Später im Zug fülle ich die Umfrage zum Warntag aus.
Ich schreibe in das Kästchen für Vorschläge und Ideen, dass ich gern eine Warn-App in Leichter Sprache hätte. Wo vielleicht statt fünf Zeilen Text, ein Piktogramm zu sehen ist. Wo man die Vibration erst ausstellen und dann einen Text mit Handlungsanweisungen lesen kann.
Am Ende schreibe ich dazu, dass ich mich allein zurechtfinden können will. Dass mir die Vorstellung, im echten Notfall auf aufgeregte Menschen angewiesen zu sein, Angst macht.
Später kämpfe ich gegen meine eingesickerte Behindertenfeindlichkeit an. Zweifle an der Angemessenheit meiner Nachricht, denke: „Also, man kann sich jawohl auch zusammenreißen.“, obwohl ich doch selbst dabei war. Vollkommen zusammengerissen. In der Praxis meines Kardiologen, wo neben den Handys aller Patient_innen auch die des Personals und deren IT-Geräte und von zwei Gebäuden draußen alles losschrillte. Durch meine Otoplastiken und die Kopfhörer darüber.
Ich hatte Glück, denn ich musste mir keine zwei Minuten nach dem Alarm drei auf den Oberkörper geklebte Elektrodenpflaster runterreißen. Schmerz ist antidissoziativ. Schmerz wirkt.
Und stresst.
Meine Zusammengerissenheit ist mein Stresspanzer. Damit konnte ich aus der Praxis rumpeln und wenigstens noch etwas trinken und die Maske abnehmen, bevor die nächste Sirene von zwei Seiten gleichzeitig in meinen Kopf eindrang.
Wie letztes Jahr beobachtete ich ein Kinderinnen bei einer Kommunikation mit K., meiner Freundin. Meine so wunderbar pragmatische Erklärfreundin. Die nicht groß fragt, was ist los, wie fühlst du dich, möchtest du einen Apfelschnitz, sondern sofort schaltet und erklärt, was los ist. Eindeutige Sätze schreibt. Die sich irgendwo im Kopf schon denkt, dass ich das bin, aber anders. Angewiesener, verletzlicher, – temporär – hilflos.
Dazwischen kommt eine SMS von meiner Therapeutin. Sie wird zur nächsten Quelle von Orientierung durch Erklärung. Die Klarheit bringt die Sicherheit rein. Die Sicherheit reduziert den Stress. Meine aufgeplatzten Panzernähte wachsen wieder zu. Ich bin da und laufe durch die Innenstadt zum Therapietermin.
Es hat gut geklappt. Mein Netz hat gegriffen. Der Notfalltest ist kein Notfall für mich geworden. Im Zug muss ich mich deutlich daran erinnern, dass das so ist, weil die Menschen in meinem Leben wissen, wann meine DIS und der Autismus mich konkret und ziemlich grundlegend behindern. Weil ich es geschafft habe, an bestimmten Punkten sehr deutlich zu machen, dass ich manche Barrieren nicht einfach nehmen kann. Viel, extrem viel deutlicher, als ich mich das früher getraut habe. Als ich mir selber zugestanden habe. Denn man kann sich ja auch mal zusammenreißen. Man kann sich ja auch mal nicht anstellen. Ich bin doch nicht so. SO sind nur Behinderte wie die, die im Ahrtal ertränkt wurden. Oder die im Oberlinhaus ermordet wurden. Die, die in echt nichts von allein, aus sich selbst heraus können.
Mein Halt in solchen Momenten ist die Erinnerung an den Unterschied zwischen behindert sein und behindert werden.
Dass ich Lärm und vielquellige Geräusche nicht gut verarbeiten und kompensieren kann, ist mir selbst inne. Okay, das ist mein Bausatz. Etwas, das mich behindert sein lässt. Aber, dass die Hilfsmittel, wie Warn-Apps, wie Infotexte und Durchsagen von mir nicht genauso einfach – auch in einer Stresssituation! – genutzt werden können, behindert mich dabei, informierte, selbstständige und selbstbestimmte Handlungsentscheidungen treffen zu können. Damit ich sicher bin. Damit ich eben nicht in Todesängste rutsche und noch angewiesener auf Menschen bin, die Behinderungen einfach überwinden können und deshalb überhaupt kein Begreifen oder Einfühlen in meine Situation haben. Und deshalb einfach brutal gefährlich für mich sein können.
Wenn ich um Zugang, Teilhabe, Entlastung von meiner Dauerkompensation bitte, hat das für mich viel mit Mut zu tun. Auch, weil ich mit so einer Bitte mein direktes Umfeld einem Stresstest aussetze. Und unter Stress dann doch die eine oder andere Feindlichkeit hervorkommt, die eine oder andere Haltung, die mir zeigt, dass ich doch nicht wirklich sicher bin. Oder nur bis zu einem bestimmten Punkt. Und wie selbstverständlich ist diesem Punkt inne, dass ich Barrieren aus mir selbst heraus kompensieren können muss. Als hätte diese Fertigkeit einfach gar keine Grenzen und entstünde nicht aus meinem Er_Leben als behinderte Person.
Mit diesem Gedanken beende ich den Konflikt in mir.
Es muss aufhören, dass selbstverständlich angenommen wird, behinderte Menschen würden sich gern oder selbstverständlich oder aus einem Gefühl von Sicherheit an andere Menschen wenden, wenn sie vor Barrieren gestellt werden, die sie nicht selbst überwinden können. Es ist einfach sehr oft ein unausgesprochener, unbedachter, zuweilen naturalisierter Zwang zur Angewiesenheit, die dann aber gleichzeitig häufig als nervig, anstrengend, stressig, belastend bewertet wird.
Was zu sagen und sich etwas konkret und nicht soooo schwer umzusetzendes zu wünschen, wie eine zugänglichere Warn-App und Piktogramme in der Katastrophenkommunikation, ist keine Belastung, wenn man sich wirklich für alle drum kümmern will.
Man hat in der Umfrage um Hilfe gebeten. Ich habe geholfen. Fertig.
Könnt ihr übrigens auch – hier geht es zur Umfrage: https://www.warntag-umfrage.de/