Erbsenmomente

Gerade habe ich einen Artikel gelesen, in dem die “Löffeltheorie” beschrieben wurde.
Dieses Bild wird benutzt, um zu verdeutlichen, wie viel wovon man so für sich stemmen kann, ohne zu überreizen. Für mich eine sehr gute Idee – ich hab nämlich nur so mitteldifferenziert Ahnung davon, was genau mich wie viele Löffel kostet.

Ziemlich viel Ahnung aber hab ich, wie ich mitten am Tag zu Löffeln kommen kann: Erbsenmomente

Den erfahreneren Therapierten ist die Geschichte vielleicht schon als Achtsamkeitsübung bekannt.
Man hat eine Handvoll Erbsen in der rechten Hosentasche – für jeden schönen, angenehmen, guten, okayen Moment nimmt man eine raus und steckt sie in die linke. Am Ende des Tages holt man sie sich hervor und führt sich die schönen, angenehmen, guten, okayen Momente noch einmal vor Augen.

Wir sind leider zu verkorkst um mit Essen in den Hosentaschen herum zu laufen und zu faul uns zu überlegen, was man denn so physisches Zeugs mit sich herumtragen könnte, um diese Übung öfter zu  machen. Also haben wir irgendwann gemacht, was wir gut können: nämlich die ganze Schose in unseren Kopf einzusourcen.

Wir sammeln Erbsenmomente und legen uns eine Momentaufnahme davon ins Backend.
Erbsenmomente sind manchmal awkward Rosenblättersachen wie schöne Geräusche, leckere Wörter oder Oberflächen, aber auch mittelkitschige Dinge wie: NakNak*, die auf uns zu hoppelt oder ein Sonnenaufuntergang. Dazwischen sind noch Dinge wie: etwas geschafft zu haben, planmäßige Abläufe oder besonders schöne Muster und Flauschglitzer.
Das sind alles Dinge, die wir selbst produzieren können bzw. an die heranzukommen nicht viel Aufwand bedeutet und nicht viel mehr als unsere direkte konkrete Widmung abverlangen. Das meiste muss man nur anschauen oder eben spüren.

Wenn wir Tage haben, die uns “viele Löffel abverlangen” und noch nach dem Besteckkasten schielen, dann wissen wir das in der Regel schon vorher. Unsere großen Stressoren sind immer die gleichen: andere Menschen, andere Menschen, Außentermine, Außenblicke, Außenurteil, andere Menschen, laut, eng, voll, der eigene Körper

Vor Außenterminen versuchen wir uns auf dem Hinweg schon Mustermusik zu geben. Am Besten ist da klassische Musik ohne Gesang. So wird der Weg hin (der ja oft auch schon bedeutet Löffel zu verlieren) auch ein Erbsenmoment. Wenn man dann noch Glück hat, ist der “eigene Platz” in der Bahn noch frei (planmäßiger Ablauf) und man kann mit den Fingerspitzen das Muster an der Lehnenkante des Sitzes vor sich befühlen (eine leckere Oberfläche).

Dann kann der Außentermin so schrecklich sein, wie er will – der Ohrwurm von der Musik und der Geschmack der Oberfläche liegen im Backend, wirken parallel weiter und puffern eine Menge ab.
Wenn es ein schrecklicher Termin war, ist es für uns nicht mehr so ein Akt durchzusetzen dann auch allein sein zu wollen und uns entsprechend auch abzuschirmen. Das ist dann manchmal schon das Erbsenmoment: allein sein

Manche unserer Erbsenmomentutensilien tragen wir mit uns umher, wenn wir unter Menschen, in Therapie –, Mediziner_innen- und Behördentermine gehen und bevor jemand auf die Idee kommt das mit Skills zu vermischen: nope – Skills sind etwas anderes als Erbsenmomentproduzierdinge.
Sich einen Erbsenmoment zu machen ist auf eine Art, als würde man seine Nerven streicheln und weich einpacken – Skills nutzen ist etwas, womit man seinen Nerven sagt, worauf sie sich konzentrieren sollen.

Wir haben einen Kreisel, eine weiche Eulenhandpuppe, eine Metalldose mit Drachenlachenbonbons drin, Seifenblasen und einen Eulenstempel in einem weichen Säckchen. So haben wir, selbst wenn es zu unangemessen oder peinlich wäre irgendetwas davon rauszuholen und zu befühlen, noch das Säckchen zum unauffällig dran langtasten. Und natürlich das, was uns üblicherweise einfach so auffällt: Muster, Linien, Gerüche und Geräusche.
Wir nutzen öfter Skills um an einen Erbsenmoment dran zu kommen, denn in der Regel knallt einfach immer alles auf uns ein, was die Termine letztlich so anstrengend macht.

Wir haben lange versucht Erbsenmomente mit anderen Menschen zu haben. Und wir haben lange versucht so zu tun, als würden wir trotz unserer Probleme immer alles hinkriegen und falls nicht, dann tausendundeine andere Erklärung dafür zu finden, als die, dass wir spezifische Limits haben, die sich immer wieder und oft auch total spontan – trotz aller Vorbereitung und Vorkenntnis! – verändern können.

Inzwischen haben wir einen sozialen Radius, der weißt, dass wir chronisch krank/schwerbehindert und viele sind. Die Zeiten des Löffelschwundes durch Herumgeeier um Fragen wie “Wieso schaffst du X und Y und Z gleichzeitig – aber mir ne popelige Email zu beantworten nicht?” oder “Ja, wenn du X und Y und Z gleichzeitig schaffst, dann kann A und B und C ja nun kein Problem sein – oder?”  sind vorbei. Auch ein Erbsenmoment übrigens.
Und das Wichtigste, dass sich in den letzten 3 Jahren entwickelt hat: Leute in unserem Leben, die sich auf unser Belastungsmanagment verlassen.
Hach.
Erbsenmomentig <3

war ja klar [Abwinkgeräusch]

Heute morgen kurz nach 3 wachte ich auf und dachte: war [genervte Lücke] ja [genervte Lücke] klar [das Geräusch von durch die Luft fliegenden Armen]
War ja klar, dass es keinen Mehrwert hatte früher ins Bett zu gehen, um länger drin liegen zu können. Bevor man sich aufrafft, um den ersten Werktag 2016 genau damit zu füllen, sich um sich zu kümmern.

War ja klar, dass der Schmerz im unteren Rücken wieder kommt und bleibt und keine wie auch immer gelegte Decke unter die Kuhle in unserer Matratze irgendwie sowas wie die harte Unterlage macht, die wir Bauchschläferschweinchen brauchen. War ja klar.

Und irgendwie blieb der schale Beigeschmack von Desillusionierung und strukturierter Verwirrung hängen.
Es schneite die zweiten ordentlichen Flocken – und die erste Person, der wir das zu zwei halben Dritteln mit Kinderinnens befüllt im Schlafanzug und zerknautscht wie ein Yeti mitteilten, war einer der beiden Postboten, die immer verwirrend viel Zeit und Nettigkeit im Hausflur für uns haben. Super. War ja klar. Repräsentation matters und wir sind die letzten, die das halbwegs schaffen.

Naja und ist der Ruf erst ruiniert… torkelt es sich auch halbwegs entspannt durch die Stadt zur Neurologin, um die Einweisung zur Klinik abzuholen. An dieser Stelle hätte ich gedacht ebenfalls ein “war ja klar” in Bezug auf irgendwelche aufkommenden “Nope”- Impulse zu denken, doch sie blieben aus.

Wir fuhren in Richtung Klinik und wirrten ein bisschen umher ob der Tatsache, dass es weniger aktiven Widerstand als beklemmend ruhiges Abwinken gab. “Ach kommt – ihr werdet das schon sehen. Was soll ich noch reden. Wir haben schon alles gesagt.” – mit einem Punkt am Ende, der sie so alt und fahl macht wie den Schatten eines Jenseitigen.
Mir fällt es schwer mich an die Krise im Oktober zu erinnern. Obwohl ich die Nachricht mit der Bitte um Aufnahme in der Klinik von der Krisenstation aus geschrieben habe und noch weiß, wie verboten mir das vorkam.  Wie ich mich beeilt habe, weil ich Angst hatte, jemand käme und schlüge mir das Laptop um die Ohren. Weil ich zu dem Zeitpunkt nichts sicherer wusste, als das ich gar nichts wusste.
Ich weiß auch bis heute nicht, ob die Erinnerung an die paar Tage so fädrig sind, weil wir Medikamente bekamen, oder, weil sehr ferne andere da waren.

Jedenfalls sind etwas über 2 Monate seitdem vergangen und trotzdem mir die Angst und Not dieser Zeit manchmal noch beklemmend nahe rückt, ist sie gleichzeitig unfassbar fern. Begraben unter Vorhaben, Aufgaben, Arbeiten, den zwanzigtausend Hochzeiten, die wir mit_planen und mit_feiern wollen. Unter dem Medikament, dem Hier und Jetzt fern der Welt des Äußeren.

Der Soundtrack ist Peponi und über unserem Kopf flockt es kühle Stückchen auf die Membran zwischen uns und dem Himmel.
Als wir vor dem Gebäude stehen und den letzten Kaffee trinken, fällt mir ein, wie wir mit einem unfassbar klitzekleinen Hundewelpen unter der Jacke diese Treppen genommen haben.
Damals, bevor.
Damals, nach dem.
Damals, als.

“Na? Hab ichs dir nicht gesagt?”, fragt es mich süffisant von hinten links und schlägt die Beine übereinander, “Ihr könnt hier erarbeiten wollen, was auch immer ihr wollt. Ihr werdet wir sein und euch verlieren.”. Ich atme durch. Stürze den Kaffeerest hinunter und schaue noch einmal die Straße auf und ab, ob unsere Therapeutin kommt.
“Willkommen im Herrschaftsgebiet des fremden Blickes!”, trötet die Stimme als ich die Tür zum Foyer aufstoße, “Sie können nun aufhören zu sein.”.

“Könntest du bitte auch kurz aufhören zu sein? Ich muss mich konzentrieren”, denke ich und schließe mit dem Aufstampfen meiner Füße auf der Schmutzfangmatte, die Tür zwischen mir und ihr.
Das ist alles ein bisschen viel. Ein Christbaum mit Licht und Duft. Ein Schild neben einer Sesselgruppe auf dem steht, sie sei kein Aufenthaltsbereich. Es entspinnt sich eine tiefsinnige Grübelei, ob ein Wartebereich nicht auch eine Art Aufenthaltsbereich sei und wie subtil die Bildung urbaner Exile beginnt und überhaupt, wieso ist es hier so warm und ach… wieso können wir nicht einfach Schlitten fahren gehen.
Ich frage mich, wieso ich eigentlich ordentlich angezogen bin, wenn mein Kopfinneres am Ende doch realistischer im Knautschyetiaufzug abgebildet ist.

Mir fällt ein, wie wir noch nie wussten, was nach “zu einem Vorgesprächstermin in der Klinik ankommen” eigentlich zu tun ist. Jedes Mal hat uns einer der Verwaltungsmenschen von den Höhen unserer Gedankenberge abgepflückt und neben sich an den Schreibtisch gelegt. Zahlen, Daten, Zettel und Versicherungskarte. Kling Klang Klonk
Diesmal mit unserer Therapeutin dabei, die uns auch noch einen Jahreswunsch zuwirft und mich damit verwirrt, weil ich dachte, wir hätten unseren Neujahrswünschekram schon erledigt.

Während wir die Treppen zu dem Zimmer in dem wir unseren Termin haben hochgehen, lasse ich die Klinke der Tür hinter mir los.
Jetzt ist unsere Therapeutin da und ich habe das Gefühl weniger auf einer Glasfaser, als auf einer fußbreiten Planke zu balancieren. Es bleibt still.

Wir warten nebeneinander vor einem Leinwandbildruck, der schon vor 3 Jahren dort hing. Und immer noch besser aussähe, würde man ihn ein bisschen abschmirgeln. Es riecht nach Kaffee, ein Geburtstagslied wird gesungen. Ein Hund bellt. Draußen fällt Schnee.
Unsere Wortressourcen sind auf “Wir wollen, dass es uns besser geht” und “Es war alles zu viel” und “Aber eigentlich ist alles okay.” zusammengepresst.

Plötzlich fliegt eine ausgestreckte Hand in mein Blickfeld, die ich auch gleich mal schüttle um zu gucken, ob sie abfällt. Warum auch nicht.
Fiele sie ab könnte ich sagen “war ja klar” und hätte mehr Raum um meine Worte zu dekomprimieren.
Stattdessen werde ich zu meiner Mutter und merke den spontanen Brechreiz einer anderen. Erinnere das als Teil des Problems in der Krisenstation.
Als Teil von so vielen anderen Problemen.

Das Gespräch funktioniert dann aber gut. An einem Punkt gehe ich ein Stück zurück und verstehe die Stimme hinter mir ein bisschen mehr.
Ja, hier gibt es den Blick, den wir nicht gut ertragen können und ein Machtgefälle, das neben vielem anderen in ungute Ecken triggert. Und ja – einen Umgang, der nicht die Selbstauflösung beinhaltet, haben wir damit nicht.
“Das wird ein Sprung ins Blaue.”, sagt sie mir mitten ins Denken hinein.
”Das war das Nichtspringen von der Brücke auch.”, antworte ich.

Wir fahren nach Hause und wissen, dass eine Bedingung ist das Blog ruhen zu lassen so lange wir da sind.
Erst will ich das verstehen. Zu hause merke ich, wie wahrscheinlich total gut gemeint und dennoch übergriffig das ist. Dann merke ich, dass wir nichts dagegen tun können, außer dann eben auf eine Hilfs- und Unterstützungsoption zu verzichten. Dann merke ich wie das Inmitten brennt, weil es ist, als dürften wir nichts sagen während wir dort sind. Und wie das Dunkelbunt triumphiert über die Offensichtlichkeit mit der die Falschheit der Helfer zutage kommt.

Und ich merke, wie wenig mehr als “war ja klar” da noch in mir drin ist.
Am Ende des ersten Werktages diesen Jahres merke ich wie viel keine Kraft mehr ist um uns zu rechtfertigen, uns aus uns heraus zu beruhigen, einander miteinander zu halten, und uns irgendwie mehr als nur Raum für Worte überhaupt noch geben zu können.

Wie sehr wir am Ende diejenige sind, die alle Angebote ablehnt oder schlecht nutzt und in Wahrheit ja gar nicht will, dass es besser wird.
Was ja aber klar war.
Sind ja schließlich wir.

Wir waren ja schon immer undankbar.

“Warum ist denn niemand gekommen?”

Schlimm sind Momente, in denen mir einfällt, wie durchlässig ist, wovon man denkt: “Das hätte doch etwas verändern können.”, obwohl man weiß, dass es das nicht tat.
Da war das Moment, in dem ein Kinderinnen die Hand der Therapeutin hielt und fragte: “Wieso ist denn niemand gekommen?” und da das Moment, in dem es keine Antwort gibt, weil einfach niemand gekommen ist. Obwohl man gerufen hat. Obwohl man nicht in Stasis und doch so weich, wie ein Schluck Wasser war. Obwohl man doch tat, was man vom Polizisten, der zu Besuch im Hort war, gelernt hat: “Ruf nach Hilfe. Ruf nach jemandem.”.

Über 20 Jahre später haben wir gelernt, dass man nicht “Hilfe Hilfe” rufen sollte, wenn man Hilfe braucht, sondern “Feuer Feuer”, “Ich bring mich jetzt um” oder “Ich jag diese Kita gleich in die Luft”.
Und warum? Weil sonst niemand kommt. Weil sonst nichts passiert. Obwohl alle immer sagen: “Wenn was ist – ruf um Hilfe.”.

Man hat sich daran gewöhnt davon auszugehen, dass niemand kommt und als Stück zwischen Erklärung und Entschuldigung zu akzeptieren: “Ich wusste nicht, was ich machen sollte.”, “Ich wusste nicht, wie ich helfen kann.”, “Ich wusste nicht, dass ich gemeint war.”, “Ich wusste nicht, was da passiert.”
Das machen sich manche dann zur Lebensaufgabe. Dafür zu sorgen, dass mehr Menschen wissen, was da passiert ist. Dafür zu sorgen, dass mehr Menschen wissen, was hilft. Dafür zu sorgen, dass mehr Menschen wissen, was sie tun können und sich trauen, das auch wirklich zu tun.

Es ist so ein verführerischer Vermeidungstanz um die Antwort auf die Fragen, die sich in denen, die zu Opfern wurden, aufhängen und in quälenden Schleifen umherirren. Warum ist niemand gekommen? Warum hat das niemand von außen unterbrochen? Wie hat die Person, die mich zum Opfer machte, in mein Inneres greifen können, ohne gleichermaßen als ein Außen von mir wahrgenommen zu werden?

Während ich aus heiterem Himmel darüber weinen muss, dass niemand gekommen ist, fällt mir ein, dass ja jemand da war. Dass eine Antwort auf die Frage dieses Kinderinnens sein kann, dass die ganze Welt dachte, dass ja schon jemand da war. Dass dort schon jemand war, der verantwortlich für sein Wohlergehen war.
Und, dass das einfach das grundlegende Drama ist.
Dass zum Einen viel zu selten hinterfragt wird, was man selbst wahrnimmt und deutet und zum Anderen, einer der vielen Gesichter von Ableism ist, dass “Hilfe” genau ein äußeres Schema haben muss.
Die Person, die Hilfe braucht + die Person, die Hilfe anbietet = Hilfe = Ruhe im Karton
– passiert dies nicht, ist nicht etwa die Hilfe die falsche (oder eben gar keine) so liegt es an der Person, die Hilfe braucht. Dann heißt es, die Person hätte sie nicht angenommen oder würde sie nicht schätzen oder wäre nicht in der Lage sie anzuerkennen und zu nutzen.

Das Problem ist nicht nur, dass wer Hilfe braucht immer mindestens ein Wissen, um die eigene Hilfebedürftigkeit von außen und die Kraft, sowie die Befähigung und Berechtigung haben muss darum zu bitten und zu rufen. Das Problem ist auch die Abhängigkeit vom Außen und dessen Befähigung anerkennen zu können, wann ein Außen auch ein Innen sein kann. Wann welche Personen gleichermaßen Teil einer Not und Gewaltdynamik sein können, wie sie Teil einer Hilfe und Verantwortungsdynamik sind.

Es ist einer dieser ewig dissonanten Aspekte in mir. Meine Sicht von Täter_innen als gleichsam von der Gewalt betroffene Personen, wie die Personen, die sie zu Opfern gemacht haben. Das wird nur allzu gerne als täterloyale Irrung in meinem kaputt traumatisierten Kopf gelesen und als “Aha – die Täter_innen sind auch Opfer” zum allgemeinem Ableism an mir hinzu kompostiert.
Was wir für uns jedoch klar haben ist, dass die Betroffenheit von Gewalt einseitig betrachtet wird. Am Ende sogar einseitig auf den mit Gewalt unterworfenen Personen abgeladen wird. Und damit natürlich sowohl die Verantwortung sich Hilfe im Falle von (Verarbeitungs-)Problemen zu holen – erneut! und erneut in Abhängigkeit von einem Außen, das sich nur allzu gern hinstellt und erlernt hilflos die Arme in die Luft wirft, was man denn jetzt machen soll – genauso wie die Verantwortung oder Bürde oder so genau habe ich kein Wort dafür, zu beworten, was passiert ist.

Zwischendurch erinnert sich mein Körper, erinnert sich mein inneres Auge und mein sympathisches Nervensystem an das Ereignis über das, das Kinderinnen mit der Therapeutin hinweg geredet hat. Und ich werde wütend.
Aber weil ich irgendwie falsch verkabelt zu sein scheine, bin ich nicht wütend darüber, dass dort etwas passiert ist, das nicht okay und immer schlimm war, sondern, dass es ein so reinweißer Raum ist, in dem es passierte. Dort ist kein Wort drin. Kein einziges. Wenn ich meinen Blick hinwende, liegt dort die zarte Kette des Kinderinnens an seinem Rand. “Warum ist denn niemand gekommen?”.
Ich bin wütend, weil dort keine Worte von der anderen beteiligten Person drin sind.

Und weil ich davon ausgehen muss, dass dort auch nie eines drin auftauchen wird.
Außer natürlich wir liefern uns aus. Gehen zur Polizei, erstatten Anzeige trotz Verjährung und stellen uns wie das Sterntalermädchen unter den Mund der angezeigten Person und fangen so viele Worte wie möglich.

Diese Wortlosigkeit macht das Ereignis unprüfbar, weil es nichts gibt, woran wir uns festhalten können.
Und auch nichts woran wir uns abgrenzen können. Diese Person wird für uns vielleicht für immer ein Innen – ein mit im Er_Leben eines Ereignisses – sein, während alles und alle um uns herum zwei Außen – zwei einander passierende Ereignisse – sah.

Das ist das Drama.
Die Tragödie hingegen entsteht dort, wo meine Ideen beginnen, was die nach denen das Kinderinnen gerufen hatte, sagen könnten.
Um sich zu entschuldigen. Sich zu rechtfertigen. Um sich so fern von uns zu machen, dass nichts und niemand von uns sie je erreicht.

zurück sein

Das Ende ihrer flammenden Rede für unser Recht auf Zustandsverbesserung quillt aus dem Telefonhörer in unser Ohr hinein und schubst uns ein letztes Mal an.
Es ist etwa 5 Uhr morgens. Vor einer halben Stunde sind wir durch ein offenes Kellerfenster zurück in die Wohnung geklettert und außer einem unregelmäßig aufbrandendem Impuls den Kopf zurück zulegen und sich sämtliche Organe aus dem Bauch zu schreien, ist da nichts weiter als kalte Haut unter nasser Kleidung.

“Es kann doch nicht okay für euch sein, dass ihr euch immer wieder in so einem Zustand jwd wiederfindet.”, schiebt sie nach. “Es ist auch nicht okay für uns.”, antworte ich ihr und betrachte die schlammtriefenden Fußenden der Strumpfhose in meiner Hand.
Inmitten unseres Schweigens stecke ich meine Finger in die frischen Löcher und verharre auf ihren Rändern.

“Was war denn los?”. Sie stellt die Frage in den Raum und lässt uns damit allein.

Ich merke, wie es hinter mir vor Wut zittert und sich eine Nebelbank in feinen Schlieren vor meinem Blick ankündigt. Sie macht mich so traurig mit dieser Frage und ich weiß einmal mehr nicht, wie es kommt, dass sie es bis heute vielleicht nicht richtig verstanden hat, wie das ist dissoziative Amnesien zu haben und viele zu sein.
Dass es eben auch bedeutet nicht zu wissen, was los war. Dass es bedeutet, dass selbst meine Annahme, dass ein Innen weggelaufen ist und wir uns deshalb in Schlafsachen auf einem Acker wiedergefunden haben, irgendwas zwischen “vage fühlen” und “mutig geraten” ist.
Ich sehe mich unter Druck ihr eine Ahnung, eine Idee oder eine Theorie liefern zu müssen – obwohl diese, selbst wenn wir eine hätten, im Moment überhaupt keinen konkreten Zweck für uns erfüllen würde.

Eine Andere bringt es statt meiner mit einem Glimmen in der Stimme auf den Punkt: “Die Frage ist zu groß und gerade unangemessen. Wir haben selbst kein festes Wissen und können dir jetzt nichts in die Hand geben, um das Geschehene greifbar zu machen.”. Sie schaltet den Wasserkocher an und holt einen Teebeutel aus der Schachtel. “Sie hat dich angerufen, weil du etwas zum Festhalten geben solltest.”.

“Und wer bist du?”. Die Worte klemmen sich an die Andere und legen sich wie eine Schraubzwinge um ihren Hals. “Ich.”, antwortet sie und drückt auf die rot leuchtende Taste am Telefonhörer.

“Du hast ihr nicht gesagt, dass du jetzt auflegen wirst.”, erinnere ich sie. “Sie wird gleich nochmal anrufen.”.
Sie gießt das aufgekochte Wasser in die Teetasse und in die Wärmflasche. Schlägt mit der Faust auf den großen Oberschenkelmuskel und spürt nach. “Ich weiß.”, antwortet sie und löst sich mit dem Schmerz auf.

Ich halte die Tasse in der einen Hand und wähle mit der anderen. “Entschuldigung – war nicht geplant.”, schmeiße ich in den Hörer noch bevor ich überhaupt weiß, ob es auch wirklich unsere Gemögte ist, die den Anruf angenommen hat.
“Ich war auch zu forsch – tut mir leid.“. Wir atmen gleichzeitig tief ein.

“Liest du mir was vor?”, frage ich sie und merke, wie sich die Müdigkeit Stück für Stück mehr von mir und dem Körper nimmt. “Ich würd mich gern in deine Stimme legen.”. Sie kichert “Ach – mehr nicht?”. “Eh eh, nee”, antworte ich und merke wie leicht es plötzlich dann doch ist, ihr zu sagen, was uns gerade gut tun würde.
Sie wühlt nach “unserem Buch” und fängt an.
Wir liegen unter drei Decken im Bett, schauen dem Seidentuch-Feenreigen in seinen sachten Bewegungen zu. Trinken Tee durch einen Strohhalm. Hören ihr zu. Legen auf, als die Geschichte zu Ende ist.

Und hoffen, dass unsere Gefühle von Entspannung und Sicherheit auch dort angekommen sind, wo wir selbst nichts wahrnehmen können.

Gesprächstherapie

„Irgendwie ist sie ja schon cool!“, raunt die Feuerhaarige , die sich auf meinem Scheitel abstützt und durch meine Augen auf die Therapeutin schaut, die gerade sagte, es gäbe für sie keinerlei Grund den Antrag nicht endlich los zu schicken. „Guck dir das mal an“. Das Mädchen auf meinem Kopf patscht mit der flachen Hand auf mich und unterbricht mein leichtes Dämmern.

Ich mag dieses Thema nicht. Ich schäme mich nicht, aber es ist mir peinlich so über mich und uns zu reden. Ich tue, was ich immer tue, wenn der Blick auf mich und uns als Einsmensch so konkret ist und ich weiß, dass ich ihn mit allem, was ich sage, nur noch klarer, schärfer, gezielter mache: Ich sammle die Worte und legte sie extra langsam und bewusst vor mich. Wickle sie ein und gebe sie extra langsam in mein Denken hinein. Das beruhigt mich. Macht mich dämmern und wenig berührbar von diesem Blick.

Wie eine Quecksilberlache breitet sich die Stunde vor mir aus und während viele verschiedene Innens aus meinem Gesicht hervorbrechen um ihre Brocken und Bröckchen zu dem Thema in das Gespräch zu halten, wickelt sich mir eine Wörterkette um den Hals und zieht sich in ihrer Bewegung ins Außen immer weiter zu.
Ich bleibe sitzen. Stoße meine Fingerspitzen wie Widerhaken in den Rand der Dunkelbunten. Weiß, wie sie es nie zulassen würden, dass diese Kette das Außen berührt.

Meine Haut wird kalt. Ein Puls flattert wie ein Schmetterling unter der Haut an meinem Hals. Es rauscht als stünden wir in einem Sturm, doch kein Wind berührt mich.
Und dann ist es vorbei.
Ich schaue den Schuhen der Therapeutin in ihrem Auf und Ab zu. Frage mich, ob sie mich ansieht. Frage mich, was sie sieht. Frage mich, wie wirklich das ist, worüber wir sprechen.

„Sie haben den Antrag gelesen?“, ihre Stimme wankt der Therapeutin entgegen. Unschlüssig zwischen Erleichterung und unerwartetem Grund zur Angst. „Ja. Sollte ich das nicht?“, fragt sie.
Mir werden die Worte entrissen und die Löwin schleicht sich mit ihnen durchs hohe Gras, das in unserem Kopf raschelt und rauscht wie die Brandung unter einen hohen Felsklippe.
Sie müsste antworten „Nein, aber ja.“ doch sie beißt mit geschlossenen Augen in die Wortmassen und wirft sich damit zurück ins Gespräch.

Irgendwann habe ich mein Wort. „Unaufrichtig“.
Es schmiegt sich an meine Wange. Ist so nah, dass ich es selbst zu sein scheine. Ist soviel von mir, dass es fast schade ist, es in eine Kette hängen zu müssen, um es mit der Therapeutin zu teilen.
„Ich würde umknicken, wenn sie den Antrag ablehnen.“. Ich hebe die Hand und knicke sie nach hinten. „Ich könnte das nicht durchkämpfen, wenn …“, mir geht auf halben Weg die Kraft verloren und die andere findet vor meinen Füßen Platz. „Wenn die Krankenkasse irgendwas nicht zahlen würde oder sowas ähnliches – wäre das kein Ding. Da würden wir Kraft aufbringen können, weil Sie da ja auch mit dran hängen. Aber nur für uns allein und …“
Ihre Energie fühlt sich an wie ein Gerüst um mich herum. „Und ich habe doch kein Wissen, ob man sich auf Innenkinder verlassen kann. Es fühlt sich unaufrichtig an, etwas sagen und vertreten zu müssen, dessen man sich nicht sicher ist.“.

Ich fühle mich blutleer und lasse wieder los.
Mein Wort hängt in dem Raum wie ein Bleigewicht und ich nagle es fest. Ich habe keine Kraft mehr mich weiter zu beteiligen. Bin erschöpft und kann das Ziehen im Zwerchfell nicht weiter ausblenden.
Als wir die Praxis verlassen, fällt mir auf, dass die Therapeutin mit uns umgegangen ist wie sonst auch. Obwohl sie jetzt etwas über ES und DAS DA weiß. Und zwar von uns. Obwohl sie weiß, wie wacklig meine (unsere) Überzeugung, ob der Wahrhaftigkeit dessen ist.

Wir stopfen uns die Ohren mit Kopfhörern zu und drehen „Cello-Wars“ voll auf.
Tun so, als wären wir Raumschiffrennfahrer_innen, als wir uns durch die Weihnachtsmarktbesucher_innengruppen schlängeln, ohne die Ränderplatten der Fußgängerzone zu berühren und uns von den Lichtern blenden zu lassen.Von der Straßenbahn lassen wir aufnehmen und klettern durch die blonden Dreadlocks eines Skate-Menschen vor uns.

Als wir später im Bett liegen und dem Feenreigen über unserem Kopf in seinen Bewegungen folgen, seufzt das Mädchen mit dem Feuerhaar: „Das ist alles ganz schön krasser Scheiß, ey“.

Harry Potter und sein Täterintrojekt

Harry Potter quält sich mit der Frage, ob er vielleicht so wird wie Voldemort.
Er spürt Ähnlichkeiten, Verbindungen, bemerkt an sich fremdartig globale Aggressionen nachdem er Zeuge der Tötung eines seiner Mitschüler durch Voldemort wurde.

Well, das ist die Stelle, in der ich meine Brille gerade rücke und mich frage, warum es in der Zaubererwelt eigentlich eine Kenntnis von Wahnsinn und verwirrtem Verstand gibt, doch nicht von PTBS und Täter_innenintrojekten. Die Filme selbst verraten es mir.
Das Rezept ist Freundschaft, Liebe, ein Ziel für das sich zu kämpfen lohnt und die Erkenntnis, dass der frei umhermordende Täter sich durch Magie in den Kopf des Opfers genistet hat, um etwas davon zu haben.
Harry du alte Lusche – kontrolliere halt deinen Geist! Lass das nicht zu! Kämpf halt noch ein bisschen mehr. Retraumatisiere dich und lass uns das zum heldenhaften Kampf erklären.

Oh my.
Versteht mich nicht falsch – es ist nichts falsch daran sich um Freundschaft, Liebe und Ziele im Leben zu bemühen, wenn man schlimme Dinge erlebt hat. Es wird halt tricky, wenn die Person, die verantwortlich für diese schlimmen Dinge ist (oder war) zum immerwährendem und alles bestimmenden Zentrum im Leben der Person, die zum Opfer geworden ist, wird.
Da gibt es verschiedene Arten, wie sowas passiert.

Auf der einen Seite ist die Angst der Person, die zum Opfer wurde vor der Macht und der Person selbst, die die Integrität und Autonomie dieser Person verletzte, einschränkte und/oder zerstörte. Man kann nicht ignorieren, wovor man Angst – manchmal auch Todesangst – hat.
Viele Strategien gegen solche Ängste haben etwas mit Vermeidung oder Gewalt zu tun.
Vermeidung hat folgendes Problem: „Denk nicht an einen rosa Elefanten“ – Woran hast du gedacht? ba da bamm
Gewalt zeigt sich in Aktionen wie: „Dem zeig ichs jetzt“ – wem zeigst du jetzt mal und mit welcher Berechtigung? ba da bamm

Auf der anderen Seite sind die Freunde, Angehörigen, Verbündenten und die vereinigte Helfersfront auf Basis einer angenommenen Opfernot und Gerechtigkeitsstreben.
„Du musst kämpfen!“ – „Lass dich nicht unterkriegen!“ – „Wenn du jetzt aufgibst, hat di_er gewonnen!“ – „Si_er ist es nicht wert sich zu ärgern/zu grämen/schlecht zu fühlen/mit ihm_ihr zu befassen!“ – „Vertraue nur uns – dann bist du sicher!“
Da passieren gewaltvolle Ansagen und oft ist überdeutlich, wie schrecklich gut gemeint sie alle sind. Was will man dagegen sagen? Was kann man sagen, ohne den Kontakt zu gefährden? Wie viel Gegenrede ist in Ordnung? Wieviel Autonomie ist mit Hilfen und Unterstützungen vereinbar?

Häufig verändern sich Kontakte nach Gewalterfahrungen. Viele brechen weg.
Meistens, weil es schwierig ist miteinander zu reden und zwar mit sich selbst, seinem Empfinden und seinem Erleben im Zentrum und dem Ereignis im Kontext, das die Person, die eine Täterschaft zu verantworten hat, an genau dem einem Platz beinhaltet, der noch genug Raum für die Kontexte lässt, in denen sich diese Person bewegt (hat).

Sehr viele Menschen fangen an schreckliche Ereignisse und die Beteiligten zu versachlichen oder gänzlich zu abstrahieren. Deshalb schreiben wir zum Beispiel häufig von „DAS DA“ und „ES“ in unserem Leben.
Das Grauen wird dadurch für uns zwar fassbar (hey-es sind immerhin drei Worte!) und spiegelt doch sowohl die eigene Unfähigkeit nach einem Ereigniss, das jeden Erfahrungs(und Verarbeitungs)rahmen sprengt, es konkret zu erfassen (und zu verarbeiten), wie das Empfinden von Grenzen- und Raum- und Zeitlosigkeit, sowohl in der Situation selbst, als auch häufig genug noch darüber hinaus.

Wenn wir in Workshops sind, kommt die Frage öfter, was man denn richtiger machen könnte.
Gerade, wenn wir dann gerade lang und breit darüber gesprochen haben, welche Sprachführung nicht sinnvoll und am Ende sogar opferfeindlich ist.
Wir raten oft dazu sich selbst zu prüfen und zu schauen, was genau die Erfahrung der zum Opfer gewordenen Person mit einem selbst macht. Was genau wünscht man der Person und warum?
Wieso ist es wichtig, dass es ihr so schnell wie möglich wieder gut geht – ging es der Person vor dem Ereignis denn „gut“ oder erscheint es jetzt aktuell „gut“, weil es ihr nun sehr schlecht geht? Und wieviel Reflektionsleistung kann der Kontakt miteinander eigentlich aushalten?

Was zum Beispiel passiert, wenn man wie Harry Potter gleiche und ähnliche Eigenschaften an sich entdeckt, wie die Person, die einem schwere Nöte angetan hat?
Wenn wir in den Spiegel sehen, finden wir die Mutterfrau. Wenn wir uns dabei ertappen, wie wir uns an einen Türrahmen lehnen, erkennen wir das Warten des Vatermannes.
Wenn NakNak* zum x-ten Mal Katzenscheiße im Garten frisst, brandet ein gleißendes Wüten bis an die Wurzel meiner Zunge hoch und ich merke, wie ich sie verletzen will. Da ist kein Gedanke, keine Überzeugung, kein Wort hinter, das mir sagt:“Oh – hei ich bin ein Täterintrojekt und hier eine Gewalt zu wiederholen – mach mal Platz“.
Das ist pure Energie, die durch eine dumpfe noch nicht greifbare Erinnerung angestoßen wird – aber das wissen wir erst seit ein paar Jahren (NakNak* kam erst danach).
Zu Beginn hatten wir wenig bis keine Kompetenz diesen Energiestoß überhaupt zu erfassen, geschweige denn zu bremsen oder zu kontrollieren.

Das hat uns letztlich zu einer nicht tragbaren Jugendlichen gemacht. Wir waren ein böses Mädchen. Eine Gewalttäterin*. Klar musste man uns „ordentlich bestrafen“ – „so, dass wir es auch begreifen“ – „auf, dass wir nicht denken, wir wären wer“  und selbstverständlich musste man handeln, um sich selbst zu schützen.
Und während unser hochprofessionelles Außenrum uns behandelt hat wie der letzte Dreck, war alles in uns bestätigt, was uns erst zu Handlungen brachte, die uns zum „bösen Mädchen“ machten. Wer so böse ist, dass Erzieher_innen einem Privatsphäre, Ruhe und Unversehrtheit vorenthalten, di_er hat genau dies allem äußeren Anschein nach wohl auch nicht verdient.

Bis heute weiß ich nicht, wie wir je von allein auf die Idee hätten kommen sollen, dass dieses plötzliche Kippen in Selbst_Verletzung, Zerstören von Beziehungen, Ver_Bindungen und anderen Dingen, die uns wichtig sind, etwas mit den Übergriffen zu tun hatten, die wir erlebten und bis heute auf anderen Ebenen erleben.
Auch wenn es oft irgendwie schräg bis lächerlich klingt – bitte liebe Menschen – unterschätzt das nicht, wenn Menschen mehrfach diskriminiert sind und jeden Tag mit diversen Formen der Unterdrückung (Gewalt) konfrontiert sind. Es ist die gleiche Mechanik. Es sind die gleichen Muster. Es ist das verdammt noch mal immer und immer und immer Gleiche.
Auch wenn kein Blut fließt oder keine Strafanzeige erstattet werden kann. Auch dann!

Es frisst sich rein und bricht als Selbst_Zerstörung wieder raus.
Die Einen kotzen, hungern, schneiden sich auf – die Nächsten verletzen andere Menschen, machen Werbung auf Kosten anderer und wählen die AfD, während die Letzten vor lauter „denken sie nicht an…“ die Kunst des Eskapismus perfektionieren und aus allen Wolken fallen, wenn sie mit Menschen konfrontiert sind, denen Dinge geschahen, die unfassbar sind.

Manchmal isolieren sich Menschen, die Schlimmes erlebt haben, weil sie das Gefühl haben, dass sie niemand versteht. Dass niemanden ihren Kampf um Kontrolle versteht. Dass niemand ihre Angst versteht.
Und leider haben sie oft auch noch das Pech, dass sie wirklich nicht verstanden werden, weil die Personen drum herum auf Dinge achten oder von Umständen oder Empfindungen ausgehen, die nicht in den Personen wirken.

Herrje, wie oft Menschen uns für ein zartes Seelchen halten, das aber doch unfassbar stark sein muss, weil sonst hätte es ja nie überleben können.
Tse – wir haben überlebt, weil wir überlebt haben. Wir hätten auch das stärkste Menschlein auf der Welt sein können und unser Risiko zu sterben wäre gleich groß gewesen.
Wir verbinden mit unseren Gewalterfahrungen nicht solche Wabbeldinge wie Würde oder Ehre und wir fragen uns auch nicht, wer uns denn jetzt noch nehmen wollen würde.
Wir hängen uns oft an einem „hätte würde wenn“ auf, weil unser Zentrum nicht andere Menschen, wohl aber unsere Pläne in Abhängigkeit von anderen Menschen sind.

Das ist zum Beispiel , was das Finden von Triggern für uns sehr leicht macht – aber auch Aufhänger liefert, in denen wir uns in Gedankenkreiseln wieder finden, die sich damit befassen wie oft man hätte den linken Fuß auf dem Fußabtreter hätte reiben müssen, bevor man die Wohnungstür öffnete oder damit, welche Wörter wann wie warum genau falsch waren. Über solche Dinge denken wir stundenlang nach und machen uns darüber selbst Stress.
Und natürlich kann man wenig produktiv über andere Dinge nachdenken, wenn man solche Schleifen im Kopf hat, auf der Suche nach dem ultimativ sicheren Plan für immer und ewig, auf das nie wieder irgendjemand käme und uns verletzte.
Weil der ultimative Plan ja auch dafür sorgen würde, dass wir keine Gefahr darstellen – unabhängig davon, wieviel Täter_innenintrojekte in uns wüten und wieviele Monster an ihren Käfiggittern reißen.

Manchmal denke ich, dass die Annahme des eigenen Bösen in sich einfach genau das ist, was niemand von Ex-Opfern hören will.
Es ist so bequem davon auszugehen, dass eine Person immer und grundsätzlich gut ist, weil so der Umstand der Ungerechtigkeit der an ihr begangenen (Straf-)Tat stärker hervorsticht.
Als wären die Menschen vor dem Gesetz (und für manche Menschen auch: vor G’tt) nicht gleich.

Würde, Ehre, Gewollt sein – das hat alles mit der Gesellschaft zu tun, die für uns als Einsmensch irgendwie immer eher wie wissenschaftlich interessantes bis nervenaufreibendes Beiwerk an uns vorbei geblubbert ist. Wir haben die Erwartungen dieser Gesellschaft nie erfüllt und werden das vielleicht auch nie schaffen.
Für manche Menschen macht uns das zu einem Menschen, dessen erlebtes Unrecht nicht das gleiche Unrecht ist wie für eine Person, die ihr Leben lang beliebt unter „den Richtigen“ und „erfolgreich an der richtigen Stelle“ war. Glücklicherweise nicht für viele – aber für genug, dass ich mich daran erinnerte, als wir gerade „Harry Potter und der Orden des Phönix“ schauten.

Ich habe daran gedacht, wie ich mir vielleicht 2 – 3 Jahre früher jemanden gewünscht hätte, di_er mir erklärt, was Täter_innenintrojekte sind und was die Introjekte oder auch Innens sind, die mir helfen könnten mit ihnen so umzugehen, das weder wir noch andere Menschen unter ihnen leiden.
Und ich dachte, wie schade es ist, dass Harry nur zu hören bekam: „Mach deinen Geist frei“, statt: „Mach deinen Geist mit den Dingen voll, die das Böse in dir gleich groß wie alles andere in dir macht, denn es gehört auch zu dir.“

Wehklage

Es ist faszinierend wie „Im Zweifel für den Angeklagten“ immer wieder zu „Im Zweifel gegen das Opfer“ wird. Sogar in meinem eigenen Kopf.

Wir können machen, was wir wollen. Eigentlich.
Eigentlich können wir den Antrag auf Leistungen aus dem FSM abschicken und fertig. Das ist nicht das Gleiche, wie zur Polizei gehen und zu sagen: „Die da haben …“.
Es ist keine Anklage.
Es ist Wehklage.

Es geht darum, dass es weh getan hat. Dass es noch immer weh tut. Dass ES und DAS DA in einem Leben waren, sind und wirken und wirken und wirken.
Es ist eine Klage für die wir erschreckend wenig Kompetenz aufbringen, weil sie von uns das Gefühl erfordert berechtigt zu sein. Man schliddert dort sehr an der Frage entlang, was man verdient hat.

Wir sind ein privilegiertes Ex-Opfer.
Wir wurden und werden gehört. Wir wurden und werden unterstützt. Es gibt so viele Menschen mit einer ähnlichen Geschichte wie unserer, bei denen das nicht so ist. So viele, die es sich noch nicht erlauben können (dürfen/sollen) als Personen sichtbar zu sein, denen Gewalt angetan wurde. So viele, die sich im Zweifel immer wieder gegen sich selbst entscheiden (müssen).

Der Blick auf andere gleich und/oder ähnlich betroffene Personen ist an dieser Stelle aber nichts weiter als ein Vermeidungstanz.
Weh ist Weh – auch der Fuß der reichsten, mächtigsten, glücklichsten, sorglosesten Person der Welt tut weh, wenn jemand mit einem Hammer drauf haut. Schmerz orientiert sich nicht an Privilegien. Einzig die einen Schmerz verursachende Instanz orientiert sich an Privilegien. Auch dann, wenn sie das nicht bewusst tut, tut sie es.

Es ist die veränderte Grundlage des Antrages, die uns den Boden unter den Füßen wegreißt.
Wir sind ein privilegiertes Ex-Opfer, weil wir seit Jahren trainieren eines von den „guten Ex-Opfern“ zu sein. Wir sprechen nicht über Glaubwürdigkeit, vermischen „Sexualität“ nicht mit „Gewalt“  und nicht zuletzt belästigen wir niemanden mit unserem Weh, obwohl wir uns dazu äußern.
Wir haben gelernt, dass man immer darüber hinweg redet und wie man das am Besten anstellt.

Aber das Mitteilen von Gewalterfahrungen ist bis heute beschränkt auf einige wenige Sitzungen im Kokon aus Schweigepflicht und therapeutischer Arbeitsbeziehung.
Und Wehklagen ist selbst im therapeutischen Setting eine extrem seltene Sache.

Wehklage gilt als Zeitverschwendung. Weil es in keinem Aspekt des täglichen Lebens, reicht sein Weh zu beklagen, um etwas zu bekommen. Sei es Trost, sei es Unterstützung, sei es Hilfe.
Manchmal sehen wir, wie der allgemeine Umgang mit Ungemach jeder Art beeinflusst wird. Gerade, wenn wir miterleben, wie schon kleine Kinder nicht einfach nur ihren Schmerz herausweinen und klagen dürfen, sondern auch gleich noch sagen müssen was wann wie wo warum passiert ist, damit die Erwachsenen gleich mal einschätzen, wie berechtigt das Weinen und Klagen denn nun ist und wie lange und in welcher Art ja sowieso.

In unserer Familie* hat man kein Weh.
In unserer Familie* hat man Krankheiten und Zeugnisse seines eigenen Wertes oder man übertreibt und will sich was erschleichen. Man klagt nicht – man wird beklagt. Beispielsweise als krankes Kind. Als Enttäuschung, die auf verschlungenen Pfaden etwas am eigenen Wert verändert.

Und heute sind wir erwachsen, alleine, eigenverantwortlich und könnten tun, was wir wollen.
Auch wehklagen.
Wir könnten uns ernst nehmen, den Schmerz am ES im Inmitten als unseren anerkennen und DAS DA als wahrhaftig akzeptieren, gerade weil dort niemand ist, der Zweifel ausdrückt, gerade weil es nicht nötig ist Beweise anzubringen, gerade weil man weiß, dass es sein kann, wie es für viele ist.

Aber.

einfach komplex

Es gab ein Moment von Erleichterung und Erlaubnis in diesem Gespräch mit dem Facharzt.

Erleichterung, weil er sagte: „Vereinfachung überfordert Sie.“.
Erlaubnis, weil er sagte: „Sie können nicht anders als komplex.“

Natürlich hatte er diese unsere empfundene Erlaubnis nicht intendiert. Niemand wird uns je erlauben uns aus dem Leben zu stehlen. Einfach aufzuhören und zu gehen.
Weil wir nicht anders können als komplex und doch nie die Kraft haben, in einer Welt, die es sich so einfach wie nur möglich machen willkannmuss, zurecht zu kommen.

Wir hatten nicht die Zeit diesen Aspekt zu vertiefen und das finde ich schade, weil undefiniert blieb, was „einfach“ meint und wo genau „komplex“ beginnt.
Ich habe darüber nachgedacht, was uns das Leben leichter bis aushaltbarer machen würde. Mir sind Dinge wie „einfach nie mehr reden müssen“, „nie (Uhr)Zeiten beachten müssen“, „einfach alles was weh tut nicht machen müssen“ und „einfach immer verwabern dürfen“ eingefallen und direkt kam die Frage auf, ob wir den Kontakt zu dem Menschen gerade dazu missgebrauchen uns aus dieser Welt des Müssens herauszuziehen.

Auf eine Art kommen wir in unseren Gesprächen oft an die Idee davon Dinge, die zu viel sind, obwohl man sie muss, einfach zu lassen. Weil es uns nicht zu einem bösen Mädchen schlechten Menschen macht schlimm ist. Und auf einer anderen Ebene wissen wir, dass es ein unausgesprochenes Ding in unserer Gesellschaft, Kultur, unserem ganzen Miteinander ist, dass es verboten ist, wenn jede_r macht, was ihr_ihm gerade akut oder langfristig gut tut.

Man redet gefälligst wenn jemand mit einem redet. Man kommt gefälligst pünktlich wenn man verabredet ist. In Wahrheit tut sowas Straßenbahn fahren, einkaufen, auf Beton laufen, auf glatten Polstern sitzen, das Öffnen und Schließen von Zugabteiltüren und Griesbrei essen auch nicht weh. Verwabern ist dissoziieren und dissoziieren ist böse böse böse Nein Nein Nein das darf man nicht (obwohl 100% aller Menschen es tun – immer – überall von Anfang bis Ende ihres Lebens).

Ich möchte auch ein einfaches Leben. Eins dem man die abstehenden Schnörkel und Verkomplizierungen wegschneiden kann, ohne, dass es danach freudlos und langweilig ist.
Und wenn wir das aber nicht können? Wenn es das einfach nicht gibt?

Und dann war da noch die Frage, ob wir vielleicht nur deshalb komplex können, weil wir komplex können müssen, wie wir das schon immer können mussten.
Wir leben im Informationszeitalter und während Phänomene wie das der „digitalen Demenz“ und der sozialen Dissoziation vermehrt in Erscheinung treten, erscheint es mir als eine Art Selbsterhalt im Sinne eines Versuches der Selbstbestimmung im Sinne von Selbstdefinition und -position, sich vieler Umstände bewusst zu machen und zu halten.

Die Welt ist doch nun einmal komplex. Leben ist komplex. Wie kann es denn sein, dass man zerbröselt, obwohl man sich dem entsprechend anpasst oder schon so geboren ist, dass man Komplexe eben gut aufnehmen und halten kann.
Ich hätte jetzt beinah geschrieben „Wieso ist es denn so falsch die Welt so komplex zu erleben wie sie ist?“ – aber es geht nicht um richtig oder falsch. Es geht um „einfach“ oder „komplex“.

Und wo genau ist eigentlich dieses Mittelmaß genannt „kompliziert aber bewegbar“?
Viele Menschen machen sich lustig oder halten es für ein beabsichtigtes Intellektuellengehabe, wenn ich auf ihre Worte reagiere einfach wie ich nun einmal reagiere. Und ja – ich nehme das wahr. Ich merke die Abwertung von Intellektualität und Präzision. Ich bemerke es, wenn jemand eine Motorsäge an meine so hart erarbeiten Worte legt, weil sie für ein unnütz verkomplizierendes Gestrüpp gehalten werden.
Ich merke das und werde auf eine Art selbst von dieser Motorsäge zerstückelt.

Da kommt mein Wunsch her einfach nie wieder reden zu müssen. Da kommt mein Wunsch her etwas sagen zu dürfen. Und ja ja JA für mich sind das zwei ganz grundverschiedene Arten der Kommunikation. Für mich bedeutet das eine so grundlegend andere Art mich mit Menschen in Kontakt zu begeben. Für mich würde das alles einfacher machen. Wirklich alles.
Aber wo ist denn der Ort an dem das sein kann? Wo ist mein „einfach“ okay, ohne es zu einem „komplex“ woanders zu machen?
Und wie etabliert man sich die Räume, in denen das so eine Routine sein kann, dass es einfach so passiert, ohne als etwas zwischen „einfach“ oder „komplex“ eingestuft zu werden?

Und was ist, wenn wir das einfach nicht schaffen, weil wir etwas, was es dazu braucht nicht können (und vielleicht nie können können werden)?

Eine ehemalige Gemögte hatte mal von einem Grabstein erzählt auf dem in etwa stand: „ihr Leben war Last und Mühe“. Ich will nicht, dass so etwas auf meinem Grabstein stehen müsste, weil es ehrlich wäre.
Mein Grabstein soll glitzern wenn es regnet und in Regenbogenfarben irisieren, wenn die Sonne scheint. Da soll stehen: „Endlich Feierabend!“ oder „Endlich ausschlafen!“.
Wenn ich sterbe, will ich wissen, dass ich alles sagen konnte, was mir wichtig zu sagen war. Wenn ich sterbe, will ich an dem Punkt sein, an dem ich auch sagen kann, dass sich meine Kämpfe gelohnt haben. Ich will zumindest verstanden haben, warum ich meine Kämpfe verloren habe und vielleicht auch nur verlieren konnte.

In der Nacht nach dem Gespräch lagen wir in unserem Käfig und hatten nichts mehr übrig als frustrierte Tränen über all die verlorenen Kämpfe, deren Niederlagen nie anerkannt waren, weil niemand unseren Kampf anerkannt hatte.

Nicht einmal wir selbst.

an einem “Alles ist möglich-Tag”…

… klingelt der Wecker nicht zur üblichen Zeit und das drei Mal hintereinander, damit sich auch wirklich alles im Kopf daran erinnert, dass heute alles anders ist als sonst.

Widerwillig lässt sie den Donnerstagsplan los und stellt sich unter die Dusche. Nimmt uns vielleicht als Spur im Rauschen des Wassers wahr, kann uns vielleicht sogar hören, wie wir ihr sagen, dass sie nicht allein ist. Dass auch dieser „alles-ist-möglich-Tag“ bedeutet, dass wir uns so eng wie es nur geht nach vorn stellen und niemand etwas allein aushalten, abfangen, tragen, stemmen, fühlen, wahr_nehmen muss.

Wir entscheiden 2 Minuten vor dem Verlassen der Wohnung, dass NakNak* uns nicht begleiten wird. Nicht zum Gespräch über das betreute Wohnen in Familien und auch nicht zur Therapie danach. Weil sie so süß eingekringelt auf ihrem Platz liegt und aus müden Knopfaugen guckt, als wir sie noch einmal anschauen.
Und, weil es vielleicht doch zu viel “alles ist möglich” ist, wenn sie mit uns im Therapiezimmer ist. Und, weil wir überwiegend wir allein sein müssen, wenn es um unsere vielleicht zukünftige Betreuung geht.

Die Sonne geht in einem kräftigen altrosa-grau auf. “Shabby chic” denke ich und erinnere mich an unsere letzte Nachbarin, die mich dafür bezahlt hatte ihre Möbel weiß und elfenbeinfarben zu lackieren und dann abzuschmirgeln.
Damals. Vor über 3 Jahren. Als wir noch betreut wurden und soweit am Rand der Stadt wohnten, dass das Internet seinen Platz als einziges Verbindungsstück zu anderen Köpfen bekam.

Es ist halb 9 und wir entscheiden uns für einen Kaffee vom Bäcker. 1,89€ für eine bittere Brühe, deren gratis beigelegter Plastikbecher und Plastikdeckel und Plastiksahnepöttchen und das Plastikumrührstäbchen wahrscheinlich bald im Bauch einer Meeresschildkröte oder Pelikans wieder auffindbar sind. Wir diskutieren auf dem Weg zur Verwaltungsstelle über Plastik aus Maisstärke und schlimme Bodenerosionen durch den massenhaften Anbau von Mais, während sie überlegt, dass Popcorn auch mal wieder lecker wäre und genüsslich das Plastikumrührstäbchen ablutscht.

Wir kennen das Büro. Vor 7 oder 8 Jahren standen wir dort schon mal und dachten Wunder was wie erwachsen wir seien, dass wir aus der Jugendhilfe in die Hilfen für junge Erwachsene wechselten. Und eine unserer Gemochten bis heute kennenlernten.
Sachte fliegen Erinnerungsfetzen an die letzten Botschaften Befehle von Täter_innen an uns vorbei. Die Erinnerungen an NakNak*s wundergut flauschiges Welpenfisselfell und die Zeit mit ihr, zwei Katzen, einer Mäuse- und einer Guppyzucht und ihrem Problem draußen in der städtischen Hölle ihr Geschäft zu machen.
Wie viel wir damals noch geraucht haben. Wie schlimm alles damals noch war und doch so viel besser als alles vorher.

Eine freundliche Person spricht mit ihr über das betreute Wohnen in Familien.
Wir wissen schon alles und dann und wann berühren wir ihre Schulter um ihr zu signalisieren, dass sie aufhören kann, die auf sie einströmenden Wörter abzufangen. Wir erwarten Fragen zu uns und unserem Hilfebedarf. Erwarten die schlimmste aller Fragen, die jemand, der uns Hilfen zukommen lassen möchte, stellen kann: “Was wünschen Sie sich?”.

Die Frage kommt und wir drehen eine Vermeidungsschleife bis die Person die Frage als beantwortet denkt, obwohl sie das nicht ist.

Wir verabschieden uns mit einem zweiten ekelhaften Kaffee und einer zweiten Zahnschmerztablette im Bauch und einem Fragebogen zur individuellen Betreuung und Begleitung im betreuten Wohnen in Familien. Ein bisschen schwankend unter dem Gewicht einiger Kinderinnens und deren Schmerz.

Wir entscheiden uns die Sonnenseiten der Straßen zu benutzen. Entscheiden uns für den köstlich langen Bergabzebastreifen, er entlang eines großen Parkplatzes verläuft und streicheln eine weiche schwarze Labradormischlingshündin an der Straßenbahnhaltestelle.

“Ich glaube, dass wir eine gute Familie für Sie finden”, hat die Person gesagt und vielleicht gibt es wenig, das uns so unvermittelt umkrempeln kann, wie so ein Satz, der all die positive Belegung des Begriffes “Familie” im Ton hat.
Wir bedauern sie, diese Menschen, die versuchen uns damit zu zeigen, dass wir auf einem guten und tatsächlich auch gangbaren Weg sind. Sein könnten.
Wir bedauern sie, diese Menschen, deren kostbares Geschenk einer Familie wir nur ratlos anschauen und mit Roman- oder Fernsehinhalten abgleichen können.

Während wir eine halbe Stunde verbummeln, spielen wir mit einer gefundenen Feder. Betrachten die perlmuttartigen Schimmer der feinen Lamellen im Sonnenlicht und balancieren auf dem Kiel dazwischen umher.
Ein Kleines wedelt mit der Feder in der Luft herum spürt den Widerstand wie ein leichtes Pochen in den Fingerspitzen. Wir sind abgeschirmt von allem und fast nicht mehr da. Einfach so. An einem “alles ist möglich-Tag” kann man mitunter auch einfach mal so verwabern und im kalten Streichelwind, der über Federkiele weht, verschwinden.

Unsere Therapeutin hat vor ein paar Wochen beschlossen, dass wir jetzt eine Weile Tee trinken und wir haben noch immer kein so wirklich passendes Regal dafür gefunden.
Entsprechend grabscht sie blindlinks in unsere Bäuche, Rücken, Schultergelenke um an ein Wort für ein Gefühl, um das sie sich nicht sicher ist zu kommen. Sagt am Ende, sie glaubt traurig zu sein.
“Verstehen Sie das?” fragt die Therapeutin. “Nein.”, antwortet sie.

“Was würden Sie gern tun?”, fragt die Therapeutin. “Ich würde gerne weinen und was essen und dann eine Schmerztablette nehmen und dann…” und dann verheddern sich ihre Außenworte mit den Trümmern der einstürzenden Worttürme links und rechts und unserem ungeordnetem Aufbranden.
5 Minuten später essen wir einen überraschend ekelhaften Jogurt und eine beruhigend nette Banane. In dem Zimmer von unserer Therapeutin. Weil ja zum Glück “alles-ist-möglich-Tag” ist. Nur Anlass – kein Grund zur Panik.

Auch nicht, als ein Kinderinnen ihr sagt, dass es lieber bei ihr oder bei einer Gemögten oder dem Menschen wohnen würde, als in einer “Familie”. Und Familie*.

Auch nicht als da jemand sitzt, den wir bisher für körperlos hielten.

Wir laufen am Ende doch er_leichter_ter als vorher nach Hause und hopsen von Bratwurstduftwolke zu gebrannte Mandelndunst. Lassen Tauben den Vortritt und trampeln mit Absicht auf die Linien zwischen den Mustersteinen, die die Fußgängerzone einrahmen.
Beobachten wie sich die Weichen der Straßenbahn verstellen und warten zwischen zwei silbernen Bodenlinien. In all dem Menschenkrach wollen wir dann doch nicht auf unseren Einzelsitzplatz am Fenster verzichten.

Sie zittert etwas und wundert sich noch ein bisschen. Betastet das eigene Herz und versucht “Traurigkeit” unter den Fingerspitzen zu emp_finden.

Zu Hause wartet NakNak* auf uns und drückt ihren Nüschel in unseren Bauch, als wir unseren Nüschel auf ihren Kopf drücken.
Wir geikeln zwischen den Sonnenstrahlen und ihrer restlichen Wärme herum, kitzeln Grashalme und krabbeln von Gänseblümchenblüte zu Gänseblümchenblüte. Veratmen Erinnerungen an Familie*, an Es und DAS DA, legen die ausgeatmeten Eiterbröckchen dieser Wunden in die geheimen Wortloskatakomben. Aus den Augen aus dem Sinn.

Die nächste Station ist unsere Neurologin. Zwei wichtige Zettel und ein Stand der Dinge.
Weil “alles ist möglich-Tag” ist schaffen wir es um eine Verordnung für Ergotherapie zu bitten, die Einweisung für die Klinik zu regeln UND auch noch alle vorgestrickten Wörterketten zu sagen ohne uns zu verheddern, obwohl NakNak* neben uns sitzt und sich vorher im Wartezimmer in einen schrecklich hungrigen Gierlappen verwandelt hat.

Als wir in den Kreativmarkt gehen und NakNak* sich zum zweiten Mal auf die falsche Seite setzt, merken wir auch deutlich, wie lange es her ist, dass wir sie auch unter Menschen und inmitten von vielen Menschen als unsere Assistenz dabei hatten. Wie oft da die Angst ist unangenehm aufzufallen, dem komischen angesprochen werden, dem Ganzen „für ein Wesen außerhalb auch noch verantwortlich sein“, wir uns nicht gewachsen fühlen. Wie oft wir uns behindert haben, um keine Behindertensperenzchen von anderen abzuverlangen.

Langsam geht die Kraft zur Neige und wir machen nur noch eine Ehrenrunde durch den Park. Dort gibt es einen Schwarm mit winzig kleinen Vögelchen, die ganz wunderbar niedlich qwitschermiepen. Und zwei Hündinnen, die gerne mit NakNak* über die Wiesen flitzen. Und Sonnenstrahlen, die uns einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn kitzeln, bevor sie sich mit Abenddämmerung zudecken.
Wir haben “Görpower-Toni”- Karten von der Post abgeholt. Auf dem Weg dorthin eine orange-weiße Katze wie einen Stein auf dem Fußabtreter eines Haus sitzen sehen.

Die Welt zittert in ihren Fugen.
Wir telefonieren mit Renée und finden unser letztes gemeinsames Podcast ein bisschen gut und freuen uns darüber, dass eine zuhörende Person schon etwas recherchiert hat.

Und dann fangen wir an unseren Tag zu erzählen.
Wer hätte denn ahnen können, dass wir den schaffen?

Es wäre doch alles möglich gewesen!

Fundstücke #10

In knapp 2 Stunden sprechen wir mit einem Facharzt. Wieso eigentlich habe ich schon wieder vergessen. Beziehungsweise hat sich das Wieso in einen Haufen weiß-rauschender Wolken eingegraben und wird sich mir irgendwann von ganz allein als etwas präsentieren, das nie weg war und über meine Verwirrung lacht.

In meinem Kopf wirbeln die Erinnerungen durcheinander und beklemmen mich. Hinter mir sitzt A. die überlegt, ob sie sich von der Therapeutin die Versicherung holen kann, dass diese ihr auch dann noch glaubt, dass sie ES nicht wollte, würde ES sich wiederholen.
Ich habe gelernt mit den Bildern der Erinnerungen von anderen Innens umzugehen. A.’s Bauchschmerzen sind aber keine Bilder.
Ich atme als würde ich in den Wehen liegen und muss dabei aufpassen, nicht darüber irgendwelche anderen anzutriggern. Dieses Aufpassen ist ein Auslöser für all das Aufpassen, das dann doch nie gereicht – nie geschützt, nie bewahrt hat.

Ich komme mir vor wie ein panisches Pferd auf einem Drahtseil das über einer Klippe gespannt ist.

In den letzten Tagen habe ich viel übers viele sein nachgedacht und gesprochen und viel erklärt. Ich habe viel darüber gesprochen wie normal so ein 24/7 Umgang mit Gefühlen von existenzieller Bedrohung für mich und uns allgemein ist, aber selten lasse ich dabei zu, Beispiele dafür aufzubringen.
Ich will Menschen mit der Gewalt, die uns passiert ist verschonen und gleichzeitig aber erzählen, dass Dinge geschehen sind, die im Innen bis heute andauern oder sich anfühlen, als sei es gerade gestern, vor fünf, vier, drei, zwei Stunden gewesen.

Manchmal ist es unwirklich und lässt sich auch nicht gut zusammen bringen.
Es ist A. die von einem unserer früheren Therapeuten misshandelt wurde – nicht ich. Es war A.’s Körper – nicht meiner.
Paradoxerweise kann ich ihren Bauchschmerz aber als etwas empfinden, was auch mit mir zu tun hat. Ihr Schmerz im Heute ist auch mein Schmerz im Heute. Doch die Verletzung, die ihn letztlich verursacht hat, ist nicht meine.

Manchmal denke ich, dass wir uns nur deshalb auf neue Therapeut_innen und Begleiter_innen einlassen konnten und können, weil es diese Unterbrechung in der Schmerzevolution gab. Doch in Momenten wie diesem jetzt merke ich, dass meine Idee von A.’s Schmerz diese Unterbrechung selbst ist.
Ich bin so nah an ihrem Erinnern und starr sein dran, dass ich jederzeit meinen Kopf in ihren hineinstecken könnte, wie in ein Denkarium in Harry Potter.

Ich weiß aber nicht, ob ich ihn auch wieder heraus bekäme. Die Angst ist ihre Angst zu spüren. Obwohl ich nicht einmal weiß, ob sie wirklich Angst hatte, oder ob nicht andere Empfindungen sie dominiert haben. Ich weiß eigentlich gar nichts darüber was damals in ihr vorgegangen ist. Was heute – außer, dass andere denken könnten, sie hätte das gewollt – in ihr darüber vorgeht.
Wir dachten, sie würde auf Nimmerwiedersehen im Innen verschwinden, würden wir es schaffen, dass A. unsere Therapeutin nicht mehr mit dem Menschen gleichsetzt, der an ihr zum Täter wurde.
Das hat aber nicht geklappt.

Nachwievor wird sie von dem Umstand neuer Helfer_innen, neuer Therapeut_innen, neuer Personen, die uns sagen, dass sie uns helfen möchten so weit nach vorn gezerrt, dass wir Bauchschmerzen bekommen und Atemübungen brauchen, um nicht in Sterbeangst zu rutschen.

Ich muss jetzt los.
Trotz allem.