als meine Freund_innen und Gemögten bezeichne. Nicht eine_n. Nicht mal die Person, die mal meine Betreuerin war. Die hätte ich wahrnehmen gelernt wie jeden anderen Menschen auch – aber mehr auch nicht.
Ich hätte weiterhin das Haus kaum verlassen. Hätte weiterhin Sprechen abgespult, Reden performed, Leben gespielt und mich dafür gehasst, dass ich einfach nicht rauskomme. Weiterkomme. Rankomme. An die Welt. An die Menschen. An das, worum es geht.

So viele der Fähig- und Fertigkeiten, die ich mit Sookie trainiert habe, sind jetzt wie aus meinem Kopf radiert.
Und niemand scheint es zu merken.
Und niemand soll es bemerken.
Und ich wünsche mir, dass es alle bemerken.
Und ich weiß, dass das, was nötig ist, um es zu bemerken, wirklich sehr tiefe Einsicht in mein Erleben und Funktionieren erfordert.
Was zu viel verlangt ist. Immer war, immer sein wird.
Es ist so schwierig. So kompliziert. So langwierig zu erklären.

Es ist so, wie es niemand mag.
Und ich muss damit klarkommen.
Ob stolz drauf oder nicht.

Skill Regression

Das klingt wie ein langsamer Prozess. Jeden Tag ein bisschen weniger Skill. Tatsächlich aber ist es jeden Tag ein weiterer Skill, eine weitere Fähig- oder Fertigkeit, die ich nicht mehr zuverlässig abrufen kann. Die mich einfach verlässt und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, wiederkommt.

Dazu gehören sichtbare Dinge – ich fahre im Moment so Auto, als hätte ich erst eine Fahrstunde gehabt – die sich aus dem Verschwinden unsichtbarer Dinge ergeben – ich komme mit der Reizverarbeitung nicht hinterher. Kann meine sozialen und meine Verhaltens-Skripte weder schnell genug aussuchen, noch prüfen, noch sicher mit der aktuellen Kommunikation und Situation in Einklang bringen.
Ich bin im Moment überwiegend wieder auf dem Stand der selbstleeren Reflexantworten aus der allgemeinen Satzbausteinkiste, sobald ein bislang nicht näher definierter Punkt überschritten ist. Und wann der überschritten ist, entscheidet der Punkt von sich aus.
Wieder prozessiere ich die Situationen und Gespräche des Tages mit stundenlanger, manchmal tagelanger Verspätung.

Ich kann keine Probleme lösen, weil ich die geistige Zusammenstellung der dazugehörenden Komponenten und Möglichkeiten nicht hinbekomme. Stellt mir jemand eine Wie-Frage, leert sich mein Denken, statt dass sich das für mich eher übliche Gedankengebäude aufbaut, in dem ich mich sonst bewege. Je nach Dringlichkeit der Frage breitet sich die Leere bis ins Sprechenkönnen aus und ich komme nicht einmal mehr an meine Phrasenkiste heran. Da ist einfach nichts mehr.

Skill Regression kenne ich bisher nur aus massiven depressiven Episoden.
So empfinde ich mich aber gerade nicht. Ich fühle mich nicht erschöpft und auch nicht depressiv.
Eher verwirrt und ängstlich. Isoliert auch. Mir ist oft langweilig, aber meine offenen Arbeiten sind zu schwer.

Mein Auto ist schon seit Wochen in der Werkstatt. Schwimmen oder ausgedehnte Spaziergänge sind entsprechend abhängig davon, wie ich das Angebot meines Partners mich immer zu fahren, in Einklang bringen kann mit seinem Wunsch nach Ausschlafen und nicht lange auf ich warten müssen. Das ist eine Wie-Frage. Ich schaffe es nicht, sie zu lösen. Mein Partner gibt mir keine Vorgaben, um meine Freiheit nicht einzugrenzen. Also passiert gar nichts. Die Häute in unserem Haushalt sind zu dünn für Streit darüber, wie belastend Strukturlosigkeit für mich ist. Und jedem Streit folgt eine Wie-Frage.

Ich würde gern den Begleitermenschen kontaktieren. Aber mit dem bin ich im Konflikt, weil wir immer nur Kontakt haben, wenn es mir schlecht geht und es sich zunehmend, wie ein Mitleidskontakt anfühlt. Auch wenn er vielleicht keins empfindet. Für mich entsteht dennoch die immer empfangende Rolle und die möchte ich nicht haben.
Jetzt wäre es gut, wenn ich einfach nur empfangen müsste. Aber es würde auch diese Rolle stärken.
Wie-Frage von the horizon, also passiert gar nichts.

Ich versuche mich selber damit zu trösten, dass es noch nicht so schlimm ist, dass ich nicht ständig nach außen so zerfalle, wie ich es innerlich bin. Als die neue Fahrlehrerin zum Beispiel dachte, es wäre eine gute Idee mich mit einem anderen Auto als sonst üben zu lassen. Als die neue Fahrlehrerin in dem neuen Auto passiv-aggressiv auf ihre Enttäuschung über mein schlechtes Fahren reagierte. Als ich in der Fahrstunde eine Panikattacke bekam, weil ich tatsächlich schon vor mir sah, dass sie mir wehtun würde. Als mein Partner nach dieser Fahrstunde sagte, ich sollte es abhaken. Als ich nach Hause kam und Sookie tatsächlich immer noch tot war.

Es ist ein Trost, von dem ich weiß, dass er mich nicht wirklich tröstet, sondern nur versichert.
Aber hey – wenigstens das?

Prozess

Der Lauf der Dinge.
Eine Bewegung. Prozess aus Prozessen für Prozesse, mit bei an in und um Prozesse herum. Ich könnte ihn „das Leben“ nennen, doch dieses Wort erscheint mir oft zu aufgeladen. Das Leben geht weiter – der Lauf der Dinge mäandert und hat das Leben in sich. Er wandelt, schlängelt, drückt, zieht, trägt, hält, wiegt, entwickelt und vergeht. Und mehr. Es ist immer mehr.

Als wir uns für das Leben entschieden, entschieden wir uns auch für die Hingabe zum Lauf der Dinge. Ich finde oft Trost in der Vorstellung, dass meine Existenz wie eine kleine Luftblase in diesem großen, universellen Strom fließt. Egal, wie einsam ich mich fühle – ich weiß, dass ich ins Universum gehöre. In die große weltliche Gemeinschaft all dessen, was lebt.
Aber Sookie lebt jetzt nicht mehr. Ihre Reise im großen Strom hat sie an einen Punkt getragen, den ich noch nicht erreicht habe – obwohl wir beide einander so nah waren. Ab jetzt ist nichts von dem, womit ich mich in der Welt bewege, womit ich sie erfahre und einschätze, anwendbar, wenn es um Sookie geht. Und das verunsichert mich.

In den letzten Wochen hatte ich oft Gedanken und Fragen, die nicht sicher zu beantworten sind. So etwas ist für mich immer sehr ungünstig, weil ich nicht aufhören kann, darüber nachzudenken. Nach einem Weg für eine Antwort zu suchen. Über mögliche Lösungen aus den Konflikten, die dabei entstehen, auszusteigen oder sie zu befrieden.
Und jeden Tag gibt es Dinge, die ich zum ersten Mal ohne Sookie mache. Jeden Tag werde ich daran erinnert, dass ich diese Fragen noch nicht sicher beantwortet habe. Weil sie nicht zu beantworten sind. Jeden Moment bewege ich mich in einem Zweig des Laufs der Dinge, der ganz grundsätzlich neu ist. Fremd. Verunsichernd. Während alles unbeirrt weiterströmt, weil auch dieser Prozess, der gerade mit mir passiert, dazugehört.

Ich bringe gerade viel Kraft dafür auf, in dieser meiner Transformation niemanden zu stören. Die Menschen, mit denen ich heute überwiegend zu tun habe, kennen mich nicht ohne den Boden unter den Füßen, den Sookies Anwesenheit mir gegeben hat. Sie sollen nicht merken, wie viel größer, wie viel unsicherer, wie viel anstrengender jeder meiner Schritte jetzt ist. Sie sollen nicht wissen, dass ich sie nicht als meinen Boden, meine erste feste Basis im Leben empfinde, sondern eher wie günstig liegende Trittsteine. Haltestangen. Lose Taue, deren Enden mich unvorhergesehen streifen und aus schierem Glück in der Lage sind, mich dann und wann in Kontakt zu bringen.

Ich versuche mich nicht mit Arbeit zu betäuben. Und auch nicht mit dem ständigen Input aus Podcasts, wissenschaftlichen Artikeln und Instagram-Reels, der mich üblicherweise im Kontakttraining hält. Das fällt mir im Moment sogar ganz leicht, denn es gibt gerade nicht viel, das hängenbleibt, umfassend verarbeitet wird oder mich mit dem Gefühl von tieferem Sinn erfüllt.
Ich bin sehr verlangsamt in der Reizverarbeitung, muss länger als sonst darüber nachdenken, wie ich fühle oder welche Gedanken ich in bestimmten Situationen hatte. Sehr ungünstig in einer Fahrschulstunde. Problematisch für eine Partnerschaft. Unpraktisch in der ersten Woche am neuen Arbeitsplatz. Nachteilig für Gruppenprojekte, den Podcast, meine Ehrenämter. Gefährlich für meinen Schutzmantel aus So-tun-als-ob.

 

das Wiedersehen

21 Jahre und eine Handvoll Zeitspaghetti.
So lange haben wir uns nicht gesehen. Wobei wir uns nie zuvor gesehen haben.
Und doch standen wir da am Bahnhof in den Armen der anderen, wie man das am Bahnhof oft sieht. Wenn der Lauf der Dinge zweier Menschen zu einem gemeinsamen Strom wird und sie sich in wirbelnd strudelnden Gefühlen halten. So standen wir auch da. Z.s Freundin C. und ich.

Wir waren Klapsfreundinnen mit Fastaussicht auf Draußenfreund_innenschaft, aber dann passierte alles Aber und wir verloren uns. Bis wir uns wiederfanden, aber nicht halten konnten. Bis wir es dann endlich doch konnten.

Ich lebe mit dem Bild von mir als fürchterlicher Teenager. Eingebildet, rücksichtslos, übergeschnappt, gemeingefährlich. Sehr unreif. Sehr affektgetrieben. Unsozial im Allgemeinen, berechnend und kalt im Speziellen. Im Grunde so, wie ich mich bis heute fürchte und bekämpfe zu sein oder zu wirken.
Dass wir bis auf J. und C. keine Freund_innen hatten und auch in der Kindheit für ein halbes Jahr nur eine L. eine Rolle spielte, war für mich immer darin begründet. Heute kann ich diese Freund_innen alle als mir ähnlich neurodivergent und im familiären Bereich verletzt erkennen.
Kommen ein Auti und ein_e ADHSler_in in ’ne Bar, gehen sie mit einer Start-up-Idee oder einem Heiratstermin wieder raus – das klingt nach einem Gag, ist aber keiner. Nicht wirklich. In meinem Leben ist das der rote Faden für fast alle meine Kontakte und Freund_innenschaften. Schade, dass ich das erst mit 30 gelernt und verstanden habe. Und mir erst heute so wirklich richtig anzunehmen traue. Schade auch, weil ich mit meinem Bild, meiner Erzählung von mir auch immer meine damaligen Freund_innen schlecht gedacht habe. Wie bekloppt, wie grundkrank, wie niedrig muss ein Selbstbewusstsein sein, um gerne mit mir Zeit verbracht zu haben – das tut sich doch niemand mit Rückgrat an, niemand, dem alle Uhren richtig ticken.

In meinem Lauf der Dinge ist das Bedauern darüber drin. So umarmte ich C. mit einer Entschuldigung in Gedanken und dem Gefühl des „Kurz vorm Auseinanderfallens“ von Z., die ob der Umstände des Wiedersehens so gut wie gar nicht klarkam. Ihre Freundin, sah noch aus wie ihre Freundin, war – ist – ihre Freundin, aber nicht so. Die 22 Jahre mit Zeitspaghettirändern haben sie groß und erwachsen gemacht. Zeitliche Orientierung mit dem Vorschlaghammer.

Wir haben 3 Stunden durchgehend gesprochen. Abriss Biografie seit 2002, Abriss Therapieweg bis heute. Ist heute alles gut? Besser? Anders? Wie gewollt? Wann hat man angefangen zu wollen? Will man müssen oder nicht? Was ist jetzt wichtig? Kurzer Check, ob wir einander vergleichen – gegenseitige Versicherung, dass diese Phase jeweils vorbei ist. Erleichterung. Gut fühlen. Eis essen. Verabschieden, mit Ideen, wie wir uns öfter sehen können.

Ich glaube, C. ist heute 36. Ich 37. Wir hatten die gleiche Psychologin in der Klinik.
Und heute begegnen wir uns in fast verwundertem Stolz darüber, dass wir überhaupt noch leben. Als hätten wir nur Glück gehabt, obwohl wir beide wissen, dass wir hart dafür arbeiten mussten und diese Arbeit nicht als „für immer fertig getan“ betrachten können.

Im Zug merke ich erst, wie voll und wie vermischt ich bin und was ich aufschreiben muss, damit ich es nicht verliere. Meine Therapeutin kriegt es ab. Ich hoffe noch im Rahmen und spüre der Abwesenheit von Angst dabei nach.
Es hat sich wirklich unfassbar viel verändert. Seit 2002, aber auch seit 2012 und 2015 und 2017 und 2020 …

ein Fisch unter Elefanten – mein Prozess der Annahme der Autismusdiagnose

Am Dienstag war Autism-Awareness-Day und meine sozialen Medien ziemlich voll mit Posts über das Telefon als Barriere, das Puzzleteil als Symbol, das bitte nicht mehr benutzt werden soll und vielen Erklärungen zu Meltdowns und Stimming.
Ich habe an dem Tag das aktuelle Heft „autismus verstehen“ gelesen.
In dem Heft gibt es aber auch einen Text zum Prozess der Annahme und Akzeptanz nach der Autismusdiagnose. Petra Lachinger beschreibt ihn dort als den fünf Phasen der Trauer ähnlich. Leugnung, Zorn, Verhandlung, Depression, Annahme – am Ende ein lebenslanges Ding, das mal mehr, mal weniger beschäftigt.

Ich habe meine eigene Akzeptanz reflektiert und dabei bemerkt, dass mein Annahmeprozess genauso traumalogisch wie mein Verdachtsprozess und mein Umgang heute damit ist. Und dass das vielleicht anders wäre, hätte unsere Gesellschaft ganz allgemein mehr Autismus-Awareness.

Mein Verdacht autistisch zu sein, hatte sich entwickelt, weil ich mich als Ursache eines Problems wahrgenommen habe, das offenbar nur ich überhaupt hatte.
Die Traumalogik dieses Komplexes ist für mich ganz offensichtlich: Ich muss schuld sein, dass ich ein Problem wahrnehme. – Ich stelle mir das Problem selbst her, weil mit mir etwas nicht stimmt. – Ich strenge mich nicht genug an, um es zu verhindern, weil ich leiden will. – Ich will den Schmerz ja offensichtlich, warum rede ich mir dann ein, ich wolle ihn nicht …

Ich habe nicht einen Moment darüber nachgedacht, ob meine Therapeutin vielleicht irgendetwas falsch macht. Sie war von den Menschen, die mit mir gearbeitet haben, weder die Erste, die sowohl fachlich als auch menschlich gut mit mir gearbeitet hat, noch die Erste, die gut mit mir gearbeitet und trotzdem nicht richtig verstanden hat.
Ich hatte es nur zwei Mal mit wirklich schlechten Psychotherapeut_innen zu tun. Der eine hat sexualisierte Gewalt an mir ausgeübt, die andere hat mich emotional gewaltvoll behandelt. Das war beides schlimm und alles – hat aber am Ende in Bezug auf mein Selbstbild nichts großartig irritiert. Mit Gewalt umzugehen, war ich so gewohnt, dass ich mir damals schnell erklären konnte, warum sie passiert war. Ich bin halt scheiße – was soll auch anderes passieren. So ist es richtig – so funktioniert die Welt. Wenn es anders läuft, ist was im Busch.

Wenn zwei Personen alles so richtig wie möglich machen, aber doch nichts Richtiges dabei herauskommt, ist es wahrscheinlich, dass sie das Falsche tun. Da mir die Therapie grundsätzlich half, war es also logisch anzunehmen, ich müsste nur eine Kleinigkeit lernen, um den letzten Schritt zu schaffen.

Als ich anfing, mich in den Diagnostikprozess zu begeben, kämpfte ich mir der Überzeugung, dass ich jahrelang die Ressourcen und Kräfte von Menschen verschwendet habe, die sich sehr um mich und mein Weiter.Leben bemüht haben. Undankbar kam ich mir vor. Dreist, anmaßend. Und so, als ob ich mich nun einer so grundlegenden Beschissenheit meiner Selbst stellte, die ich selber, obwohl ich schon um sie wusste, einfach nie wirklich in Umfang und Bedeutung begriffen hatte. Ich war absolut bereit dazu zu hören: Du kannst es einfach nicht und wirst es nie können.
Heute frage ich mich, ob das vielleicht ein Aspekt von Leugnung ist.
In Wahrheit bin ich nicht autistisch (oder anders anders als die anderen Menschen) – in Wahrheit bin ich so scheiße unfähig, wie ich mich selbst (sicherheitshalber, traumagewohnheitsmäßig) finde.
Denn gleichzeitig hatte ich mich wissenschaftlich kritisch belesen und mich letztlich aufgrund der genetischen Komponente (eines meiner Geschwister ist ebenfalls hochbegabt und autistisch) für die Abklärung entschieden.
Logisch war mir klar, dass es genetisch und auf Grundlage meiner Probleme viel wahrscheinlicher war tatsächlich autistisch zu sein, als grundsätzlich unfähig. Aber die Leugnung dieser logischen Klarheit, hat mir ermöglicht, einen emotionalen Abstand herzustellen, der mir Sicherheit gab.

Ganz sicher war es auch ein Aspekt von Vermeidung, denn mir war schon klar, was diese Diagnose zusätzlich für mich auch bedeutet. Was es im Rückblick auf mein Leben und meine Arbeit in therapeutischen Kontexten bedeuten würde.
Es war so viel leichter für mich, mich als Problem anzunehmen und dafür zu beschämen, als mal ganz grob und diffus in die Richtung zu denken, dass die Gesellschaft, dieses Stückchen Welt um mich herum, mich einfach 30 Jahre lang genau so im Stich gelassen hat, wie ich es – heimlich, versteckt, unterdrückt, negiert, verleugnet, beschämt, bestraft – gefühlt habe. Und zwar nicht nur in Bezug auf die Gewalt, sondern auch in Bezug auf mich als Individuum.
Dass mein Gefühl richtig war, hat mich direkt nach der Diagnosestellung dekompensieren lassen. Denn damit umzugehen, überstieg meine Lebenskompetenzen. Ich habe nicht gedacht: Ich bin so geil, habs ja gleich gewusst – alles Dilettanten! Oder: Oh yeah, ich bin schlau – jetzt kommt meine Rache an allen, die mir nicht gerecht geworden sind.

Ich habe gar nichts gedacht. Ich habe vor allem gefühlt und davon viel zu viel gleichzeitig, unbenennbar und existenziell bedrohlich.
Mein Leben nach der Gewalt war praktisch komplett um die Psychotherapie herum aufgebaut, weil mir von allen Seiten vermittelt worden war, dass nur so eine lebenswerte Zukunft für mich überhaupt denkbar sei. Und dann verstand ich, dass diese eine letzte stabilisierende Säule – dieses einzige Ding, das mir trotz allem nicht-ganz-Verstehen meiner Therapeutin auch geholfen hat – nicht wirklich funktionieren kann, weil ich dafür nicht passe. Obwohl ich mich so anstrengte. Obwohl ich wirklich alles immer so aktiv bearbeitete, wie ich konnte.

Es folgte meine letzte schwere Depression mit akuter Suizidalität und meine letzte gewaltvolle Psychiatrieerfahrung. Die mit mehr Bewusstsein für Autismus und autistische Menschen vermutlich gar nicht so gewaltvoll geworden wäre.
Genauso wie der tagesklinische Aufenthalt danach. Der Klinik-Gau, der mich bis heute rasend wütend macht, weil ich Verletzungen wie diese einfach nicht mehr traumalogisch abhaken kann – und will.
Und auch nicht sollte. Niemand sollte nach so einer Klinikerfahrung nach Hause gehen und denken: Ja, ich bin da halt nicht richtig gewesen – ich bin halt immer überall falsch. Ich darf auch nicht von anderen erwarten, dass sie sich auf mich einstellen – was denk ich denn, wer ich bin?

Die psychologische Begleitung, die ich nach der Diagnose hatte, war letztlich, was mir geholfen hat, Schritte aus meiner Traumabubble zu schaffen. Ich konnte schrittweise so auseinanderschälen, wie ich das benötigte, wo mein autistisches Er_Leben Anpassungen von meiner Umwelt erforderte und welche Themen besser traumatherapeutisch aufzugreifen sind.
Das war meine Phase der Verhandlung und damit auch eine Phase der aktiven Interaktion mit meinen Diagnosen und den auch identitätsstiftenden Aspekten davon. Es fiel mir zunehmend leichter, mich nicht als mehr oder weniger skurrilen Traumarest zu begreifen, der in allen Bereichen des Lebens struggelt, weil das Trauma alles beschädigt hat und neu aufgebaut und ausentwickelt werden muss. Ich konnte mich auch davon lösen anzunehmen, dass ausschließlich die traumasensible Interaktion mit mir hilfreich und gut für mich wäre und alles andere nur deshalb nicht funktionieren würde, weil ich ja so beschädigt traumatisiert bin.

Ich begann jede Situation, die schwierig für mich war als eine Art Handel oder Austausch zu betrachten. Also als etwas, das nicht primär etwas mit mir, meiner Persönlichkeit oder meinem Sein zu tun hat, sondern als etwas, das prinzipiell erst einmal gemacht werden muss/soll/kann/darf und deshalb immer erstmal okay ist. Egal, was ich dabei wie un.gewollt kommuniziere oder auch nicht.
In meinem Fall ging es dabei vorrangig darum, meine existenziellen Grundbedürfnisse zu erfüllen. Also genau die Basics, die die meisten Leute gar nicht groß als herausfordernd erleben – und deshalb nur bei ganz kaputten, kranken, unfähigen Leuten überhaupt als herausfordernd annehmen – in Routinen einzubetten, die ich mag. Die mir gefallen. Die mir Kraft geben. Und sie dann auf Traumareste hin zu prüfen.
Dass in dem Prozess herauskam, dass der Großteil meiner Alltagsbelastung und Hauptauslöser für dissoziative Symptome in sensorischer Überreizung und dauerhaft abgezwungener Überforderung begründet war, hat mich damals erst einmal sehr gestärkt. Okay, ich bin kein Traumarest, der zu nichts weiter fähig ist – ich habe einfach nie gelernt, mich an meine eigene Wahrnehmung von etwas anzupassen. Wenn ich das tue, gehts mir so viel besser und ich kann so viel mehr machen.

Im Traumakontext ging es bei diesem Prozess immer darum, Traumalogik aufzudecken. Also das Innen zu finden, das noch traumareaktiv agiert, es zu orientieren und dann einen Handlungsweg aufzubauen, der alternativ ist.
Mein tagtägliches Alltagstrauma als unerkannt autistisches Kind war aber nicht so kleinteilig. Es war keine Abfolge wiederkehrender Monotraumata, die jeweils ein Innen hervorgebracht hat bzw. einen Trigger, den man entschärfen muss, um dann zu gucken: Okay, wie kriegen wir das bewusster hin? Wie können wir uns orientiert halten und die Sache erledigen (wie die meisten anderen Menschen auch)?

Niemals war in dieser Auseinandersetzung die Frage, ob und wenn ja, wann und wie ich überhaupt die Chance habe, nicht durch Überreizung oder soziale Überforderung schon dissoziiert zu sein. Nie war die für alle so ganz normale Alltagsumgebung, als nur mit unfassbarem Kraftaufwand kompensierbare Belastung mitgedacht.

Ich lebe in einem Umfeld, das nie gehört, gerochen, gesehen, gespürt, geschlussfolgert, angenommen, überlegt, interagiert und kommuniziert hat wie ich – aber in jeder Situation, zu jeder Zeit und um jeden Preis auf meiner Seite von mir verlangt zu können, was es selbst kann. Schon als Kind bin ich als Fisch unter Elefanten aufgewachsen, denen nie in den Sinn kam, dass ich jeden Tag – ganz unabhängig davon, ob sie mich misshandelt haben oder nicht! – mit Todesangst wegen ganz realem Sauerstoffmangel umgehen musste.
Das ist ein Leben, das einfach nicht verletzungsfrei sein kann. Und das auch nicht allein dadurch veränderbar ist, dass ich darum weiß und mir mehr Inseln (Teiche? 😅) schaffe, in denen ich ganz ich sein kann und von anderen Menschen deshalb weder beschämt noch pathologisiert werde.

Heute, 9 Jahre nach der Diagnosestellung, habe ich meinen Autismus noch nicht vollständig angenommen, weil er mir selbst noch nicht vollständig in allen Aspekten immer bewusst ist. Ich denke nach wie vor erst, dass ich ein unfähiges Stück Scheiße bin und gehe erst dann in die Prüfung, wenn mir diese negative Selbstverortung als belastend auffällt. Und selbst diese Prüfung mache ich nicht in der Annahme, ich sei ein Fisch unter Elefanten – also eine Person, die sich an Dinge anpassen muss, an die sie sich nie vollständig anpassen kann – sondern wie eine komplizierte Rechenaufgabe voller Annahmen, unsicherer Intuition und konstant auf Traumalogik durchleuchtete Impulse. Denn ich weiß einfach nicht, wie Elefanten ticken. Nicht wirklich. Und deshalb weiß ich nicht, worin sie sich von mir unterscheiden. Ich weiß eigentlich immer nur, was sie von mir als abweichend wahrnehmen und wahlweise witzig, nervig, störend, peinlich, abstoßend oder bedrohlich empfinden. Das kann aber an meinem Autismus liegen, an meiner Traumafolgestörung oder anderen Eigenschaften von mir und den Kontexten, in denen wir uns bewegen.
Bis ich weiß, dass etwas von meinen Belastungen auch Autismusbedingt ist, vergeht oft sehr viel Zeit und frustrierendes Herumprobieren an mir selbst.

Mein nicht-autistisches Umfeld spanne ich damit nur selten ein. Es ist mir einfach zu belastend und manchmal auch zu verletzend.
Auch das ist Teil des Annahmeprozesses. Ich muss nicht nur akzeptieren können, dass ich so bin, wie ich bin und was es für mich bedeutet, so zu sein, wie ich bin. Ich muss auch die Realität akzeptieren, dass nicht-autistische Menschen einfach nie die Quelle für Miteinander, Selbst- und Umweltverständnis sein können, die ich brauche und mir oft wünsche.

Meine Vorstellung von mir als „vom Trauma geheilte Person“ musste ich nach der Diagnose auch revidieren. Die selbstbestimmte Frau, die ihr Trauma überwunden, das Leben anpackt, sich against all odds verwirklicht und ihren Weg in den Sonnenuntergang geht, war schon immer eine Trope, die ich ehrlich gesagt eher als lesbische Fantasie interessant fand. You know – Xena 😅
Ich bin aber keine Frau. Ich weiß noch gar nicht, wann ich wirklich bin und immer um mich kämpfen will ich auch nicht müssen. Aber selbstbestimmt möchte ich sein. Und das ist als autistischer Mensch unter überwiegend nicht-autistischen Menschen nicht das gleiche wie für nicht-autistische Menschen. So etwas als gesetzt annehmen zu müssen, ist einfach nicht fair. Ich will das nicht annehmen.
Muss es aber doch in manchen Bereichen, weil man sich im Angesicht unbewusster Mehrheiten nicht um alle Veränderungen gleichzeitig kümmern kann.

Für mich ist es viel, gelegentlich mal solch einen Text zu schreiben oder bei einer Lesung oder einem Vortrag darüber zu sprechen. Aber damit das allgemeine Bewusstsein zu steigern oder gar die Welt zu verändern, erscheint mir utopisch und anmaßend. Ich betrachte es eher als eine Art Teichrandgestaltung. Als Elefantenfesten Strand sozusagen. Wer möchte, soll können.

Es wäre schön, würden Elefanten das auch für mich tun.
Aber zur Annahme meiner Diagnose.n gehört auch die Annahme der Realität, in der sie entstanden sind und eine Funktion erfüllen.

das Helferding

„Aus jeder Therapie nimmt man etwas mit“, dachte ich im Zug nach Hause „Aus jeder.“
Während die feuchtgrünen Felder und Wiesen am Fenster vorbeiglitten, dachte ich an unser erstes „Mami-Ding“ und daran, was für ein verkorkstes Scheißding das insgesamt war. Kinder- und Jugendpsychiatrie, halb von zu Hause weg, halb mittendrin. 3 Suizidversuche überstanden, den 4. schon in Planung, gerade entlassen, aber doch noch zu Gesprächen mit der Psychologin hinbestellt.

Sie war klein, hatte dunkle Haare und Augen. Sie hatte nichts Blendendes an sich, nichts Überforderndes. Die Gespräche waren ruhig, auch wenn sie es nicht sein konnten. Und irgendwann wollten sie nicht mehr von da weg. Wollten immer nur noch da sein. In dieser Ruhe, dieser Anwesenheit, die nichts überreizte, niemanden überforderte. Vielleicht ginge das? Vielleicht könnten sie für immer bei ihr bleiben? Sie waren ja eh nicht gewollt zu Hause. Aber bei ihr waren sie ja immer willkommen.
Alles wäre besser, wenn sie ihre Mutter wäre.

Ich spürte R.s Druck im Oberkörper, während ich mir ihre Erinnerungen daran ansah. „Alles wäre besser gewesen, wenn wir damals jemanden gehabt hätten, die_r uns im Leben willkommen geheißen hätte.“ Sie verkrampfte und drehte sich aus unserem Kontakt.
Ich weiß aber auch so, wie es weiterging.
Jemand hatte es der Psychologin gesagt und sofort bereut. Einerseits, weil der Verrat gegenüber der Familie* so ungeheuerlich war, dass er von den Dunkelbunten sofort bestraft wurde und andererseits weil die Psychologin sich abgrenzte und keine Termine mehr anbot. „Nichts gewonnen – alles verloren“, sagte Z. deren vibrierender Puls halb in meinem verschwand. „Ab da gings nur noch bergab.“

Bergab, das klingt, als wären sie damals noch auf einem gewissen Niveau gewesen. Hätten nicht schon die Arme zerschnitten, die Schullaufbahn kaputt, die Familienbande zerfetzt, den Glauben an ein lebenswertes Leben zerstört gehabt. Aber es stimmt irgendwie doch. Sie konnten nicht mehr so tun als ob. Diese so kraftgebende Fähigkeit haben sie verloren. Sie konnten sich selbst nichts mehr vormachen. Sich keine Idee mehr von einem Kontakt machen, der etwas zum Besseren verändern könnte.
Also haben sie es nicht mehr gemacht.
R. hatte sich in ihrer Abwehr bestätigt gefühlt, Z. keinen Kontakt mehr nach Außen. Das ganze System wurde von dem, was sich in der Zeit praktisch wie von selbst entwickelte, überschrieben. Heim- und Klinikablauf förderliches Funktionieren während Täter*innen zufriedenzustellen waren, war wichtiger. Ob als Klapsleiche oder Jugendliche_r, die_r einfach immer gut mitmacht, um gut mitzumachen, weil das Leben ja erstmal aus nichts anderem mehr bestand, war keine Wahl, die sie getroffen und auch nicht gelebt haben.

Ich schaute mir noch ein Mal die Liste der unausgesprochenen Dinge zur Psychotherapie an. Die hatte ich zusammengetragen, weil wir in unserer Therapie besprachen, wie wir woran arbeiten können in der nächsten Zeit. Die Krankenkassenstunden sind verbraucht, wir warten und hoffen auf den FSM.

Wir haben feste Positionen für die Psychotherapie und den Kontakt mit der Therapeutin.
Eine davon war bis vor einigen Monaten noch, dass wir solche unausgesprochenen Dinge nicht aussprechen. Egal, ob wir seit 12 Wochen oder 12 Jahren mit jemandem in Kontakt sind.
„Es ist gefährlich – man verliert einfach zu viel, wenn man solche Dinge sagt.“, das war Z.s Argument, als wir uns damit befasst hatten, ob wir diese Liste wirklich machen und mit der Therapeutin teilen. „Wenn wir heute etwas verlieren, ist das nicht so umfassend wie früher“, argumentierte ich – die gut schnacken hat, weil sie ja eh keine Ahnung hat, wie R. sich ganz richtig und gewohnt frustrierend einbrachte.
Ich habe es dann doch gemacht. Schließlich sind wir nicht nur wegen all der Dinge, die uns gesagt wurden, sondern auch wegen all der Dinge, die nie gesagt wurden in Traumatherapie.

Unsere Positionen haben fast alle etwas mit Performance, mit Kommunikation und Interaktion zu tun.
Keine davon zwingt unser Gegenüber zu etwas, alle beziehen sich auf uns und das, was wir zulassen können. Wir leben nicht nach Schweigegeboten und unterliegen auch keinen Redeverboten – aber wir schützen uns vor Verletzungen und Gefahren, die durch Transparenz entstehen.
Schon das zu teilen war schwierig. Obwohl es so logisch ist. Und überhaupt kein Geheimnis oder etwas, das sonst wie überraschend für unsere Therapeutin oder irgendwen sein dürfte. Aber mit dem Aussprechen wird nicht nur unsere Position sichtbar, sondern auch die Angst und die Nichtbereitschaft dafür, Verletzungen hinnehmen zu müssen. Der Umstand, dass wir etwas wollen, aber nicht … so.
Nicht so wie A., die sich von einem Behandler hat missbrauchen lassen, wie Z., die sich von einer Behandlerin hat wegstoßen lassen, wie ich, die sich nie gegen die Fehlannahmen und Falschbehandlungen von Behandler_innen gewehrt hat – immer mit der Traumawahrheit im Kopf, es gehöre dazu, dass es weh tut. So sei es nun mal. Dieses Leben. Als Patientin, als Geholfene, als Empfänger_in, die froh sein kann.

So viel von unserem Behandlungsweg war in sich traumatisierend schmerzhaft und so viel von dem motivierenden Selfcaresprech, der mir mitunter begegnet, setzt gewissermaßen eine Bereitschaft zum Schmerz voraus. Therapie soll nicht schön sein. Angenehm. Die soll weh tun, die soll mich von meinen Illusionen runterholen, egal welcher Natur sie sind. Die soll mir alle möglichen irrigen Annahmen klarmachen und mir helfen, zu neuen Ansichten zu kommen.
In all dem ist die Beziehungsebene zu meiner jetzigen Behandlerin aber nie als Teil der Beziehungsgeschichte betrachtet, die ich mit früheren Behandler_innen hatte.
Wir konnten gut in die gemeinsame Arbeit einsteigen und drinbleiben, weil wir keine zwischenmenschliche Beziehung aufgebaut haben. Sie war und wird von uns immer wieder dahingehend gedacht, dass sie Teil des Raumes ist. In gewisser Weise also eine Art Möbel, das zur Interaktion und Kommunikation fähig ist – aber nicht zur Verletzung. Sobald wir damit konfrontiert werden, dass sie ein Mensch ist, kommen wir in Stress. Weil Menschen einfach zur Verletzung fähig und wir damit in Gefahr sind.
Diese Realität weit genug zu verdrängen und sich dennoch zu öffnen für die Arbeit ist herausfordernd und ich glaube so auch nur möglich mit einer dissoziativen Störung.

Nun ist das Ziel aber die Dissoziation in meinem Leben weitgehend zu entstören.
Ich muss schauen, auch jetzt noch, nach der ganzen Arbeit und allem, ob die Dissoziation meiner Therapeutin nicht doch langsam auch eher störend, als hilfreich ist.

Feierabende sind echt

Der Tag beginnt still. Ich halte mein Gesicht ganz weich vom Schlaf in das cremige Beige der Morgensonne und bilde mir ein, dass ich ihre Wärme fühlen könnte. Die Schritte der Hunde knirschen über das gefrorene Gras. Mein Atem schwebt weiß in der Luft.

Ein weiterer Tag allein zu Hause.
Ich schüttle NakNak*s Morgentablette aus der Tüte und stecke mir die Frückstücksäpfel für die Hunde in den Pulli. Ich trage sie rauf in mein Büro. Sie fressen, ich stelle mich ins Rauschen des Wasserkochers. Kaffee, Computer und los. Klick, klick, klick, tipp tipp tipp, klick. Die Geräusche meiner Arbeit sind wie kleine Wellen um mich herum in einem Meer von Stille in einem unendlich freundlichen Ist. Draußen ein Wintertraum in Pastell.

Irgendwann muss ich sprechen und die Schönheit des Seins ist zerstört. Alles, was bis eben einfach nur da war, ist plötzlich belebt und unvorhersehbar. Jetzt erfordert es Adjektive. Wachsamkeit. Schein.
Als wäre ein Schalter umgelegt, bin ich ein Fremdkörper.
Ich versuche, eine Form zu finden. Wandle und handle mich in die neue Situation hinein, versuche mich anzupassen. Anzugleichen. Alles im Fluss unter einer festen Schicht Freundlichkeit. Aufmerksamkeit. Wachsamkeit.

Die ersten Trigger mischen sich in mich hinein. Meine Muskeln verhärten sich und reißen an den Gelenken. Ich atme sie raus, schüttle sie weg. Schaue in den weichblauen Himmel und finde Trost in den Erinnerungen an die Realität ohne Andere.
Die Zeit vergeht, irgendwann ist es okay. Ich bin okay. Bin drin. Kann gut mitgehen. Schaffe alles, will noch mehr. Dann ist die Arbeit zu Ende. Nichts mehr zu wollen. Der Arm tut weh, die Luft ist verbraucht, Bubi schiebt seinen Kopf an mich. Zeit für eine Hunderunde.

Als ich einfach loswill, schießt mir etwas Schmerzliches durch den Kopf. Ich schaue nicht hin. Als ich NakNak* runtertrage, denke ich daran, wie ich vielleicht bald irgendwann ein Kind hier runtertrage, das genauso schwer und warm ist wie sie. Ich ziehe sie an und hoffe, dass mein Auto fährt, als wir in den schneeeisweißharten Garten gehen.
Es klappt, wir fahren. Im Rauschen der Heizung sitzend überlege ich, ob ich mir das vielleicht doch mal angucke. Wie schmerzhaft kanns sein. So in echt. Ich mach ja alles, was ich will. Obwohl das immer wieder hochkommt. Es wird mir zu dicht in mir. Ich fange an, irgendwas zu fühlen, das nicht zum Autofahren passt und breche die Überlegung ab. Ich habe nächste Woche einen Therapietermin. Klappe zu. Thema erstmal wieder erledigt.

NakNak* stakst aus dem Auto, Bubi verfolgt sofort eine unsichtbare Linie auf dem Waldboden. Ich höre einen Podcast und beobachte die Hunde bei ihrer Wanderung von Marke zu Marke. Langsam komme ich wieder da an, wo der Tag begonnen hatte. Präsenz inmitten aller Dinge. Die eigenen Veräußerlichkeiten als Zone zwischen Gegenwart und Zukunft. Irgendwann bin ich so zufrieden, dass ich damit spiele.
Dann fahren wir nach Hause. Vorbei an flauschigen Kühen und dampfenden Häusern.

Wieder zu Hause könnte ich so viel machen, aber mache gar nichts davon. Ich sitze auf der Couch und streichle Bubis großen Kopf auf meinem Schoß. Ich will es ganz in mich einsinken lassen, wie ich gerade nichts mache und niemand von denen, die darauf warten, etwas dagegen tun kann. Denn ich bin hier und sie nicht. Selbst wenn sie mich sehen würden – selbst wenn sie wüssten, dass ich hier gerade gar nichts tue – sie müssten sich etwas überlegen. Ich nicht.
Ich segle auf einer kruden Überheblichkeitswelle, fühle mich mächtig und stark – obwohl ich genau weiß, dass ich hier gerade Traumarealitäten mit Realitätswahrheiten mische. Ich werde nicht beobachtet. Feierabende sind echt.

Montagabend

Es ist spät, als ich von der Fahrschule nach Hause fahre. Spät, dunkel und eisschneeregnerisch. Vor mir stieben die Flocken ins Licht, als würde ich mit Warp 5 durch die Galaxie fliegen, der Tacho steht bei 35 km/h.
Mein Unterricht geht von 18 bis 21:30 Uhr, ich fahre immer schon um 17 los. Wildes Niedersachsen, da muss man durch, hier ist alles weit voneinander entfernt.

Ich denke oft, wie leicht mir hier etwas passieren kann. So kurz vor der Hochzeit, das wär doch kacke. Danach aber auch.

Ich bin allein auf dieser weltallschwarzen Strecke einzig gerahmt von den Leitposten links und rechts. Mal mit, mal ohne blauen Reflektor. Es ist nicht still und das ist auch gut so. Im Klang meiner Pusteheizung finde ich angenehme Kongruenz. Durchgehendes Rauschen, das habe ich auch in mir gerade.
Die Arbeit, der Haushalt, die Projekte. Bewerbungen, Fahrschule, Hochzeit. Noch 3 Wochen, dann machen wir Urlaub. Ich will alles geschafft haben bis dahin, denn nichts von dem Stress, der Aufregung, der Unsicherheit, der Unzufriedenheit und Aufreibungsnotwendigkeit will ich ins neue Jahr mitnehmen.

Ob ich meine Theorieprüfung noch im Dezember machen kann?

Ich will mit dem Partner und den Hunden, NakNak* – bis dahin noch?, am Strand spazieren gehen. Will ausschlafen, mittagsschlafen, frühschlafen, durchschlafen.

Meine Nachbarin war da und hat mit meinen Haaren operiert. Einen Buzzcut hat man im Leben frei, ich glaube, im Sommer ist es soweit.
Ich werde eine fitte, fette Person mit 3 mm Haarbelag auf der Kopfhaut sein und vielleicht wird alles anders. Nicht deshalb, aber damit. So, wie jetzt, mit der Zahnlücke.
Oh G’tt, wie der Zahn gestunken hat, meine Fresse, das war heftig. Und als Frau Doktor sagte, das wäre der Eiter, war es noch heftiger. Über ein Jahr ist der Zahn gestorben oder vielleicht schon tot gewesen. Ganz schön widerlich. Mein toter schwarzer Stummelbert.

Mein Mund fühlt sich noch an wie ein fremdes Zuhause und wenn ich kräftig Puls habe, spüre ich es in der Lücke. Denn natürlich ist das Stück der provisorischen Brücke gleich an Tag 2 abgebrochen und ich kann diese Woche nicht mal eben einen Tag freinehmen. Kann und will und möchte. Ich kann nicht, wegen der Fahrschule, will nicht wegen dem Gefummel am Kopf und möchte nicht, weil ich es unseren Gästen am Wochenende schön machen will. Putzi putzi blitzi blanki, hier hat sich einiger Wohlfühlschmodder angesammelt, das muss ja nicht sein.

Eigentlich ist es doch ganz schön so.
Vieles ist viel, aber nur noch die Arbeit eine zehrende Wartesache voller Unklarheiten und Gemuddel. Aber es wird. Irgendwie wird es ja immer.

Ich fahre auf unseren Parkplatz vor dem Haus, schalte alles ab und lausche auf das Knistern des Eisschneeregens. Da drinnen warten 3 Jemande auf mich. Ein warmes Bett, ein Abendbrot. Ein Morgen mit Übermorgen drin.

Ich bin froh.

Flügel

Ein Kind, dem die großen bunten Schmetterlingsflügel vom Rücken abgeschnitten werden. Eine Grafik, die ich öfter sah, als meine Autismusdiagnose noch neu und ich einigermaßen unbedarft in der autistischen Netzbubble unterwegs war. Ich dachte schon damals, dass diese Grafik vermutlich in vielen anderen Kontexten auch benutzt wurde, um die radikale Natur so mancher Grausamkeit gegenüber Kindern aufzuzeigen. Eine Grausamkeit, die als solche oft gar nicht bewusst ist. Eine Radikalität, die einen Für-immer-Abdruck hinterlässt.

„Alle Menschen sind anders“, das ist ein dünnes Läppchen, das man sich manchmal gegenseitig auf den Kontakt patscht. Ich nehm dich, wie du bist – ich will nicht, dass du bist wie ich – wir können alle anders sein, dann muss niemand darunter leiden anders zu sein, töröö!
Darüber dachte ich gestern nach einem Gespräch mit jemandem nach.
„Was wäre die gewünschte Reaktion auf deine DIS-Diagnose?“, war die Frage. Ich habe geantwortet, dass die beste Reaktion Grundlagenkenntnis wäre. Dass es cool, wäre, wenn ich mich nicht immer darauf einstellen müsste, anderen Menschen zu vermitteln, dass mein Aufwachsen so anders war als ihres, dass ich sehr anders, radikal anders, geworden bin als sie. Ohne so Dinge zu sagen wie: „Ich habe Abgründe gesehen und Tode überlebt, die du dir im Fernsehen just for fun reinziehst. Oder zum Entspannen.“ Obwohl es wahr ist. Und auch bewusst gemacht werden muss.

Es wäre schön, wenn die Alltage, die Er_Lebensnormalitäten von Menschen mit DIS bekannter wären als die Ausnahmezustände, die Kontrollverluste. Wenn nicht jede Film- und Fernsehpräsenz des Themas die Gewalt ihres Ursprungs fokussiert und jede, die es nicht tut, vorgeworfen bekommt zu bagatellisieren oder romantisieren.
Ich wünsche mir oft, dass meine DIS als ich begriffen wird. Dass endlich mal allen Menschen klar ist, dass ich meine eigene Symptomlage bin. Dass ich das bin, wenn ich switche, dass ich das bin, wenn ich panisch erinnere, wenn ich ängstlich vermeide und so weiter und so weiter – ganz egal, ob ich das als mir zugehörig empfinde oder nicht. Mein Identitätserleben dabei ist nicht der Krankheitswert – die Krankheit ist nicht, dass ich so bin. Sondern, dass ich darunter leide. Dass ich der Norm zwischenmenschlicher Interaktion nicht zuverlässig entsprechen kann. Dass ich nicht zuverlässig funktionieren kann. Aber immer immer immer muss. Weil es andere immer können. Andere, die anders angepasst aufgewachsen sind. Andere, die andere Chancen zu lernen und zu reifen hatten. Andere, die mit ganz anderen Sicherheiten durchs Leben gehen.

Chronisches Trauma in der frühen Kindheit ist eine massive Entwicklungsstörung.
So logisch wie es ist, dass chronisch traumatisierten Kindern metaphorisch gesehen große bunte Schmetterlingsflügel wachsen, um das Schlimmste zu überstehen, so brutal ist es, sie ihnen abzuschneiden, wenn sie erwachsen sind. Oder so zu tun, als könnten sie wie alle anderen anders sein, wenn sie sie nie zeigen, nie darüber reden, nie einfordern, dass man sie akzeptiert. Sie nie wieder benutzt, wenn es nötig erscheint.

Vielleicht generalisiere ich, wenn ich denke, dass jede Reaktion, wenn sie mehr als bloße Akzeptanz ist, einen Schnitt in diese Flügel bedeutet. Vielleicht bin ich überempfindlich, wenn mir interessierte Neugier auch wehtut. Vielleicht sollte ich mich nicht so haben, wenn ich nach Film- oder Romanfiguren gefragt werde – ich weiß ja, dass die meisten Leute mich davon unterscheiden können.
Es ist trotzdem immer auch ein Angriff. Ein Schnitt. Und damit immer auch die Botschaft doch bitte nicht ich zu sein. Und also lieber tot, denn ich bin ja immer ich, egal, wie anders ich mich verhalte, wie sehr ich anderen gleiche. Traumalogik trifft Gewaltlogik.

Tja.
Vielleicht ist die bessere Antwort auf die Frage, dass ich mir keine Mikroaggressionen wünsche. Vielleicht ist auch mein Wunsch nach Grundlagenkenntnis, eigentlich der Wunsch nach einer speziellen Mikroaggression, weil ich damit mehr anfangen kann als mit allen anderen.
Vielleicht ist mir ganz tief drinnen, an meiner Wurzel, an meinem Ursprung einfach klarer, als an meinen Rändern, dass ich sie, wie so vieles andere an mir, immer brauchen werde. Meine Flügel.

Stress und Opferbelange

Es war zufällig aufgefallen.
Mein Partner war gerade wieder in der Lage zwischen Couch und Schlafzimmer zu wechseln, ohne sofort die Augen schließen und durchatmen zu müssen. Aus Gag hatte ich sein Pulsoximeter aufgezogen und einen Puls von 42. Was ein bisschen niedrig ist für jemanden, die_r gerade hin- und hergelaufen und auch sonst nicht gerade tiefenentspannt war. „Vielleicht spinnt das Gerät, man soll sich ja ohnehin nicht so darauf verlassen, wie auf die Geräte bei Mediziner_innen. Die Dinger sind ja nur fürs Gefühl, für die Tendenz.“ So haben wir darüber gedacht.
Das war im April.

Im Mai habe ich mir einen Körperspion gekauft. Eine Fitnessuhr.
Weil ich dachte, dieser Sommer würde der Sommer werden, in dem ich mich endlich auch körperlich mal so auf die Reihe kriege, wie ich andere Aspekte in meinem Leben schon auf die Reihe gekriegt habe.
Ich würde nicht mehr einfach nur so ’ne Stunde schwimmen, tüddelü, Hauptsache, es fühlt sich gut an, sondern bäm bäm bäm besser, schneller, burn burn burn mein Stressfett weg.
Da fiel die Pulsausnahme in ihrer Regelhaftigkeit auf. Im Schlaf, klar, da würde man eine niedrige Pulsfrequenz erwarten – aber um die 40? Und, ist es nicht irgendwie komisch, wenn man mit Sport anfängt, den man schon seit Jahren in gleicher Regelmäßigkeit macht, von 80 auf 140 hochschießt und dann runterplumst auf 45 bis 42? Hm, hm, hm.

Ich dachte, dass es eine Folge der Covid-Infektion war. Vielleicht sowas wie POTS oder irgendwas Gefäßiges, schließlich ist COVID am Ende eine Vaskulitis – eine Entzündung von Gefäßen.
Und machte weiter wie immer.
Nur, dass es mir im Verlauf des Jahres nicht besser ging. Ich war lange in Sorge, hatte mein Buch veröffentlicht und Lesungen geplant, „Viele Leben“ gestartet und bei der Arbeit ist das Pensum in das für mich Unschaffbare gestiegen, weil immer wieder jemand ausgefallen ist und eine Person ausstieg. Meine Projekte und Pläne konnte und kann ich auch weiterhin nur schluckweise bearbeiten, es ist einfach alles sehr sehr viel. Sehr sehr viel Stress vor allem. Und dann auch noch die Art Stress, die nicht mit regelmäßigem Sport ausgleichbar ist. Oder mit mal schön im Garten sitzen. Oder genießen, wenn was gut gelaufen ist. Feierabend machen. Es ist die Art Stress, die auch immer wieder antickt: Wenn du das nicht schaffst, bist du tot (weil dich alle hassen/du kein Geld hast/du bestimmte Fähigkeiten nicht hast, die dich schützen …)

Irgendwann hat meine Fitnessuhr angefangen zu vibrieren, wenn sie erkannt hat, dass ich aktiv war und einen Puls unter 45 hatte. Logisch, man würde das wohl nicht erwarten bei einer gesunden Person, in meinem Alter.
Ich habe einen Termin bei meinem Kardiologen ausgemacht. Der sollte im Dezember stattfinden. Das fand mein Lungenfacharzt nicht so geil und ließ ihn vorverlegen. Es gab Untersuchungen. Ultraschall, Belastung, 24 Stunden-EKG. Alles mit Wartezeiten natürlich.

Der Sommer kam und ging, ich arbeitete durch. Nix mit Radfahren zusätzlich, nix mit krass mehr burning Schwimmen, sondern schön den Arsch am Computer. Setzen, lesen, schreiben, planen, organisieren, als hätte ich eine Vollzeitstelle und sowas wie nutzbare Freizeit zum Ausgleich.
Im September habe ich dann Urlaub gemacht. Für 4 Wochen. Nachdem ich im Grunde jede Woche mindestens einen Meltdown hatte und wirklich und echt nicht mehr konnte. 2 der 4 Wochen habe ich damit verbracht nachzuarbeiten, was liegengeblieben war, aber mit Ausschlafen. Wenn es denn ging. Und dann bin ich zwei Wochen Fahrrad gefahren. Etwa 650 Kilometer mit ein Mal COVID-Ansteckungsangst und ohne Fitnessuhr. Ich merke inzwischen auch ohne, wann wieder alles im Keller ist und schaffe es, ohne Panikschub meine Herzfrequenz wieder zu erhöhen.

Auf der Buchmesse im Oktober dachte ich kurz, dass ich einen Herzinfarkt bekäme. Ich hatte so heftige Rückenschmerzen, Zahnschmerzen und die Luft ging schwer rein. Aber mein Puls war gut. Wahrscheinlich nur der Stress vom Fahren unter der Woche, im Zugchaos der Deutschen Bahn, im Arbeitschaos, während ich Innenarbeit mit inneren Jugendlichen mache. Panikattacke ohne Panik? Hatte ich noch nie, aber was weiß denn ich?!

Gestern, auf dem Weg zur Praxis meines Kardiologen, dachte ich darüber nach, was ich ändern würde, würde mir jetzt irgendeine echte Herzsache ins Leben treten.
„Ich würde kündigen.“, das war mein erster Gedanke. Kündigen, meine Förderung mitnehmen, eine Reha versuchen und irgendwo neu anfangen. Das Büchermachen würde meine Freizeit werden. Ich würde den Podcast abgeben, die Gruppe abgeben, meine Stifte spitzen und Leinwände zuschneiden. Meine verstaubte Kamera rausholen und erst wieder sprechen, wenn es sich wirklich gut für mich anfühlt.
Ich würde betrauern, dass ich kein Kind bekommen kann, weil wie selbstbestimmt wäre das mit irgendeiner Herzsache und dann würde ich den Partner belatschen, dass wir 6 Monate im Jahr mit dem Wohnwagen unterwegs sind.

Dann aber sagte der Kardiologe, dass ich tippitoppi gesund bin. Super fit halt, da ist eine niedrige Pulsfrequenz normal. Er erklärte mir, wie niedrig mein Risiko für irgendwas Herziges sei und zeigte dabei auf eine Tabelle. Meine Beschwerden könnten vom Übergewicht kommen.
Ich habe also ein messbares und völlig harmloses Ding, weil ich so fit bin und einen Haufen unmessbarer Dinge, die mich belasten, weil ich so fett bin. Geil.

Ich suchte den nächsten Zug nach Hause aus und begann mit Textarbeit. Dann kamen die Nachrichten, über Verspätungen, Reparaturen, komplett ausgefallene Verbindungen. Klar. Ich würde wieder eine Arbeitssache nicht hinkriegen, meine Betreuerin wollte mit mir telefonieren, klappt das noch? Nicht vergessen, der Partner muss noch in die Werkstatt kommen, wir müssen pünktlich zu Hause sein. Wär ich doch nur nicht so fett, dann würde ich das jawohl ganz ohne Druck im Oberkörper und Schwindel überstehen. Natürlich hatte ich noch nichts gegessen und nur Kaffee im Organismus. Wer braucht Kalorien, wenn sie_r auch Stresshormone haben kann. Der Treibstoff der Gewinner, alte Anorexieweisheit zwinkyzwonky

Ich stand am Gleis, weinte und aß ein Brötchen vom Bahnhofbäcker. So wie das jemand machen sollte, die_r seit nun 23 Jahren so ein bizarres Verhältnis zum Essen hat, dass es einfach nie wirklich okay, selten wirklich ganz und gar befriedigend oder zweifelsfrei in Ordnung ist.
Nicht.

Natürlich habe ich nicht nur wegen all dem geweint. Ich war auch angefasst von der Therapiestunde am Tag vorher und eh in Kontakt mit Innens, die nie wieder irgendwas im Mund haben wollen oder in der Nähe davon aushalten können. Manchmal habe ich einfach Pech. Da schieben sich die Themen ineinander wie tektonische Platten und meine innere Welt bebt. Dann denke ich im Nachhinein: Okay, sind meine Tränenvulkane auch mal wieder aktiviert worden.
Aber was erzähle ich mir denn damit?
Irgendwie naturalisiere ich damit doch auch wieder nur die ständige Anspannung, den fehlenden Erholungsraum, die Sackgassen, aus denen ich allein, ohne Ermutigung, Ansporn, Versicherung von außen nicht mehr rauskomme.

Im Zug weinte ich noch ein bisschen weiter, weil scheiße ey, 23 Jahre Essstörung und irgendwie gesund Gewicht verlieren, das hinzukriegen erscheint mir inzwischen einfach nur noch utopisch. Innerhalb all der Dinge, die auch dran sind. Und auch so, wie ich jetzt bin.
Vor 14-15 Jahren hätte ich auf so eine Ansage hin, einfach aufgehört zu essen und fertig. Ich hätte nichts, aber auch gar nichts von dem Druck mitbekommen, den das auslöst. Ich hätte nicht weinen können und wenn doch, nicht ein Mal gemerkt, womit es was zu tun hat.
Vor 10 Jahren oder vielleicht noch vor 5 Jahren, habe ich mir Pläne machen können und es so hingekriegt. Ich hätte nicht gemerkt, wie einseitig ich esse und meine Ängste vor Abweichungen und Unvorhersehbarkeit als Ansporn für meine Selbstbeherrschung nutzen können. Ich hätte nichts von dem Horror mitbekommen, den so eine Dynamik für die Kinder und Jugendlichen in mir bedeutet. Nicht einen Hauch.

Irgendwann war ich leergeweint und dümpelte in der Dissoziation.
Dann stand ich an der Baustellenampel im Parkhaus und spürte die Erschöpfung wie eine warme Wachsdusche. Ich entschied mich gegen einen weiteren Diätanlauf in Eigenregie und begleite das auch jetzt noch mit etwas, das die Therapeutin mal gesagt hat: Alles ist anstrengender, wenn irgendwas nicht grundlegend erfüllt ist.
Ich kann es einfach nicht grundlegend (stabil, ohne außerordentliche Anstrengung) – das gesunde normale Leben machen.
Ich bin halt blöd chronisch stresshormonsüchtigabhängig und meiner Umwelt ist das schwer verständlich zu machen.

„Wie hast du denn so gar kein Erschöpfungsthema?“, hat mich jemand nach der letzten Lesung gefragt. Schon da habe ich mir ein gequältes Lächeln rausgedrückt. Denn ja, doch, klar hab ich ein Erschöpfungsthema. Total! Mein Wunsch im Leben ist, meine Ruhe zu haben. Endlich einfach nur Ruhe und Schlaf und nichts, was mich in irgendeiner Form agitiert. G’tt ich würde so gerne einfach mal einschlafen und wirklich und echt erst dann aufwachen, wenn ich auch wirklich und echt wach bin. Ich bin sau erschöpft. Ich stehe auf, gehe pinkeln und könnte dann schon wieder ins Bett kriechen, weil bereits das – dieses bloße einfache Pinkeln gehen – so ein inneres Traumadrama ist und das Traumadrama ums Im-Bett-Liegen schneller ins dissoziative Nichtsfühlen kippt.
Ich kenne mich nicht ungestresst. Nicht unter Druck. Nicht irgendwie doch damit beschäftigt, irgendwas zusammenzuhalten, damit ich selbst irgendwie be.greifbar bin. Sowohl für mich als auch für andere Menschen.
Ich hab sowas von ein Erschöpfungsthema.
Aber ich kann sehr gut auf Stress funktionieren. Vielleicht sogar nur so. Das will ich nicht hoffen, aber vielleicht gehört das zu den posttraumatischen Realitäten wie diese Essstörung, die Ängste an allen Ecken und Enden, das ewige Brodeln aus dumpfspitzscharfem Erinnerungsschleim, der hier und da zu Krusten getrocknet in mein Begreifen krümelt.

Aber vielleicht, ganz sicher, spreche ich nicht oft genug darüber, in dieser Klarheit.
Vielleicht muss ich mir auch eine Teilverantwortung für diesen medizinischen Fuckup geben. Denn natürlich habe ich meinem Kardiologen nichts von meinen 23 Jahren zwischen 47 und 127 Kilo erzählt. Natürlich weiß der nicht, dass ich komplex traumatisiert nach systematischer sexualisierter Ausbeutung bin. Und damit allein schon zu der Personengruppe gehöre, die doppelt mehrfach erhöhtes Risiko für allen möglichen Herzkreislauf-Shit hat. Noch vor meiner Risikoerhöhung durch die Depressionen und Ängste, meine Behinderung und die Medikamente, die ich nehme.
Andererseits hätte ich es ihm auch nicht verheimlicht, wenn ich nach Fragen zu meinen Symptomen auch danach gefragt worden wäre.

Man verbindet Lebensgeschichten wie meine immer mit Defiziten und Problemen. Aber, dass mich mein Aufwachsen in (toxischem) Stress befähigt, mich durch langanhaltende chronische Stressphasen zu bringen, ohne ständig krank zu sein, ohne andere mit meinen Emotionen zu belasten, ohne einen merkbaren Abfall in meiner Arbeitsleistung, das bleibt oft unbemerkt. Tatsächlich ist das oft eher der Grund für Irritation, wenn ich dann wirklich nicht mehr kann und absolut keinen Verhandlungsspielraum mehr einräumen kann. Dann denken andere Menschen eher, ich würde nicht verhandeln wollen, würde es mir bequem machen, würde einfach querschießen wollen. Keine Verantwortung tragen wollen, keinen Bock, kein Mitgefühl für andere haben. Während aber genau das oft die ersten Gründe für Dauerdurchhalten und intensive Selbstmotivation in die totale Erschöpfung sind. Darin nicht gesehen zu werden und auch keine Anerkennung dafür erhalten, hat bei mir dazu geführt, dass ich das bis heute nicht intuitiv erwarte, sondern als Selbstverständlichkeit in mein Leben hineingebacken empfinde. Ich ballere bis ans Limit und andere halten das für mein mittleres, übliches, normales Anstrengen.

Ich kam zu Hause an, legte den Rucksack ab, holte die Arbeitssachen heraus und arbeitete meine To-dos ab. Mit einem Ohr zum Partner, der immer noch auf den Anruf aus der Werkstatt wartete und umkämpfter Wachheit, denn die Hunde mussten auch noch raus und vielleicht könnte sich eine Zeitblase ergeben, um ein Design für unsere Hochzeitseinladung zu produzieren.
Der Tag verging. Ohne Zeitblase. Ohne Werkstattfahrt. Mit einer Hunderunde im Regen, während meine Betreuerin mit mir telefonierte. Mit dem Entschluss tatsächlich bald zu kündigen, meine Hausärztin um Hilfe beim Abnehmen zu bitten und zu akzeptieren, dass es gerade nicht anders geht, als meine Opferbelange selbstständig zu vertreten.
Ohne es okay zu finden.